Das europäische Asyl- und Grenzregime steckt in einer tiefen systemischen Krise. Diese ist nicht nur im europapolitischen Sinne zu verstehen, sondern auch steuerungspolitisch: Die Instrumente der Migrationskontrolle und -regulation im Mittelmeer und im europäischen Binnenraum scheinen tatsächlich beinahe zum Erliegen gekommen sein. Die im Mai 2015 von der Kommission verabschiedete Europäische Migrationsagenda versucht umfassend auf die flüchtlingspolitische Krise zu antworten und ist eine Zusammenstellung von Maßnahmen, die zu einer kohärenteren europäischen Migrationspolitik beitragen sollen. Ausgehend von einer kritischen Evaluation der ›Europäischen Migrationsagenda‹ und der damit verbundenen Migrations- und Grenzforschung fokussiere ich in meiner Feldforschung zur griechischen Hotspots die Lokalisierung des neuen Dublin- Systems, da seine Effekte sich unmittelbar in aktuellen Grenzkonflikten und Grenzzonen niederschlagen. Grenznahe Hotspots folgen einem Konzept, demgemäß die Agenturen FRONTEX, EASO, EUROPOL und EUROJUST vor Ort an Brennpunkten der Außengrenze untereinander und als ›Migrationsmanagement-Unterstützerteams‹ mit lokalen und nationalen Behörden kollaborieren sollen in Italien und Griechenland. Während die externalisierte Grenzsicherung sowie die Kooperation mit Drittstaaten zu einer Entschleunigung und Verschlankung der Ströme der grenzüberschreitenden Mobilität führen sollen, folgt die Strategie der Hotspots der genau entgegengesetzten Bewegung: Die Konzentration unterschiedlicher Kräfte auf einen Punkt soll zu einer Beschleunigung der Verfahren bzw. zu einer schnelleren Sortierung der Ankommenden führen; damit soll erreicht werden, dass die Brennpunkte zu Drehscheiben werden, wo Asylanträge geprüft, Flüchtlinge auf andere EU-Länder verteilt, und Menschen ohne Asylgrund bzw. Flüchtende und MigrantInnen mit wenig bis keiner so genannten Bleibeperspektive zügig, konsequent und nahe an der territorialen Grenze abgewiesen und rückgeführt oder abgeschoben werden können. In meinem Vortrag werde ich mittels der Methode der ›ethnographischen Grenzregimeanalyse‹ die ersten Ergebnisse aus meiner Feldforschung zur Implementierung des Hotspots-Ansatzes auf Lesbos und Chios präsentieren.
Eine Grenze ist viel mehr als eine Trennungslinie zwischen Einflussbereichen zweier politischer Einheiten. Eine Grenze oder genauer ein Grenzraum ist das Resultat mehrerer u. a. historischer, geographischer und politischer Phänomene. Deswegen ergibt sich die Notwendigkeit, auf diesen Sachverhalt in einem breiteren Kontext einzugehen, das heißt durch Verwendung der Methoden und Ansätze von anderen Disziplinen, die sich mit den Theorien zur Grenzforschung befassen, darunter der Politischen Geographie. Durch Erforschung der politischen Verhältnisse zwischen Ḫatti-Reich und seinen Nachbarn lässt sich die Art der Kontaktstelle (Grenze) zwischen diesen feststellen. Diese sind u. a. von der politischer Stellung der jeweiligen Einheit und der daraus folgenden Interaktion abhängig. Darüber hinaus bietet sich durch die Auswahl des zu erforschenden Bereiches (Nordost-, Ost- Südostanatolien) ein ausreichend breites Spektrum der politischen Systeme in unterschiedlichen Phasen der Entwicklung zur Analyse an. Als Ergebnis lassen sich politische Ordnungen und ihre Entwicklung durch Interaktion mit den Hethitern beschreiben, die politischen Systeme der benachbarten Länder klassifizieren, zum Teil die internen Verhältnisse und internen Entwicklungen rekonstruieren sowie Vorgehensweise und Funktionsweisen der hethitischen Diplomatie systematisieren. Als Schlussergebnis lässt sich feststellen, dass eine Grenze vor allem ein Interaktionsraum ist. Sie trennt nicht. Sie verbindet politisch und historisch die beteiligten politischen Einheiten und verändert sie somit. ; A border is much more than a dividing line between the spheres of influence of two political entities. A border, or more exactly, a border area, is the result of multiple factors, among them historical, geographical and political phenomena. For this reason it is necessary to view this subject in a broader context; namely to use methods and approaches from other disciplines, including political geography. Through exploring the political relationship between the Hittite state and its neighbours it is possible to determine the type of contact point (border) between them. The political position of each territory, among other factors, determines their subsequent interaction. The selection of the research areas (northeast, east and south Anatolia) allows a sufficiently broad spectrum of analysis of political systems in different phases of their development. As a result, political organisations of the neighbouring countries and their development can be discerned, allowing classification of the political systems, the reconstruction of their internal relations and developments as well as classifying the operating principles of Hittite diplomacy. In conclusion, a border is, above all, a space of interaction. It does not separate. A border connects the political entities which share it, politically and historically, thus changing them. ; xxi, 456 Seiten
This interdisciplinary anthology addresses the criticism that previous investigations of borders often lack complexity and, therefore, fall short. Instead, the authors assess the complex interplay of elements and dimensions of borders and show how this gives rise to instances of disorder/order and how such disorder/order becomes socially and spatially effective. They discuss principles of complexity-oriented border research, the significance of borders in emergent disorder/order formations and border demarcations as examples of social disorder/order in European border regions, the EU's and US' migration systems, and virtual realities. This book makes an important contribution to the emerging complexity shift in current border studies.
Politische Grenzen sind heute nicht nur für Geographen ein weites Forschungsfeld, auch Rechtswissenschaftler, Ökonomen, Historiker und Sozialwissenschaftler betreiben Grenzforschung. Mit der Etablierung der Nationalstaaten wurden die schon seit der Antike existierenden Vorstellungen von Grenzräumen in sichtbaren Formen dargestellt. Karten sollten mental maps des eigenen Territoriums erzeugen. Markante Landformen wie Gebirgszüge oder natürliche Landschaftsübergänge wie Flüsse oder Küsten dienten als naturgegebene Abgrenzungen. Daraus folgte ein Diskurs, der vor allem von der wissenschaftlichen Geographie getragen wurde. In der Folge des Ersten Weltkrieges wurden in Europa Tausende Kilometer neuer Grenzen gezogen. Eine dieser neu definierten politischen Linien ist die bis heute als Brennergrenze bekannt gewordene politische Abgrenzung zwischen Österreich und Italien. Wie ist diese Grenze entstanden? Welche Rolle spielte dabei die Geographie? Welche Argumente wurden von Seiten der Wissenschaft pro und contra gegenüber der neuen Grenze vorgebracht? Welche Rolle spielten die Vorstellungen von "natürlichen Grenzen" und "Pass-Staaten"? Wie wurden naturwissenschaftliche Erkenntnisse für politische bzw. revanchistische Ansprüche umgedeutet und instrumentalisiert? Die Diskussion um die Rechtmäßigkeit der Brennergrenze währte Jahrzehnte, wobei von beiden Seiten des öfteren die vorhandenen Naturgegebenheiten oder kulturelle Gemeinsamkeiten (z.B. die Hauptwasserscheide am Alpenhauptkamm oder eine einheitliche Sprache) als wissenschaftlich bewiesene Elemente in den Vordergrund gestellt wurden. In dieser Arbeit wird mit Hilfe des Instrumentariums der Diskursanalyse diesem weit außerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft getragenen Thema nachgegangen. Dabei stehen die Argumentationen der Wissenschaftler im Mittelpunkt. ; Political Borders are not simply a matter for geographers, even jurists, economists, historians and social scientists do research on borders. Due to the consolidation of nation-states, the images of frontiers which existed since the ancient world have been transformed in visible shapes. Maps have been supposed to constitute the image of the own territory. Visible landmarks such as mountain ranges as well as landscape transitions such as rivers or coastlines, have provided constitutional boundaries. A discourse has been developed as a result of this matter which was run by scientists. Thousands of kilometres of new borderlines were drawn after the First World War. One of these new borders is the so-called "Brennergrenze" between Austria and Italy. How did this border emerge? Which role did the scientific geography play? Which arguments were brought forward in favour of and against this new borderline? What part did the imagination of "natural borders" and "Pass-Staaten" (This term was introduced by German and Austrian geographers who insisted that a pass not so much divided but rather united a territory) play? How has natural scientific expertise been exploited for political, or rather even revanchist demands? The discussion on the legitimacy of the new border in the Alps took a long time. For their arguments, both sides insisted on natural as well as cultural givens (e.g. the main watershed on the ridge of the Alps or shared language) as scientifically grounded realities. The aim in this scientific paper is, with the aid of discourse analysis, to question those aspects and to research the argumentation of geographers on both sides of the Austro-Italian border.
Grenze und Raum – das sind im Zeitalter der allgegenwärtig vermuteten 'Globalisierungsprozesse' prekäre und zugleich hochaktuelle Begrifflichkeiten. Die Geisteswissenschaften haben die Konjunktur des Räumlichen seit dem Ende der 1980er-Jahre als 'spatial turn' bzw. später als 'topographical turn' deklariert. Trotz aller durch politische und ökonomische Bestrebungen – und nicht zuletzt durch Medientechnologien – hervorgerufenen Auflösungserscheinungen des Lokalen und Liminalen rückt die Grenze vermehrt in den Blickpunkt der deutschsprachigen Geistes- und Kulturwissenschaften. Aus dieser anhaltenden Konjunktur speist sich auch der Sammelband Topographien der Grenze. Verortungen einer kulturellen, politischen und ästhetischen Kategorie. Als dezidierte "Anstöße zu einer interdisziplinären Grenzforschung" – so der Untertitel der Einleitung – versammeln Christine Hewel und Christoph Kleinschmidt Beiträge aus den Kulturwissenschaften, der Literaturwissenschaft, der Philosophie und Soziologie, der Wirtschaftsgeschichte sowie der Politik-, Rechts- und Medienwissenschaft. Der Band ist das Ergebnis einer internationalen Tagung gleichen Namens, die vom Germanistischen Institut der WWU Münster in Kooperation mit dem Museum für Angewandte Kunst Frankfurt am Main und dem Internationalen interdisziplinären Arbeitskreis für philosophische Reflexion (IiAphR) im November 2009 veranstaltet wurde. Eröffnet wird der Band von drei Beiträgen, die sich der Grenze theoretisch und begrifflich nähern. Frauke A. Kurbacher reflektiert in "Die Grenze der Grenze" Strukturen des Verhältnisses von Denktraditionen und Performativität in menschlicher (moralischer) "Haltung" (S.37): Ausgehend von den Phänomenologien Maurice Merleau-Pontys und Bernhard Waldenfels' fasst sie die Grenze zunächst als trennendes Moment von Ich/Anderem, Eigenem/Fremden. Eröffnet wird so eine anthropologisch-existentielle Dimension des Liminalen, die die Autorin erweitert, indem sie die Grenze als "Interliminale" (S. 27) versteht. Kurbacher führt so zwei begriffsgeschichtliche Denkmodelle der Grenze ein, die sich in dieser Deutlichkeit nicht in den anderen Beiträgen wiederfinden: einerseits ein Denken der Grenze als historische oder räumliche Zäsur, das aber zugleich deren Überschreitung, Überwindung, Transgression erkennt und anerkennt. Andererseits ein Denken, "das gerade unter Absehung […] konstituierender Grenzziehung als eines des 'Sich-selbst-Fortschreibens' beschrieben werden könnte" (S. 28). Mit dieser Differenzierung wird für Kurbacher die Grenze als zeitliche Kategorie begreifbar. Menschliche Existenz sei, so ihr ethischer Ansatz, nicht durch Leben und Tod definiert, sondern durch die Handlungsspielräume und Möglichkeiten des interpersonellen Austauschs zwischen diesen existenziellen Grenzen. Der zweite Beitrag, "Ineinandergreifende graue Zonen" von Rainer Guldin, schließt an den phänomenologischen Ansatz Kurbachers an. Mit Vilém Flussers Bestimmung der Grenze als Ort der Begegnung bezieht sich Guldin auf ein Denken der Grenzenlosigkeit, dem jeder Nationalismus zutiefst suspekt ist. Vilém Flusser hat sich, von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben, stets für ein Ineinandergreifen von Denken, Publizieren und eigener Biographie stark gemacht – mit einer überaus konzisen Ethik von intersubjektiver wie interkultureller Begegnung, wie Guldin nachzeichnet. Mit einer Re-Lektüre zweier wahrnehmungstheoretischer Texte über die Haut setzt Guldin an der Grenze des Subjekts an. Diese Grenze ist zunächst keine ethische, da sie laut Flusser in erster Linie nicht Subjekte, sondern Subjekt und Objekt, Ich und Welt trennt. Die Haut als 'Grenze' ist also zunächst Gegenstand wahrnehmungstheoretischer Fragestellungen, die Guldin mit Flussers autobiographischen und medientheoretischen Schriften zu einer politischen und topographischen Theorie der Grenze vereint. Indem Guldin diese unterschiedlichen Textsorten in Beziehung setzt, zeichnet er ein konzises Bild von Flussers Interliminalitätskonszeption. Einem weiteren kanonisierten Theoretiker widmet sich Doris Schweitzer im dritten Beitrag: "Grenzziehungen und Raum in Manuel Castells' Theorien des Netzwerks und der Netzwerkgesellschaft" skizziert die sozial- und medienwissenschaftlichen Paradigmen des Netzes und des Netzwerks und zeigt dabei ein Missverständnis auf: Dem Castells'schen Netzwerk-Gedanken liege kein entgrenztes und deterritorialisierendes Raumverständnis zugrunde, sondern das Netz "generiert Raum" (S. 55), so Schweitzers These. Entgegen der euphorischen und weit verbreiteten Annahme der Entgrenzung durch das Netz komme es zu einer Radikalisierung der Grenze durch dessen Exklusionsmechanismen. So würden einzelne Gruppen und Regionen von dominanten Wissens- und Warenflüssen abgeschnitten. Mit ihrer Analyse eröffnet Schweitzer eine kritische Perspektive auf jene Rede von der Informationsgesellschaft, welche die Grenze als obsolet erklärt: "Die Radikalisierung der Grenzproblematik bei Castells ist somit gegen diejenigen Apologeten der verflüssigenden Globalisierung zu wenden, die unermüdlich von der Entgrenzung […] gegenwärtiger Prozesse reden – gerade auch dann, wenn sie sich dabei auf Castells Beschreibung der Netzwerkgesellschaft berufen" (S. 60). Der zweite Schwerpunkt des Sammelbandes nimmt die Grenze als Ort von politischer und ökonomischer Macht in den Blick und widmet sich geostrategischen Raumfragen. Andreas Vasilache beschreibt in seinem Beitrag "Grenzen in der Transnationalisierung" einen Paradigmenwechsel der exekutiven Gefüge von Staaten: eine durch die Globalisierung sukzessive verwischende Trennbarkeit von Innen- und Außenpolitik, die sich u.a. in einer Zunahme von globalem Problembewusstsein (etwa in Bezug auf Unternehmungen zur Verlangsamung des Klimawandels) niederschlägt. Dieser Verschränkung von Innen- und Außenpolitik stellt Vasilache die Trennung von staatlichem Eingriff und privater Dienstleistung bei, die ihrerseits im Auflösen begriffen sei. Als Beispiele dienen ihm hier u.a. nichtstaatliches Sicherheitspersonal bei Flughafenkontrollen sowie die im Laufe des zweiten Irakkriegs eingesetzten Söldner privater Sicherheitsfirmen. Die erodierenden Grenzen von Innen/Außen einerseits, privat/öffentlich andererseits seien aber mitnichten ein Indiz für eine allumfassende Nivellierung staatstheoretischer Wissenskategorien: "Grenzen werden im Rahmen politischer Transnationalisierungen zwar volatil und sprunghaft, büßen dabei allerdings keineswegs ihre strenge politisch-epistemische Unterscheidungsfunktion ein" (S.85). Andrea Komlosy unterfüttert den auf die Gegenwart bezogenen Beitrag Vasilaches historisch. "Zwischen Sichtbarkeit und Verschleierung. Politische Grenzen in Europa im historischen Wandel" vollzieht die Entstehung einer gemeinsamen europäischen Außengrenze seit dem 17.Jahrhundert nach, bei der die Binnengrenzen keineswegs verschwunden seien. Die Inszenierungen der Grenze dienten einem hegemonialen Anspruch von Herrschaft: Während Grenzen im 17. und 18. Jahrhundert als Zeichen von Inklusion und Exklusion, von Staatsmacht und Zugehörigkeit inszeniert wurden, verlagerten sie sich durch die EG und EU zunehmend in den europäischen Binnenraum. Ihre Unsichtbarkeit leiste nun der Illusion eines grenzenlosen Europas Vorschub, bei der punktuelle, ubiquitäre Kontrollen im Vorfeld und im Hinterland (vgl. S. 103) im krassen Gegensatz zu den hochtechnologisierten Außengrenzen Europas stünden. Liliane Ruth Feierstein, Christopher Pollmann und Jörn Glasenapp erörtern im vierten Abschnitt des Bandes die identitätsbildenden Funktionen von Grenzen. Ähnlich wie Andrea Komlosy konstatiert Christopher Pollmann in seinem Text "Globalisierung und Atomisierung" einen historischen Umbruch: Waren es im 18. Jahrhundert vor allem territoriale Grenzen, die kollektive Identität stifteten, komme es im Zuge der industriellen Revolution zu einer 'Individualisierung' der Grenze. Pollmann macht – unter Rückgriff auf Simmel und Marx – die zunehmende Regulierung des alltäglichen Lebens durch die Systeme von Recht, Uhrzeit und Geld als Schwächung kollektiver, zumal territorialer Grenzen aus; Grenzen fungieren in der Folge als Handlungsrahmen für Individuen. Jörn Glasenapp nimmt den allegorischen Grenzverkehr im Kalten Krieg in den Blick, den er in John Sturges' Film The Magnificient Seven von 1960 entdeckt. Seine Analyse kennzeichnet – mit Bezug auf Akira Kurosawas Die sieben Samurai, der Vorlage zu Sturges' Western – die rassifizierenden und kolonialistischen Diskurse von Grenze und 'frontier' durch eine Gegenüberstellung von Samurai/Bauern (Kurosawa), Amerikaner/Mexikaner (Sturges), NATO/'Ostblock' bzw. USA/Vietnam (realpolitischer Hintergrund) als "kinematographische Wunschphantasie" (S.152). Liliane Ruth Feierstein schließlich analysiert die Grenze in Riten, Umgangsformen und Symbolen jüdischen Lebens. Als religiöse Gemeinschaft sei das Judentum durch die gemeinschaftskonstituierenden Dimensionen der Begrenzung gekennzeichnet: beispielsweise durch Inschriften an Wohnhäusern, die die Bewohner_innen als Gläubige ausweisen und so das Haus als einen "Jewish Space" (S. 109) markieren. Die abgegrenzten Bereiche für Männer und Frauen in der Synagoge oder die geltenden Gesetzmäßigkeiten und gemeinschaftlichen Einschränkungen des jüdischen Glaubens, etwa die "limits of Shabbat" (ebd.), sind weitere Dimensionen der Begrenzung. Diesen tradierten Räumen und religiösen Einschränkungen stehen die Erfahrungen des Judentums als einer diasporischen Gemeinschaft gegenüber. In der Diaspora führt die gemeinschaftsstiftende Funktion der Grenze zur Ausgrenzung: die historische Ghettoisierung und Vertreibung und die Vernichtung als radikalste aller Infragestellungen der jüdischen Gemeinschaft während des Holocausts. Den Grenzen der Kunst bzw. der Kunst der Grenze sind die drei Beiträge des vierten Kapitels gewidmet. Nikolaj Rymar isoliert mit Michail Bachtin die Grenzen zwischen Kunst und Wirklichkeit, indem er die Kunst als "zweite Kultur" (S. 160) begreift, welche die Kategorien der 'ersten Kultur' – also Soziales, Religion, Politik etc. – in Frage stellt. Die Grenzüberschreitungen der 'zweiten Kultur' machen so die Grenzziehungen der 'ersten Kultur' erst sichtbar und ermöglichen deren Neuanordnung. Christoph Kleinschmidt nimmt unter Rückbezug auf die ästhetischen Schriften Lessings und Goethes die Grenzen der Künste in Bezug auf ihr Material in den Blick: Herrschte bis 1800 ein Kunstverständnis vor, das sich "vor allem mit der aisthetischen Dimension des Künstlerischen als dem Schönen beschäftigt und eine Überwindung des Materials durch die Form impliziert", komme es im Lauf des 19.Jahrhunderts zu einer diskursiven Verschiebung: In der Folge seien die Grenzen des Materials als wesentlich für die Kunst (und für die Grenzen zwischen einzelnen Kunstrichtungen) verstanden worden. Über Lessing, Schelling, Hegel und Vischer bis hin zu den Avantgarden der Moderne untersucht Kleinschmidt Kunsttheorien und die in ihnen formulierten materialästhetischen Programme. Christine Hewel beschließt diesen Teil mit einem 'Rundgang' durch das Museum für Angewandte Kunst Frankfurt. Anhand verschiedener Exponate des Museums erläutert Hewel aus museumspädagogischer Perspektive, wie die Grenzen zwischen Schmuck und Funktion, zwischen Eigenwert und Gebrauchswert, zwischen Kunst und Kunsthandwerk durchlässig werden. Die beiden letzten Aufsätze des Sammelbandes sind analytische Beiträge aus der Literaturwissenschaft. Stephanie Catani zeichnet die Topologie des Exilraums in Franz Kafkas Der Verschollene und W.G. Sebalds Die Ausgewanderten nach. Catani beschreibt die Heimatlosigkeit von Kafkas Protagonisten Karl Roßmann als Resultat eines individuellen Vater-Sohn-Konflikts und schließt daran eine Analyse des politischen Ausnahmezustands in Sebalds Die Ausgewanderten an, als dessen modernes Paradigma sie mit Giorgio Agamben das nationalsozialistische Regime mit seiner gesetzlosen und zugleich gesetzmäßigen Rechtsprechung versteht. Im individuell motivierten wie im politisch-existenziell notwendigen Exil werde die Ortlosigkeit zu einem paradoxen Grenzraum, der Heimat, erst konstituiert. Damit problematisiert die Autorin die Aufwertung der Heimatlosigkeit zu einem Bhabha'schen 'Third Space', den sie in den (fiktiven) Exilerfahrungen der Protagonisten nicht wiederfindet. Um die Ästhetisierung von Heimatlosigkeit geht es Ingo Irsliger und Christoph Jürgensen in ihrem Beitrag über Emine Sevgi Özdamars Erzählband Mutterzunge und Feridun Zaimoğlus Interviewband Kanak Sprak. Irsliger und Jürgensen verwehren sich zwar den Labels "Migrationsliteratur" und "Multikulti", können aber anhand einer positiven Bewertung des "Third Space"-Konzepts der Postcolonial Studies zeigen, wie alternative und hybride Identitätsangebote und -konzepte vor allem durch die Sprachstrategien von Özdamar und Zaimoğlu hervorgebracht werden. Die Fülle der unterschiedlichen Ansätze und Gegenstände ist beeindruckend, doch die angestrebte Interdisziplinarität gestaltet sich mitunter als loses Nebeneinander. Unter die Räder kommen dabei vor allem die titelgebenden Topographien. Zwar erweist sich der sehr weit gefasste Begriff der Grenze bald als fruchtbar, doch wäre gerade hier eine genauere Unterscheidung von Raum – Topologie – Topographie wünschenswert gewesen, wie sie etwa Stephan Günzel vorgenommen hat.[1] Kursorisch bleiben auch Bezüge zur Aktualität der Grenze in Perspektive auf Migration; damit werden zahlreiche politische, ökonomische, juristische, aber auch ästhetische Fragestellungen nicht einmal angerissen. Christoph Kleinschmidt gibt in seiner Einleitung eine gute – leider zu kurz geratene – Übersicht über den Forschungsstand geisteswissenschaftlicher Grenzforschung und verweist darin explizit auf die Aktualität europäischer wie US-amerikanischer Grenzdiskurse. Hinweise zur kritischen Grenzregimeforschung, wie sie etwa Sabine Hess, Serhat Karakayali, Vassilis Tsianos und andere[2] unternommen haben, finden sich jedoch nur in den Fußnoten des Bandes. Im Hinblick auf diese kritische Grenzregimeforschung ist auffällig, dass viele der Beiträge zur Beschreibung auf einem – wenn auch als konstruiert, als dispositiv oder ideologisch überformt gekennzeichneten – Dies-/Jenseits der Grenze beharren, selten aber Akte der Grenzverletzung, Momente der Passage, des Transits, des Auf-der-Grenze-Seins in den Blick nehmen.[3] Aus einer aktuellen Perspektive wünschenswert wären etwa Überlegungen zu den Debatten um die europäischen Außengrenzen und deren Inszenierungen und technologische Aufrüstung einerseits sowie durch mobile Technologien möglich gewordene Ergänzungen und Subversionen hegemonialer Diskurse andererseits. Dennoch bietet der Band viele spannende Denkanstöße in Hinblick auf das Phänomen Grenze und trägt dazu bei, die anhaltenden Debatten des Räumlichen vermehrt unter Berücksichtigung des Liminalen zu führen. --- [1] vgl. Stephan Günzel: "Spatial turn – topographical turn – topological turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen". In: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, hrsg. v. Jörg Döring/Tristan Thielmann. Bielefeld: transcript 2009, S. 219–237. [2] vgl. etwa Sabine Hess/Bernd Kasparek (Hg.): Grenzregime Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa. Berlin/Hamburg: Assoziation A 2010 sowie Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld: transcript 2007. [3] vgl. neben der kritischen Grenzregimeforschung auch den essayistisch gehaltenen Sammelband von Eva Horn/Stefan Kaufmann/Ulrich Bröckling (Hg.): Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten. Berlin: Kadmos 2002.
This study analyzes the processes of debordering and rebordering at the scale of neighborhood borders using a residential area in suburban of Guangzhou, China, as a case study area. The vicinity of a gated community and an urban village leads to the formation of a residential borderland in which, through the processes of debordering and rebordering, borders become on the one hand more permeable but, on the other hand, more rigid. The dynamics of bordering processes have been examined substantially at national borders; however, not much attention has been paid to how exactly borders work at the scale of the neighborhood. What kinds of bordering processes occur at this level? How and why do they happen? The answers to these questions are little known to us and require more empirical study and theoretical explanation. This study takes Anthony Giddens' structuration theory, which emphasizes the duality of agency and structure, together with the theoretical concepts of national borders from political geography, which include borders as processes and as social construction, to develop a theoretical framework for analyzing borders at a neighborhood scale. The theoretical framework stresses the processes of debordering and rebordering, which are socially constructed through the interaction between agency and structure. The empirical research focuses on the phenomenon of residential borderland, which is defined as the residential area consisting of two contiguous urban enclaves: a gated community and an (urban) village. Special attention is paid to the city of Guangzhou in China, which has experienced rapid economic development and urbanization in the post-reform period. In the context of suburbanization, many of these residential borderlands have emerged in suburban Guangzhou. Clifford Estate, a gated community, and its neighboring urban village, Zhongyi, are selected as a typical residential borderland for an in-depth case study. The applied qualitative research methods include semi-structured interviews and observation by following. The collected data include 69 qualitative interviews and 481 data collections through observation by following. Applying the theoretical approach to the case study, three dimensions – functional, symbolic, and social networks – of debordering and rebordering processes in suburban Guangzhou are analyzed. The results demonstrate that residential borders are becoming more permeable as flows of people increase from the gated community to the neighboring village area. At the same time, however, the borders still divide the city through rebordering processes of seeking a sense of security and of ordering and othering. This study also demonstrates how the various actors shape the processes of debordering and rebordering and how these processes are embedded in the urban spatial reconfiguration of Guangzhou. Border theory, as derived from the scale of national borders, is extended to the micro-scale of borders at the neighborhood level. The study demonstrates that the constructed theoretical framework is beneficial to our understanding of urban conditions and dynamics. ; Die vorliegende Arbeit analysiert Prozesse des debordering und rebordering auf der Nachbarschaftsebene am Beispiel eines Wohngebiets in der Stadt Guangzhou (China). Aus der Nachbarschaft einer Gated Community und einem urbanen Dorf entsteht ein residential borderland, in dem sich aufgrund von debordering und rebordering Prozessen Grenzen einerseits auflösen und andererseits verstetigen. Die Dynamiken von Grenzentstehungsprozessen auf der Nationalstaatsebene wurden bisher in ausreichendem Maße untersucht, wohingegen der Frage, wie sich Grenzen auf der Nachbarschaftsebene auswirken, wenig Aufmerksamkeit beigemessen wurde. Welche Art von Grenzentstehungsprozessen findet auf dieser Ebene statt? Wie und warum finden diese Prozesse statt? Die Antworten auf diese Fragen sind bislang noch sehr begrenzt, so dass ein Bedarf an umfassenderen empirischen Studien und theoretischen Erklärungen besteht. Diese Arbeit setzt sich sowohl mit der Strukturationstheorie nach Anthony Giddens, in der die Dualität von Handlung und Struktur hervorgehoben wird, als auch mit dem politisch-geographischen Konzept der Nationalen Grenzen, in dem Grenzen als Prozess und als soziales Konstrukt verstanden werden, auseinander, um ein individuelles theoretisches Konzept zu entwickeln, das die Analyse von Grenzen auf der Nachbarschaftsebene ermöglicht. Dieser theoretische Rahmen hebt das debordering und rebordering als sozial konstruierte Prozesse zwischen Struktur und Handlung hervor. In der empirischen Untersuchung wird der Fokus auf das Phänomen des residential borderland gelegt, das als ein Wohngebiet definiert wird, welches aus zwei aneinandergrenzenden urbanen Enklaven – einer Gated Community und einem (urbanen) Dorf – besteht. Dabei wird die Stadt Guangzhou, die im Anschluss an die chinesische Öffnungs- und Reformpolitik der 1970er Jahre durch ein dynamisches Wirtschaftswachstum und eine intensive Urbanisierung geprägt ist, in den Blick genommen. Im Kontext der voranschreitenden Suburbanisierung bildeten sich zahlreiche dieser residential borderlands am Stadtrand Guangzhous heraus. Clifford Estate, eine Gated Community und das benachbarte urbane Dorf Zhongyi wurden als typisches residential borderland und somit als Fallbeispiel für die in dieser Arbeit erfolgende empirische Analyse ausgesucht. Methodisch wurden bei der qualitativ ausgerichteten Arbeit sowohl halbstrukturierte Interviews als auch Methoden der nicht-teilnehmenden Beobachtung eingesetzt. Insgesamt wurden 69 Interviews und 481 Beobachtungsprotokolle ausgewertet. Anhand des eigenen konzipierten theoretischen Ansatzes wurden unter der besonderen Berücksichtigung dreier Aspekte – funktionale, symbolische und soziale Netzwerke – Prozesse des deborderings und reborderings im suburbanen Guangzhou analysiert. Die Ergebnisse zeigen, dass residential borderlands aufgrund der zunehmenden Fluktuation und alltäglichen Austauschbeziehungen zwischen der Gated Community und dem benachbarten urbanen Dorf durchlässiger werden. Gleichzeitig wird die Stadt immer noch von Grenzen getrennt, die durch von dem Wunsch nach Sicherheit sowie von Handlungen des orderings und otherings ausgehenden Prozessen des rebordering konstruiert werden. Weiterhin wird in dieser Arbeit deutlich herausgearbeitet, wie die unterschiedlichen Akteure die debordering und rebordering Prozesse beeinflussen und inwieweit diese Prozesse in die stadträumliche Umgestaltung Guangzhous eingebettet sind. Mit dieser Arbeit wird die Grenzforschung dahingehend ergänzt, dass der bisher auf die nationale Ebene bezogene theoretische Rahmen auf die Mikroebene der Nachbarschaft erweitert wird. Letztendlich wird gezeigt, dass mit dem erarbeiteten theoretischen Konzept ein besseres Verständnis von städtischen Strukturen und Dynamiken gewonnen werden kann.