Interessengruppen
In: Politische Theorie und Regierungslehre: eine Einführung in die politikwissenschaftliche Institutionenforschung, S. 194-218
Die internationale Interessengruppenforschung der vergangenen Jahrzehnte charakterisiert der Autor durch deutliche, auch in zeitlicher Hinsicht voneinander abgrenzbare, Schwerpunktsetzungen im Bereich theoretisch-konzeptioneller und empirischer Arbeiten, die es erlauben, von einer historischen Entwicklungslinie zu sprechen, welche vom Neo-Pluralismus über den Neo-Korporatismus zur Netzwerkforschung führt. Die Rezeption der verschiedenen Ansätze lässt jedoch deutlich Unterschiede zwischen einzelnen westlichen Ländern erkennen. Selbst Formen tripartistischer Konfliktlösung, die in Europa geradezu selbstverständlich unter den Begriff "Neo-Korporatismus" gefasst würden, wurden in den USA noch in den neunziger Jahren als "corporate pluralism" beschrieben. Die Debatte über die neuen sozialen Bewegungen ist ursprünglich stärker von Amerika angestoßen worden. Bemerkenswert aber bleibt der Konsens, dass trotz der Entzauberung des Staates die Interventionsfähigkeit des politischen Systems in anderen Subsystemen der Gesellschaft keineswegs gebrochen zu sein scheint. Nicht einmal auf den Staatsbegriff mag der Mainstream verzichten, weil der Nationalstaat trotz aller Europäisierung und Globalisierung - in den meisten für die Bürger unmittelbar erfahrbaren Bereichen, von der Politik der inneren Sicherheit bis zum sozialen Sicherungssystem, die vorherrschende Arena des Konfliktaustrags und der Regelung bleibt. Die Anerkennung der nach wie vor großen Bedeutung der nationalstaatlich definierten Regierungssysteme ist jedoch nicht an die Leugnung einer fortschreitenden Internationalisierung politischer Entscheidungsprozesse geknüpft, welche mit fundamentalen politischen und politikwissenschaftlichen Herausforderungen verbunden ist. Für die politikwissenschaftliche Beschäftigung mit Interessengruppen ist die Internationalisierung politischer Entscheidungsprozesse in den vergangenen Jahren vor allem in Gestalt der "Non-Governmental Organizations" (NGOs) zu einer theoretischen und konzeptionellen Herausforderung geworden. Die politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den NGOs steckt noch in den Anfängen. Mit dem Aufstieg der NGOs sind, wenngleich im internationalisierten Gewande, alte Fragen der Interessengruppenforschung zurückgekehrt - ein weiteres Beispiel für den häufig zyklusartigen Charakter politikwissenschaftlicher Forschung. Zu den interessantesten Perspektiven der künftigen Interessengruppenforschung im weiteren Sinne gehören dem Autor zufolge daneben vor allem die vertiefte theoretische und empirische Analyse des vor einigen Jahren (wieder)entdeckten Zusammenhangs zwischen dem "sozialen Kapital" von Gesellschaften, der Funktionsweise intermediärer Strukturen und der Gesamtperformanz politischer Ordnungen. Entsprechende Perspektiven spielen vor allem im Kontext der Beschäftigung mit Interessengruppen in jungen Demokratien eine wichtige Rolle. Wie vergleichende empirische Bestandsaufnamen zeigen, sind stärker auf die zivilgesellschaftlichen Komponenten moderner Gemeinwesen konzentrierte Ansätze als Ergänzung zu den bisherigen Perspektiven der internationalen Interessengruppenforschung jedoch auch für ein vertieftes Verständnis der Funktionsweise der konsolidierten westlichen Demokratien unverzichtbar. (ICG2)