Während sich das deutsche Erziehungs-, Bildungs- und Sozialsystem durch Achtung und Expansion "institutioneller Vielfalt" auszeichnet, wird in Spanien spätestens seit 1990 mit unterschiedlicher Intensität, je nach Regierung, ausgehend von der LOGSE Reform an einer "Schule für alle" gearbeitet. Es werden vergleichsweise wenige Kinder in Sondereinrichtungen beschult. Die Strategien und die dahinter liegenden Vorstellungen, wie Partizipation zu realisieren sei, waren Ende letzten Jahrhunderts in beiden Ländern deutlich verschieden. Die in der Dissertation vorgestellten Daten zeigen jedoch, dass zu wenige Kinder die Kompetenzen für eine gegenwärtige und zukünftige persönlich und wirtschaftlich erfolgreiche Lebensführung erwerben. Zentral für die Arbeit ist die von Urie Bronfenbrenner entwickelte systemökologische Theorie der menschlichen Entwicklung. Im Kern geht es bei dieser Theorie immer um die Suche, das Finden und Gestalten optimaler Bedingungen für menschliche Entwicklung. Die Fragestellung der Arbeit ist, wie in Deutschland und Spanien, aber auch wie Professionelle, interdisziplinär die Aufgabe der Integration und Partizipation im Rahmen ihrer Vorgaben bewältigen. Die Arbeit ist in zwei große Teile unterteilt. Die ersten Kapitel sind eine Sammlung von Daten, Theorien, Praxen, Diskussionen und geschichtlichen Entwicklungen, die die schulische Integration von Kindern mit Behinderungen bzw. mit schwierigen Lebenslagen, darstellt. Ab Kapitel sieben wird dann mit Methoden der qualitativen Sozialforschung nach Ressourcen und Kompetenzen, die in Spanien wie in Deutschland vorliegen bzw. entwickelt werden müssen gesucht, um auch Kindern mit Schwierigkeiten eine für sie persönlich erfolgreiche Bildung zur ermöglichen. Nach einem Einführungskapitel werden im zweiten Kapitel Theorien und Modelle der Integrationspädagogik und der an ihr beteiligten Disziplinen diskutiert. Das folgende Kapitel stellt ausgewählte Studien vor, die sich mit Lern- und Lebenslagen von Kindern befassen, denn der gesellschaftliche wie der wissenschaftliche Blick auf die Kindheit hat sich gewandelt. Ein integratives bzw. inklusives Erziehungs- und Bildungssystem wäre eine passende Antwort auf den Wandel. Das vierte Kapitel gibt einen Einblick in das bundesdeutsche Bildungssystem und stellt statistische Daten zur integrativen Beschulung in den Bundesländern vor. Das fünfte Kapitel befasst sich mit dem spanischen Bildungssystem. Das starke Engagement der Katholischen Kirche im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert, die Francozeit und die Transición sind die Basis, auf der in den 90 ziger Jahren des letzten Jahrhunderts die, auf 10 Jahre angelegte LOGSE Reform geplant und teilweise umgesetzt wurde. Diese als top-down zu bezeichnende systemische Reform, wird mit ihren Elementen der integrativen und der kompensatorischen Erziehung dargestellt. Die Beschreibung der spanischen Reformentwicklungen endet im Jahr 2004. Der empirische Teil der Arbeit beginnt im Kapitel sechs mit Gedanken zur Qualitativen Sozialforschung. Im Kaptitel sieben wird die Gegenstandsnahe Theoriebildung vorgestellt. Das achte Kapitel befasst sich mit dem Zirkulären Dekonstruieren. Im neunten Kapitel werden die deutschen und die spanischen Interviewpartner in ihrer professionellen Expertenrolle als Grundschullehrerin, Sozialarbeiterin, Erziehungswissenschaftler, Psychologe, Unterstützungslehrerin, Physiotherapeut und Förderschullehrerin vorgestellt. Sechs Interviews fanden Ende 1999, also zu einer Zeit in der die LOGSE Reform bereits fast abgeschlossen sein sollte, statt. Das siebte Interview mit der Förderschullehrerin wurde 2001 geführt. Verständigung und Bewertung konnten aus den Kategorien der Interviews als wichtige Ressourcen für integrative schulische Arbeit erkannt werden. Im Kaptitel zehn wird der ökosystemische Ansatz vertieft dargestellt. Im elften Kapitel werden dann systematisch die Definitionen der Ökosystemischen Theorie auf die Lebensbereiche, die ein Kind betreffen, bzw. die herausgearbeiteten Kategorien angewendet. In diesen Lebensbereichen werden interdisziplinär und über die Ländergrenzen hinweg, die Kategorien diskutiert, um zu Aussagen über gute Entwicklungsbedingungen zu kommen. Die Kapitel zwölf bis vierzehn verbinden die Ergebnisse der Auswertung mit den zusammengetragenen Daten und Fakten zur Situation in Deutschland und Spanien. Als förderlich für die Integration, die auf allen Systemebenen angelegt sein sollte, werden beispielhaft folgende Kriterien beschrieben: eine integrative Grundhaltung, ein moderat konstruktivistischer Unterricht, die Anerkennung und Förderung aller Kompetenzen der Kinder, die Arbeit mit dem entwicklungsfördernden Potential, Kontinuität in den Beziehungen, Strukturen und Räumen, Bestreben nach müheloser Kommunikation. Seitenzahl: 400 Abbildungen: 55 Tabellen: 52 ; Eco-systemic pedagogic of integration in school contexts. Resources and perspectives in Germany and Spain While the German system of education, formation and the social system is characterised by respect and expansion of "institutional varieties", in Spain one is developing a "school for all" at the latest since 1990 with different intensity, depending on the government and on the basis of the LOGSE reform. Comparatively few children are teached in special schools. The strategies and the views which are hidden behind, how to realise participation, were clearly differently at the end of the last century in both countries. Nevertheless, the data introduced in the thesis show, that not enough children acquire the competence for a successful life style, personally and economically, presently as well as in the future. Chief attention of this work is the system-ecological theory of the human development developed by Urie Bronfenbrenner. In the core with this theory it concerns always the search, finding and arrangement of optimal conditions for the human development. The question of the work is, how in Germany and Spain, but also how the experts master the task of the integration and participation within the scope of their defaults in an interdisciplinary way. The work is divided into two large parts. The first chapters contain a collection of data, theories, practices, discussions and historical developments, which represent the school integration of children with handicaps and/or with difficult life situations. Then from the chapter seven, on the basis of methods of the qualitative social research, it is searched for resources and competence, which both are present in Spain and in Germany and/or must be developed, to allow a personally successful education also to such children who have difficulties. After an introduction chapter in the second chapter are discussed theories and models of the education of integration as well as its involved disciplines. The following chapter represents selected studies, which are concerned with the learning and life situations of children, because both, the social as well as the scientific view of the childhood has changed. An integrative or inklusive education system would be a suitable answer to this change. The fourth chapter gives an insight into the German Federal education system and presents statistic data to the integrative education in the federal states. The fifth chapter is concerned with the Spanish education system. The strong commitment of the Catholic church in the 19-th and also still in the 20-th century, the reign Francos and the Transición are the base on which the reform LOGSE, agreed for 10 years, was planned and partly implemented in the nineties of the last century. This systemic reform, which can also be called as "top down", is represented with its elements of the integrative and compensatory education. The description of the Spanish reform developments ends in the year 2004. The empirical part of the work begins in chapter six with thoughts to the qualitative social research. Chapter seven introduces the theory formation mattering to the subject. The eighth chapter is concerned with the circulary deconstruction. In the ninth chapter the Germans and the Spanish interview partners are presented in their professional expert´s roles as a basic schoolteacher, social worker, educationalist, psychologist, support teacher, physiotherapist and schoolteacher for children with learning difficulties. Six interviews took place in the end of 1999, thus at that time, in which the reform LOGSE should be already almost concluded. The seventh interview with the schoolteacher for children with learning difficulties was led in 2001. Communication and evaluation could be recognized from the categories of the interviews as important resources for integrative work at school. In chapter ten the eco-sistemic beginning is shown detailed. Then in the eleventh chapter the definitions of the eco-sistemic theory are applied systematically to the areas of life, which concern a child and/or the worked out categories. In these areas of life the categories are discussed interdisciplinary and beyond the national borders, in order to come to statements about good development conditions. Chapters twelve to fourteen connect the results of the evaluation with the compiled data and facts for the situation in Germany and Spain. As favorable for the integration, which should be put on on all system levels, the following criteria are described exemplary: integrative basic attitude, moderately constructionalistic instruction, acceptance and advancement of all competences of the children, work with the development-supporting potential, continuity in the relations, structures and spaces, striving for effortless communication. Page number: 400 Illustrations: 55 tables: 52
Das Cover des Sammelbandes Self-Tracking, Selfies, Tinder und Co. ziert die Darstellung eines ausgestreckten Arms – ein Smartphone in der Hand haltend, Bildschirm und Frontkamera auf das Selbst gerichtet. In diesem reflexiven Bild kommt der im Untertitel des Bandes explizierte Anspruch, "Konstellationen von Körper, Medien und Selbst" zu untersuchen, zum Ausdruck. Hierfür stecken die Herausgeber Martin Stern und Daniel Rode in der Einleitung ein weites begrifflich-theoretisches Feld ab, innerhalb dessen sich die Autor*innen des Bandes, der im Umfeld der Soziologie, Pädagogik und Sportwissenschaft entstanden ist, für ihre jeweilige Beschäftigung mit "Self-Tracking, Selfies, Tinder und Co." ebenso weiträumig verorten. Die in diesen Untersuchungen zentralen Begriffe Körper, Medien, Selbst und Konstellationen haben uns als Rezensent*innen indes dazu inspiriert, über sie und damit den Sammelband selbst in den Dialog zu treten. Aus dem Gespräch heraus versuchen wir, den Band auf seine disziplinäre Anschlussfähigkeit zu untersuchen und unser Verständnis der Beiträge dialogisch zu entfalten. Wie das Cover des Bandes richten wir in unserer Rezension also auch den Blick auf uns selbst, oder besser: unser Fach, die Medienwissenschaft. Laura Katharina Mücke spricht dabei aus Sicht der ersten beiden Segmente des Sammelbands, Robert Dörres Ausführungen nehmen auf die letzten beiden Abschnitte Bezug – eine Aufteilung, die sich nicht zuletzt aus den jeweiligen Forschungsinteressen ergeben hat, die im rezensierenden Blick selbstredend mitklingen. Das entstandene Gespräch befragt die einzelnen Beiträge des Sammelbands also aus einer dezidiert medienwissenschaftlichen Perspektive und versucht damit auch, akademische Disziplinen miteinander in den Dialog zu bringen. KÖRPER Laura: Der Band begreift den Körper gleichsam als Agenten und Symptom von Subjektwerdung in medialen Konstellationen. Eine kritische Befragung des Begriffs des Körpers steht dabei aber, (wie ich es sehe), allerdings nur selten im Vordergrund. Dieser wird lediglich etwa über den soziologischen Leibbegriff Robert Gugutzers, der selbst 2016 einen Band zum Self-Tracking mitherausgegeben hatte und der den Leib als Variable zwischenmenschlicher Interaktion beschreibt, sowie über leibphänomenologische Zugriffe etwa Helmuth Plessners, Pierre Bourdieus oder Maurice Merleau-Pontys grundiert. Robert: Anschaulich wird dabei aber schon, wie der Band den Körper zugleich als Werkzeug wie als Bühne von Subjektivierung versteht. Beispielsweise Thomas Dambergers Überlegungen zum "Self-Tracking als medienpädagogische Herausforderung" nehmen den Körper als Medium in den Blick, formulieren von dort aus allerdings vornehmlich Bedenken: "[es] besteht die Gefahr einer Identifikation des Selbst mit dem, was datenmäßig erfasst und zahlenmäßig abgebildet wird. Der Körper nimmt dann lediglich und zugleich ausschließlich die Rolle eines Mediums an, in dem das ist und wirkt, was der Mensch eigentlich zu sein scheint" (S. 217). Über diese kausale Logik hinaus gewinnt in den Beiträgen von Clarissa Schär, Benjamin Zander und Daniel Rode ein Konzept an Gewicht, das vom letzteren als "Körperlichkeit des Sozialen" (S. 154) beschrieben wird und die somatisch-grundierten Subjektivierungspraktiken innerhalb sozialer Lebenswelten verortet. Ob Tracking oder Bilderproduktion, die beschriebenen Medienpraktiken werden dabei immer auch als Verwirklichung somatischer Optimierungsimperative gelesen. Laura: Allerdings lässt der Band zwischen den aufgezeigten Optimierungsimperativen insbesondere eine genderpolitische Dimensionierung missen, die sich in formeller Hinsicht übrigens auch in der ungleichen Besetzung der Autor*innen und teilweise im Fehlen von genderneutraler Sprache verdeutlicht. Gerade im Hinblick auf das im Buch angesprochene Thema des sportlichen, sich selbst verhandelnden und identitätspolitisierenden Selbst (in den Beiträgen von Martin Stern zur Individualisierungs-Optik beim Skaten als "Passungsverhältnis" (S. 47), in Sascha Oswalds These, dass Körper und Geist beim Tinder-Wischen getrennt agieren (S. 72), und in Karolin Eva Kapplers, Eryk Nojis und Uwe Vormbuschs Fallstudien zu zwei männlichen Probanden, die die Apps zum Sport und zu Stressbewältigung nutzen) ist es verwunderlich, dass die wichtige Infragestellung von biologischem und sozialem Geschlecht keinerlei Berücksichtigung findet. Obwohl dabei etwa historische Perspektiven auf Selbstvermessungspraktiken wie etwa das Tagebuch zum Tragen kommen, wird die subversive Funktion der Körper lediglich in jenen Texten besprochen, in denen Körperlichkeit in ihrer sozialen Verfasstheit thematisiert wird: etwa in der Erwähnung einer vorwiegend weiblich besetzten Bildkultur von Selbstvermessungs-Apps wie Fitbit oder Misfit im Text von Franz Krämer und Denise Klinge und insbesondere in der soziohistorischen Befragung des Zusammenhangs von Selbstvermessungs-Technologien und Körper in Bezug auf Ernährung als Praxis der Selbstreflexion im Artikel von Gerrit Fröhlich und Daniel Kofahl. Robert: Im zweiten Teil leistet das besonders der Artikel von Clarissa Schär. Dieser verortet die Selbstdokumentation von Jugendlichen in sozialen Medien ostentativ zwischen der Erfüllung hegemonialer Körpernormen und ihrer subversiven Umgehung, wodurch nicht zuletzt die damit einhergehenden Aushandlungsprozesse fokussiert werden (S. 188ff). Medienpraktiken wie das Self-Tracking oder die fotografische Selbstdokumentation ziehen so allerdings Fragen nach sich, denen lediglich mit einer Aufwertung des Medienbegriffes nachzukommen wäre. MEDIEN Laura: Stimmt, der definitorische Zugriff auf Medien wird nämlich lediglich in der Einleitung der Herausgeber aufgegriffen, wo ein deterministisches Medienverständnis von medialen Repräsentationen als Manipulationen und ein funktionalistisches Medienverständnis vom Medium als Werkzeug und komplexeren Wirkverhältnissen unterschieden wird (vgl. S. 23). Dieses Spektrum wird jedoch nur von wenigen Artikeln ausgereizt bzw. überhaupt thematisiert. Robert: Ich kann diesen Eindruck nur bekräftigen, die Ästhetik, Geschichte, Theorie oder Kultur digitaler Medien scheint einfach nicht im Interessensbereich der Autor*innen zu liegen. Zumindest das von Dir zitierte funktionalistische Medienverständnis wird aber hin und wieder relevant, wenn auch erneut lediglich in Bezug auf den Körper. Vor allem die Beiträge von Thomas Damberger und Simon Schaupp verdeutlichen dahingehend, wie die quantified self (QS)-Bewegung den eigenen Körper mediatisiert und zum Ziel wie zum Werkzeug ihres Selbstverbesserungswillens macht. Laura: Aus meiner Lektüre kristallisiert sich eher der Eindruck eines vermehrt deterministischen Verständnisses heraus. Häufig werden Medien in diesem Sinne lediglich als Verrechnungsinstrumente begriffen, die den von Dir angesprochenen Selbstverbesserungswillen automatisch hervorrufen würden. Robert: Einem solchen deterministischen Medienverständnis unterliegen aus meiner Sicht auch die verschiedenen Bemerkungen zu körperlichen Repräsentationen. So geht es anders als proklamiert nur selten um Aspekte einer "medienvermittelten Körperlichkeit" (S. 184), sondern viel häufiger um medienvermittelte "Körperbilder" (S. 186). Dabei hätte die Frage danach, ob neue Medientechniken auch neuen Formen von Körperlichkeit und Körpererfahrung sekundieren können, durchaus instruktiv sein können. Laura: Diese einseitigen Auslegungen medialer Wirkzusammenhänge resultieren ganz wesentlich aus der fehlenden Beschäftigung mit kontemporärer Medientheorie. Während der Artikel von Gerrit Fröhlich und Daniel Kofahl zum diet-Tracking mittels des Terminus "mediale[r] Biografiegeneratoren" (S. 128) immerhin die Verwobenheit von Medium und Selbst weiter zu spezifizieren sucht, findet sich im Beitrag von Franz Krämer und Denise Klinge, die Bilder als "Hilfsmittel der Orientierung und Verständigung in sozialen Situationen" (S. 108) verstehen, beispielsweise keinerlei dezidierte Bezugnahme auf einen fachlich verankerten Medienbegriff. Dabei wären ihre Beschreibungen von Technologien des Selbst für mich insbesondere anschlussfähig an aktuelle medienwissenschaftliche Perspektiven, wie sie etwa im Sammelband Locative Media Medialität und Räumlichkeit – Multidisziplinäre Perspektiven zur Verortung der Medien (2013) abgebildet sind, der über mediale Räume und dividuelle Verortungen spricht, oder in Smartphone Ästhetik. Zur Philosophie und Gestaltung mobiler Medien (2018), weil diese Bände das Nutzungssubjekt – das Selbst – explizit aus dem Medialen heraus denken. SELBST Robert: À propos, die Beiträge des Bandes zeigen ein dezidiertes Interesse an einem "kalkulierten Wissen" über das Selbst, das sich im Befragen der technologisch bedingten "Arbeit am Selbst" (S. 19) manifestiert. Hierbei spielt die Dimension der Selbsterkenntnis eine zentrale Rolle, wobei es einen klaren Tenor zu geben scheint: Die kalkulierende Selbstevaluation führe den meisten Autor*innen zufolge gerade nicht zu einem elaborierten Selbstverständnis. Laura: Hast du ein Beispiel dafür? Robert: Thomas Damberger setzt beispielsweise bei der Ideengeschichte der Selbsterkenntnis an und differenziert zwei paradigmatische Grundhaltungen, die er aus Philosophien der griechischen und römischen Antike herleitet. Während im ersten Fall das Selbst in dialogischer Anschauung zur Selbsterkenntnis gelangt, bleibt die zweite Variante dem Autor zu Folge bei einer erkenntnisarmen Beschreibung stehen. Medientechnische Praktiken der Selbstvermessung seien nun der Mentalität der römischen Antike näher, in der eine Beschäftigung mit dem Selbst vor allem über deskriptive und aufzeichnende Verfahren erfolgte, die jedoch über das Selbst nichts zu entbergen vermögen (vgl. 210ff). Ob dieser Dualismus eine wohlbegründete Differenz veranschaulicht oder lediglich einen medienkulturkritischen Vorwand darstellt, bleibt für mich trotz Dammbergers intensiver philosophischer Auseinandersetzung fraglich. Laura: Eine weitere identitätspolitische Sicht weist das Buch in der durch Tracking-Apps etablierten Annahme des Selbst als unternehmerisches, sich selbst optimierendes auf. In diesem Sinne wird die Emanzipation des Selbst durch Prozesse der Reflexion betont: Etwa in der Relationalität, die sich als das Erproben von Passungsverhältnissen, der Versicherung in einer unsicheren Welt, Selbstbeherrschung und Identitätssuche (vgl. S. 129) veräußert, wird mit Michel Foucault das Selbst schlussendlich eher implizit zwischen Ermächtigung und Unterwerfung lokalisiert. Robert: Immer wieder fällt diese Bewertung jedoch zu Gunsten der Unterwerfung aus: So wird z. B. im Beitrag von Simon Schaupp Selbstevaluation im Zuge einer "materialistischen Dispositivanalyse" (S. 227) sogar als Teil eines übergeordneten kybernetischen Paradigmas gedeutet. Was dabei – außer am Rande bei Martin Rode – keine Erwähnung findet, ist die Tatsache, dass man die Praktiken der QS-Bewegung nicht nur als Verlust einer reflexiven Fähigkeit der Selbsterkenntnis oder als Einspannung in ein kybernetisches System deuten kann, sondern dadurch auch – wie in der Einleitung im Sinne Nelson Goodmans beschrieben – neue "Weisen der Welterzeugung" (S. 16) entstehen können und sich das Selbst in diesen neuen Welten neu erfahren kann. Laura: Ergänzen würde ich dahingehend aber schon, dass die Beziehung zwischen Medium, Körper und Selbst in dem Sammelband als eine dynamische und wechselseitige erscheint, die jedenfalls in vielen der Fallstudien der Artikel als solche zumindest erwähnt wird. Dafür scheint insbesondere der in der Einleitung aufgerufene Begriff der Konstellationen interessant. KONSTELLATIONEN Robert: An das Denken in Konstellationen statt Entitäten wird in der Einleitung zwar vielversprechend herangeführt, der Anspruch der Autor*innen, die verschiedenen Begriffe und Dimensionen in relationalen Zusammenhängen zu denken, gelingt in den Artikeln jedoch nur mit Einschränkungen. So reduziert sich der theoretisch durchaus elaborierte Ansatz in den einzelnen Beiträgen zumeist auf bilaterale Gefüge von z. B. Körper und Selbst oder Selbst und Medium. Von der holistischen Geste der Einleitung bleibt daher häufig nur ein Fingerzeig. Laura: Da würde ich Dir nur teilweise zustimmen. Denn neben den wenig tiefen Texten, die unnötigerweise allgemeingültige Diagnostiken zum digitalen Zeitalter proklamieren möchten – so wie Karolin Eva Kappler, Eryl Noji und Uwe Vormbusch etwa die zeitgenössische Überwachungsgesellschaft, einen Verlust stabiler Selbstbilder und eine grundlegende Unsicherheit über den Wert der Dinge beklagen (vgl. S. 84) – gibt es immerhin Texte, die den vorübergehenden Charakter solcher Konstellationen betonen und Konstellationen auch jenseits bilateraler Konstrukte denken. Etwa der Beitrag von Martin Stern weist individuelle Performanzen von Skating-Posen stets als ein wechselseitiges Verhältnis in potentialis aus, das sich erst im Zusammenspiel von sportlicher Praxis, instantaner Videoaufnahme des moves und Weitertragen des Video-Materials in der community etabliert, das letztlich die Sportart selbst erst formen würde. Robert: Mein Eindruck ist jedenfalls, dass sich diese fehlende Relationalität auch in der asymmetrischen Gewichtung von Theorie und Analyse manifestiert. Die Darstellungen verharren häufig im Abstrakten und immer wieder verliert der theoretische Höhenflug die phänomenale Basis, von der aus gestartet wurde, aus dem Blick. So muss sich beispielsweise die Tauglichkeit des vielversprechenden Analysemodells, das Daniel Rode in seinem Beitrag entwickelt (vgl. S. 163ff), nie an einem Beispiel bewähren. Die wohltuende Ausnahme bildet hierbei der Beitrag von Benjamin Zander, der seine methodischen Überlegungen zu Gruppendiskussionen immer wieder an Fallbeispiele aus seiner eigenen Forschung zu "sport- und körperbezogene[n] Orientierungen von Jugendlichen" (S. 249) zurückbindet und dadurch den Mehrwert seiner Anregungen schlüssig plausibilisieren kann. Letztlich ist seine Aufmerksamkeit dabei aber auch eher 'Verhältnissen' als Konstellationen gewidmet. Laura: Zumindest in puncto Fallstudien verspricht der klar sozialwissenschaftlich grundierte Band tatsächlich einen Zugewinn: Viele der Artikel greifen auf Datenmaterial aus qualitativen Studien (oder Zwischenständen daraus) zurück und bieten somit eine konkrete Anwendung: So befragen Kappler, Noji und Vormbusch Menschen auf die konkrete Auswirkungen, die Vermessungstechnologien auf sie nehmen und Oswald befragt Personen auf das Immersionspotenzial ihrer Tinder-Nutzung, wodurch den Nutzer*innen zumindest vorübergehend eine Stimme gegeben wird. Gleichsam scheint der Rückbezug der Studien auf kulturwissenschaftliche bzw. -theoretische Fragestellungen, wie Du schon sagst, letztlich nur marginal repräsentiert. SCHLUSS Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass im medienwissenschaftlichen Blick auf den sport- und sozialwissenschaftlichen Band deutlich wird, dass hier nicht etwa, wie eingangs ausgewiesen, die facheigenen Gegenstände als "Beobachtungskategorie[n]" (S. 153) fungierten, um den tendenziell kulturkritischen Befürchtungen ein Gegenangebot machen zu können. Vielmehr hat der Band, der vom Spielerischen als mediale Praktik ausging und in seiner Einleitung eine thematische wie interdisziplinär anschlussfähige Basis eröffnet hat, einen ernsthaften Versuch der Bindung an die Diskurse seiner gewählten Gegenstände – die Medien – eher verpasst. Statt einer Heterogenität und Vielseitigkeit der Medialität, die sich im Titel über die Aufzählung "Self-Tracking, Selfies, Tinder und Co." vielversprechend andeutete, beschäftigen sich die allermeisten Beiträge des Bandes ausschließlich mit Self-Tracking, wodurch die kulturellen Gefüge zwischen verschiedenen Praktiken leider ebenfalls aus dem Fokus geraten. Statt diese Relationalitäten und Konstellationen ernst zu nehmen, wird in den meisten Beiträgen zusätzlich die unterkomplexe Annahme von determinierenden – manipulierenden – Medien weitergereicht, statt von reziproken, ephemeren Verhältnissen auszugehen, die das digitale Zeitalter zuhauf prägen. Dass Publikationen dieser Art jedoch über ihre Sichtbarkeit im geisteswissenschaftlichen Fachgefüge, das sich nicht zuletzt auch durch das Publizieren in denselben Verlagen (hier: transcript) ergibt, zu interdisziplinären Diskussionen anregen (und auch anregen sollen!), sollte die kontroverse, dialogische Form unserer Rezension nachdrücklich betonen. Allein im interdisziplinären Dialog und im gegenseitigen Verständlichmachen fachspezifischer Anliegen, so denken wir, lassen sich die Schwierigkeiten lösen, die entstehen, wenn sich andere Fachdisziplinen selbstverständlicherweise medienwissenschaftlicher Gegenstände bedienen. Literatur: Duttweiler, Stefanie/Gugutzer, Robert/Passoth, Jan-Hendrik/Strübing, Jörg: Leben nach Zahlen. Self-Tracking als Optimierunsprojekt? Bielefeld: transcript 2016. Buschauer, Regine/Willis, Katharine S.: Locative Media. Medialität und Räumlichkeit – Multidisziplinäre Perspektiven zur Verortung der Medien / Multidisciplinary Perspectives on Media and Locality. Bielefeld: transcript 2013. Ruf, Oliver: Smartphone-Ästhetik. Zur Philosophie und Gestaltung mobiler Medien. Bielefeld: transcript 2018.
Inhaltsangabe: Einleitung: Das Thema der vorliegenden Arbeit hat eine geistesgeschichtliche Tradition, die sich auf zweieinhalb Jahrtausende beläuft. Die auf den ersten Blick einfach erscheinende antithetische Gegenüberstellung von vita activa und vita contemplativa umfasst eine Vielzahl grundsätzlicher Fragen sowohl ethischer als auch politischer Art. Denn das Begriffspaar, verstanden als qualitative Unterscheidung zwischen einander ausschließenden und sich doch komplementär ergänzenden Lebensentwürfen, beinhaltet weitere begriffliche Dualismen, so etwa die Gegenüberstellung von Einsamkeit und Gesellschaft, von Arbeit und Muße, von Denken und Handeln und von Theorie und Praxis. Insofern bildet der stilisierte Dualismus vita activa / vita contemplativa ein wesentliches Modell zur Erfassung menschlichen Daseins, das ein Thema von zeitloser Relevanz ist. Francesco Petrarcas Schrift De vita solitaria (1346–1356) kann als erstes humanistisches Prosatraktat zum Problem vita activa / vita contemplativa gelten. Als erstes Werk der Renaissance spiegelt es die Legitimierungsprobleme der humanistischen Lebensweise wider. Dabei kann Petrarca (1304–1374) als Vorreiter der neuen "frei schwebenden" Intellektuellen gelten, wie sie in Europa in den kommenden Jahrzehnten vermehrt in Erscheinung treten sollten. Thomas Morus (1478–1535) und seine Zeitgenossen stehen zwar nicht mehr unter einem derartigen Legitimierungszwang, denn die humanistische Lebensweise hat sich im Europa des frühen 16. Jahrhunderts etabliert und bildet nicht mehr die Ausnahme. Dennoch verliert die Diskussion um vita activa und vita contemplativa keinesfalls an Relevanz; im Gegenteil, die Beziehung zwischen Theorie und Praxis und die Frage, welcher der beiden der Vorrang zukommt, beschäftigt die Humanisten sehr, und für viele manifestiert sich der Dualismus in der Differenz zwischen humanistischer Theorie und politischer Praxis. Ein Standardthema der humanistischen Literatur bildet dabei die Fragestellung, ob die neue Bildungselite ihre Gelehrsamkeit in den Dienst eines Fürsten stellen sollte. Genau diese Frage behandelt auch Thomas Morus im ersten Buch seiner Utopia (1516). Von besonderem Interesse ist sein Beitrag deshalb, weil es ihm gelingt, das tradierte Problem vita activa / vita contemplativa differenziert und in seiner ganzen Bandbreite zu diskutieren, ohne je in eine gemeinplätzliche Behandlung des Themas zu verfallen. Den Konflikt zwischen politischer Aktion und gelehrter Kontemplation dramatisiert Morus dabei anhand der Morus-Persona und der Figur Raphael Hythlodaeus. Die in der europäischen Renaissance eifrig geführte Auseinandersetzung mit dem Thema reflektiert zunächst das homozentrische Weltbild der Humanisten. Das binäre Modell entwickelt sich in der Renaissance zu einer exklusiven und von gegenseitigem Unverständnis geprägten Opposition. Dabei wird, an tradierte Denkmuster anknüpfend, die vita contemplativa vielfach als müßig und nutzlos stigmatisiert, während umgekehrt die vita activa als unrein, profan und eitel gebrandmarkt wird. Ausgehend von der Hypothese, dass Morus im ersten Buch der Utopia den zeitlosen Widerstreit zwischen vita activa und vita contemplativa problematisiert, ergibt sich die zentrale Fragestellung der vorliegenden Arbeit: Zu welchem Schluss gelangt Morus mit seinem Dialogue of Counsel hinsichtlich der Frage, ob und warum Philosophen in den Staatsdienst treten bzw. aus welchen Gründen sie dies unterlassen sollten? Zu welchem Ergebnis kommt Morus in der Behandlung des Problems vita activa / vita contemplativa; welche Lebensform wird als höherwertig dargestellt und mit welcher Begründung erfolgt dies? Von besonderem Interesse ist hierbei auch, welches Bild vom Philosophen mit dem ersten Buch der Utopia vermittelt wird. Dabei wird die These vertreten, dass Morus angesichts der Unvereinbarkeit von Philosophie und Realpolitik die Dialogpartner bewusst keine Einigung erlangen lässt und im Dialogue of Counsel keine endgültige Stellung bezieht, sondern vielmehr ein Dilemma konstatiert. Gang der Untersuchung: Um die oben skizzierte Relevanz und Tragweite des Themas aus humanistischer Sicht aufzuzeigen, muss jedoch zunächst eine begriffliche Klärung erfolgen (Kapitel 2.1), damit in einem nächsten Schritt die Besonderheiten des englischen Humanismus untersucht werden können (Kapitel 2.2). Dabei wird sich zeigen, dass die Diskussion des Themas vita activa / vita contemplativa immer auch ein Indiz für ein im Wandel begriffenes Verhältnis zwischen Macht und Geist darstellt. In Kapitel 2.3 wird untersucht, inwiefern der Konflikt zwischen Aktion und Kontemplation für Morus' eigene Lebenswelt bedeutsam war; schließlich hatte er mehr als nur ein akademisches Interesse an dem im Dialogue of Counsel behandelten Problem. Da es sich bei dem Thema dieser Arbeit um ein ideengeschichtlich voraussetzungsvolles Thema handelt, erscheint es angebracht, in Kapitel 3 zunächst einen Überblick über die Geistesgeschichte des dualistischen Modells zu liefern. Mit Platon (Kapitel 3.1) und Aristoteles (Kapitel 3.2) werden die antiken Quellen des Modells aufgezeigt, wobei gerade Platon bei der Analyse des ersten Buches der Utopia zentrale Bedeutung erlangt. Schon Platon zeigt das ambivalente Verhältnis des Philosophen zur Politik auf. Aber erst mit Aristoteles' Unterscheidung zwischen bios theoretikos und bios praktikos beginnt die – bis heute anhaltende – wertende Gegenüberstellung von Geistes- und Tatmensch. In der römischen Republik findet dann ein Paradigmenwechsel statt; das kontemplative Lebensmodell des Philosophen verliert seine Daseinsberechtigung fast gänzlich. Inwieweit Cicero dieser Entwicklung gegensteuert, zeigt Kapitel 3.3 dieser Arbeit. Mit Augustinus schließlich (Kapitel 3.4) wird ein kurzer Blick auf einen Theoretiker geworfen, der die Übernahme des antiken Denkmodells in die christliche Ethik markiert. Dabei wird deutlich, dass die Gegenüberstellung von vita activa und vita contemplativa dem christlichen Weltverständnis de facto zuwiderläuft. Mit Platon, Aristoteles, Cicero und Augustinus sind zugleich auch die wichtigsten Quellen der Renaissance-Humanisten benannt. Vor diesem geistesgeschichtlichen Hintergrund wird in Kapitel 4 untersucht, welche Haltung Thomas Morus hinsichtlich des tradierten Widerstreits der beiden konkurrierenden Lebensentwürfe einnimmt. Bevor jedoch die Dialogpartner und ihre jeweilige Argumentationsstruktur untersucht werden, wird in Kapitel 4.1 ein kurzer Blick auf das von Morus begründete literarische Subgenre der Utopie geworfen. Hierbei zeigt sich, dass die neuzeitliche Utopie ein intellektualistisches Konstrukt ist, das den verborgenen Wunsch des Theoretikers nach einer aktiven Wirklichkeitsgestaltung reflektiert. In Kapitel 4.2 werden die semifiktionalen Dialogpartner Morus und Aegidius untersucht; Kapitel 4.3 beleuchtet mit Raphael Hythlodaeus die zentrale Figur der Utopia. Dabei wird deutlich, dass Raphael vom Autor als idealtypischer Philosoph angelegt ist, der als solcher die ursprünglichste Form der vita contemplativa repräsentiert. Auch zeigt sich, dass die Figuren bereits die Grundzüge des sich erst zur Mitte des 16. Jahrhunderts vollständig entfaltenden Gentleman-Ideals aufweisen. Da der Gentleman sich durch eine weltläufige und lebenspraktische Grundhaltung auszeichnet, ergibt sich ein starker Kontrast zwischen den Dialogpartnern, der eine wirkungsvolle Inszenierung des Konflikts zwischen vita activa und vita contemplativa ermöglicht. In Kapitel 4.4. wird schließlich untersucht, inwieweit Morus im Dialogue of Counsel eine Bewertung der konkurrierenden Lebensmodelle vornimmt. Hier wird die These vertreten, dass Morus eine ambivalente Haltung zur diskutierten Frage der politischen Beratung hat und dass er sich einer verbindlichen Aussage bewusst enthält. Damit attestiert Morus im Dialogue of Counsel zugleich die Fremdheit des Philosophen in der Welt, die schon Platon im Gorgias und im Theaitetos behandelt. Inhaltsverzeichnis: 1.Einleitung1 2.Thomas Morus und der englische Humanismus8 2.1Zum Begriff des Humanismus: Schwierigkeiten einer Definition8 2.2Der englische Humanismus im europäischen Kontext11 2.3Thomas Morus: "The king's good servant, but God's first"19 3.Zur Geistesgeschichte von vita activa und vita contemplativa32 3.1Platon: Die Untrennbarkeit von Theorie und Praxis33 3.2Aristoteles: Das Primat der Kontemplation38 3.3Cicero: Philosophie als Bildungsgut40 3.4Augustinus: Handeln als Notwendigkeit46 4.Vita activa und vita contemplativa im ersten Buch von Thomas Morus' Utopia51 4.1Die Utopie der Neuzeit: Kritik und Gegenbild52 4.2Die Figuren Thomas Morus und Petrus Aegidius59 4.3Die Figur Raphael Hythlodaeus64 4.4Der Dialogue of Counsel als Problematisierung des Konflikts zwischen vita activa und vita contemplativa78 4.4.1Im Dienste des Königs: These und Antithese80 4.4.2Die Morton-Episode: Ein zweifelhaftes Exemplum83 4.4.3Der Philosoph als Staatsmann: Platon versus Platon86 4.4.4Die rhetorische Strategie der Dialogpartner90 4.4.5Die Fremdheit des Philosophen in der Welt94 4.4.6Die Unvereinbarkeit von vita activa und vita contemplativa102 5.Schlussfolgerungen106 6.Literaturverzeichnis109Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: 1.Einleitung1 2.Thomas Morus und der englische Humanismus8 2.1Zum Begriff des Humanismus: Schwierigkeiten einer Definition8 2.2Der englische Humanismus im europäischen Kontext11 2.3Thomas Morus: "The king's good servant, but God's first"19 3.Zur Geistesgeschichte von vita activa und vita contemplativa32 3.1Platon: Die Untrennbarkeit von Theorie und Praxis33 3.2Aristoteles: Das Primat der Kontemplation38 3.3Cicero: Philosophie als Bildungsgut40 3.4Augustinus: Handeln als Notwendigkeit46 4.Vita activa und vita contemplativa im ersten Buch von Thomas Morus' Utopia51 4.1Die Utopie der Neuzeit: Kritik und Gegenbild52 4.2Die Figuren Thomas Morus und Petrus Aegidius59 4.3Die Figur Raphael Hythlodaeus64 4.4Der Dialogue of Counsel als Problematisierung des Konflikts zwischen vita activa und vita contemplativa78 4.4.1Im Dienste des Königs: These und Antithese80 4.4.2Die Morton-Episode: Ein zweifelhaftes Exemplum83 4.4.3Der Philosoph als Staatsmann: Platon versus Platon86 4.4.4Die rhetorische Strategie der Dialogpartner90 4.4.5Die Fremdheit des Philosophen in der Welt94 4.4.6Die Unvereinbarkeit von vita activa und vita contemplativa102 5.Schlussfolgerungen106 6.Literaturverzeichnis109Textprobe:Textprobe: Kapitel 4.4, Der Dialogue of Counsel als Problematisierung des Konflikts zwischen vita activa und vita contemplativa: What commoditie, strength, and consolation it is to a realme, to have honourable, wyse, and circumspect counsaylours, attendynge on the person of the chiefe governour: Contrarywise in the lacke of them, what incommodytie, debilitie, and desolation, happeneth to the realme, where the prince lacketh suche counsaylours, whom Aristotle calle his eies, his eares, his handes, and his fete. Der Dialog im ersten Buch der Utopia, der sich mit dem Thema der politischen Beratung auseinandersetzt, wird in der Utopia-Forschung seit Hexter allgemein mit dem Terminus Dialogue of Counsel bezeichnet. Im Dialogue wird die Frage erörtert, ob ein Philosoph in den Dienst eines Königs treten sollte, um mit seinem Rat dem Herrscher zu tugendhaftem Handeln zu verhelfen. Neben dieser Frage werden im ersten Buch zwei weitere Themen behandelt. Die Missstände in der englischen Innenpolitik sowie die außenpolitischen Praktiken europäischer Fürsten. In seiner Kritik an der Innen- und Außenpolitik stimmt Morus Raphael zu: "To be sure, my dear Raphael you have given me great pleasure, for everything you have said has been both wise and witty." In der Frage der politischen Beratung erlangen die Dialogpartner jedoch keine Einigung. Diese Frage aber ist die zentrale. "Ihre Bedeutung wird schon daraus ersichtlich, daß sie dreimal angegangen wird und aus ihrer Diskussion die beiden anderen Themenkreise erwachsen." Das Problem der politischen Beratung bildet also den inhaltlichen Kern des ersten Buches. Dabei kann die zur Debatte stehende Frage mit J.H. Hexter lauten: "What are the central issues bearing on whether men like Hythloday and More, concerned to better the world and knowing how it can be bettered, shall put their talents at the disposal of a ruler?" In diesem Diskussionspunkt differieren die Standpunkte erheblich: Auf der einen Seite steht Raphael, der ein politisches Engagement weit von sich weist, auf der anderen Seite stehen Morus und Aegidius, die im Dienst für den Staat eine moralische Pflicht erkennen. Wie wir sehen werden, kulminiert die Diskussion in der These des Morus, an den Fürstenhöfen sei kein Platz für eine akademische Philosophie (philosophia scholastica); jedoch sei eine pragmatische Philosophie (philosophia civilior) ein geeignetes Mittel der politischen Einflussnahme. Diese von Morus getroffene Unterscheidung zwischen philosophia scholastica und philosophia civilior erscheint jedoch von zweifelhaftem analytischen Wert, sie verdeckt zudem das eigentliche Problem der politischen Beratung, indem suggeriert wird, eine Synthese aus abstrakter Philosophie und konkreter Politik sei realisierbar. Was der Debatte zwischen Morus und Raphael jedoch tatsächlich zugrunde liegt, ist das antithetische Verhältnis zwischen vita activa und vita contemplativa, zwischen dem otium des Gelehrten und dem negotium des Politikers. Wie gezeigt wurde, besteht seit jeher ein Gegensatz zwischen dem Philosophen als Repräsentant des kontemplativen Lebensideals und dem Politiker, dem Repräsentanten des aktiven Lebensideals. Mit dem Dialogue of Counsel behandelt Thomas Morus den zeitlosen, aber für die Renaissance-Humanisten hochaktuellen Widerstreit zwischen Macht und Geist. Dabei steht Raphael für das athenische Menschenbild, in dem die Philosophie noch die höchste und edelste Lebensform darstellt. Morus hingegen verkörpert das römisch-patriotische Ideal, welches Philosophie nicht mehr als Daseinszweck akzeptiert, weil der Dienst an der Gemeinschaft als das höchste Gut angesehen wird. Insofern kann der Konflikt zwischen vita activa und vita contemplativa, wie er im ersten Buch der Utopia in Szene gesetzt wird, auch als ein Widerstreit zwischen dem griechischen und dem römischen Menschenbild gelten. Im Folgenden soll weiter gezeigt werden, dass der Konflikt zwischen der Kontemplation des Philosophen und der Aktion des Politikers, anders als von der Figur Morus suggeriert, de facto unlösbar ist und dass dies dem Autor Morus auch bewusst ist. Hieraus ergibt sich als weitere These, dass Morus keine der Positionen als höherwertig darstellt. Darauf deutet schon der Umstand hin, dass Morus sich der für ein moralisches Dilemma am besten geeigneten literarischen Form, nämlich der des Dialogs, bedient. Sie ermöglicht es ihm, die dialektische Spannung zwischen vita activa und vita contemplativa zu dramatisieren, ohne dass am Ende eine der Positionen als richtig oder falsch dasteht. Es bleibt dem Leser überlassen, zu entscheiden, welche der Positionen überzeugender ist.
Bei der Sächsischen Längsschnittstudie handelt es sich um eine sozialwissenschaftliche Längsschnittstudie. Sie wurde 1987 begonnen und untersucht über die Vereinigung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und Bundesrepublik hinweg den politischen Einstellungswandel junger Erwachsener in den neuen Bundesländern. Seit der 16. Welle (2002) wird das Thema Arbeitslosigkeit und Gesundheit intensiv untersucht. Einen weiteren neuen Schwerpunkt stellen Fragen zu Partnerschaft und Persönlichkeit dar.
Politische Grundeinstellung von Schülern und jungen Erwachsenen, deren Bindung an die DDR und das sozialistische Gesellschaftssystem. Politisches Verhalten in der FDJ. Politische Einstellungen. Lebensziele. Zukunftserwartungen. Lerneinstellung und Lernmotivation. Medienverhalten. Befindlichkeiten. Einstellung zu Ausländern.
Kumulation der Daten aus den Datensätzen der Längsschnittstudie von 1987 bis 2000.
Themen: Lebensziele (guter Schulabschluss, ständiges Weiterlernen, in einem festen Kollektiv arbeiten, aktive Teilnahme am politischen Leben, Mithilfe bei der Friedenssicherung, berufliche Leistungsorientierung, schöpferische Tätigkeit, Vertreten der marxistisch-leninistischen Weltanschauung, Informieren über den neuesten Stand von Wissenschaft und Technik, viel Geld verdienen, Gesundheit, Übernahme einer politischen Funktion, Übernahme verantwortungsvoller Aufgaben bei der Leitung der Gesellschaft); Interesse am politischen Weltgeschehen; Mediennutzung zur politischen Information (Aktuelle Kamera, Sendungen des DDR-Rundfunks, Junge Welt und andere Tageszeitungen); Erwartung einer gesicherten Zukunft in der DDR bzw. im Osten; Einstellung zur DDR und zum sozialistischen Gesellschaftssystem (Skala: Gefühl der Verbundenheit mit der DDR als sozialistisches Vaterland, Bereitschaft zur Verteidigung der DDR, Gefühl der Verbundenheit mit der Sowjetunion, untrennbare Verbindung von Sozialismus und Frieden, Notwendigkeit des Wehrdienstes für junge DDR-Bürger, Marxismus-Leninismus hilft bei allen Lebensfragen, dem Sozialismus gehört die Zukunft, sozialistische Gesellschaftsideale werden sich durchsetzen); persönliche Zukunftszuversicht und erwartete positive Entwicklung der DDR bzw. in Ostdeutschland; nur männliche Befragte: präferierte Form des Wehrdienstes; Sicherheit der eigenen Entscheidung für die präferierte Form des abzuleistenden Wehrdienstes; wieder alle: persönliche Einstellung zum Lernen und Lernmotivation (Skala: Neues kennenzulernen, Pflicht als FDJ-Mitglied, gute Zensuren, Freude am Lernen, wichtig für den zukünftigen Beruf, gebildeter sozialistischer Staatsbürger, Anerkennung durch die Mitschüler); Zensuren in den Fächern Mathematik, Deutsch, Russisch, Staatsbürgerkunde, Physik und Sport; Verhalten im Unterricht (aktive Mitarbeit im Unterricht, Bemühen um aktive Mitarbeit der Mitschüler, könnte in einigen Fächern mehr leisten); genutzte Möglichkeiten zur Mitgestaltung des Unterrichts; gewissenhafte Erledigung der Hausaufgaben; Gründe für die gewissenhafte bzw. nicht gewissenhafte Erledigung der Hausaufgaben; Schülerzusammenarbeit im Unterricht; Bewertung Gruppenarbeit (Unterricht macht mehr Spaß, man kann mehr lernen); Erfüllung der Anforderungen im Fach ´Produktive Arbeit (PA)´ (Ausnutzen der Arbeitszeit, Qualitätsstreben, sparsamer Materialverbrauch, Ordnung und Sauberkeit am Arbeitsplatz, Einhalten der Arbeitsdisziplin, Überlegungen zur Arbeitsverbesserung, Einflussnahme auf die Arbeitsdisziplin der Mitschüler); Teilnahme an Aktivitäten (MMM-Bewegung, politische Gespräche in FDJ-Gruppen, bezahlte freiwillige Ferienarbeit, Hans-Beimler-Wettkämpfe, Arbeitseinsätze, Beteiligung an einer wehrsportlichen Arbeitsgemeinschaft und der Ausbildung als Gruppenleiter sowie an einer außerunterrichtlichen Arbeitsgemeinschaft); Interesse an den FDJ-Mitgliederversammlungen und den Jugendstunden; Interessen an einem FDJ-Studienjahr; Häufigkeit sportlicher Betätigung außerhalb des Unterrichts; Einstellung zur persönlichen Verantwortung von Schülern (Skala: Erreichen guter Lernergebnisse, Ordnung und Disziplin in der Schule, politische Diskussionen, Organisation der FDJ-Gruppe, sinnvolle Freizeitgestaltung, gute Lernergebnisse der gesamten Klasse im Unterricht und bei der produktiven Arbeit im Betrieb); übertragene Aufgaben für die der Befragte persönlich verantwortlich war (im Unterrichtsrahmen, außerunterrichtlich, für Jugendstunden, in FDJ-Gruppen bzw. in FDJ-Grundorganisationen); Personen, die den Auftrag erteilt haben; persönliches Verantwortungsgefühl für die übertragenen Aufgaben (Klassenergebnis, Freizeitgestaltung, Leben in der FDJ-Gruppe, politische Diskussionen, Ordnung und Disziplin, eigene Lernergebnisse, Klassenergebnisse bei der produktiven Arbeit); übernommene Funktionen in FDJ-Gruppen; wichtigste Funktion; Kenntnis der Anforderungen an diese Aufgabe im Bezug auf den Sinn der Aufgabe, deren Lösung sowie hinsichtlich der Bedeutung für die FDJ-Gruppe; Gefühl von Überforderung bzw. Unterforderung durch die Aufgabe oder Funktion; Beschreibung der wichtigsten Aufgabe bzw. Funktion (persönlicher FDJ-Auftrag, selbst gestellt, interessant, eigene Entscheidungsbefugnis, wird von der FDJ-Leitung kontrolliert, nützt der FDJ-Gruppe, macht Freude); Charakterisierung der FDJ-Gruppe (Skala: Gruppenleitung anerkannt, politische Diskussionen spielen große Rolle, festes Kollektiv, Leitung kann gut organisieren, auf Lernen wird geachtet, Leitung berät mit der Gruppe wichtige Entscheidungen, gibt dem Einzelnen die Möglichkeit zur Übernahme kollektiver Verantwortung, vielseitig und interessant); persönlicher FDJ-Auftrag zur Verwirklichung des Kampfprogramms; Selbsteinschätzung der Begabung; Selbstcharakterisierung (Skala: Lernen macht Freude, Wohlfühlen in der FDJ-Gruppe, hohe selbst gestellte Schulleistungsanforderungen, Übernahme von Verantwortung, Gefühl, in der FDJ-Gruppe gebraucht zu werden, keine Scheu vor körperlicher Arbeit, Verantwortungsgefühl für die FDJ-Gruppe, aktive Teilnahme an politischen Diskussionen, Stolz auf FDJ-Mitgliedschaft); Mitgliedschaft in ausgewählten Massenorganisationen (DTSB, GST, DSF und FDJ); Art der Funktion im FDJ; Ausüben einer Funktion in der Pionierorganisation; persönliche Lebensziele nach Abschluss der polytechnischen Oberschule; eigene Entscheidung für Wehrdienst; möglicher persönlicher Beitrag zur Stärkung des sozialistischen Staates; Anzahl und Art der übernommenen FDJ-Funktionen; eigene wichtigste Aufgabe in der FDJ; wichtigste Probleme und interessierende Fragen; Teilnahme an der Untersuchung 1987; Interesse an der Entwicklung des Heimatortes; Einstellung zu folgenden Aussagen: notwendig, dass sich Wissenschaftler mit Jugendproblemen befassen, selbständige Meinungsäußerung von Jugendlichen, ehrliche Meinungsäußerung jedes Beteiligten; Lebensziel: Beitrag zur Stärkung des sozialistischen Vaterlandes; Mediennutzung zur politischen Information: Sendungen des Rundfunks oder Fernsehens der BRD/West-Berlins; Beurteilung der Beratungsmöglichkeiten über den Wehrdienst; Verhalten im Unterricht (nicht stören, Fragen stellen, Suche nach eigenen Lösungswegen, selbstkritische Einschätzung der eigenen Schulleistungen, Auseinandersetzung mit der Meinung der Mitschüler); genutzte Möglichkeiten zur Mitgestaltung des Unterrichts (Kurzvorträge, Gestaltungsvorschläge unterbreiten, Gruppenarbeit); persönliches Verantwortungsgefühl für die übertragenen Aufgaben; Teilnahme an Aktivitäten (Tätigkeit des FDJ-Schulklubs, an der Arbeit einer Wehrsportsektion der GST); Charakterisierung des Studienjahrs in der Gruppe (Skala: offenes Ansprechen politischer Probleme, überzeugende Antworten auf Fragen, interessante Themen, Wissenswertes über Politik und Weltanschauung erfahren, Kenntnisse anwenden aus Politik und Wirtschaft, Anregung für die persönliche Lebensgestaltung); Person, die das Studienjahr durchführt; Übertragung von Aufgaben zur Gestaltung des FDJ-Studienjahrs; nur Sekretäre der FDJ-Gruppenleitung und Mitglieder der GOL wurden gefragt: Teilnahme an einem Treffen mit dem Direktor über den Beitrag der FDJ-Gruppen zur Steigerung der Lernergebnisse; Auftragserteilung zur Zirkelleitung; übertragene Aufgaben im Schuljahr 1987/88, für die der Befragte persönlich verantwortlich war; Beschreibung der wichtigsten Aufgabe bzw. Funktion (eigenes Können zeigen, Anerkennung von der FDJ-Gruppe, Lernmöglichkeit, Übernahme von Verantwortung, anstrengend, wird von der FDJ-Leitung kontrolliert); Fremdsprache lernen; Häufigkeit der Rezeption des Jugendradios DT 64; Interesse am politischen Weltgeschehen; Mitarbeit in einem FDJ-Bewerberkollektiv für militärische Berufe; zukünftiges Engagement in einer FDJ-Gruppe nach Abschluss der 10. Klasse (Übernahme verantwortlicher Aufgaben für die Erfüllung des Kampfprogramms, Vertreten der DDR-Politik in Diskussionen, Vorbereitung auf die eigene Mitgliedschaft in der SED); Zirkel des FDJ-Studienjahres, an dem der Befragte teilnimmt; frühere Teilnahme an dieser Langzeitbefragung; Lebensziele: Reisen, angenehmes Leben ohne Anstrengung, Einsatz für Andere (Altruismus); Arbeitsorientierung; Identifikation als: Deutscher, Europäer, DDR-Bürger, Bürger der ehemaligen DDR, Sachse bzw. als Bürger des eigenen Bundeslandes; Abwanderungsabsicht; Einstellung zur Vereinigung von DDR und BRD; Einstellung zum Tempo der Wiedervereinigung; rückblickende Bewertung der Schule als kritikwürdig im Bezug auf: Bildungsziele, Unterrichtsgestaltung, außerunterrichtliche Angebote, politische Ausrichtung, materiell-technische Ausstattung, Effektivität; Einschätzung der Situation im Lande (Menschen sind aktiver sowie aggressiver geworden, zwischenmenschliche Beziehungen enger geworden); erwartete zukünftige Veränderungen im Lande hinsichtlich Suchtmittelkonsum, neonazistischer Tendenzen, Ausländerfeindlichkeit, sozialer Ungerechtigkeit, Konkurrenzdenken, Leistungsstress, Notwendigkeit lebenslanger Weiterbildung); Mitgliedschaft in einer Jugendorganisation; derzeitige Tätigkeit; persönliche Zukunftszuversicht; Lebensziele (Skala: Arbeitsorientierung, selbständiges und eigenverantwortliches Leben, Einsatz für eine menschenwürdige Gesellschaft, Hedonismus, Besitz erwerben); in einer Jugendorganisation organisiert; Gefühl der zukünftigen Bedrohung durch mögliche eigene Arbeitslosigkeit, durch die Zunahme der Kriminalität, durch die Einwanderung von Ausländern, durch die Zunahme von Aggressivität und Gewalt, von Rechtsradikalismus, Verteuerung des Lebens und der Zunahme von Egoismus (Ellenbogengesellschaft); Häufigkeit von: Niedergeschlagenheit und Mutlosigkeit, keinen Sinn im Leben sehen, Ratlosigkeit, Zukunftsangst; Vertrauen zu den Parteien CDU/CSU und SPD; Einstellung zur Vereinigung von DDR und BRD (retrospektiv im Frühjahr 1990 und aktuell); Zufriedenheit mit der persönlichen Lebenssituation; Einstellung zum Erhalt von Jugendradio DT 64; Einstellung zum Erhalt des Jugendsenders SPUTNIK (früher DT 64); Zuversicht im Hinblick auf die Verwirklichung der persönlichen beruflichen Pläne; Politikinteresse; politische Orientierung; politischer Standpunkt links-rechts; Zufriedenheit mit dem politischen System in der Bundesrepublik Deutschland; Freude über die Einheit Deutschlands; Gefühl der zukünftigen Bedrohung durch Linksradikalismus, Kriegsfurcht sowie die Zunahme von Konflikten zwischen Ost und West; Meinung über die DDR, Deutsche und Deutschland (Skala: Beseitigung des SED-Regimes, reformierter Sozialismus positiver als gegenwärtige politische Ordnung, Ostdeutsche als Deutsche zweiter Klasse, Forderung nach Assimilation der Ausländer, Überlegenheit der Deutschen, ehemalige deutsche Ostgebiete gehören zu Deutschland, Judenvernichtung im Dritten Reich wird übertrieben, Nationalsozialismus hatte auch gute Seiten, Ruf nach einem starken Führer); Vertrauen zu einem ostdeutschen oder westdeutschen Politiker; Nationalstolz; Lebensziele (Skala: Leben nach christlichen Werten, politisches Engagement, den eigenen Vorteil im Auge behalten, Wunsch nach aufregenden Erlebnissen, dem Leben seinen Lauf lassen sowie Sexualität genießen); beabsichtigter Eintritt in eine politische Partei; Identifikation als Bürger der Bundesrepublik Deutschland; Ausländer im Freundes- oder Bekanntenkreis; geschätzter Ausländeranteil in Ostdeutschland; zu viele Ausländer in Ostdeutschland; Einstellung zur Ausländern; präferierte Form der Einwanderungspolitik des Staates (Skala: alle Ausländer an den Grenzen zurückweisen, Personen deutscher Abstammung hereinlassen, politische Flüchtlinge aufnehmen, benötigte Arbeitskräfte oder Wirtschaftsflüchtlinge hereinlassen, keine Begrenzung); persönliche Überzeugungen und Geschlechterrollen (Skala: der Stärkere setzt sich durch, Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung eigener Interessen, Frauenrolle im Beruf, in Familienangelegenheiten hat der Mann das letzte Wort, Sexualpartner beliebig oft wechseln, Deutsche sollten keine Kinder mit andersrassigen Ausländern zeugen); Einstellung zu ausgewählten Parolen (Deutschland den Deutschen, Ausländer raus, Rote raus, Juden sind Deutschlands Unglück, Deutschland in den Grenzen von 1937); Wahlbeteiligungsabsicht bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl; Einstellung zur Forderung nach der Einheit Deutschlands in den Grenzen von 1937 und zum Auftreten gegen Ausländer; Einstellung zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung mit staatlicher Gewalt und zu polizeilicher Härte gegen randalierende Gruppen; Auswanderungsabsicht; Lebensziele (Skala: glückliches Ehe- und Familienleben, Einsatz für den Erhalt des politischen Systems in der BRD und gesellschaftlicher Aufstieg); Erfahrung eines selbstbestimmten Lebens ohne SED-Beschränkungen; Gefühl der zukünftigen Bedrohung durch das Eintreten einer persönlichen Notlage, durch die Umweltverschmutzung und Drogenverbreitung; Vertrauen in die Parteien Republikaner, Bündnis 90/Grüne, PDS, FDP und Komitee für Gerechtigkeit; politischer Standpunkt links-rechts vor einem Jahr und kurz nach der Wende im Frühjahr 1990; Sicherheit dieses Standpunkts; Häufigkeit versuchter politischer Meinungsführerschaft; retrospektive Bewertung der Veränderungen in Ostdeutschland seit der Einheit; Bewertung der persönlichen Veränderungen; Zurechtkommen mit den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen; Bereitschaft zur Mitarbeit an einer Studiendokumentation; Bereitschaft zu einem Gespräch über persönliche Erlebnisse; Bereitschaft, Fotos über die Schul- und Ausbildungszeit zur Verfügung zu stellen; Einstellung zu Ausländern zur Zeit der 10. Klasse; Einstellung zur Einbeziehung weiterer Jugendlicher in die Studie; Lebensziele (Skala: gute Freunde, Anpassung an das politische System, Einsatz für das Zusammenwachsen Deutschlands); Partei, die die eigene Position vertritt; Gefühl der zukünftigen Bedrohung durch eine Ansteckung durch Aids; Zufriedenheit mit der derzeitigen Wirtschaftsordnung und der Sozialpolitik des Staates; erwartete politische Richtungsentwicklung der Gesellschaft in Deutschland; Einstellung zur deutschen Einheit retrospektiv vor der Wende in der 10. Klasse; Beurteilung des Lebens in der DDR; beabsichtigte Selbstständigkeit; Zufriedenheit mit den persönlichen Wohnverhältnissen, dem Einkommen, dem Lebensstandard, dem Verhältnis zu den Eltern sowie den politischen Einflussmöglichkeiten); Vergleich der Situation in den neuen Bundesländern derzeit und in der DDR vor der Wende bezüglich: Jugendförderung, soziale Sicherheit, Möglichkeit der Selbstentfaltung, Schutz gegen Kriminalität, soziale Gerechtigkeit, Achtung der Menschenwürde, Verhältnis der Menschen untereinander, Durchschaubarkeit des politischen Systems, Gesundheitswesen sowie Möglichkeiten der Freizeitgestaltung; Veränderung der politischen Grundhaltung gegenüber der Zeit unmittelbar vor der Wende (10. Klasse), Einstellung zu den sozialistischen Idealen zum Zeitpunkt vor der Wende (10. Klasse) sowie derzeit; Umdenken ist schwergefallen; Interesse am Ergebnis der Studie; Identifikation als Bürger der Wohngemeinde; Zufriedenheit mit der Jugendpolitik des Staates; Veränderung des politischen Standpunkts seit 1990; retrospektive Bewertung damaliger Unterrichtsfächer und Formen der gesellschaftlichen Erziehung (Fächer: Geschichte, Sport und Staatsbürgerkunde, Wehrunterricht, FDJ-Veranstaltungen, Jugendstunden, Jugendweihe sowie die Zeit bei den Pionieren in der 1. bis 7. Klasse); Bewertung der damaligen Lehre im Fach Staatsbürgerkunde; Übereinstimmung des damals vermittelten Kapitalismus der BRD mit der heutigen Realität im vereinten Deutschland; retrospektive Kritik an der Schule im Hinblick auf Kollektiverziehung und das Lehrer-Schüler-Verhältnis; Einschätzung der DDR vor der Wende und Deutschlands heute im Bezug auf: Achtung der Menschenwürde, gleiche Bildungschancen für alle, soziale Sicherheit, Beseitigung der gesellschaftlichen Wurzeln des Faschismus bzw. von Kriegen; Einstellung zur DDR und zum Sozialismus: das Leben in der DDR war ´lebenslanger Knast´; Lebensziele (eigene Kinder großziehen, Toleranz für Andersdenkende); Gefühl der Bedrohung durch die Zunahme von Leistungsdruck; erstrebenswert, sich als Bürger der BRD zu fühlen; Zufriedenheit mit der Familienpolitik des Staates; Zufriedenheit mit den Chancen, es im Leben durch Leistung zu etwas zu bringen; Überwiegen von neuen Chancen oder von Risiken bei der Lebensgestaltung; Vergleich der DDR vor der Wende und Deutschlands im Bezug auf: Familienförderung, Gleichberechtigung der Frau, persönliche Freiheiten, Moral der herrschenden Politiker, Vergleich der heutigen persönlichen wirtschaftlichen Situation sowie der wirtschaftlichen Situation der Eltern mit der von früher; Beurteilung des Lebens in der DDR; Einstellung zu ausgewählten Aussagen (Ostdeutsche als Deutsche 2. Klasse, gerne in der vereinten BRD leben, Gehorsam und Autorität als wichtige Erziehungsziele für Kinder, Aufrechterhaltung von Ordnung notfalls mit Gewalt); Einstellung zur Parole Nazis raus; Bereitschaft zur Beantwortung eines längeren Fragebogens; Bereitschaft zur Teilnahme an einer Diskussion bzw. einem Gespräch über persönliche Erlebnisse; persönliche Erfahrungen mit dem neuen Gesellschaftssystem; Lebensziel: gute Freunde haben; Identifikation als Ostdeutscher; Demokratiezufriedenheit und Zufriedenheit mit der Militärpolitik, der Außenpolitik, der Lohnpolitik sowie mit der gesellschaftlichen Entwicklung; Vergleich der DDR vor der Wende und Deutschlands heute im Bezug auf: Versorgung mit Wohnungen, Kinderbetreuung, Schulbildung, Berufsausbildung und demokratische Mitwirkung; Beurteilung des Gewinns an persönlichen Freiheiten; mögliche Arbeitslosigkeit als Preis für Leben in Freiheit; eigene derzeitige wirtschaftliche Situation sowie wirtschaftliche Situation der Eltern; Klassenkampf in der BRD; Bewertung der gesellschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschland als Fortschritt oder als Rückschritt; Befindlichkeit: Häufigkeit von Magenschmerzen, Nervosität, Schlaflosigkeit, Herzbeschwerden, Depressionen, Suizidgedanken; geschätzter Zeitraum bis zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Angleichung von Ost und West; mehr Trennendes oder Gemeinsamkeiten zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen; erwartete soziale Unruhen in Ostdeutschland; persönliche Erfahrungen hinsichtlich: freier Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit und gegenüber dem Vorgesetzten, Interesse von Politikern an der persönlichen Meinung, gerechter Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand; Parteipräferenz für die Bundestagswahl 1998; Einstellung zu ausgewählten Aussagen (Frauen gehören zu den Verlierern der deutschen Einheit, Auswanderungsabsicht); Selbstcharakterisierung und Verhaltensweisen (gerne fremde Menschen kennenlernen, Beharrungstendenz, Vorsichtsprinzip, Furcht vor neuen Situationen, die Meisten denken so wie ich, auf der Seite des Stärkeren sein, Veränderungen sind unangenehm, (Schaden-) Freude über Ärger eines Dritten mit seinem Vorgesetzten, Bewunderung für Meinungsführer, Intoleranz, Menschen, die anders sind, aus dem Weg gehen, Wohlfühlen in gut organisierten Gruppen, bemüht, es den Eltern recht zu machen, unwohl fühlen in Gesellschaft fremder Menschen, Wunsch nach einem ruhigen Leben); Beurteilung der westlichen Lebensart; persönliche Erfahrung des Lebens in menschlicher Gesellschaft; glücklich, Bürger der BRD zu sein; Bereitschaft gegen Honorar weiter an der Studie teilzunehmen; Zufriedenheit mit der Gesundheitspolitik; Umzugshäufigkeit nach der Wende; Vergleich des Staatsbürgerkundeunterrichts mit der Realität: Macht der Konzerne und Banken, kapitalistisches Gesellschaftssystem kann Menschheitsprobleme nicht lösen, alles vom Standpunkt der arbeitenden Menschen aus betrachten; erwarteter Einfluss der Regierungspolitik auf das eigene Leben; Eintreten für eine bessere Gesellschaft; persönliche Erfahrungen hinsichtlich: Einfluss auf die Gesellschaft nehmen, Leben ohne politische bzw. wirtschaftliche Zwänge; Bereitschaft zur Teilnahme an Protestaktionen oder einer Demonstration; Einstellung zu ausgewählten Aussagen: Gesellschaftssystem wird die dringenden Menschheitsprobleme lösen, derzeitiges Gesellschaftsmodell ist das einzige menschenwürdige Zukunftsmodell, politisch eng mit der Bundesrepublik verbunden fühlen; Einstellung zu ausgewählten Aussagen: Ostdeutsche sollten auf die Straße gehen um auf ihre Situation aufmerksam zu machen, Beteiligung der Bundeswehr an den Luftangriffen der NATO auf Jugoslawien war richtig, froh, dass es die DDR nicht mehr gibt, froh, die DDR erlebt zu haben, nicht alles falsch, was über Kapitalismus gelehrt wurde, das Lebenszufriedenheit; Bereitschaft persönliche Erlebnisse aufzuschreiben; Bereitschaft Dokumente oder Fotos zur Verfügung zu stellen; Interesse am Ergebnis der Studie.
Demographie: Geschlecht; Alter; derzeitige Tätigkeit; Ortsgröße; Arbeitsplatzsicherheit; Veränderung der beruflichen Pläne; Wohnen bei den Eltern; Familienstand; Heiratsabsicht, Kinderzahl; gewünschte Kinderzahl; Arbeitslosigkeit der Eltern; Arbeitslosigkeit des Lebenspartners; abgeschlossene berufliche Ausbildung; eigene Arbeitslosigkeit; Arbeitslosigkeitsdauer; Anzahl der Bewerbungen.
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2019 hat Thomas Hofmann den scheinbar ewigen Präsidenten Wolfgang Herrmann an der Spitze der TU München abgelöst. Was macht er jetzt anders? Ein Gespräch über das bayerische Genderverbot, die Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, die Beziehungen zu China – und Hofmanns Verständnis der unternehmerischen Universität.
Thomas Frank Hofmann, Jahrgang 1968, ist Lebensmittelchemiker und war von 2009 bis 2019 geschäftsführender Vizepräsident der Technischen Universität München (TUM) für Forschung und Innovation. Seit 2019 ist er Präsident der TUM. Foto: Astrid Eckert / TUM.
Herr Hofmann, auf Betreiben von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ist Anfang April in Bayern das Genderverbot in Kraft getreten. Schulen, Hochschulen und Behörden ist die Verwendung geschlechtersensibler Sprache von nun an ausdrücklich untersagt. Was bedeutet das für die Technische Universität München (TUM)?
Wir glauben, dass Diversität, ihre Förderung und Wertschätzung die Schlüssel sind für den Erfolg unserer Universität. Durch die Nutzung gendersensitiver Sprache versuchen wir seit Jahren eine möglichst große Vielfalt an Talenten anzusprechen. Und das gelingt zunehmend gut, auch wenn wir wie auch andere technische Universitäten gerade bei weiblichen Studierenden und Wissenschaftlerinnen weiterhin Aufholbedarf haben. Wir interpretieren das Verbot so, dass es für die Universität im Rahmen ihrer dienstlichen Aufgaben gilt, also beispielsweise bei der Erstellung von Satzungen oder Promotionsordnungen etwa. In anderen Bereichen, wie beispielsweise in der Kommunikation innerhalb unserer Universitätsgemeinschaft verfahren wir im Bestreben einer weiteren Steigerung unserer Vielfalt wie bisher.
Also sämtliche Lehrveranstaltungen, Lehrunterlagen und Forschungsarbeiten fallen nach Ihrem Verständnis nicht unter das Verbot?
Soweit ist unser Verständnis, und ich bin sicher, dass die noch ausstehenden Ausführungsempfehlungen des Freistaats in dieser Form die Autonomie der Hochschulen nicht unnötig einschränken.
"Dieser vermeintliche 'Genderzwang' existiert doch gar nicht."
Ärgert es Sie, dass Wissenschaftsminister Markus Blume (CSU) als Beispiel für den vermeintlichen "Genderzwang" an bayerischen Hochschulen einen inzwischen gelösten Fall angeführt hat, der sich, wie später herauskam, ausgerechnet an der TUM zugetragen hat?
Nein, zumal dieser vermeintliche "Genderzwang" doch gar nicht existiert. Dass die besagte Promotionsordnung gendersensitive Sprache nutzt, ist lediglich Zeichen unseres Inklusionsverständnisses. Im Übrigen entspricht sie auch andernorts dem heutigen Standard. Wenn Sie die Promotionsordnung der TU Berlin oder auch der ETH Zürich anschauen, dann lesen die sich genauso. Die ganze Aufregung, auch in den Medien, halte ich für unangemessen und vor allem für wenig zeitgemäß, zumal in diesen bewegten Zeiten Deutschland doch vor ganz anderen Herausforderungen steht. Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Medien sollten ihre vereinten Kräfte besser auf innovative Lösungsansätze fokussieren, denn der laufende Wettbewerb um die Zukunftsstandorte der Welt wartet nicht auf Deutschland!
Der Vorwurf lautete, dass einer Promovendin die Verleihung des Doktorgrades verwehrt worden sei, solange sie sich geweigert habe, auf dem Titelblatt das Gendersternchen zu verwenden – was, wie Blume sagte, "sogar in der Promotionsordnung so vorgeschrieben ist". Laut dem Minister "ein klarer Fall von sprachlicher Übergriffigkeit".
Es gab den Fall, dass sich die Veröffentlichung einer Dissertation wegen Diskussionen um Formulierungen auf dem Titelblatt der Dissertation verzögerte. Die Promovendin hatte ihre Prüfungen zuvor bereits erfolgreich bestanden. Daran gab es keinen Zweifel. Die Promovendin hatte sich zudem gewünscht, den Titel "Doktor" als Bezeichnung des generischen Maskulinums zu erhalten statt "Doktorin". Dies war lediglich der erste derartige Fall an der TUM seit Inkrafttreten der Neufassung der Promotionsordnung 2021. Deshalb hat sich der Ablauf etwas verzögert, was auch nicht mehr vorkommen sollte. Da wir an der TUM möglichst große individuelle Freiheiten bezüglich geschlechterspezifischer Bezeichnungen gewähren, haben weibliche Promovierende natürlich die Möglichkeit, den akademischen Grad "Doktor" oder "Doktorin" zu wählen, so auch in diesem konkreten Fall. Also erneut: kein Grund zur Aufregung.
Ebenfalls von der Staatsregierung beschlossen wurde ein Entwurf für ein "Gesetz zur Förderung der Bundeswehr in Bayern", das nicht nur Zivilklauseln an bayerischen Hochschulen untersagt, obwohl es gar keine gibt, sondern ein allgemeines Kooperationsgebot für die Hochschulen mit der Bundeswehr festschreibt. Stellt das Wissenschaftsministerium auf Antrag der Bundeswehr fest, dass eine Kooperation für die nationale Sicherheit erforderlich sei, sollen die Hochschulen künftig sogar ministeriell zur Zusammenarbeit gezwungen werden. Eine Grenzüberschreitung?
Die grundgesetzlich verankerte Freiheit von Lehre und Forschung wird an der TUM mit höchster Wertigkeit gelebt und schließt aus meiner Sicht ein Verbot von Forschung zu Dual-Use-Technologien und eine entsprechende Zivilklausel aus. Darum gab es an der TUM auch nie eine Zivilklausel. Außerdem bin ich der Überzeugung, dass wir uns keiner Technologie verschließen sollten, nur weil sie gegebenfalls Dual-Use-Potential mit sich bringt, also neben zivilen auch für defensiv-militärische Zwecke genutzt werden könnte. Oft genug war es in der Vergangenheit doch sogar umgekehrt: Zahlreiche Technologien wurden beispielsweise in den USA primär für militärische Zwecke entwickelt und führten dann, etwa in der Luftfahrt, zu innovativen Fortschritten in der zivilen Nutzung. Unnötige Einschränkungen bei der Erforschung von Dual-Use-Technologien an der TUM wären somit zum Nachteil des Innovationsfortschritts im zivilen Bereich.
"Wenn der Staat seine Universitäten verstärkt für den Schutz der Bevölkerung in die Verantwortung nehmen will, hat dies aus meiner Sicht nichts mit einem Verlust der Freiheit in der Wissenschaft zu tun."
Außerdem dürfen wir nicht leugnen, dass sich in den vergangenen zwei Jahren die Sicherheitslage in der Welt dramatisch verändert hat. Im Sinne einer friedlich ausgerichteten Verteidigungspolitik sehe ich auch die Hochschulen gefordert, ihre technischen Entwicklungen und Innovationen auch zum Schutz unserer Bevölkerung, der freiheitlich demokratischen Grundordnung und der nationalen Sicherheit zu nutzen. Wenn der Staat seine Universitäten nun verstärkt in die Verantwortung nehmen will, hat dies aus meiner Sicht nichts mit einem Verlust der Freiheit in der Wissenschaft zu tun. Denn nicht für einzelne Forscher oder einzelne Forscherinnen soll das Gebot zur Kooperation gelten, sondern für die Hochschule als Institution. In die individuelle Entscheidungsfreiheit wird aus meiner Sicht mit dem aktuellen Gesetzesentwurf an keiner Stelle eingegriffen.
Im Oktober 2019 haben Sie Wolfgang Herrmann nach 24 Jahren als TUM-Präsident abgelöst. Herrmann war eine Institution, er hat die Universität zu der gemacht hat, die sie heute ist. Und was machen Sie jetzt anders als er, Herr Hofmann?
Wir sind seit 2019 noch besser geworden, in den Hochschulrankings weiter aufgestiegen und rapide gewachsen bei den Studierendenzahlen, während zahlreiche andere deutschen Hochschulen stagnieren oder schrumpfen. Im aktuellen THE-Universitätsranking besetzen wir Platz 1 in Deutschland und der Europäischen Union. Diese Entwicklung der TUM ist auch Ergebnis mutiger Reformen seit 2019. Also kein einfaches "Weiter so", sondern ständige Veränderung ist unser Gebot der Stunde im international galoppierenden Wettbewerb. In dieser Grundhaltung bin ich geistig sehr nahe bei Wolfgang Herrmann. Wie er bin ich fest davon überzeugt, dass zur erfolgreichen Führung einer Universität Weitsicht, Veränderungsmut und Furchtlosigkeit gehören, immer wieder neu zu denken, innovative Maßnahmen zu entwickeln und Überkommenes einfach zu lassen. Diese operative Agilität und Adaptierungsdynamik sind für zukünftigen Erfolg genauso wichtig wie eine möglichst große Diversität der Talente. Und genau das macht die TUM als "unternehmerische Universität" aus. Aber natürlich gibt es Unterschiede zwischen Wolfgang Herrmann und mir. Viele sagen, dass der größte Unterschied in unseren Führungsstilen liegt. Das mag sein und das ist gut so. Denn der Führungsstil muss zeitgemäß sein, um erfolgreich zu sein, und heute die kreative Kraft der gesamten Universitätsgemeinschaft einbinden.
"Der ewige Patriarch" lautete die Überschrift eines Porträts, das ich einmal über Ihren Vorgänger geschrieben habe.
Mein Führungsstil ist inklusiv und kooperativ. Ich gebe die grobe Richtung vor, höre zu, stimme mich ab und lasse mich hin und wieder mit guten Argumenten auch gerne überzeugen. Und natürlich braucht es manchmal am Ende mutige Entscheidungen, denn wir dürfen unsere Ziele nicht aus dem Blick verlieren.
Mutig ist zum Beispiel, dass die TUM als einzige Universität in Bayern die gesetzlichen Möglichkeiten nutzt und Studiengebühren für Nicht-EU-Ausländer einführt, und zwar in beträchtlicher Höhe: zwischen 2000 und 6000 Euro pro Semester. Beunruhigt es Sie nicht, dass keine andere Hochschule mitzieht?
Ich kann nichts zu den Gründen sagen, warum andere die Studiengebühren nicht einführen wollen. Entscheidend ist doch, warum wir uns dazu entschieden haben, Gebühren für Studierende außerhalb der Europäischen Union einzuführen. Als Universität mit internationalem Exzellenzanspruch wollen wir uns nicht nur in der Forschung, sondern gerade auch in der Lehre mit den Besten der Welt messen. Beim Blick auf unsere internationalen Wettbewerber fällt sofort auf, welche enormen Summen die Spitzenuniversitäten in die Erneuerung des gesamten Lehrumfelds investieren, in neue Infrastrukturen, in innovative Lehrtechnologien und -formate oder auch in die weitere Verbesserung der Betreuungsrelationen, die vielerorts völlig anders aussehen als bei uns. Das bedeutet für uns: Um mithalten zu können, um Studiengänge auf höchstem internationalen Qualitätsniveau anbieten zu können und unsere Studierenden wirklich zukunftsfähig auszubilden, braucht es viel mehr Geld als uns staatliche Mittel dazu zur Verfügung stehen. In ganz Deutschland ist die staatliche Grundfinanzierung der Hochschulen dazu nicht ausreichend. Daher wollen wir unsere Finanzierungsbasis verbreitern und eingenommene Studiengebühren gezielt für die Verbesserung der Lehre einsetzen. Davon profitieren alle Studierenden, die nationalen wie die internationalen, und von den bestausgebildeten Talenten ihre späteren Arbeitgeber.
Und Sie haben keine Sorgen, Sie könnten mit der Einführung internationale Studierende abschrecken? Baden-Württemberg schafft die Gebühren gerade wieder ab mit dem erklärten Ziel, dann wieder mehr Talente aus dem Ausland anziehen zu können.
Es gibt da doch große Unterschiede zu uns. Erstens: Die Universitäten in Baden-Württemberg waren beim Anteil internationaler Studierender nicht ansatzweise auf unserem Niveau. Bei den Master-Studiengängen liegen wir inzwischen bei 57 Prozent internationale Studierende. Zweitens war es ein politischer Fehler der Landesregierung in Baden-Württemberg, dass ein Großteil der Gebühren gleich wieder eingezogen wurde, so dass eine spürbare Verbesserung der Lehrqualität eben nicht erreicht werden konnte. Doch nur spürbare Verbesserungen hin zu einem wirklich exzellenten, modernen Lehr- und Lernumfeld werden internationale Studierenden trotz der (international ohnehin üblichen) Gebühren nach München bringen. Sicher wird es in den ersten zwei, drei Jahren Schwundeffekte geben. Das zeigen die Erfahrungen aus den Niederlanden und anderen europäischen Ländern. Es hat sich aber gezeigt, dass an diesen Hochschulen anschließend die internationalen Studierendenzahlen wieder hochgingen – und dann schnell über den Stand vor der Einführung der Studiengebühren hinausgeschossen sind.
"In international ausgerichteten Berufsfeldern macht es heute keinen Sinn mehr, einen Studiengang auf Deutsch anzubieten."
Aber rechtfertigen die Erträge überhaupt den Aufwand?
Das System fährt stufenweise hoch über mehrere Jahre, weil wir nur von neuen Nicht-EU-Studierenden Gebühren verlangen und nicht von denen, die schon bei uns sind. Außerdem wird es für bis zu 20 Prozent der Studierenden Erlass-Stipendien geben: für die absolut herausragenden Talente genauso wie für finanzschwächere Bewerber, weil wir andernfalls an Diversität verlören, wenn die soziale Herkunft über den Universitätszugang entscheiden würde. Insofern tue ich mich schwer, einen konkreten Eurobetrag zu nennen. Aber wir rechnen mittelfristig schon mit einem signifikanten zweistelligen Millionenbeitrag.
2014 hatte Wolfgang Herrmann angekündigt, bis 2020 alle Masterstudiengänge auf Englisch umstellen zu wollen. Was ist eigentlich daraus geworden?
Das wurde als Ziel diskutiert damals, aber in dieser Absolutheit nie beschlossen. Wir haben den Anteil englischsprachiger Studiengänge seitdem organisch wachsen lassen, heute liegt er im Master bei über 70 Prozent. Darunter sind etliche Studiengänge, die Sie zu großen Teilen auch auf Deutsch studieren können, die also im Prinzip zweisprachig sind. Wir erleben aber, dass der Nachfragetrend immer stärker Richtung Englisch geht. Vor kurzem haben wir sogar den ersten Bachelor-Studiengang auf Englisch, für Luft- und Raumfahrt, gestartet, und seitdem ist die Bewerberlage mehrfach überzeichnet mit Bewerberinnen und Bewerbern aus der ganzen Welt. Wir sehen: In international ausgerichteten Berufsfeldern macht es heute einfach keinen Sinn mehr, einen Studiengang auf Deutsch anzubieten, sondern nur auf Englisch.
Wie aber soll das funktionieren, wenn ein Großteil der Lehrenden deutsche Muttersprachler sind? Führt das nicht zwangsläufig zu einer intellektuellen Verflachung, weil sich die Lehrenden und Lernenden in einer Fremdsprache nicht so präzise ausdrücken können wie in ihrer eigenen?
Wir lassen bei der Beantwortung von Fragen in Klausuren in der Regel beide Sprachen zu. Sie können also, wenn die Frage auf Englisch gestellt ist, auch auf Deutsch antworten. Wir sehen aber, dass für die meisten jungen Leute – unabhängig von deren Herkunft – die Kommunikation auf Englisch überhaupt kein Problem mehr ist. Sie sind damit aufgewachsen und dank Social Media und Internet ganz anders darauf getrimmt als frühere Generationen.
Für die Studierenden mag das stimmen. Aber was ist mit ihren Profs?
Ich kann wieder nur für uns an der TUM sprechen, aber unsere Professorinnen und Professoren sind weltweit unterwegs und auf ihren Dienstreisen, bei Vorträgen und auch der Lehre gewohnt, Englisch zu sprechen. Viele kommunizieren mit ihrem gesamten Mitarbeiterkreis nur auf Englisch. Trotzdem bieten wir über unser Sprachenzentrum Kurse an für Dozenten, die ihr Englisch verbessern wollen. Und diejenigen, die aus dem Ausland zu uns kommen, unterstützen wir beim Deutschlernen. Und das tun wir vor allem, damit sie in Deutschland auch außerhalb der Hochschule sprechfähig sind und sich integriert fühlen. Ohne Sprachkompetenzen ist es einfach schwieriger, ausländische Talente und deren Familien in Deutschland zu halten.
Die TUM ist unter anderem mit einem Verbindungsbüro in der Volksrepublik China vertreten. Im Oktober 2020 haben Sie persönlich eine sogenannte Flaggschiffpartnerschaft mit der Tsinghua-Universität in China besiegelt. Bereuen Sie den Schritt inzwischen?
Keineswegs! Auch wenn der politische Druck auf die deutsch-chinesischen Beziehungen massiv zugenommen hat, stehen wir zu einer Stärkung der wissenschaftlichen Beziehungen mit ausgewählten chinesischen Partneruniversitäten. Erst vergangene Woche bin ich nach China geflogen zum Besuch des Präsidenten der Tsinghua University, nachdem vergangenes Jahr eine chinesische Delegation der Universität bei uns war. Auch die Besuche an der Tongji University und der Shanghai Jiao Tong University waren äußerst spannend und inspirierend. Denn wer glaubt, dass diese Universitäten etwas von deutschen Universitäten lernen können, irrt sich grundlegend. Ich glaube, dass viele deutsche Universitäten von diesen Spitzenuniversitäten aus China lernen können!
"Generalverdacht hilft niemanden weiter und entzieht jeder Zukunft die Grundlage."
Also alles wie immer in den Beziehungen zu Ihren chinesischen Partner?
Unsere Ziele sind beständig, aber der Blick und die Rahmenbedingungen haben sich verändert. Wir gehen heute mit großem Bedacht in unsere internationalen Partnerschaften. Wir schauen uns schon sehr genau an, mit welchem Partner wir zu welchen Themen zusammenarbeiten, unter welchen Konditionen und mit welchen Standards wir kooperieren und wann wir es eben nicht tun. Und wir bereiten unsere Mitarbeitenden vor; wir unterstützen sie mit Coachings, Reisehandys und Reisecomputern, bevor sie auf Dienstreise gehen. Ich halte es für einen kapitalen Fehler zu glauben, Deutschland könnte sich aus einer Zusammenarbeit mit China zurückziehen. Nur durch internationale Spitzenallianzen werden wir unsere heutigen Herausforderungen wie beispielsweise zu Gesundheit oder Klimaschutz lösen können und auch den Wirtschaftsstandort Deutschland sichern können.
Was antworten Sie einer Bundesforschungsministerin, die sagt: "Hinter jedem chinesischen Forscher kann sich die kommunistische Partei verbergen"?
Generalverdacht hilft niemanden weiter und entzieht jeder Zukunft die Grundlage! Aus der Geschichte können wir lernen: Unwissenheit und Ignoranz trennen die Welt, nur der Austausch verbindet Menschen und Kulturen – und dies ist die Grundlage für Partnerschaften. Natürlich müssen wir dazu unsere Sicherheitsprotokolle anpassen und achtsamer sein als früher, aber wir müssen auch die über viele Jahre aufgebauten Brücken bewahren, mit denen wir deutsche und chinesische Partner in Austausch bringen. Denn sind diese Brücken einmal abgebrannt, wird es Jahrzehnte dauern, wieder Vertrauen aufzubauen.
Bayerns Staatsregierung brüstet sich damit, wie kein anderes Bundesland in die Wissenschaft und die Hochschulen zu investieren, Überschrift: "Hightech Agenda Bayern" (HTA). Laut Wissenschaftsminister Blume sind darüber über 1000 neue Professuren entstanden und verstetigt worden, außerdem sind die Rahmendaten für die Hochschulfinanzierung schon bis 2027 vereinbart. Glückliches Bayern?
Mit der HTA hat Ministerpräsident Söder einen echten und weit sichtbaren Impuls gesetzt für Innovationen aus Bayern; dieser sucht bundes- und europaweit seinesgleichen. Andererseits wird es überall im Land enger, auch bei uns. Ein insuffizienter Bauunterhalt oder die gestiegenen Energiekosten setzen uns wie alle anderen Hochschulen zunehmend unter Druck. In Verbindung mit der unzureichenden Grundfinanzierung presst die Inflation die Hochschulen in ein Korsett, welches jeglichen Atem für die im heutigen internationalen Wettbewerb so dringend erforderlichen Neuausrichtungen in Forschung und Lehre nimmt. Auf der anderen Seite müssen wir einsehen, dass die Staatshaushalte sowohl im Bund als auch in den Ländern momentan sehr belastet sind. Anstatt nur mehr Geld zu fordern, müssen wir daher als Hochschulen selbst agiler werden und alte Zöpfe abschneiden, um dem Neuen eine Chance zu geben, beispielsweise den Ausbau der Unterstützung von Ausgründungen und Start-ups. Denn nur mit neuer Wirtschaftskraft in Deutschland werden auch die Staatskassen wieder besser gefüllt werden, und das Land kann wieder in seine Hochschulen investieren. Also, nicht Jammern bringt uns weiter, sondern Machen!
Das mit der Agilität ist Ihnen, wie man merkt, sehr wichtig. Können Sie Ihren Anspruch mit ein paar Zahlen unterlegen?
Genau zu der Frage haben wir eine Studie durchführen lassen mit dem Ergebnis, dass jede Personalstelle, die der Freistaat bei uns an der TUM finanziert, im Schnitt 14 neue Arbeitsplätze in unseren Start-ups generiert. Das kann sich doch sehen lassen und ist, neben tausenden Absolventen jedes Jahr und unseren Forschungsallianzen mit der Wirtschaft, ein ganz konkreter Return on Investment.
Mit Verlaub: Solche Studien präsentieren viele Hochschulen und Forschungseinrichtungen, und jedes Mal kommen fast unglaubliche Zahlen dabei heraus.
Unsere Zahlen sind belastbar. In der Wissenschaft streben wir vor allem nach neuem Wissen und Erkenntnissen, aber in einem nächsten Schritt übernehmen wir die Verantwortung dafür, dass aus dem Wissen auch marktfähige Innovationen und neue Arbeitsplätze entstehen. Deshalb ermutigen wir alle Universitätsmitglieder, von den Studierenden bis zu den Professorinnen und Professoren, wenn sie eine tolle Geschäftsidee haben, diese auch zu verfolgen. Und wir unterstützen sie dabei. Mit dem Ergebnis, dass heute fast 500 Gründungsteams durch die TUM gefördert werden und weitere 180 studentische Initiativen, über alle Fächer und Disziplinen hinweg. Gerade war eine Gruppe von Studierenden bei mir, die an einer Methan-Sauerstoff-Rakete arbeitet, um sie Ende des Jahres über die 100-Kilometer-Grenze hinaus in den Orbit zu schießen.
"Die Reduzierung der Höchstbefristung in der Post-Doc-Phase ist ungerecht, denn sie ist zum Schaden der jungen Menschen selbst."
Wenn Sie so viel Wert auf das Schaffen neuer Arbeitsplätze in der Wirtschaft legen, was tun Sie für gute Arbeit an der eigenen Universität? Schließlich sehen sich die Hochschulen selbst mit dem stärker werdenden Fachkräftemangel konfrontiert.
Ich danke Ihnen ausdrücklich für diese Frage, denn damit sind wir an einem Schlüsselpunkt angelangt. Wir Hochschulen müssen als Arbeitgeber attraktiver werden, uns dafür am eigenen Schlafittchen packen und viel mehr tun für verlässliche Karrierewege auch unterhalb der Professur. So sind auch zahlreiche Stückelverträge hintereinander unfair gegenüber den jungen Menschen, die sich uns anvertrauen. Die Ampel will zu diesem Zweck das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) novellieren, doch das wird ins Auge gehen, wenn sie das falsche Modell wählt. Laut aktuellem Entwurf sollen künftig nach der Promotion vier Jahre Befristung erlaubt sein und dann nochmal zwei Jahre – aber nur, wenn klar ist, dass die Person danach einen Dauervertrag erhalten kann. Dies kann aber nur in wenigen Fällen erfolgen, so dass de facto für die meisten nach maximal viel Jahren als Postdoc Schluss wäre. Vier Jahre sind aber oft zu kurz, um sich über exzellente Forschung und hochkarätige Veröffentlichungen tatsächlich für eine Professur zu qualifizieren. So täuscht der Reformvorschlag für das Wissenschaftszeitvertragsgesetz eine falsche Gerechtigkeit vor. Tatsächlich ist die Reduzierung der Höchstbefristung in der Post-Doc-Phase ungerecht, denn sie ist zum Schaden der jungen Menschen selbst. Und sie wird einen enormen Brain Drain auslösen, entweder heraus aus der Wissenschaft insgesamt oder hinein in ausländische Universitäten, die sich kein solch wissenschaftsfeindliches Korsett anziehen.
Ihr Alternativvorschlag lautet also: Einfach die Regelung lassen, wie sie ist?
Nein, ich unterstütze prinzipiell ein Tenure-Track-System für den wissenschaftlichen Mittelbau mit Nachdruck. Der aktuelle Gesetzesvorschlag ist allerdings verlogen! Statt den Befristungszeitraum von maximal sechs auf vier Jahre zu kürzen, wäre es im Sinne einer Karriereplanbarkeit sicher sinnvoller, die realen Vertragslaufzeiten für Postdocs generell an die Förder- oder Zuwendungsbescheide für Projekte anzupassen, anstatt sie mit Stückelverträgen zu gängeln. Wie auch immer macht die Umsetzung des aktuellen Gesetzentwurfs nur dann Sinn, wenn im dimensionalen Ausmaß neue entfristbare Stellen an die Universitäten kommen. Und dies halte ich vor dem Hintergrund der heute knappen Staatskassen für schieres Wunschdenken. Die Politik muss sich der Konsequenzen ihres Handelns schon bewusst sein!
Sie sagen, die Hochschulen seien gefragt, sich intelligente Konzepte für Karrierewege auch unterhalb der Professur zu überlegen. Welche fallen Ihnen da konkret für die TUM ein?
Das Wissenschaftsmanagement wird immer wichtiger und ist ein hoch attraktives Aufgabenfeld. Diese Kolleginnen und Kollegen tragen maßgeblich dazu bei, dass an der TUM Spitzenleistungen in Forschung und Lehre erzielt werden. Deswegen haben wir zum Beispiel das berufsbegleitende Qualifizierungsprogramm TUM Science Manager aufgelegt. Es dauert zwischen 12 und 24 Monate und die Teilnahme am Kursprogramm erfolgt während der Arbeitszeit – wird also bezahlt.
"Als Franke müsste ich angesichts der Gründung der TU Nürnberg jubeln, aber eine Spitzenuni lässt sich nicht mit der Brechstange schaffen."
Sie haben es vorhin gesagt: Die Hochschulfinanzierung wird auch in Bayern enger. Gleichzeitig hat der Freistaat vor wenigen Jahren die Technische Universität Nürnberg (UTN) neu gegründet, übrigens mit tatkräftiger Unterstützung Ihres Vorgängers, und massive Investitionen versprochen.
Da sehen Sie, dass wir uns doch in einigen Dingen unterscheiden.
Inwiefern?
Als Franke müsste ich jubeln! Aber wenn wir in die Welt hinausschauen sehen wir, dass sich international führende Forschungsstandorte evolutionär und über lange Zeiträume hinweg entwickelt haben. Eine Spitzenuni lässt sich nicht mit der Brechstange schaffen, sondern braucht Geld und vor allem Zeit – viel Zeit! Ein Professor in Stanford hat zu mir mal gesagt, eine wissenschaftliche Top-Einrichtung zu schaffen, koste 100 Milliarden und dauere 100 Jahre.
Erst neulich hat Ministerpräsident Söder einen Strategiewechsel verkündet: die Fokussierung der UTN auf das Thema Künstliche Intelligenz. Sogar einen schnittigen neuen Titel hatte er im Angebot: "Franconian University of Artificial Intelligence".
Ich habe das nicht zu entscheiden. Ich persönlich würde eine Universität nicht thematisch einschränken, selbst wenn es sich wie bei der KI um eine disruptive Querschnittstechnologie handelt. Aber ich glaube, das ist so auch nicht gemeint.
Vielleicht sagen Sie das nur, weil Sie fürchten, dass die UTN ihnen demnächst Ihre KI-Talente abjagt.
Das erwarte ich nicht, und es wäre auch kein sinnvoller bayerischer Ansatz, dass wir jetzt das Wildern beieinander anfangen.
Wie aber wollen Sie überhaupt all die neuen KI-Lehrstühle besetzt bekommen, die in den vergangenen Jahren im Freistaat ausgelobt wurden?
Da sehe ich kein Problem. Wir haben praktisch alle Professuren der HTA besetzt – mit wirklich exzellenten Leuten. Es ist nicht so, dass alle 150 sogenannten KI-Professuren in Bayern jetzt mit Mathematikern und Informatikern besetzt werden, die KI-Grundlagenforschung machen. Davon gibt es in ganz Europa vielleicht 50 ernstzunehmende Leute. Aber die KI hat viele Facetten und Anwendungsdomainen, in denen dann auch die Wertschöpfung von KI entsteht. In solchen Feldern haben wir zahlreiche Berufungen gemacht, wie beispielsweise in der Robotik, der Medizin, in den Sozialwissenschaften und vieles mehr.
Wie passt es eigentlich zusammen, dass Sie an der TUM Spitzentechnologien und KI derart in den Mittelpunkt stellen, gleichzeitig aber gerichtlich bestätigt einen Bewerber abgelehnt haben mit der Begründung, dessen Motivationsschreiben sei mithilfe Künstlicher Intelligenz erstellt worden? Warum sind Sie da nicht offener?
Weil das Motivationsschreiben die individuelle Prägung des Kandidaten zeigen soll. Welchen Sinn hätte es sonst? Etwas völlig Anderes ist es, wenn unsere Studierenden und Lehrenden ChatGPT oder andere sogenannte Large Language Models im Studium einsetzen, das stimulieren wir mit Nachdruck. So wie sich der Taschenrechner zum bewährten Hilfsinstrument entwickelt hat, wird das auch mit KI-Anwendungen sein. Darum bauen wir sie proaktiv in unsere Lehre ein, damit unsere Studierenden vorbereitet sind. Aber erklären, warum sie zu uns an die TUM kommen wollen, sollen unsere Bewerber schon noch selbst.
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