Im Beitrag wird eine Modifikation des für die Biographieforschung entwickelten Verfahrens der hermeneutischen Fallrekonstruktion nach Rosenthal vorgestellt. Durch eine solche Modifikation wird es möglich, dieses Verfahren auch für die Analyse schriftlicher Quellen auszuweiten. Damit steht ein Verfahren zur Verfügung, das es ermöglicht, Ego-Dokumente sehr spezifisch für biographische Fragestellungen auszuwerten.
Mündliche Stegreiferzählungen von selbsterlebten Erfahrungen sind in mehrerlei Hinsicht leibliche und verkörperte soziale Handlungen. Biographische Erfahrungen werden körperlich gemacht, später erinnernd einverleibt und beim Erzählen performativ kommuniziert. Zu einer mündlich dargebrachten biographischen Erzählung gehören zuhörende Menschen, die während des Erzählhandelns in die erlebte Vergangenheit des/der Erzählenden reisen. Die Verwobenheit des Körperlich-Leiblichen mit dem Gesprochenen in mündlichen autobiographischen Erzählungen führt so zu gemeinschaftlich konstruiertem, biographischem "Gestalten". Obwohl leiblich-körperliches Erleben, Erinnern und Erzählen in der kommunikativen Konstruktion von Biographie somit höchste Bedeutung haben, wurde dieser Aspekt in der Analyse biographischer Selbstpräsentationen bisher nur wenig beleuchtet. Die methodologischen Überlegungen des Beitrages, veranschaulicht an Datenmaterial aus einem ethnographisch angelegten Interview, das in Tel Aviv-Jaffa, Israel, mit einer an chronischen Schmerzen leidenden Frau geführt wurde, sollen zu einer stärkeren Einbindung körperlich-leiblicher Aspekte in biographischen Fallrekonstruktionen anregen.
"Im Beitrag wird das Verfahren der theorieorientierten Fallrekonstruktion als eine modifizierte Form der Fallrekonstruktion nach Rosenthal vorgestellt. Dieses Verfahren basiert zum einen auf einer Interpretation biografischer Daten, die weniger an (impliziten) psychoanalytischen Interpretationen orientiert ist. Zum anderen wird während des gesamten Auswertungsprozesses - und nicht erst nach abgeschlossener Fallrekonstruktion - auch formale Theorie herangezogen. Das Verfahren eignet sich von daher besonders für Forschungsfragen, die daran interessiert sind, mit ex ante Theorien zu arbeiten ohne die fallrekonstruktive Grundlogik aufzugeben." (Autorenreferat)
Das Verfahrensmodell, welches Bruno LATOUR (2001a) in Das Parlament der Dinge entwickelt, wird hier methodisch interpretiert und zu etablierten Methoden der fallrekonstruktiven Sozialforschung in Beziehung gesetzt. Damit entsteht ein methodologisches Modell, eine prozedurale Methodologie, die in den Grundzügen entfaltet und deren Chancen und Probleme diskutiert werden. Mit dieser Methodologie lassen sich heterogene Forschungsanforderungen und Methoden integrieren sowie mehrere Brücken schlagen: zwischen unterschiedlichen "qualitativen" Methoden, zwischen Methodik und Zeitdiagnostik, zwischen Sozial- und Umweltforschung. Als zentrale Kennzeichen dieser Methodologie werden Prozesshaftigkeit, Sequenzialität, Multidimensionalität, Reflexivität und Transdisziplinarität herausgearbeitet.
"Ziel: Anhand einer detaillierten Fallbeschreibung werden karriereförderliche- und hinderliche Bedingungen auf subjektiver und Paarebene rekonstruiert, denen Ärztinnen durch das kritische Lebensereignis Elternschaft ausgesetzt werden können. Um Aussagen struktureller Art treffen zu können, werden diesem Paar weitere Paare in minimalem und maximalem Kontrast dazugestellt, die in einem längsschnittlichen Design über vier bis sechs Jahre mindestens drei Mal interviewt wurden. Ergebnisse: Trotz egalitärer Rollenvorstellungen der Paare vor einer Schwangerschaft kann es zu Traditionalisierungseffekten durch den Übergang in eine Triade kommen, wobei Sozialisationserfahrungen aus der Ursprungsfamilie bedeutsam sind. Konflikte entstehen dann, wenn die Lebensbereiche Beruf und Familie für karriereorientierte Ärztinnen durch eine Elternschaft nicht an Bedeutung verlieren, sondern sie beides gleichzeitig wollen. Die damit verbundenen Anforderungen einlösen zu können, erfordert gerade auf Seiten der Frau ein hohes Maß an Organisation und Arrangement. Diskussion: Neben arbeitsstrukturellen und -organisatorischen Bedingungen und Strukturgebern, müssen individuelle Bedarfe der Ärztinnen in den Blick genommen werden, um beide Lebensbereiche zufriedenstellend ausfüllen zu können." (Autorenreferat)
"Der vorliegende Beitrag hat das Ziel, die Bedeutung eines inklusiven schulpädagogischen Ansatzes für Prozesse der Bildung und Individuierung am Beispiel eines adoleszenten, mit gravierenden Einschränkungen belasteten Inklusionsschülers einer Freien Waldorfschule aufzuzeigen. Der dargestellte Fall steht im Kontext eines Forschungsprojekts, dessen Erkenntnisinteresse sich auf konkrete Erfahrungen der schulischen Akteure richtet, um differenzierte Erkenntnisse zu gewinnen über Möglichkeitsräume, die durch ein inklusives Schul- bzw. Unterrichtskonzept eröffnet werden können. Materiale Basis des Fallbeispiels sind Äußerungen, die im Rahmen eines nicht standardisierten Interviews mit dem Schüler aufgezeichnet wurden, um die Perspektive eines Betroffenen rekonstruieren und das objektiv Bedeutsame des Falles herausarbeiten zu können. Der Beitrag ist für alle Schulen relevant, die sich an den Vereinbarungen der UN-Behindertenrechtskonvention orientieren und ein inklusionspädagogisches Konzept längerfristig realisieren wollen, ungeachtet der das deutsche Bildungswesen kennzeichnenden Separations- und Exklusionsstrukturen." (Autorenreferat)
Im Folgenden wollen wir die von uns in verschiedenen Forschungskontexten angewandte Verknüpfung von biographischen Fallrekonstruktionen (Rosenthal 1995) mit Sequenzanalysen videographierter Interaktionen vorstellen. Mit diesem noch in der Entwicklung befindlichen Vorgehen intendieren wir eine konsequente methodische Umsetzung einer interaktionsanalytischen und figurationssoziologischen Perspektive in der Biographieforschung – im Sinne einer Verknüpfung von Interaktionsanalysen mit der Rekonstruktion der lebensgeschichtlichen Entstehung und Veränderung von Handlungsmustern in unterschiedlichen Lebensbereichen.
In diesem Beitrag wird die methodische Kombination biografisch-narrativer Interviews mit Familienskulpturen vorgestellt. In Abgrenzung zu Skulpturen, in denen Personen aufgestellt werden, wird hierbei auf ein der systemischen Beratung und Therapie entlehntes Verfahren Bezug genommen, in dem ein Beziehungsgeflecht mit grafischen Mitteln symbolisch dargestellt wird. Wie das von der interviewten Person angefertigte Bild ihres Familiensystems im Rahmen rekonstruktiver Forschung eingesetzt und ausgewertet werden kann, wird in diesem Artikel methodologisch und praxisbezogen diskutiert und mit zwei Fallbeispielen illustriert. Es wird dabei deutlich, dass diese Methode die rekonstruktive Biografie- und Familienforschung um einen bildhaften Zugang zu Qualität und Struktur innerfamilialer Beziehungen bereichert und ein Verstehen und Erklären eines Familiensystems und dem sich hierin reproduzierendem Wissen zulässt.
'Im Beitrag wird auf einer theoretischen und empirischen Ebene der Frage nachgegangen, was Ziel, Nutzen und Gefahren einer Rückmeldung hermeneutischer Fallrekonstruktionen an die Interviewten sein können. Auf der Basis eigener Erfahrungen mit derartigen Rückmeldungen wird aufgezeigt, wie diese in der Praxis erfolgen können und was dabei beachtet werden sollte. Eine Rückmeldung von Fallrekonstruktionen an die Interviewten ist - so die These des Beitrages - durchaus möglich, sollte aber nicht zur prinzipiellen Forderung oder als ethischer Anspruch erhoben werden. Der wissenschaftliche Gewinn von Rückmeldungen ist eher gering und die Gefahr der Verletzung der Interviewten relativ hoch und schwer vorhersagbar. Auch eine Zustimmung der Interviewten erhöht letztlich nicht deren Schutz, so dass ein bewusster Verzicht auf diesen Schritt forschungsethisch vertretbarer bzw. ehrlicher erscheint.' (Autorenreferat)
'Nach sich häufenden Defizit- und Transformationshypothesen hat das Thema der Generationen wieder einen prominenten Platz in den Sozial- und Erziehungswissenschaften eingenommen. Der Beitrag verdeutlicht aus einem laufenden Projekt, wie mit einem hermeneutisch-rekonstruktiven Zugang (pädagogische) Generationsbeziehungen in Familie und Schule erschlossen werden können. Nach einer knappen Verortung innerhalb des Generationsdiskurses und kurzen methodischen Hinweisen wird exemplarisch für 'Yvonne' eine familiale Interaktion sowie eine Unterrichtsinteraktion mit der Objektiven Hermeneutik analysiert. Die riskanten Strukturhypothesen zu den familialen und schulischen (pädagogischen) Generationsbeziehungen werden abschließend aufeinander bezogen. Sie münden in die Formulierung einer für Yvonne problematischen 'Passung' von Familie und Schule, weil - wenn auch aus unterschiedlichen Motivationen - in beiden 'Feldern' die Entfaltung von Autonomie und Individualität erschwert ist. Darüber hinaus macht der Beitrag die theoretische Auseinandersetzung mit Schule auf den folgenreichen Widerspruch von dominanter Setzung und relativierender Zurücknahme im Lehrerhandeln aufmerksam.' (Autorenreferat)
Anhand der Fallrekonstruktion eines kubanischen Migranten in Berlin gebe ich einen Einblick in diachronisch/ biografische Dynamiken ethnischer Zugehörigkeiten und in Formen transnationaler Beziehungen. Zudem wird die Situation kubanischer Migrant/innen in Deutschland dargestellt.
Auf Basis einer tiefenhermeneutischen Fallrekonstruktion wird der Frage nachgegangen, warum sich auch gut ausgebildete Männer in geregelten Beschäftigungsverhältnissen mit einem überdurchschnittlichen Einkommen in ihrer männlichen Hegemonie bedroht sehen und antifeministisch reagieren können. Es wird gezeigt, dass sie versuchen, Versagensängste, Selbstbeschämungen und -entwertungen als Mann abzuwehren, welche von den antifeministischen Narrativen der extremen Rechten noch potenziert werden. Dabei werden Ergänzungen zwischen dem machttheoretischen Ansatz hegemonialer Männlichkeit und der psychoanalytischen Sozialpsychologie aufgezeigt.
Auf Basis einer tiefenhermeneutischen Fallrekonstruktion wird der Frage nachgegangen, warum sich auch gut ausgebildete Männer in geregelten Beschäftigungsverhältnissen mit einem überdurchschnittlichen Einkommen in ihrer männlichen Hegemonie bedroht sehen und antifeministisch reagieren können. Es wird gezeigt, dass sie versuchen, Versagensängste, Selbstbeschämungen und -entwertungen als Mann abzuwehren, welche von den antifeministischen Narrativen der extremen Rechten noch potenziert werden. Dabei werden Ergänzungen zwischen dem machttheoretischen Ansatz hegemonialer Männlichkeit und der psychoanalytischen Sozialpsychologie aufgezeigt.