Der vorliegende Beitrag argumentiert, dass die mediterrane Mythenwelt, wie sie im philosophischen Werk Albert Camus begegnet, eine kritische Theorie sui generis verstanden als eine rationalitäts- und ideologiekritische Position in sich birgt. Als solche, so lautet die hier vertretene These, ist sie zumindest unter bestimmten Gesichtspunkten der Frankfurter Schule überlegen. Das griechische Denken à la Camus teilt mit jener zwar den wachen Blick für die Schattenseiten der Moderne, vermeidet dabei aber die allzu große Reserviertheit gegenüber Anthropologie, Ästhetik und Mythos, wie sie im Umfeld der Kritischen Theorie häufig anzutreffen ist. Camus tragisches Denken, das an der mediterranen Mythologie unter anderem am griechischen Nemesis-Mythos geschult ist, erörtert die natürlichen Grenzen, die nicht verletzt werden dürfen, von modernen politischen Heilslehren aber in maßloser und folglich verhängnisvoller Weise überschritten werden. ; This contribution argues that the Mediterranean world of myths, which one encounters in the philosophical work of Albert Camus, contains a critical theory sui generis a position critical of rationalism and ideology. According to our thesis, this theory is superior to the one provided by the Frankfurt School at least in certain aspects. Greek thought à la Camus shares the awareness of the dark side of modernity, but it avoids the far too big reservations against anthropology, aesthetics and myth that can frequently be found in Critical Theory. Camus tragic thought, which was nurtured with Mediterranean myths (among them the Greek myth of Nemesis), highlights the natural limits that should not be crossed, but are exceeded by modern political doctrines of salvation in an excessive and fatal way. ; (VLID)2346679
Die Doktorarbeit "Dein Gott ist ein Esel. Griechische und römische Tierkarikaturen als Spiegel antiker Wertvorstellungen" hat sowohl die lange und intensive Beziehung zwischen Mensch und Tier als auch das antike Humorverständnis zum Thema. Trotz seiner verschiedenen Rollen als Helfer und Freund blieb (und bleibt) das Tier der Stereotyp des 'Anderen', das Gegenbild, das alle Menschen teilen. Das Lachen und damit die Karikatur wiederum helfen uns, zu reflektieren und Distanz zu den Dingen und vielleicht zu uns selbst zu gewinnen. Tierkarikaturen sind deshalb besonders geeignet, ein Spiegel menschlicher Fehler und Schwächen zu sein. In der Regel handelt es sich bei den antiken Tierkarikaturen um Bilder von Menschen, die tiergestaltig 'verzerrt' sind, zum Beispiel ein Lehrer mit dem Äusseren eines Esels. Solche Darstellungen sind ab dem 6. Jh. v. Chr. zu finden und werden in hellenistischer und römischer Zeit häufiger, wo der Fokus der Arbeit liegt. Meist sind es Terrakotta- oder Bronzefiguren, die verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zugeordnet werden können wie Religion, Politik, Freizeit usw. Unter Berücksichtigung des spezifischen kulturellen und funktionalen Kontextes jedes Stückes sowie zeitgenössischen schriftlichen Quellen wird die Bedeutung dieser Karikaturen erarbeitet. ; The doctoral thesis "Your god is an ass. Greek and Roman caricatures of animals as a mirror of ancient values" deals with the history of humour as well as with the long and intense relationship of man and animal. Despite of its different roles as assistant and friend the animal always remains "the other" as a stereotype, the contrast all human beings share. Laughter and therefore caricature on the other hand help us to gain distance to things, to reflect on them and, at the same time, on ourselves. In consequence, caricatures of animals are especially suitable to be a mirror that shows human weakness and faults. Animal caricatures usually are pictures of animals acting like men, for example an ass being a teacher. They have existed since the 6th century BC but become more frequent in Hellenistic and Roman times, where the study focuses. They are represented mostly in terracotta and bronze figurines and can be allocated to different social areas like myth and religion, politics and education, leisure and so on. Considering the different cultural and functional contexts of each example as well as contemporary literary sources, the meaning of the selected caricatures is found.
Die Doktorarbeit "Dein Gott ist ein Esel. Griechische und römische Tierkarikaturen als Spiegel antiker Wertvorstellungen" hat sowohl die lange und intensive Beziehung zwischen Mensch und Tier als auch das antike Humorverständnis zum Thema. Trotz seiner verschiedenen Rollen als Helfer und Freund blieb (und bleibt) das Tier der Stereotyp des 'Anderen', das Gegenbild, das alle Menschen teilen. Das Lachen und damit die Karikatur wiederum helfen uns, zu reflektieren und Distanz zu den Dingen und vielleicht zu uns selbst zu gewinnen. Tierkarikaturen sind deshalb besonders geeignet, ein Spiegel menschlicher Fehler und Schwächen zu sein. In der Regel handelt es sich bei den antiken Tierkarikaturen um Bilder von Menschen, die tiergestaltig 'verzerrt' sind, zum Beispiel ein Lehrer mit dem Äusseren eines Esels. Solche Darstellungen sind ab dem 6. Jh. v. Chr. zu finden und werden in hellenistischer und römischer Zeit häufiger, wo der Fokus der Arbeit liegt. Meist sind es Terrakotta- oder Bronzefiguren, die verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zugeordnet werden können wie Religion, Politik, Freizeit usw. Unter Berücksichtigung des spezifischen kulturellen und funktionalen Kontextes jedes Stückes sowie zeitgenössischen schriftlichen Quellen wird die Bedeutung dieser Karikaturen erarbeitet. ; The doctoral thesis "Your god is an ass. Greek and Roman caricatures of animals as a mirror of ancient values" deals with the history of humour as well as with the long and intense relationship of man and animal. Despite of its different roles as assistant and friend the animal always remains "the other" as a stereotype, the contrast all human beings share. Laughter and therefore caricature on the other hand help us to gain distance to things, to reflect on them and, at the same time, on ourselves. In consequence, caricatures of animals are especially suitable to be a mirror that shows human weakness and faults. Animal caricatures usually are pictures of animals acting like men, for example an ass being a teacher. They have existed since the 6th century BC but become more frequent in Hellenistic and Roman times, where the study focuses. They are represented mostly in terracotta and bronze figurines and can be allocated to different social areas like myth and religion, politics and education, leisure and so on. Considering the different cultural and functional contexts of each example as well as contemporary literary sources, the meaning of the selected caricatures is found.
Der griechische Dichter Aischylos (525/4 - 456/5 v. Chr.) war der erste antike Dramatiker, dessen Tragödien auch nach seinem Tod wiederaufgeführt werden durften – damals eine besondere Ehre. Bis heute stehen sie auf den Theaterspielplänen und erstaunen durch ihre Aktualität. Nur sieben seiner Werke sind vollständig erhalten. Bisher wurden sie, sowohl von Wissenschaftlern als auch von Regisseuren wie beispielsweise Peter Stein, meist aus theologischer bzw. politischer Perspektive gelesen. Aus dem Tragiker wurde so ein Lehrer der attischen Demokratie, was nicht zuletzt auch auf seine Darstellung in den Fröschen des Komödiendichters Aristophanes zurückzuführen ist. Die klassische Philologin Sabine Föllinger hält diese Lesart für falsch und bietet einen neuen Interpretationsansatz: In ihrem als "Einführung" (S. 8) bezeichneten Werk legt sie ihr Hauptaugenmerk auf die auf mehreren Ebenen vorhandenen Konfliktstrukturen, die sie (auch) als Auswirkungen und bildhafte Darstellung der Umbrüche zur Lebenszeit des Aischylos versteht. Politik und Religion sieht sie dabei lediglich als "Parameter, innerhalb derer der Aischyleische Mensch handelt" (S. 52). Was in Tragödien wie der Orestie und den Persern offensichtlich ist, arbeitet Föllinger auch in den Sieben gegen Theben, den Hiketiden und dem Gefesselten Prometheus heraus, den sie, obwohl die Autorschaft umstritten ist, ebenfalls in ihre Untersuchung mit einbezieht: Die Konflikte spielen sich in allen sieben Tragödien nicht nur auf interpersoneller Ebene zwischen den Protagonisten ab, sondern sind auf einer Metaebene auch als allgemeinere Generationenkonflikte zu verstehen, sowohl in der Welt der Menschen, als auch in überhöhter Form in der griechischen Götterwelt, in der die alten Götter, wie beispielsweise die Erinnyen in der Orestie, die Respektlosigkeit der neuen, olympischen Götter ihnen gegenüber beklagen. Gleichzeitig reflektiert Aischylos auf diese Art auch immer wieder den Konflikt zwischen Individuum und Gemeinschaft, häufig repräsentiert durch den in der attischen Tragödie so wichtigen Chor, indem er, wie auch in der Poetik des Aristoteles geschildert, Menschen in Extremsituationen exemplarisch auf die Bühne bringt. Gleichzeitig erhellt die Autorin die Innovativität des Dichters: Er führte nicht nur, wie bereits bekannt, den zweiten Schauspieler in die Tragödie ein, sondern legte mit seinen Frauenfiguren auch den Grundstein für die Darstellung von Frauen in den meist als moderner bezeichneten Tragödien des Euripides. Mit Rückgriffen auf antike Werke wie Hesiods Theogonie macht Föllinger deutlich, welche Transformationen Aischylos den griechischen Mythen angedeihen ließ. So wird auch klar, dass der Dichter keineswegs, wie bisher behauptet, die Vorstellung einer göttlichen Weltordnung durch einen gnädigen und alles harmonisierenden Gottes Zeus vertritt, sondern dass auch in seinen Tragödien Unsicherheit und Zweifel vorherrschen. Auch das Ende der Orestie, von Forschern wie Christian Meier als Sieg der neuen, demokratischen Ordnung interpretiert, wird in Föllingers Lesart zu einem schalen Kompromiss umgedeutet, der Aischylos' Welt nicht mehr hell, sondern "grau" (S. 165) erscheinen lässt. Den insgesamt fünf Kapiteln über die Tragödien – jedes davon gegliedert in eine kurze Zusammenfassung, eine Einführung in Forschungsstand und Problemstellungen und Föllingers Interpretation – die Orestie wird, da es sich hier um eine zusammenhängende Trilogie handelt, in einem Kapitel zusammengefasst – ist eine Einführung in die "Charakteristika der Aischyleischen Tragödie" (Kapitel 1) vorangestellt, in der u.a. der religiöse und politische Kontext sowie der Begriff der Tragödie selbst erläutert werden. Sehr kurz wird hier auch auf Fragen der Aufführungspraxis eingegangen. Zwei weitere Kapitel skizzieren die Wege der Überlieferung (Kapitel 2) und geben eine Bestandsaufnahme der bisherigen Forschung (Kapitel 3). Den Abschluss des Werkes bildet ein kurzer "Ausblick auf die Rezeption" der aischyleischen Tragödien bis ins zwanzigste Jahrhundert (Kapitel 11). Hoch anzurechnen ist der Autorin, dass sie auch die nur in Fragmenten erhaltenen Satyrspiele, wie auch die Tragödienfragmente nicht außer Acht lässt (Kapitel 9 und 10). Dass die Autorin die Zitate aus den Dramentexten mit einigen Ausnahmen selbst übersetzt hat, ist in Anbetracht der Qualität und Aktualität der vorliegenden deutschen Ausgaben verständlich, auch erleichtert deren Einfachheit sowohl das Textverständnis als auch jenes der Psychologie und Handlungsmotivationen der Charakter. Aischylos' viel gerühmte "Sprachgewalt" (S. 9) muss hier allerdings der Praktikabilität weichen. Für Neulinge auf dem Gebiet der aischyleischen Tragödie bietet Föllingers Werk tatsächlich eine angenehm zu lesende Einführung, wenn auch die – trotz Föllingers Kritik wichtigen – politischen und theologischen Lesarten der Tragödien nur kurz angerissen werden. Kenner des Dichters können v.a. in den Interpretationen der Tragödien neue Aspekte seines Œuvres entdecken.
Im diesem Aufsatz wird versucht mit Hilfe des Begriffs der politischen Religion einen der kanonischen Texte in der sowjetlitauischen Literatur, Der Mensch (Žmogus) von Leninpreisträger Eduardas Mieželaitis, zu interpretieren. Am Anfang wird der Begriff der politischen Religion basierend auf Theoretiker wie Eric Voegelin, Raymond Aron, Hans Otto Setschek, Hans Maiers, Manfred Hildermeier, Klaus-Georg Riegel u.a. präsentiert. Politische Religion ist ein Begriff, der das System des totalitären Staates bezeichnet. Politische Religion ist ein Versuch, die Ideologie als ein rationales Konstrukt, als Absolutes, einzig Mögliches und Rechtes vorzustellen. In den politischen Religionen nehmen die Führer und die Ideologen des Staates den Platz des Gottes oder sacrum ein und die Politik sowie Ideologie des Saates wird zum Plan der Erlösung.In der Analyse Des Menschen wird versucht die Frage zu beantworten, wodurch die Religion in der Sowjetzeit ersetzt wurde, welche Art neuer Metaphysik, die die Moral des Menschen begründet, geschaffen wurde, wie der ideologische Diskurs sakralisiert wurde.Das Poem Der Mensch von Mieželaitis wurde nach der Kritik des Personenkults geschaffen und erfüllte die Erwartungen des sowjetischen Systems. Personenkult wurde durch Kult des Menschen ersetzt, aber im Prinzip schreibt Mieželaitis die alten Texte der politischen Religion. Damit änderte er nicht die wesentlichen Prinzipien, er plädierte für die kommunistische Partei und den sozialistischen Humanismus in abstrakterer Art und Weise. Die komunistische Ideologie wurde als metaphysicher, absoluter Wert, die einzige Wahrheit dargestellt. Mieželaitis verwendet die griechischen Mythen, die Komposition der mythischen Erzählung, die sakrale Anthropologie, mit Hilfe der Technik gewinnt sein Held das Göttliche. Die Metapher der Sonne setzt im Poem die Semantik des Stalinismus und anderer totalitärer bzw. autoritarischer Staaten fort. Sowjetischer Romantismus und sowjetischer Humanismus maskieren im Poem oft die umgekehrte Bedeutung – statt des Progressträgers Prometheus erscheint Satan, statt Friedensheld – Antichrist.Das Poem wurde auch von der Literaturkritik als die symbolische Erklärung des Wirklichkeit schaffenden Mythos wahrgenommen, weshalb ihm die Kritik keine symbolistische, alegorische, unrealistiche Schreibweise vorgeworfen hat.
Im Beitrag wird der Frage nachgegangen, welche Zugänge für heutige Kinder zu Stoffen aus der griechischen Mythologie möglich sind. Kindliche Medienerfahrungen und Ergebnisse repräsentativer empirischer Studien zum Lese- und Medienverhalten werden skizziert. Zudem wird der Zusammenhang zwischen der Mythenaneignung in der ostdeutschen Literaturszene (Peter Hacks, Heiner Müller, Christa Wolf) und der Schaffung von Adaptionen für Kinder und Jugendliche beschrieben. In diesem Kontext wird das poetologische und poetische Werk des Schriftstellers Franz Fühmann in Grundzügen vorgestellt und seine Auffassung von den Mythen als Modellen von Menschheitserfahrungen als Grundlage für die Entwicklung von Konzeptionen für Literaturprojekte mit jüngeren Kindern entfaltet. Am Beispiel von Unterrichtsmodellen zum Trojanischen Krieg werden Wege von Kindern in die Stoffe der griechischen Mythologie beschrieben und Ergebnisse kindlicher Zugänge und Textproduktionen vorgestellt. ; This article explores the question of how children access themes and motives from Greek mythology today. Children's media experience and results of representative empirical studies on reading and media behavior are outlined. Furthermore the connection between the appropriation of myths by East German writers (Peter Hacks, Heiner Müller, Christa Wolf) and the creation of adaptations for children and adolescents is described. In this context, the poetological and poetic work of the writer Franz Fühmann is outlined. His conception of myths as models of human experiences is laid out as the basis for the conceptual development of literary projects with younger children. Using teaching models focusing on the topic of the Trojan War as an example, children's pathways into the topic matter of Greek mythology are described and the results of the children's reception and production processes are presented.
Einen Gipfelpunkt findet die Begeisterung für das Griechentum bekanntlich in der Weimarer Klassik, doch ist der Philhellenismus auch in späteren Jahrzehnten, so im Vormärz, aktuell. Die Gründe dafür liegen erstens in gesellschaftlichen Strukturen und Traditionen, durch die Wissen um die Antike weiter vermittelt wird. Dazu tragen das obligate Studium griechischer und lateinischer Sprache an den höheren Schulen und die Verbreitung antiker literarischer Texte und Mythen durch Übersetzungen ins Deutsche bei. [.] Zweitens ist vor allem der europaweit beobachtete griechische Unabhängigkeitskrieg ein Bezugspunkt politischen Denkens. Griechenland-Bilder werden im Vormärz nicht mehr nur wegen ihrer spezifisch ästhetischen, als überzeitlich geltenden Merkmale in bildender Kunst, Literatur, im Kunsthandwerk und in der Architektur (re-)konstruiert, sondern gewinnen zeitgeschichtlich an Aktualität. Dies umso mehr, als im Vormärz Forderungen nach dem Gegenwartsbezug von Kunst und Literatur unüberhörbar werden. [.] Die Auseinandersetzung mit dem antiken griechischen Erbe und den politischen Entwicklungen im zeitgenössischen Griechenland wird zu einem Kennzeichen des Vormärzes - in Wissenschaft, Literatur und Publizistik ebenso wie in politischen Vereinigungen, kulturellen Zirkeln und unter Studenten.
In the extensive tradition of adaptations of the Medea myth in German-speaking literature Paul Heyse's novella Medea (1898) has been often overlooked. However, the fact that it is the first text to introduce the tragic heroine from classical mythology as 'black' gives it particular relevance. This contribution provides an analysis of the text with emphasis on Heyse's portrayal of the Medea/Wally character at the interface of late nineteenth-century discourses about race, colonial politics, female sexuality and social class. Die deutschsprachige Literatur weist eine lange Tradition von Adaptionen des Medea-Mythos auf, in der Paul Heyses Novelle Medea (1898) jedoch häufig übersehen wird. Die Tatsache, dass dieser Text der erste ist, in dem die tragische Heldin der griechischen Mythologie als 'Schwarze' dargestellt wird, verleiht ihm jedoch eine besondere Bedeutung. Der folgende Beitrag liefert eine Analyse des Textes mit Schwerpunkt auf Heyses Darstellung von Medea/Wally im Schnittpunkt der Diskurse um Kolonialpolitik, Rasse, weibliche Sexualität und soziale Klasse am Ende des 19. Jahrhunderts.
Die etymologischen Frag-mente zu Wort und Begriff Supervision dienen zur kritischen Hinterfragung des Kunstwortes "Supervision". Sprachphilosophie und Evolution des Wortes "Supervision" werden in seinem griechisch-lateinischen Ursprung, seiner geschichtlichen Entwicklung bis hin zur Neuzeit nachvollzogen. Ein Ausblick auf Gebrauch und Missbrauch des Begriffes Supervision zeigt Strukturen und Funktionen der Macht auf. Das soziokulturelle und semantische Verständnis von Supervision wird verbunden mit der identitätsstiftenden Rolle für Supervisorin und Supervisor. Die etymologische und entwicklungsgeschichtliche Spurensuche dient zur Selbst-, Meta- und Triplexreflexion von Supervisoren und Supervisorinnen, um Arbeits- und Identitätskonzepte dekonstruktivistisch zu hinterfragen. Erwartungen und Ängste aller an dem Supervisionsprozess Beteiligten finden hermeneutische Betrachtung.Neben die historisch belastete Konnotation des Wortes Supervision werden die neuen, alten Ansätze des phänomenologischen Sehens im Sinne des altgriechischen Wortes eídein (e?de??) gesetzt. Konvisionäres Sehen wird hier prospektiv gedacht als Chiasmus, als Verflechtung von Sehendem und Gesehenem, sensu Merleau Ponty, und in den Diskurs gestellt. Der erdumfassende Weg der "Integrativen Supervision" als evidence based best word mit offengelegter Etymologie und Semiotik ist in demokratischen Gesellschaftsstrukturen ein erfolgreicher Weg mit kurzer Tradition und dynamischer Entwicklung.Die hier präsentierten Materialien stehen im Zusammenhang mit der Arbeit von Hilarion G. Petzold "Über die Unsensibilität von Supervisoren für die Historizität des Namens ihrer "Profession" – Begriffliche Mythen und einige Fakten zum Herkommen des Wortes "Supervision" aus einer Integrativen Perspektive". In www.fpi-publikationen.de/supervision – SUPERVISION: Theorie – Praxis – Forschung. Eine interdisziplinäre Internet-Zeitschrift – 01/2005, eine Arbeit die im gleichen Diskurs begriffsgeschichtlicher Klärung steht. ; The etymological fragments of the word and of ...
This text has been prepared within the project Our Mythical Childhood. The Reception of Classical Antiquity in Children's and Young Adults' Culture in Response to Regional and Global Challenges, which has received funding from the European Research Council (ERC) under the European Union's Horizon 2020 Research and Innovation Programme under grant agreement No 681202, ERC Consolidator Grant (2016-2021), led by Katarzyna Marciniak, Faculty of "Artes Liberales", the University of Warsaw. Medusa ist eine der bekanntesten Figuren der Mythologie, ein Monster par excellence. Die antike Literatur überliefert zwei Versionen ihrer Geschichte – ein Urzeitwesen aus vorolympischen Zeiten (Hesiod, Theogonie 270-285) und eine junge Frau, die in Athenes Tempel von Poseidon vergewaltigt und von der Göttin, die den Vorfall als unsagbares Sakrileg (miss)deutete, in ein schreckliches Ungeheuer verwandelt wurde (Ovid, Metamorphosen 4,753-803). Im Lauf der Jahrtausende klassischer Rezeption trat Medusa hauptsächlich als mörderisches Ungeheuer in Erscheinung, das ein Held auf seinem "Campbellischen" Weg zum Ruhm besiegen muss (Campbell 2004). Dann konzentrierte sich Hélène Cixous auf ihre Stimme als Opfer – mit einem speziellen Fokus auf ihrer Weiblichkeit – und machte Medusa zu einer Ikone für Generationen von Frauen, die unschuldig und aufgrund einer Reihe sozialer Faktoren Leid erfuhren (Cixous 1976).Greift ein ähnlicher Perspektivenwechsel auch in der kulturellen Aneignung für ein junges Publikum? Erscheint Medusa vor diesem kulturellen Hintergrund einfach als Ungeheuer oder doch eher als Opfer? Oder spielt sie sogar noch mehr Rollen? Wir unternehmen den Versuch, Antworten auf diese Fragen zu finden, indem wir die Analyse von Medusas Rezeption in zwei Filmen – Clash of the Titans im Original (1981) und seinem Remake (2010) – als Ausgangspunkt nehmen. Diese Analyse enthüllt charakteristische Züge eines Bildes, das in den 1980er-Jahren geschaffen wurde, einer für die Entwicklung der Populärkultur besonders wichtigen Epoche, und vergleicht und kontrastiert sie mit der Repräsentation, die die Realität des 21. Jh. transformiert hat. Die Untersuchung des Medusa-Charakters in den beiden Clashes-Filmen ist durchzogen von einem Überblick über die wichtigsten antiken Quellen und das zeitgenössische Narrativ durch Wissenschaftler*innen und Autor*innen, deren Ziel die Popularisierung der klassischen Antike ist.Weiters stellen wir eine kurze Übersicht ausgewählter, zumeist weltweit zugänglicher Werke vor. Jedes einzelne ist einem bestimmten Abschnitt in Medusas Leben gewidmet. Als erstes treffen wir ein Kind, das seine ersten Schritte in die Welt macht (im Bilderbuch Brush Your Hair, Medusa! von Joan Holub und Leslie Patricelli). Dann stehen wir einer Teenagerin gegenüber, die die Bedeutung wahrer Akzeptanz entdeckt (The Goddess Girls-Serie von Joan Holub und Suzanne Williams). In einem dritten Teil folgen wir einem heranwachsenden Mädchen (und ebenso einem Burschen), die ihre Identität entwickeln (in den TV-Serien Monster High und Legacies – einem Spin-off von The Vampire Diaries). Später sehen wir eine erwachsene Frau, die für ihr Recht auf Glück kämpft (BBC TV-Serie Atlantis). Danach beobachten wir eine ältere Frau, zerrissen zwischen Liebe und Hass (Rick Riordans Percy Jackson). Und schließlich begegnen wir einer Mutter, die ihre Rolle in der Gesellschaft findet (im Bilderbuch Mère Méduse von Kitty Crowther).Dieser aus literarischen und audiovisuellen Elementen zusammengestellte Lebenslauf der Medusa erlaubt uns einen neuen Blick auf die mythologische Figur. Versteinert sie immer noch mit ihrem Blick als Ungeheuer, ist sie ein Opfer, oder kann sie überhaupt eine Leitfigur für moderne Kinder und Jugendliche werden, um sich selbst besser kennenzulernen und gegenüber Anderen größere Empathie zu entwickeln? ; This text has been prepared within the project Our Mythical Childhood. The Reception of Classical Antiquity in Children's and Young Adults' Culture in Response to Regional and Global Challenges, which has received funding from the European Research Council (ERC) under the European Union's Horizon 2020 Research and Innovation Programme under grant agreement No 681202, ERC Consolidator Grant (2016-2021), led by Katarzyna Marciniak, Faculty of "Artes Liberales", the University of Warsaw. Medusa is one of the best known mythical creatures, a monster par excellence. Ancient literature transmits two versions of her story – a primordial being from pre-Olympian times (Hesiod, Theogony 270-285) and a young woman who was raped by Poseidon in Athena's temple and punished by being transformed into a hideous beast for what the goddess presumed was a dreadful sacrilege (Ovid, Metamorphoses 4,753-803). Down through the millennia of classical reception, Medusa appeared mainly as a killing monster to be defeated by the hero on his "Campbellian" journey to glory (Campbell 2004). Then Hélène Cixous listened to her voice as that of a victim – with a particular focus on her womanhood – and made Medusa an icon for generations of women who suffered innocently due to a range of societal factors (Cixous 1976).Is a similar reversal of perspective also valid in the culture for a young audience? Does this culture feature Medusa simply as a monster, or rather as a victim? Or perhaps there are more roles for her still? We have attempted to answer these questions by taking as our starting point an analysis of Medusa's reception in two movies – namely, Clash of the Titans, the original from 1981 and the remake from 2010. This analysis reveals characteristic traits of her image as encoded in the 1980s, a period of particular importance for the development of popular culture, and compares them with the representation transformed into a believable 21st-century protagonist and following the demands of a 21st-century audience. The study of the Medusa characters in the two Clashes is interspersed with an overview of the most relevant ancient sources and the contemporary narrative both by scholars and popularizers of Classical Antiquity.Then, we propose a short survey of selected, mostly globally accessible works. Each is dedicated to a specific stage of Medusa's life. First, we meet a child taking her first steps in the world (the picture book Brush Your Hair, Medusa! by Joan Holub and Leslie Patricelli). Second, we face a teen who discovers the meaning of true acceptance (The Goddess Girls series by Joan Holub and Suzanne Williams). Third, we follow a maturing girl (and boy) building her (his) identity (the TV series Monster High and Legacies – a spin-off of The Vampire Diaries). Subsequently, we see a grown-up woman who fights for her right to happiness (BBC TV series Atlantis). Next, we observe an elderly lady torn between love and hate (Percy Jackson by Rick Riordan). And finally, we encounter a mother who learns her role in society (the picture book Mère Méduse by Kitty Crowther).This composite, literary-audio-visual curriculum vitae of Medusa permits us to risk casting a new look at this mythical creature. Does she still petrify with the gaze of a monster, or is she a victim? Or, above all, is she able to become a guide for contemporary children and young adults to better awareness of themselves and greater empathy towards the Other?
Die Arbeit stellt die griechische Mythologie und ihre Beziehung zum slowenischen Nachkriegsdrama in den Mittelpunkt. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Möglichkeiten gelegt, die ein Mythos als Adaptionsbasis liefert. Es gilt die Frage zu beantworten, warum mythologische Überlieferungen immer wieder aufgegriffen werden, worin ihre Bedeutung für die slowenische Literatur liegt, und was sie uns heute noch lehren können. Die Dramen Antigona (1960) von Dominik Smole und Dedalus (1988) von Drago Jan?ar werden herangezogen und ihre Darstellung den Schwerpunkt der Arbeit bilden. Dabei werden sie in ihrem historischen Kontext als auch in ihrer modernen Funktion besprochen. Die beiden der Arbeit zugrunde liegenden Dramen wurden ausgewählt, weil sie sehr deutlich die immer währende Aktualität des griechischen Mythos aufzeigen. Antigone als mythologische Figur gilt seit jeher als eine der beliebtesten Adaptionsquellen, da ihre Geschichte von immerwährender Gegenwärtigkeit zu sein scheint. Dominik Smole hat 1960 mit seiner Version dieser besonderen mythologischen Figur den Beginn der Aufnahme mythologischer Motive im slowenischen Drama initiiert und sein Drama Antigona von enormem Wert und großer Aussagekraft für die slowenische Literatur gemacht. Daneben bildet Drago Jan?ars Dedalus (1988) den zweiten inhaltlichen Schwerpunkt dieser Arbeit. Dedalus behandelt den mythologischen Stoff in einer sehr modernisierten und der Gegenwart angepassten Version. Beide Dramen veranschaulichen Machtverhältnisse und immer währende Konfliktbeziehungen. Eine wesentliche Erkenntnis der Arbeit ist, dass die Dramen Dedalus und Antigona für die slowenische Literatur von großer Bedeutung sind, da sie wegweisend waren für eine Rezeption der Mythologie außerhalb der Religion und dabei die Begriffe Moral und Ethik in den Vordergrund stellen, welche wiederum in direkter Beziehung zu gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten im slowenischen Raum stehen. ; The diploma thesis concentrates on greek mythology and in which way it is connected with the slovenian post war drama. The thesis tries to show which possibilities a certain myth can provide regarding it as a basis of adaption and further tries to give an answer to the questions, why mythological legends are often picked up, why they are of such great importance for literature and what they can teach us today. The main focus lies on the description and analysis of the two dramas Antigona (1960) by Dominik Smole and Dedalus (1988) by Drago Jan?ar. The analysis provides information about the dramas and their historical context as well as their contemporary role. Both dramas were picked, because they clearly show the everlasting topicality of greek mythology. Antigone, as a mythological character, is known as one of the most popular sources for an adaption in literature. Dominik Smole initiated the general acceptance of mythological motives especially in the slovene drama with his version of ?Antigone?. The drama Dedalus by Drago Jan?ar is adpated in a very modern way in which the topic is strongly connected with the present, respectively historical actions that lie in the near past. Both dramas illustrate the relations of power and everlasting conflicts in significant dialogues and describe characters, who impressively reflect the illusion of power, humiliation, regression, individuality and society. The aim of the thesis is to give a review on the mythological basis, beginning with the influences of the existential philosophy and finally leading to a detailed analysis in the practical part of the work, concentrating on an extensive description of the characters. One of the basic conclusions of the thesis is the importance of Antigona and Dedalus for the slovenian literature, founding on the fact that these dramas initiated the reception of greek mythology, leaving religious aspects aside, but still focusing on the ideas of morality and ethics. ; vorgelegt von Corina Kern ; Abweichender Titel laut Übersetzung der Verfasserin/des Verfassers ; Zsfassungen in dt. und engl. Sprache ; Graz, Univ., Dipl.-Arb., 2014 ; (VLID)252001
Wann, wo, wie, für wen und warum macht man Theater? Fünf leitende W-Fragen stecken in der aktuellen Buchpublikation von Eugenio Barba und Nicola Savarese die titelgebenden fünf Kontinente des Theaters ab. Das vorliegende Resultat – ein umfassender, großformatiger und an Bildmaterial reicher Band – der jahrzehntelangen Zusammenarbeit und intellektuellen Komplizenschaft zwischen dem Gründer des Odin Teatret und dem Theaterwissenschaftler erschien 2017 auf Italienisch und liegt inzwischen in englischer, französischer, rumänischer und spanischer Übersetzung vor. Ein Zitat von Eugenio Barba auf dem Umschlag der 2020 erschienenen französischsprachigen Ausgabe, das mit einem impliziten Verweis auf Paul Gauguins gleichnamiges Gemälde beginnt, lässt Ziele und Struktur der Publikation erahnen: "Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir die unzähligen Formen, Erfahrungen, Überreste und Rätsel, die uns die Geschichte unseres Berufs vermacht hat, aus einer anderen Perspektive betrachten. Nur auf diese Weise können wir einen persönlichen Kompass bauen, um die fünf Kontinente unseres Berufs zu durchqueren […]". (Übers. LB) Die Beitragenden des Buchs stammen allesamt aus der italienischen Theaterwissenschaft und dem Umfeld des Odin Teatret, der ISTA bzw. der Fachzeitschrift Teatro e Storia. Neben den Herausgebern exemplarisch zu erwähnen sind Fabrizio Cruciani († 1992), Ferruccio Marotti, Ariane Mnouchkine, Franco Ruffini, Mirella Schino (die 2008 das Odin Teatret Archive gegründet hat), Ferdinando Taviani († 2020) und Julia Varley (seit 1976 Truppenmitglied des Odin Teatret). Savarese zeichnet in seinem Vorwort den über 20 Jahre umspannenden Entstehungsprozess des vorliegenden Buchs nach. 1996 wurde in Gesprächen mit italienischen Theaterforschenden der Wunsch ausgedrückt, das strukturelle und gestalterische Prinzip der seit 1983 mehrfach wiederaufgelegten, überarbeiteten und in zahlreiche Sprachen übersetzten Anatomia del teatro von 1983 (dessen erneuerte Version den Titel L'arte segreta dell'attore. Un dizionario di antropologia teatrale trägt) aufzugreifen, um wiederum die Techniken von Akteur*innen zu studieren, allerdings unter einem veränderten Blickwinkel: Standen im Theateranthropologie-Lexikon körperlich-mentale Techniken und prä-expressive Qualitäten im Zentrum, widmet sich Les cinq continents du théâtre der Geschichte und Gegenwart von Theater aus der Perspektive der "techniques auxiliaires" (S. 7) der materiellen Kultur von Akteur*innen. Welche sind aber diese Hilfs- bzw. Nebentechniken? Es handelt sich um die strukturellen, organisatorischen, sozialen, räumlichen, ökonomischen, politischen Faktoren von Theaterarbeit, die im Buch auf transhistorische und transkulturelle Weise präsentiert werden. Les cinq continents du théâtre ist ein eigenwilliges Buch. Mit seinen ca. 1400 Abbildungen, seiner Gleichwertigkeit von aufeinander Bezug nehmenden Bild- und Textelementen, seiner Bibliografie, seinem Namens- und Stichwortverzeichnis ist das Ergebnis weder ein Lexikon noch ein Bildband oder ein theatergeschichtliches Handbuch. Raimondo Guarino wählt in seiner auf dem Buchdeckel zitierten Rezension den stimmigen Begriff Almanach, um die Zusammenstellung aus verschiedensten Textsorten, wissenschaftlichen Analysen, Dialogen, Chronologien, Anekdoten, Bildern und vielsagenden Bildlegenden zu kategorisieren. Sechs Kapitel ("Quand", "Ou", "Comment", "Pour qui", "Pourquoi", "Théâtre et histoire") und ihre insgesamt über 130 durchnummerierten Unterkapitel präsentieren auf mäandernde Weise Aspekte des Theaterschaffens weltweit. Das konsequent heterogene Bildmaterial im Buch umfasst u. a. Satellitenaufnahmen von Sonneneruptionen, Buster-Keaton-Filmstandbilder, Hoffest-Kupferstiche, Saalpläne, japanische Holzschnitte, historische und zeitgenössische Fotografien von (Toten-)Masken, prähistorischen Skulpturen, Lipizzaner-Dressur, balinesischen Neujahrsfesten, Eintrittskarten, Butoh-Tänzer*innen, Theaterbränden, Fronttheater, sowie Gemälde und Grafiken zu Publikums-Krawall, Schausteller*innen, Hinrichtungen, römischen Zirkuselefanten, sowie acht Seiten mit Sonderbriefmarken zu Ehren von Schauspieler*innen und Dramatiker*innen. Die Lektüre eines konventionellen theatergeschichtlichen Buchs suggeriere, so die Herausgeber, dass alles klar, quantifizierbar und in Form von Ursachen und Wirkungen beschreibbar sei, "[m]ais sous cette évidence rassurante coule une histoire souterraine que ne se laisse pas enfermer dans les interprétations linéaires élaborées a posteriori." (S. 10) Das erste Kapitel des Buchs widmet sich textuell und bildlich dieser unterirdischen Geschichte aus der Perspektive der Zeitlichkeit: Wann wurde und wird Theater gemacht? Markante Momente von zeitlicher Gebundenheit in der europäischen und internationalen Theatergeschichte werden skizziert, religiös-politisch motivierte Festkalender mit ihren kleinen oder größeren Zeitfenstern für Theaterpraxis beschrieben. Gemeinschaftliche Feste als Unterbrechung des gewöhnlichen Zeitverlaufs – Dionysien, Karneval, Narrenfeste – mit ihrem Simulakrum sozialer Unordnung finden im ersten Kapitel ihren Platz, sowie ein Panorama diverser Ursprungsmythen (Europa, Indien, China etc.) von Theater. Wann haben Menschen begonnen zu tanzen, zu repräsentieren, sich zu kostümieren und zu maskieren? Inwiefern sind Theater und Schamanismus, Halluzinationen, Trancezustände historisch miteinander verbunden? Der vermutliche "Bocksgesang" der antiken griechischen Tragödie wird im Sinne einer theateranthropologisch interessierten, alternativen Etymologie nach Vittore Pisani auf die illyrischen Wurzeln trg (Markt) und oide (Gesang) zurückgeführt. Diese Herleitung verknüpft die Ursprünge des westlichen Theaters mit einem konkreten Beruf – der Straßendichter, Rhapsoden, fahrenden Sänger – und bietet eine Verbindung zu den buddhistischen Erzählkünstlern zur Entstehungszeit dramatischer Kunst im asiatischen Raum. Es folgen historische Abrisse zur Entwicklung des Mäzenatentums, hin zum Bezahltheater (mit Verweis auf Raufereien um Gratis-Theaterkarten) und der Funktion von Impresarios (u. a. Domenico Barbaja, Lewis Morrison, Sergei P. Djagilew, Loïe Fuller, Max Reinhardt). Vier farbig unterlegte Seiten bieten eine "petite anthologie de la censure" (S. 44) mit Schlaglichtern auf ausgewählte Fälle, darunter Auftrittsverbote für Frauen, der Theatrical Licensing Act (1737), die Theaterzensur in Frankreich von der Revolution bis zu Napoleon, die kirchliche Zensur in Lateinamerika ab der frühen Neuzeit, das Kabuki-Verbot in Japan unter US-amerikanischer Besatzung nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Sinne der antimilitaristischen Umerziehungsideologie und die Anekdote der Rettung des Kabuki durch den US-Amerikaner Faubion Bowers. Das zweite Kapitel streift erneut die bereits erwähnten Genese-Mythen, die Entwicklungen von Berufsschauspiel und von Theater in Innenräumen, allerdings aus der Perspektive der Orte und Räume für Theaterpraxis. Wo finden Akteur*innen ihren Platz? In Baracken, Kellern, sogenannten Laboratorien und Ateliers, unter freiem Himmel, in Theaterarchitekturen, auf Straßen etc. Die erste Doppelseite des Kapitels zeigt eine suggestive Bilder-Montage, bestehend aus einer Saalansicht des Teatro San Carlo in Neapel, dem (bescheiden-funktionalen) Saal des Teatro Experimental de Alta Floresta sowie dem (repräsentativen) Teatro Amazonas in Brasilien, das laut Bildlegende 1896 eröffnet wurde, mit importierten Dachschindeln aus dem Elsass, französischen Textilien, Stahl aus England, Marmorsäulen und -statuen aus Italien. Die Autor*innen der folgenden Unterkapitel nehmen die Kreisform zum Anlass für Überlegungen und Bebilderungen zu Genese-Mythen, Stadtentwicklung, frühen Publikums-Konstellationen, Rundtänzen, antiken Theaterbauten. Mittels Freilufttheater, Bänkelsängern und Scharlatanerie wird die Entwicklung vom Verkauf von Produkten zum Verkauf von Aufführungen illustriert, gefolgt von Rückgriffen auf die Spielorte der frühen Neuzeit durch Vertreter*innen der historischen Avantgarden (u. a. Wsewolod Meyerhold, Jacques Copeau). In einer theaterhistorisch internationalen Rundumschau werden in Kürze die Spielorte mittelalterlicher Aufführungspraktiken sowie erste Theaterbauten in England, Frankreich, Spanien, Indien, Japan, China, den USA, Lateinamerika, Italien thematisiert, bis hin zur Entwicklung der Konvention der Guckkastenbühne bzw. des Rang-Logen-Theaters, basierend auf Renaissance-Interpretationen antiker Theaterbauten, und nicht auf den Spielpraktiken von Akteur*innen. Mirella Schino argumentiert, dass "das Theater im italienischen Stil [das Rang-Logen-Theater mit Guckkastenbühne, Anm. LB] als autonomes Denkmal seine Entstehung dem abstrakten Wunsch verdankt, bedeutungsvolle Orte für die ideale Stadt zu schaffen. Es entstand als eine Reflexion in Verbindung mit der Architektur – mit der Nostalgie eines Ursprungs im griechischen und römischen Theater – und nicht in Verbindung mit der Aufführung und der materiellen Kultur der Schauspieler" (S. 132, Übers. LB). "[l]e théâtre à l'italienne, en tant que monument autonome, doit sa naissance à un désir abstrait de créer des lieux signifiants pour la ville idéale. Il naît comme une réflexion liée à l'architecture et non au spectacle et à la culture matérielle des acteurs, avec la nostalgie d'une origine dans le théâtre grec et romain." (S. 132) Das dritte Kapitel fragt nach dem Wie. Wie wird man Akteur*in? Wie wird theatral agiert? Bücher für Akteur*innen, über Trainings- und Arbeitsmethoden seien "compagnons de voyage" (S. 158) und böten manchmal, wie z. B. Antonin Artauds Das Theater und sein Double, "des mots-talismans" (S. 158) die auf intuitive Weise bei der Orientierung helfen. Acht farbig unterlegte Seiten bieten eine Gegenüberstellung von "acculturation" und "inculturation" (S. 160) als mögliche Wege zum Theaterberuf, sowie einen Überblick zu Ausbildungsarten (Meister, Gurus, gegenwärtige Schauspielschulen und Theaterlaboratorien), Techniken und theateranthropologischen Ansätzen. Der Wandel der Techniken der Akteur*innen seit dem 19. Jahrhundert wird unter dem – in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft wenig geläufigen – Begriff der "Grande Réforme" (erste Phase 1876–1939, zweite Phase 1945–1975) bearbeitet und illustriert. Eine umfassende Chronologie historischer Ereignisse und theatergeschichtlicher Wegmarken zeichnet Entwicklungen ab Richard Wagners Gesamtkunstwerk-Konzept nach, über die "fondateurs de traditions" (S. 169) zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zu experimentellen Truppengründungen und Praktiken der 1970er-Jahre, im Zeichen eines Neuauslotens von retheatralisiertem, von der Literatur emanzipiertem, gattungsübergreifendem Theater. Das Kapitel befasst sich aber ebenso mit dem Naheverhältnis von technischem und ästhetischem Wandel, etwa im Fall des Bühnenlichts, sowie mit diversen Spielmodi (Clowns, Puppentheater, Maskentheater) und dem Spiel mit Requisiten (wobei das Taschentuch und der Stuhl jeweils eine eigene Bilder-Doppelseite in Anspruch nehmen), denn "[l]es objets possèdent l'acteur", sie sind "seine Prothesen, seine Auswüchse, seine Fesseln, die den Akteur dazu zwingen zu reagieren, das Gleichgewicht zu verlieren, zu übertreiben, zu vereinfachen" (S. 216, Übers. LB). Das Publikum steht im Zentrum des vierten Kapitels. Zuschauer*innen in allen Aggregatszuständen werden bildlich dekliniert: wartend vor der Aufführung, Schlange stehend, raufend, gähnend, weinend, enthusiastisch, als Attentäter. Verschiedene soziale Schichten als Zuschauer*innen und ihre jeweilige Sitzordnung (z. B. im Kolosseum, in einem Teehaus in Peking) werden beschrieben, sowie Verhaltensweisen von teilnehmendem Publikum im Karneval und als "spect-acteurs" (S. 288) bei Augusto Boal, aber auch die Sonderform des unfreiwilligen Publikums, etwa von Performances im öffentlichen Raum. Ein Exkurs zu Epidemien und Theaterpublikum – mit Verweis auf Pestepidemien zur Zeit der Entstehung von Berufsschauspiel in Europa – präsentiert das Foto eines Mundschutz-tragenden Publikums einer Aufführung in Taipei im Kontext der SARS-Epidemie 2003. Auch die Frage nach dem Theaterpublikum in politischen und sozialen Ausnahmezuständen wird beleuchtet, vom Fronttheater, Aufführungen in Gefangenenlagern, Gefängnissen, NS-Konzentrationslagern, bis zu aktuellen Fällen, u. a. 2015 im türkischen Flüchtlingslager Midyat und anlässlich einer Hamlet-Aufführung im Flüchtlingslager "La Jungle" in Calais 2016. Warum überhaupt Theater machen? Was ist der Motor dieses anstrengenden Tuns? Das fünfte Kapitel, eines der lesenswertesten des vorliegenden Buchs, beginnt mit dem Gemälde Die Gärtner von Gustave Caillebotte nebst Fotografien der mutwilligen Zerstörung von Theaterbauten und der Rekonstruktion von historischen Theatergebäuden, begleitet von einer Überlegung zur Gärtner-Metapher in Shakespeares Othello (der Körper als Garten, der Wille als Gärtner) und bei Rudyard Kipling (Gärtnerarbeit müsse oft kniend gemacht werden). Die ökonomische Begründung wird nahegelegt – denn europäisches Theater sei nicht aus dem griechischen Ritual entstanden, sondern auf italienischen Märkten des 16. Jahrhunderts. Hinweise auf ästhetische und vor allem ethische Beweggründe für Theaterschaffen im Zuge der "Grande Réforme" und die Utopie des "éternel premier pas" (S. 299) bilden die Basis für das umfangreichere Unterkapitel "Petite encyclopédie sur l'honneur de l'acteur" (S. 300), in welchem Individuen präsentiert werden, die inmitten von und trotz Diskriminierung, Sklaverei, politischer Unterdrückung und Verfolgung, sozialer Missstände als Theaterakteur*innen aktiv waren bzw. sind, u. a. Ira Aldridge, Patricia Ariza, Josephine Baker, Wsewolod Meyerhold, Norodom Bopha Devi, Hedy Crilla, die Moustache Brothers. Die Autor*innen gehen ebenfalls in Kürze auf Verbindungen von Sexarbeit und Tanz bzw. Schauspiel in verschiedenen Ländern ein, sowie auf Theater "in der Hölle" (Gulag, NS-Konzentrationslager), auf kolonialistische "Menschenzoos". Zwölf farbig unterlegte Seiten, betitelt als "Florilège sur la valeur du théâtre" (S. 324), überlassen schließlich Theaterleuten das Wort und geben Textauszüge von Adolphe Appia, Antonin Artaud, Julian Beck, Walter Benjamin, Augusto Boal, Bertolt Brecht, Peter Brook, Enrique Buenaventura, Jacques Copeau, Isadora Duncan, Hideo Kanze, Sarah Kane, Jewgeni B. Wachtangow, Ariane Mnouchkine und anderen wieder. Das Reise-Motiv bestimmt die anschließenden Unterkapitel, von den Fahrzeugen und Gepäckstücken reisender Truppen über die geografischen und kulturellen Reisen von Theatermasken, bis hin zu Reisen von Körpertechniken mittels Tourneen, Exkursionen, internationaler Streuung durch ehemalige Schüler*innen bzw. Flucht und Exil (illustriert durch eine Karte der zahlreichen Exil-Stationen Brechts 1933–1947). Beerdigungsprozessionen als letzte Reise sowie die Weitergabe und Übersetzung von Theatertechniken in Form von Büchern, Zeitschriften, Spiel- und Dokumentarfilmen beenden das Warum-Kapitel. Das sechste Kapitel, "Théâtre et histoire. Pages tombées du carnet de Bouvard et Pécuchet" (S. 370), dient primär der Wiedergabe von Bildmaterial, das durch seine Anordnung und Kontrastierung zum Sprechen gebracht wird: Internationale Briefmarken und (Presse-)Fotografien bilden die Basis für Doppelseiten zu Theater und Aufständen, Protestbewegungen, Kriegen, Theatermasken und Schutzmasken (Gasmasken, Sturmmasken, Maskierung als Anonymisierung bei Demonstrationen), Theatergebäuden und massiver Zerstörung durch Tsunamis oder Bomben. Theaterbrände, ikonografische und mediale Inszenierungen von Hinrichtungen, die Thematisierung des Holocaust auf der Bühne folgen. Anstelle von Theatergeschichte werden im Abschlusskapitel Theater und Geschichte (im Sinne von Teatro e storia) als Montage präsentiert. Die letzte Doppelseite ist schwarz unterlegt: Links ist ein Foto von Frauen mit Schminkmasken in El Salvador zu sehen, die gegen das herrschende Abtreibungsverbot protestieren, rechts ein Porträtfoto von Pjotr A. Pawlenski mit zugenähtem Mund, begleitet von einem Abschlusszitat von Barba. Es werde immer einige Personen geben, die Theater als Mittel praktizieren, um ihre eigene Revolte auf nicht zerstörerische Weise zu kanalisieren; Personen "die den scheinbaren Widerspruch einer Rebellion erleben werden, die sich in ein Gefühl der Brüderlichkeit verwandelt, und eines einsamen Berufes, der Verbindungen schafft" (S. 395, Übers. LB). Jedes Kapitel des Buchs wird eingeleitet von einem Dialog zwischen zwei Stellvertreter-Figuren von Barba und Savarese: Bouvard und Pécuchet. Es handelt sich um die Protagonisten eines posthum veröffentlichten satirischen Romanfragments von Gustave Flaubert – zwei Pariser Kopisten, die sich zufällig auf einer Parkbank kennenlernen und voller Enthusiasmus und Naivität ein gemeinsames Projekt in Angriff nehmen: aufs Land ziehen und Landwirtschaft betreiben. Als frenetische Leser wollen sie immer mehr erkunden und kultivieren ihr zerebrales und oberflächliches Wissen in den Bereichen Gärtnerei, Schnapsbrennerei, Chemie, Zoologie, Medizin, Archäologie, Politik, Gymnastik, Religion, Theater etc. Die Wahl dieser Stellvertreter durch die Herausgeber bringt eine durchaus sympathische Ironisierung ihrer Positionen und künstlerisch-wissenschaftlichen Biografien mit sich, aber auch eine verbesserte Zugänglichkeit für Leser*innen mittels der lockeren und teils amüsanten Dialoge. Die niederschwellige und im Konkreten fußende Methode der fünf W-Fragen als roter Faden für die Arbeitsweise am Inhalt und an der Struktur des Buchs, sowie die Wertschätzung von heterogenem Bildmaterial für die Erkundung von Theaterpraktiken machen Les cinq continents du théâtre für Forschende (insbesondere für jene, die mit Ansätzen von Barba/Savarese noch nicht eng vertraut sind), für Theaterpraktiker*innen und für Studierende zu einem ausgezeichneten Entdeckungs- und Orientierungsband.
What is a radical? Somebody who goes against mainstream opinions? An agitator who suggests transforming society at the risk of endangering its harmony? In the political context of the British Isles at the end of the eighteenth century, the word radical had a negative connotation. It referred to the Levellers and the English Civil War, it brought back a period of history which was felt as a traumatic experience. Its stigmas were still vivid in the mind of the political leaders of these times. The reign of Cromwell was certainly the main reason for the general aversion of any form of virulent contestation of the power, especially when it contained political claims. In the English political context, radicalism can be understood as the different campaigns for parliamentary reforms establishing universal suffrage. However, it became evident that not all those who were supporting such a reform originated from the same social class or shared the same ideals. As a matter of fact, the reformist associations and their leaders often disagreed with each other. Edward Royle and Hames Walvin claimed that radicalism could not be analyzed historically as a concept, because it was not a homogeneous movement, nor it had common leaders and a clear ideology. For them, radicalism was merely a loose concept, « a state of mind rather than a plan of action. » At the beginning of the nineteenth-century, the newspaper The Northern Star used the word radical in a positive way to designate a person or a group of people whose ideas were conform to those of the newspaper. However, an opponent of parliamentary reform will use the same word in a negative way, in this case the word radical will convey a notion of menace. From the very beginning, the term radical covered a large spectrum of ideas and conceptions. In fact, the plurality of what the word conveys is the main characteristic of what a radical is. As a consequence, because the radicals tended to differentiate themselves with their plurality and their differences rather than with common features, it seems impossible to define what radicalism (whose suffix in –ism implies that it designate a doctrine, an ideology) is. Nevertheless, today it is accepted by all historians. From the mid-twentieth century, we could say that it was taken from granted to consider radicalism as a movement that fitted with the democratic precepts (universal suffrage, freedom of speech) of our modern world. Let us first look at radicalism as a convenient way to designate the different popular movements appealing to universal suffrage during the time period 1792-1848. We could easily observe through the successions of men and associations, a long lasting radical state of mind: Cartwright, Horne Tooke, Thomas Hardy, Francis Burdett, William Cobbett, Henry Hunt, William Lovett, Bronterre O'Brien, Feargus O'Connor, The London Society for Constitutional information (SCI), The London Corresponding Society (LCS), The Hampden Clubs, The Chartists, etc. These organizations and people acknowledged having many things in common and being inspired by one another in carrying out their activities. These influences can be seen in the language and the political ideology that British historians name as "Constitutionalist", but also, in the political organization of extra-parliamentary societies. Most of the radicals were eager to redress injustices and, in practice, they were inspired by a plan of actions drawn on from the pamphlets of the True Whigs of the eighteenth-century. We contest the argument that the radicals lacked coherence and imagination or that they did not know how to put into practice their ambitions. In fact, their innovative forms of protest left a mark on history and found many successors in the twentieth century. Radicals' prevarications were the result of prohibitive legislation that regulated the life of associations and the refusal of the authorities to cooperate with them. As mentioned above, the term radical was greatly used and the contemporaries of the period starting from the French Revolution to Chartism never had to quarrel about the notions the word radical covered. However, this does not imply that all radicals were the same or that they belong to the same entity. Equally to Horne Tooke, the Reverend and ultra-Tory Stephens was considered as a radical, it went also with the shoemaker Thomas Hardy and the extravagant aristocrat Francis Burdett. Whether one belonged to the Aristocracy, the middle-class, the lower class or the Church, nothing could prevent him from being a radical. Surely, anybody could be a radical in its own way. Radicalism was wide enough to embrace everybody, from revolutionary reformers to paternalistic Tories. We were interested to clarify the meaning of the term radical because its inclusive nature was overlooked by historians. That's why the term radical figures in the original title of our dissertation Les voix/voies radicales (radical voices/ways to radicalism). In the French title, both words voix/voies are homonymous; the first one voix (voice) correspond to people, the second one voies (ways) refers to ideas. By this, we wanted to show that the word radical belongs to the sphere of ideas and common experience but also to the nature of human beings. Methodoloy The thesis stresses less on the question of class and its formation than on the circumstances that brought people to change their destiny and those of their fellows or to modernize the whole society. We challenged the work of E.P. Thompson, who in his famous book, The Making of the English Working Class, defined the radical movements in accordance with an idea of class. How a simple shoe-maker, Thomas Hardy, could become the center of attention during a trial where he was accused of being the mastermind of a modern revolution? What brought William Cobbett, an ultra-Tory, self-taught intellectual, to gradually espouse the cause of universal suffrage at a period where it was unpopular to do so? Why a whole population gathered to hear Henry Hunt, a gentleman farmer whose background did not destine him for becoming the champion of the people? It seemed that the easiest way to answer to these questions and to understand the nature of the popular movements consisted in studying the life of their leaders. We aimed at reconstructing the universe which surrounded the principal actors of the reform movements as if we were a privileged witness of theses times. This idea to associate the biographies of historical characters for a period of more than fifty years arouse when we realized that key events of the reform movements were echoing each other, such the trial of Thomas Hardy in 1794 and the massacre of Peterloo of 1819. The more we learned about the major events of radicalism and the life of their leaders, the more we were intrigued. Finally, one could ask himself if being a radical was not after all a question of character rather than one of class. The different popular movements in favour of a parliamentary reform were in fact far more inclusive and diversified from what historians traditionally let us to believe. For instance, once he manage to gather a sufficient number of members of the popular classes, Thomas Hardy projected to give the control of his association to an intellectual elite led by Horne Tooke. Moreover, supporters of the radical reforms followed leaders whose background was completely different as theirs. For example, O'Connor claimed royal descent from the ancient kings of Ireland. William Cobbett, owner of a popular newspaper was proud of his origins as a farmer. William Lovett, close to the liberals and a few members of parliament came from a very poor family of fishermen. We have thus put together the life of these five men, Thomas hardy, William Cobbett, Henry Hunt, William Lovett and Feargus O'Connor in order to compose a sort of a saga of the radicals. This association gives us a better idea of the characteristics of the different movements in which they participated, but also, throw light on the circumstances of their formation and their failures, on the particular atmosphere which prevailed at these times, on the men who influenced these epochs, and finally on the marks they had left. These men were at the heart of a whole network and in contact with other actors of peripheral movements. They gathered around themselves close and loyal fellows with whom they shared many struggles but also quarreled and had strong words. The original part of our approach is reflected in the choice to not consider studying the fluctuations of the radical movements in a linear fashion where the story follows a strict chronology. We decided to split up the main issue of the thesis through different topics. To do so, we simply have described the life of the people who inspired these movements. Each historical figure covers a chapter, and the general story follows a chronological progression. Sometimes we had to go back through time or discuss the same events in different chapters when the main protagonists lived in the same period of time. Radical movements were influenced by people of different backgrounds. What united them above all was their wish to obtain a normalization of the political world, to redress injustices and obtain parliamentary reform. We paid particular attention to the moments where the life of these men corresponded to an intense activity of the radical movement or to a transition of its ideas and organization. We were not so much interested in their feelings about secondary topics nor did we about their affective relations. Furthermore, we had little interest in their opinions on things which were not connected to our topic unless it helped us to have a better understanding of their personality. We have purposely reduced the description of our protagonists to their radical sphere. Of course we talked about their background and their intellectual development; people are prone to experience reversals of opinions, the case of Cobbett is the most striking one. The life of these personalities coincided with particular moments of the radical movement, such as the first popular political associations, the first open-air mass meetings, the first popular newspapers, etc. We wanted to emphasize the personalities of those who addressed speeches and who were present in the radical associations. One could argue that the inconvenience of focusing on a particular person presents a high risk of overlooking events and people who were not part of his world. However, it was essential to differ from an analysis or a chronicle which had prevailed in the studies of the radical movements, as we aimed at offering a point of view that completed the precedents works written on that topic. In order to do so, we have deliberately put the humane character of the radical movement at the center of our work and used the techniques of biography as a narrative thread. Conclusion The life of each historical figure that we have portrayed corresponded to a particular epoch of the radical movement. Comparing the speeches of the radical leaders over a long period of time, we noticed that the radical ideology evolved. The principles of the Rights of Men faded away and gave place to more concrete reasoning, such as the right to benefit from one's own labour. This transition is characterized by the Chartist period of Feargus O'Connor. This does not mean that collective memory and radical tradition ceased to play an important part. The popular classes were always appealed to Constitutional rhetoric and popular myths. Indeed, thanks to them they identified themselves and justified their claims to universal suffrage. We focused on the life of a few influent leaders of radicalism in order to understand its evolution and its nature. The description of their lives constituted our narrative thread and it enabled us to maintain consistency in our thesis. If the chapters are independent the one from the other, events and speeches are in correspondences. Sometimes we could believe that we were witnessing a repetition of facts and events as if history was repeating itself endlessly. However, like technical progress, the spirit of time, Zeitgeist, experiences changes and mutations. These features are fundamental elements to comprehend historical phenomena; the latter cannot be simplified to philosophical, sociological, or historical concept. History is a science which has this particularity that the physical reality of phenomena has a human dimension. As a consequence, it is essential not to lose touch with the human aspect of history when one pursues studies and intellectual activities on a historical phenomenon. We decided to take a route opposite to the one taken by many historians. We have first identified influential people from different epochs before entering into concepts analysis. Thanks to this compilation of radical leaders, a new and fresh look to the understanding of radicalism was possible. Of course, we were not the first one to have studied them, but we ordered them following a chronology, like Plutarch enjoyed juxtaposing Greeks and Romans historical figures. Thanks to this technique we wanted to highlight the features of the radical leaders' speeches, personalities and epochs, but also their differences. At last, we tried to draw the outlines and the heart of different radical movements in order to follow the ways that led to radicalism. We do not pretend to have offered an original and exclusive definition of radicalism, we mainly wanted to understand the nature of what defines somebody as a radical and explain the reasons why thousands of people decided to believe in this man. Moreover, we wanted to distance ourselves from the ideological debate of the Cold War which permeated also the interpretation of past events. Too often, the history of radicalism was either narrated with a form of revolutionary nostalgia or in order to praise the merits of liberalism. If the great mass meetings ends in the mid-nineteenth-century with the fall of Chartism, this practice spread out in the whole world in the twentieth-century. Incidentally, the Arab Spring of the beginning of the twenty-first-century demonstrated that a popular platform was the best way for the people to claim their rights and destabilize a political system which they found too authoritative. Through protest the people express an essential quality of revolt, which is an expression of emancipation from fear. From then on, a despotic regime loses this psychological terror which helped it to maintain itself into power. The balance of power between the government and its people would also take a new turn. The radicals won this psychological victory more than 150 years ago and yet universal suffrage was obtained only a century later. From the acceptance of the principles of liberties to their cultural practice, a long route has to be taken to change people's mind. It is a wearisome struggle for the most vulnerable people. In the light of western history, fundamental liberties must be constantly defended. Paradoxically, revolt is an essential and constitutive element of the maintenance of democracy. ; Die radikalen Strömungen in England von 1789 bis 1848 Formulierung der Problematik Was ist ein Radikaler? Eine Person die vorgefassten Meinungen zuwiderhandelt? Ein Agitator, der die Gesellschaft verändern will und dabei das Risiko eingeht, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen? Im politischen Kontext, in dem sich die britischen Inseln am Ende des 18. Jahrhunderts befanden, hatte dieser Begriff eine negative Konnotation. Er erinnert nämlich an die levellers und an den Bürgerkrieg. Diese historische Epoche, die als traumatisches Erlebnis empfunden wurde, hat bei den politischen Führern Stigmata hinterlassen, die immer noch vorhanden sind. Die Herrschaft Cromwells hatte bestimmt einen direkten Einfluss auf die Aversion der Engländer gegen jede heftige Form des Protestes gegen die herrschende Macht, vor allem wenn er politisch vereinnahmt wird. Im politischen Kontext in England versteht man unter Radikalismus verschiedene Versuche, eine Parlamentsreform durchzusetzen, die das allgemeine Wahlrecht einführen sollte. Natürlich bedeutet dies nicht, dass die Befürworter solch einer Reform eine gesellschaftliche und ideologische Nähe verband. In der Tat waren sich die reformistischen Verbände oft untereinander nicht einig und ihre jeweiligen Führer hatten wenige Gemeinsamkeiten. Edward Royle und Hames Walvin erläutern, dass der Radikalismus historisch nicht wie ein Konzept analysiert werden kann, da er keine einheitliche Bewegung war, da sich die Führer untereinander nicht einig waren und da keine eindeutige Ideologie vorhanden war. Der Radikalismus war ihrer Meinung nach nur eine vage Ansammlung bunter Ideen. Er sei « eher eine Einstellung als ein Aktionsplan» gewesen. Am Beginn des 19. Jahrhunderts verwendete die Zeitung Northern Star den Begriff « radikal » in einem positiven Sinne, um eine Person oder eine Gruppe zu bezeichnen, deren Ideen mit den Ihrigen im Einklang standen. Gegner der Parlamentsreformbewegungen haben diesen Begriff im negativen Sinne verwendet. Der Radikale wurde dann also als Bedrohung wahrgenommen. Der Gebrauch des Begriffes radikal scheint kein semantisches Problem darzustellen im Vergleich zur Verwendung des Wortes Radikalismus dessen Suffix -ismus eine Doktrin bzw. eine Ideologie voraussetzt. Die Tatsache, dass die Radikalen so unterschiedliche Gesinnungen vertraten, scheint eine Definition des Radikalismus unmöglich zu machen. Trotzdem wird sein Gebrauch heute von allen Historikern akzeptiert. Man könnte also behaupten, dass es seit der Mitte des 20. Jahrhunderts gängig wurde, mit dem Begriff Radikalismus jede Bewegung zu bezeichnen, die Ideen durchsetzen wollte, die nach unserem heutigen Verständnis als demokratisch verstanden werden. Wir können den Begriff Radikalismus zwischen 1792 und 1848 also erst einmal als eine praktische Bezeichnung für die verschiedenen radikalen Volksbewegungen, die das Ziel verfolgten, das allgemeine Wahlrecht einzuführen, betrachten. Diese radikale Einstellung findet man bei einer ganzen Reihe von Menschen und Organisationen wieder. Cartwright, Horne Tooke, Thomas Hardy, Francis Burdett, William Cobbet, Henry Hunt, William Lovett, Bronterre O'Brien Feargus O'Connor, die London Society for Constitutional information (SCI), die London Corresponding Society (LCS), die Hampden Clubs, die Chartisten, usw. Man kann viele Gemeinsamkeiten zwischen den Protagonisten erkennen, die sie sich auch eingestanden haben. Auβerdem wird auch der Einfluss erkennbar, den sie aufeinander ausgeübt haben, um ihre Aktionen zu gestalten. Diese Einflüsse findet man sowohl in der Sprache und in der politischen Ideologie wieder, die von den britischen Historikern als « konstitutionalistisch » bezeichnet wurden, als auch in der politischen Organisation von auβerparlamentarischen Gruppierungen. Alle Radikalen wollten die Ungerechtigkeiten beheben, und in der Praxis haben sie sich von einem Aktionsplan anregen lassen, den sie im 18. Jahrhundert in den Pamphleten der true whigs gefunden haben. Wir müssen teilweise das Argument zurückweisen, dass die Radikalen nicht kohärent und einfallsreich waren, oder dass sie nicht genau wussten, wie sie ihre Ziele umsetzen konnten. Ganz im Gegenteil: Die innovativen Formen des Protestes, die ihnen zuzuschreiben sind, waren bezeichnend und haben eine Spur in der Geschichte hinterlassen. Das Zaudern der Radikalen war erstens auf die prohibitive Gesetzgebung zurückzuführen, der die Verbände unterlagen und zweitens auf die kategorische Ablehnung der Behörden zu kooperieren. Die Zeitgenossen der Epoche, die sich von der Französischen Revolution bis zum Chartismus erstreckt, haben nie über den Sinn des Begriffs radikal debattiert. Dies bedeutet allerdings nicht, dass alle Radikalen gleich waren, oder dass sie zu derselben Einheit gehörten. Horne Tooke und der Priester Stephens waren beide Radikale, so wie der Schuster Hardy und der extravagante Burdett. Ob man ein Adliger, ein Mitglied des Bürgertums, ein Handwerker, ein Gutsbesitzer oder ein Mann der Kirche war: Nichts hinderte einen daran, ein Radikaler zu sein. Jeder konnte auf seine Art ein Radikaler sein. In dem Radikalismus gab es in der Tat eine groβe Bandbreite, die sich vom revolutionären Radikalismus bis zum paternalistischen Torysmus erstreckte. Wir waren daran interessiert, genau zu verstehen, was der Begriff radikal bedeutet, denn sein integrativer Charakter wurde von Historikern übersehen. Wir haben uns deshalb so genau mit der Bedeutung des Begriffs « radikal » beschäftigt, weil dieses Adjektiv im Plural im Titel die radikalen Strömungen enthalten ist. Mit dem im französischen Titel enthaltenen Gleichklang zwischen den Wörtern « voie » (Weg, Strömung) und « voix » (Stimme) wollten wir zeigen, dass sich der Begriff « radikal » sowohl auf ein Ideenbündel als auch auf eine Person bezieht. Die methodische Vorgehensweise In dieser Arbeit richtet sich unser Augenmerk weniger auf die Frage, wie eine Gesellschaftsschicht entstanden ist, als auf die Umstände, die die Menschen dazu bewogen haben, ihrem Schicksal und dem Ihresgleichen oder gar der ganzen Gesellschaft eine andere Wendung zu geben. Wir stellten das Werk von E.P.Thompson in Frage, welcher in seinem bekannten Buch "The Making of the English Working Class" radikale Bewegungen, entsprechend einer Vorstellung von Klasse, definiert. Wie kam es, dass ein einfacher Schuster wie Thomas Hardy, während eines Prozesses, in dem er beschuldigt wurde, eine moderne Revolution anzuzetteln, im Zentrum der Öffentlichkeit stand? Wie kam es, dass ein Autodidakt und ein Anhängiger der Ultra- Tories wie William Cobbett sich nach und nach für das allgemeine Wahlrecht einsetzte, zu einer Zeit, in der es unpopulär war? Wie kam es, dass sich die ganze Bevölkerung in Massen um Henry Hunt scharte, einen Gutsbesitzer, der nicht gerade dazu bestimmt war, sich für die Belange des Volkes stark zu machen? Unser Ziel ist es, das Universum, in dem die wichtigsten Beteiligten lebten, wiederzugeben, so als wären wir ein privilegierter Zeuge dieser Epochen. Die einfachste Art diese Fragen zu beantworten und die Beschaffenheit der Volksbewegungen zu verstehen besteht unserer Meinung nach darin, das Leben jener Männer zu studieren, die sie gestaltet haben. Wir hatten den Einfall, mehrere Männer, die in einem Zeitraum von mehr als 50 Jahren gelebt haben, miteinander in Verbindung zu bringen, als uns aufgefallen ist, dass Schlüsselmomente der Reformbewegungen miteinander korrespondieren, wie z.B der Prozess von Thomas Hardy und das Massaker von Peterloo 1819. Je mehr wir uns mit diesen Ereignissen beschäftigten, desto mehr weckte dies unsere Neugier auf das Leben jener Menschen, die sie verursacht haben. Schlussendlich konnte man sich fragen, ob radikal zu sein nicht eher eine Frage des Charakters als eine Frage der Klassenzugehörigkeit war. Die verschiedenen Volksbewegungen für eine Parlamentsreform haben in der Tat viel mehr unterschiedliche Menschen vereint und waren um einiges vielfältiger als es die Historiker behauptet haben. So war es zum Beispiel Thomas Hardys Vorhaben, die Führung des Verbandes einer intellektuellen Elite unter Horne Tookes Kommando zu überlassen, nachdem er es geschafft haben würde, genug Mitglieder der Arbeiterschicht zu versammeln. Auβerdem haben die Sympathisanten mit Freude Führer akzeptiert, deren Schicksal sehr wenig mit dem Ihrigen gemeinsam hatte. O'Connor z. B erhob den Anspruch, der Nachkomme eines irischen Königs zu sein. Cobbett, der Besitzer einer bedeutenden Zeitung, erinnerte daran, dass er aus einer Bauernfamilie stammte. William Lovett, der den Liberalen und einigen Parlamentsmitgliedern nahe stand, stammte aus einer armen Fischerfamilie. Wir haben diese fünf Männer Thomas Hardy, William Cobbett, Henry Hunt, William Lovett und Feargus O'Connor in Verbindung gebracht, um gewissermaßen eine Saga der Radikalen zu erstellen. Dies erlaubte es uns, uns ein genaueres Bild zu machen von den Merkmalen der verschiedenen Bewegungen, an denen sie teilgenommen haben, von dem Kontext, in dem die Bewegungen entstanden sind, von ihren Misserfolgen, von der besonderen Atmosphäre, die in diesen unterschiedlichen Epochen herrschte, von den Männern, die diese Bewegungen beeinflusst haben und zuletzt von dem Zeichen, das sie gesetzt haben. Diese Männer waren im Mittelpunkt eines Netzwerkes und standen in Verbindung mit anderen Akteuren, die an peripheren Bewegungen beteiligt waren. Sie waren umgeben von treuen Weggefährten, mit denen zusammen sie viele Kämpfe ausgetragen haben, oder mit denen sie sich heftig gestritten haben. Unsere Vorgehensweise ist insofern neu, als wir die Fluktuationen der radikalen Bewegungen weder linear bzw. chronologisch beleuchten, noch in einer zersplitterten Weise, indem wir die Problematik in mehrere Themen unterteilen. Wir sind ganz einfach dem Leben der Männer gefolgt, die am Ursprung dieser Bewegung standen. Jedes Kapitel behandelt eine historische Person und die gesamte Abhandlung ist chronologisch aufgebaut. Manchmal war es notwendig, Rückblenden einzubauen oder die gleichen Ereignisse mehrmals zu erwähnen, wenn verschiedene historische Personen daran beteiligt waren. Die radikalen Bewegungen wurden von Menschen aus verschiedenen Horizonten beeinflusst. Verbunden waren sie vor allem durch ihr Bestreben, eine Normalisierung der politischen Welt zu erreichen, gegen die Ungerechtigkeiten zu kämpfen und eine Parlamentsreform durchzusetzen. Wir haben uns auf die Momente konzentriert, in denen das Leben der Männer mit einem aktiven Handeln in der radikalen Bewegung oder mit einer Veränderung ihrer Ideen oder in ihrer Organisation einherging. Ihre emotionalen Beziehungen und ihre Einstellung zu belanglosen Fragen interessierten uns nicht. Ihre Meinungen zu Fragen, die unser Studienobjekt nicht betreffen, waren auch nicht Gegenstand dieser Abhandlung, es sei denn sie ermöglichten es uns, ihre Persönlichkeit besser zu umreiβen. Unser Augenmerk richtete sich ausdrücklich und vor allem auf die radikale Tätigkeit der Beteiligten. Natürlich haben wir auch die Lebensumstände und die geistige Entwicklung dieser Männer geschildert, denn wir wissen, dass Meinungen sich im Laufe eines Lebens ändern können, wie es der bemerkenswerte Fall von Cobbett verdeutlicht. Das Leben dieser Personen fiel zeitlich mit markanten Momenten in der radikalen Bewegung zusammen, wie z. B die ersten politischen Organisationen der Arbeiterschichten, die ersten Massendemonstrationen oder die ersten politisch ausgerichteten Volkszeitungen. Wir wollten die menschlichen Züge jener Männer wiedergeben, die Reden gehalten haben und die in den radikalen Verbänden anwesend waren. Man könnte uns vorwerfen, dass wir- wenn wir uns auf eine historische Person konzentriert haben- andere Fakten oder Personen, die nicht zu ihrem Umfeld gehörten aber dennoch an der Bewegung beteiligt waren, ausgeblendet haben. Uns schien es aber wesentlich, die analytische Methode oder die historische Chronik, die die Studien über die radikalen Bewegungen maßgeblich prägt, aufzugeben. Unser Ziel war es nämlich, diese Schilderungen zu vervollständigen, indem wir den menschlichen Aspekt in den Vordergrund stellten. Dazu haben wir die biografische Perspektive gewählt und unserer Studie angepasst. Schluss Jeder Mann, dessen Rolle wir hervorgehoben haben, lebte in einer bestimmten Phase der radikalen Bewegung. Der Vergleich der Reden, die sie in verschiedenen Epochen gehalten haben, hat aufgezeigt, dass die radikale Ideologie sich im Laufe der Zeit verändert hat. Die Verteidigung der Menschenrechte verlor an Bedeutung und die Argumentation wurde konkreter: Es ging z. B mehr und mehr um das Recht, die Früchte seiner Arbeit zu genieβen. Dieser Wandel fand in der chartistischen Epoche Feargus O'Connors statt. Die Traditionen des Radikalismus und die Erinnerung daran spielten jedoch weiterhin eine wichtige Rolle. Die Rhetorik des Konstitutionalismus und der Volksmythos waren Themen, mit denen die Arbeiterschichten sich immer identifiziert haben, und die ihre Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht gerechtfertigt haben. Wir haben uns auf das Leben einiger einflussreicher Männer des Radikalismus konzentriert, um seine Entwicklung und sein Wesen zu verstehen. Ihre Lebensläufe haben uns als Leitfaden gedient und haben es uns ermöglicht, eine Kohärenz in unserer Abhandlung zu wahren. Zwar sind die Kapitel unabhängig voneinander, aber die Ereignisse und die Reden korrespondieren miteinander. Man könnte manchmal den Eindruck haben, dass sich Fakten, Handlungen und die Geschichte im Allgemeinen endlos wiederholen. Allerdings ist der Zeitgeist im ständigen Wandel begriffen, so wie dies auch beim technischen Fortschritt der Fall ist. Wir sind der Ansicht, dass diese Besonderheiten fundamentale Elemente sind, die es ermöglichen, historische Phänomene zu begreifen, die nicht auf philosophische, soziologische oder historische Konzepte reduziert werden können. Die Geschichte als Wissenschaft weist die Besonderheit auf, dass die physische Realität und die erwähnten Phänomene auch eine menschliche Realität sind. Daher ist es wesentlich, bei der intellektuellen Auseinandersetzung mit einem historischen Phänomen den menschlichen Aspekt nicht aus den Augen zu verlieren. Wir wollten einen Weg einschlagen, der dem vieler Historiker entgegengesetzt ist. Unser Augenmerk richtete sich zunächst auf die Männer, die ihre jeweiligen Epochen maβgeblich geprägt haben, bevor wir uns mit Konzepten beschäftigt haben. Die Männer, die wir auserwählt haben, gaben uns einen neuen und frischen Blick auf den Radikalismus und brachten uns diesen näher. Natürlich sind wir nicht die ersten, die sich mit diesen historischen Personen beschäftigt haben. Durch die chronologische Anordnung unserer Abhandlung, wollten wir- so wie Plutarch, der griechische und römische historische Personen miteinander in Verbindung brachte- die Wesensmerkmale ihrer Reden, Persönlichkeiten und Epochen aber auch ihre Unterschiede in den Vordergrund rücken. Wir haben also versucht, eine Bewegung zu umreiβen und im Kern zu erfassen und die Wege nachzuzeichnen, die zum Radikalismus führten. Wir behaupten nicht, dass wir eine neuartige und ausschlieβliche Definition dieser Bewegung geliefert haben. Wir haben nur versucht, die Wesensmerkmale eines Radikalen zu begreifen und herauszufinden, aus welchen Gründen tausende Männer an diesen Mann geglaubt haben. Wir wollten uns von der ideologischen Debatte über den Kalten Krieg losmachen, die sogar auf die Interpretation zurückliegender Ereignisse abgefärbt hat. Zu oft wurde die Geschichte des Radikalismus mit einer Art revolutionären Nostalgie erzählt, oder mit der Absicht, die Vorzüge des Liberalismus zu preisen. Der Chartismus leitete zwar im 19. Jahrhundert das Ende der groβen Massenbewegungen in England ein, aber diese Methode hat sich im 20. Jahrhundert überall auf der Welt verbreitet. In der Tat zeigt der arabische Frühling am Beginn des 21. Jahrhunderts, dass die zahlenmäβige Überlegenheit das beste Druckmittel des Volkes ist, um seine Rechte einzufordern und das bestehenden Regime zu destabilisieren. Ein Volk, das demonstriert, zeigt, dass es keine Angst mehr hat. Von dem Moment an, in dem ein autoritäres Regime diese psychologische Waffe, die es ihm ermöglicht hat, an der Macht zu bleiben, verliert, kehrt sich das Machtgefälle zwischen der autoritären Staatsgewalt und dem unterworfenen Volk um. Diesen psychologischen Sieg haben die englischen Radikalen vor mehr als 150 Jahren errungen. Jedoch wurde das allgemeine Wahlrecht erst ein Jahrhundert später eingeführt. Damit es also nicht bei Prinzipienerklärungen bleibt, sondern die Freiheiten in die Wirklichkeit umgesetzt werden, bedarf es einer Bewusstseinsänderung, die nur durch eine langwierige Arbeit zustande kommen kann. Für die Schwächsten ist dies ein langer Kampf. In Anbetracht der abendländischen Geschichte muss man die Freiheiten als Rechte betrachten, die es immer wieder zu verteidigen gilt. Paradoxerweise scheint die Revolte also eine grundlegende und unabdingbare Bedingung zu sein, um die Demokratie zu erhalten.