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Das so genannte "Heizungsgesetz", genauer: das Gebäudeenergiegesetz (GEG) ist bekanntermaßen umstritten. Die Aufmerksamkeit gilt dem parteipolitischen Streit und Medienkampagnen. Selbstverständlich positionieren sich jedoch auch Interessengruppen in der Debatte. Dieser Beitrag nimmt die Beziehungen zwischen Staat und Interessengruppen in der Aushandlung des GEG in den Blick. Diese lobbyieren nicht nur, sie haben eine strategische (und von der Bundesregierung zeitweise zu wenig beachtete) Bedeutung für die Umsetzung der "Heiz- und Energiewende".
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Der demokratische Staat bevorteilt kleine Interessengruppen. Deshalb sollten gerade diejenigen, denen die Armen am Herzen liegen, eine größere Staatsskepsis an den Tag legen. Der Beitrag Der Staat ist nicht Robin Hood erschien zuerst auf Prometheus.
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Mit der „European Digital Identity Wallet" sollen wir uns schon bald europaweit ausweisen können – Montage: netzpolitik.orgDie Bundesregierung will offenbar aus Fehlern lernen und Interessengruppen an der Entwicklung einer digitalen Brieftasche beteiligen. Bereits im November soll das Konzept dafür stehen. Wer sich einbringen will, muss sich bis zum 30. Juni bewerben.
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Einzig der Straßenprotest ist noch klein, die Bandbreite der Kritik aus allen Bereichen der Gesellschaft jedoch groß. – CC-BY 4.0 cvenEin "beispiellos breites Spektrum" von Interessengruppen wehrt sich laut dem Dachverband europäischer digitaler Bürgerrechtsorganisationen EDRi gegen die geplante Chatkontrolle. In einer Liste hat EDRi die Breite der Kritik zusammengetragen - und die ist wirklich erstaunlich.
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EU-Innenkommissarin Ylva Johansson (Archivbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / ABACAPRESSWegen der Lobby-Verflechtungen bei der Chatkontrolle steht Ylva Johansson in der Kritik. In einer Stellungnahme an den EU-Innenausschuss, die wir im Volltext veröffentlichen, wirft sie nun recherchierenden Medien "Sensationslust" vor und behauptet, dass sie alle Interessengruppen gleichermaßen anhöre. Doch daran gibt es erhebliche Zweifel.
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Auf fast 1000 Seiten beleuchtet das Handbuch Lobbyismus der Herausgeber Andreas Polk und Karsten Mause, erschienen bei Springer VS, den Einfluss von Interessengruppen – von aktuellen Beispielen bis hin zu Einblicken in die Logiken der Politikgestaltung werden aufschlussreiche Einblicke geboten, so Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen.... Weiterlesen »
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Diskussionsvorlage der Kommission "Mittelbaupräsenz" der DGS Mitglieder der Kommission: Birgit Blättel-Mink, Heike Delitz, Stephan Lessenich, Martina Löw, Peter Ullrich Das Konzil der DGS hat den Vorstand beauftragt, eine Kommission einzurichten, deren Aufgabe es ist, ergebnisoffen zu prüfen, ob und wieweit die Präsenz des Mittelbaus und anderer Interessengruppen in den Gremien der DGS erhöht werden kann. … "Diskussion innerhalb der DGS-Mitgliedschaft über die Quotierung der „Mittelbaupräsenz“ in den Gremien der DGS" weiterlesen
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Der Wissenschaftsratsvorsitzende Wolfgang Wick zu überdrehten Transfererwartungen der Politik, verlorengegangenen Differenzierungen im deutschen Wissenschaftssystem, drohendem Kontrolldruck nach der Fraunhofer-Affäre – und neuen Aufgaben für den Wissenschaftsrat.
Wolfgang Wick, Professor für Neurologie und als Neuroonkologe am Heidelberger Universitätsklinikum, ist seit Februar 2023 Vorsitzender der Wissenschaftsrats (WR). Foto: Svea Pietschmann.
Herr Wick, die Ampel-Parteien haben sich in der Haushaltskrise geeinigt, der BMBF-Haushalt soll glimpflich davonkommen. Ein Zeichen, dass die Bundesregierung Bildung und Wissenschaft auch in schwierigen Zeiten die Treue hält?
Das wünsche ich mir sehr. Die BAföG-Strukturreform muss kommen, die Investitionen in Innovation und Hochtechnologie müssen aufrechterhalten werden, der Sanierungsstau im Hochschulbau muss endlich aufgelöst werden – um nur einige Beispiele zu nennen. Sparen bei Forschung und Innovation würde die Zukunftschancen, die uns die Wissenschaft eröffnet und die wir gerade jetzt so dringend brauchen, verspielen.
Das scheint seit der Pandemie zum Geschäftsmodell der Wissenschaft geworden zu sein: die immensen Heilserwartungen, die Gesellschaft und Politik ihr entgegenbringen, auch noch bestärken, weil sie nur dann noch auf das nötige Geld hoffen kann?
Das Wecken solcher Erwartungen ist immer ein zweischneidiges Schwert. In der Pandemie hat die Wissenschaft einen großen Zuwachs an Bedeutung und Vertrauen erlebt. Das führte dazu, dass der Anspruch nach kurzfristigen Antworten und Problemlösungen immer größer wurde. Wenn dann aber an Kochrezepte erinnernde Handlungsvorschläge gefordert werden, geraten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Verlegenheit, weil sie diese aus der Logik der Wissenschaft heraus nicht liefern können. Das sehen wir als Wissenschaftsrat kritisch. Wir glauben, dass Wissenschaftler dann am effektivsten und am wirksamsten sind, wenn sie als Wissenschaftler argumentieren, und es deutlich sagen, sobald sie sich als Staatsbürger äußern.
Die Versuchungen, die Rollen nicht deutlich zu trennen, sind groß, wenn die Politik doch genau die schnellen Lösungen will.
Wir müssen der Politik gegenüber klar kommunizieren, dass sie zum Beispiel bei der Bewältigung der Klimakrise kaum schnelle Antworten erwarten kann, wenn sie die dafür zuständigen wissenschaftlichen Disziplinen über Jahre hinweg nur unzureichend gefördert hat. Legt sie jetzt im Zusammenhang mit der Energiewende umfangreiche Programme auf, ist das sehr zu begrüßen, allerdings lautet die Botschaft an die Politik: Die wissenschaftlichen Resultate werden erst in einigen Jahren zu sehen sein.
"Was wir seit einer Weile sehen, ist eine Politik, die getrieben wirkt, die sich zu stark fokussiert auf fast schon beliebige Transfererwartungen, die sie dann noch in jede wissenschaftspolitische Debatte hineinprojiziert."
Lautet nicht die eigentlich wichtige Botschaft: Vergesst die Grundlagenforschung jetzt nicht?
Wissenschaftsfinanzierung hat immer zwei Dimensionen. Die eine ist auf die kurzfristige Lösung von Problemen ausgerichtet, oft verbunden mit der Idee des Transfers von Forschungsergebnissen in die wirtschaftliche Anwendung hinein. Diese Dimension passt gut zu den kurzatmigen Zyklen der Politik, darum drehen sich die Ressortforschung und große Teile der Programmforschung – vollkommen legitim. Mehr noch: Mit der entsprechenden Aufrichtigkeit, und damit meine ich vor allem verbunden mit einer langfristigen Finanzierung, lassen sich so die drängenden gesellschaftlichen Herausforderungen sehr zielgerichtet bearbeiten. Mindestens genauso wichtig aber ist das, was Sie Grundlagenforschung nennen. Und deren Förderung ist für viele Wissenschaftler deutlich attraktiver, weil sie die Chance auf unerwartete Erkenntnisse in einem Ökosystem eröffnet, in dem sich die Forschung entlang der Neugier der Forschenden frei entwickeln kann. Was wir aber tatsächlich seit einer Weile sehen, ist eine Politik, die getrieben wirkt, die sich zu stark fokussiert auf fast schon beliebige Transfererwartungen, die sie dann noch in jede wissenschaftspolitische Debatte hineinprojiziert. Ich gebe zu, darauf reagiere ich zunehmend allergisch.
Wie erklären Sie sich das?
Wir haben uns in unserem Wissenschaftssystem von einer sauberen Differenzierung der unterschiedlichen Akteure verabschiedet. Wissenschaftstransfer ist für die Fraunhofer-Gesellschaft grundlegend, in Teilen auch für die Zentren der Helmholtz-Gemeinschaft, wobei das Modell der Großforschungseinrichtungen schon komplexer angelegt ist zwischen Grundlagenforschung, Anwendung und dem Erarbeiten wissenschaftlicher Lösungen für die Gesellschaft. Die Max-Planck-Gesellschaft und die Universitäten hingegen haben nicht den Anspruch, vor allem anwendbare Wissensprodukte zu erarbeiten. Max-Planck steht für den Spitzenbereich der Grundlagenforschung, die Hochschulen für die Lehre, Spitzenforschung und die darunterliegenden Grundlagen und erst dann dort, wo es sich wirklich anbietet und in Kooperation mit anderen, für die Anwendung. Es ist fast schon zu einem Klischee geworden, dass auf guter Forschung immer auch Anwendung und Transfer draufstehen muss.
Welche Folgen hat das?
Durch den Fokus auf Anwendungsnähe und hippe Themen werden wir als Wissenschaftler gedrängt oder lassen uns drängen, unser Heil in immer neuen Finanztöpfen zu suchen. Das bindet Kapazitäten, die woanders fehlen. Genau diese Schieflage, diese Verschiebung von den Grund-zu den Drittmitteln in den vergangenen 20 Jahren, haben wir im Wissenschaftsrat thematisiert in unserem Papier zur Forschungsfinanzierung an deutschen Hochschulen.
Diesen Erwartungen des Hippen, des Schnellen, von Kochrezepten und politisch gängigen Handlungsanweisungen muss sich auch der Wissenschaftsrat in seiner Arbeit stellen. Sie haben selbst zu Ihrem Amtsantritt Anfang des Jahres gesagt, es gehe darum, auch im wissenschaftspolitischen Tagesgeschäft aktiver Akzente zu setzen.
Was ich sagen will ist, dass wir da stärker, sichtbarer und teilweise klarer in die Öffentlichkeit hineinkommunizieren sollten, wo wir uns mit unseren Beschlüssen positioniert haben.
Gelingt das schon besser?
Mit unseren Empfehlungen zur Geschlechterforschung beispielsweise haben wir zur Versachlichung beigetragen, und es hat eine intensive Debatte dazu gegeben.
Was es beim Thema Gender aber eigentlich immer gibt.
Es ist ein Beispiel, wo wir so Akzente setzen konnte, wie ich es mir vorstelle.
"Insgesamt sehe ich nicht, dass es schon regelmäßig eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Papiere des Wissenschaftsrats gibt."
Ihre Empfehlungen zur Lehramtsausbildung im Fach Mathematik haben sowohl öffentliche Aufmerksamkeit erhalten als auch die Fachdebatte stark beeinflusst, siehe das Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz zur Zukunft der Lehrerbildung.
Was zeigt, dass wir in der Lage sind, wissenschaftsgeleitet und fundiert und gleichzeitig pointiert Stellung zu beziehen.
Die SWK hat sich in einer zentralen Frage allerdings anders positioniert. Während der Wissenschaftsrat den Ausbau der dualen Lehrerbildung empfiehlt, lehnt die Kommission diese mit deutlichen Worten ab.
So deutlich finde ich das bei näherem Hinsehen gar nicht. Aber das ist für mich ohnehin gar nicht so entscheidend. Wichtig ist, dass zwei Gremien von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in wissenschaftsgeleiteten Beratungsverfahren klare Empfehlungen formuliert haben und die Politik jetzt ein wissenschaftlich fundiertes Angebot an Möglichkeiten hat, aus denen sie auswählen kann. Inhaltlich halte ich den Vorschlag des Wissenschaftsrats, den Vorbereitungsdienst in die universitäre Ausbildungsphase zu integrieren, für gangbar und sinnvoll. Was mir aber trotz der Beispiele Geschlechterforschung und Lehrerbildung wichtig ist festzuhalten: Insgesamt sehe ich nicht, dass es schon regelmäßig eine breite gesellschaftliche Diskussion über unsere Papiere gibt. Das hängt natürlich, wie Sie sagen, auch vom Thema ab, und oft ist es auch nicht nötig. Insgesamt aber sollten wir noch weiter an unserem Profil als Beratungsgremium arbeiten.
Was meinen Sie damit?
Was man von uns als Wissenschaftsrat erwarten kann, sind Lösungsvorschläge für Probleme, von denen wir sehen, dass sie in zehn, 15 oder 20 Jahren dramatisch werden. Worin wir gleichzeitig besser werden können: dass wir uns auf der Grundlage unserer langfristigen Empfehlungen häufiger auch tagesaktuell in Debatten einbringen und unseren Themen dadurch eine größere Beachtung verschaffen. Im Sinne eines Think Tanks gerade bei Herausforderungen, die sich so dynamisch entwickeln, dass einmal verfasste Empfehlungen allzu schnell überholt wären.
Ein Beispiel bitte.
Wir haben uns als Wissenschaftsrat bislang nicht zur jüngsten Entwicklung der generativen KI geäußert. Wir sind von deren Geschwindigkeit genauso überrascht worden wie andere Fachleute auch. Generative KI mit Anwendungen wie ChatGPT ist ein Gamechanger und entwickelt sich mit einer unglaublichen Dynamik. Wir überlegen deshalb, wie wir ein kontinuierliches Monitoring neuer KI-Entwicklungen und ihrer Auswirkungen auf die Qualität und Kommunikation von Wissenschaft leisten können, auf Lehre, Forschung, auf Begutachtungsprozesse. Das Ziel ist es, als Wissenschaftsrat auch zu tagesaktuellen Fragen Stellung zu beziehen und Hinweise zu geben. Um noch wirksamer zu werden, müssen wir mit der Politik aber zusätzlich über eine konkrete Erweiterung unserer Kompetenzen sprechen.
"Hauptsache, es entsteht mehr Transparenz. Die wirkt oft besser als jeder erhobene moralische Zeigefinger."
Derzeit ist der Wissenschaftsrat als Gremium zwischen Wissenschaft und Politik für die Politikberatung, für die Evaluierung von Wissenschaftseinrichtungen, für die Priorisierung beim Hochschulforschungsbau und für die Akkreditierung privater Hochschulen zuständig. Sie wollen mehr?
Ich wünsche mir, dass der Wissenschaftsrat künftig die Ressourcen und den Auftrag bekommt, um seine Empfehlungen mehr als bislang nachzuverfolgen. Im Oktober haben wir unser Papier zur wissenschaftlichen Qualifizierung in den Gesundheitsfachberufen beschlossen. Mit dem Ergebnis haben wir einen echten Punkt gesetzt. Vermutlich werden bei dem Thema schon die unterschiedlichen Interessengruppen nicht lockerlassen, damit etwas passiert. Bei anderen Themen aber bräuchte es das Nachfassen dringender. Setzen die Länder die Empfehlungen zur Forschungsfinanzierung um? Was folgt aus unseren Vorschlägen zur Digitalisierung der Hochschulen oder der Medizin? Bund und Länder könnten uns beauftragen, im Sinne eines langfristigen Controllings nach vorher definierten Kriterien zu dokumentieren, welche politischen Handlungen jeweils aus unseren Empfehlungen gefolgt sind – und wo sich auch nach zwei, fünf oder sieben Jahren wenig oder nichts getan hat. Ich will keinen Verwaltungs-Wasserkopf generieren. Das kann man je nach Thema auch stichprobenartig machen. Hauptsache, es entsteht mehr Transparenz. Die wirkt oft besser als jeder erhobene moralische Zeigefinger.
Manches Mal wäre der erhobene Zeigefinger der Wissenschaft aber angebracht gewesen. Bei Fraunhofer zeichnete sich über einen langen Zeitraum ab, dass es dort ein mutmaßliches Fehlverhalten bis hin zum Missbrauch von Steuergeldern in der Führungsetage gegeben haben könnte. Die Staatsanwaltschaft ermittelt seit vielen Monaten. Das Schweigen der Chefs der anderen großen Wissenschaftsorganisationen in Deutschland angesichts der schleppend verlaufenden Aufklärung war indes ohrenbetäubend. Hätte sich die Allianz der Wissenschaftsorganisationen, zu der Sie gehören, nicht positionieren müssen? Der entstandene Imageschaden betrifft das gesamte Wissenschaftssystem.
Da ich seit Februar 2023 selbst Mitglied im Fraunhofer-Senat bin, kann ich mich über Einzelheiten nicht äußern. Klar ist: Das mutmaßliche Fehlverhalten einzelner muss aufgeklärt werden, auch hier gilt die eben genannte Transparenz. Es darf aber nicht reflexhaft zur weiteren Verschärfung bürokratischer Vorgaben führen, die uns ohnehin stark einschränken, etwa bei der Beantragung von Forschungsförderung und der Berichterstattung während und nach der Forschung. All die Berichtspflichten und Kontrollmechanismen zum Umgang mit staatlichen Mitteln haben schon jetzt viel mit einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber der Wissenschaft zu tun. Sie führen zu einer eklatanten Überlastung und zu einer Fehlsteuerung von Ressourcen.
"Es macht etwas mit einer Organisation
und mit der Wissenschaft insgesamt,
wenn die Glaubwürdigkeit in Frage steht."
Der Senat als wichtiges Aufsichtsgremium hat auch nicht gerade die Aufklärung vorangetrieben, und die Senatsvorsitzende hat Ex-Präsident Reimund Neugebauer noch auf einer großen Tagung ihres Verbands als Keynote-Speaker empfangen, als Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) angesichts drastischer Rechnungshof-Vorwürfe gegen das Fraunhofer-Präsidium bereits dessen Rücktritt forderte.
Die Vorwürfe laufen darauf hinaus, dass ein System möglicherweise gedehnt oder überdehnt worden ist. Das werden Sie auch durch zusätzliche Regeln nicht verhindern können. Aber eines will ich an dieser Stelle doch deutlich und unabhängig von einem konkreten Fall sagen: Wir alle, die wir in der Wissenschaft, in Universitäten und Forschungsinstituten Führungsverantwortung tragen, genießen ein großes Privileg, weil wir aufgrund der Autonomie von Wissenschaft frei und wirkungsvoll agieren können. Dieses Privileg beruht, wie in der Politik auch, auf einer demokratischen Legitimation, die Integrität, das Einhalten von Spielregeln und die Akzeptanz einer Bezahlung weit unterhalb der Niveaus erfordert, wie diese bei Wirtschaftskonzernen üblich ist. Es macht etwas mit einer Organisation und mit der Wissenschaft insgesamt, wenn die Glaubwürdigkeit in Frage steht.
Aber genau deshalb wäre es so wichtig gewesen, wenn sich die Wissenschafts-Spitzen klarer positioniert hätten. Jetzt läuft es – nur leicht übertrieben – darauf hinaus, dass sich Mitarbeiter von Fraunhofer und anderswo für den Kauf jeder Keksdose für die Bewirtung von Gästen rechtfertigen müssen – weil Präsidiumsmitglieder unter anderem mit zunehmender Häufigkeit in Fünf-Sterne-Hotels genächtigt, zu teure Dienstwagen gehabt und vierstellige Bewirtungen von BMBF-Führungspersonal vorgenommen haben sollen.
Offen gesagt erlebe ich ausgesprochen selten Saus und Braus im deutschen Wissenschaftssystem, schon gar nicht im Wissenschaftsrat. Wir sind ein Gremium, dessen Mitglieder alle im Ehrenamt arbeiten. Und wenn eine Arbeitsgruppe bei uns in Köln arbeitet, bewirten wir sie in der Kantine. Wir sollten aber differenzieren: Die meisten Fehler im Umgang mit Geldern sind Fehler, bei denen sich jemand vertan hat. Wenn jemand aber wirklich das System missbrauchen will, wird er davon nicht wegen kleinteiliger Berichtspflichten absehen. Die entscheidende Frage für mich lautet: Schaffen wir es, durch unsere überbordende Drittmittelüberwachung deren Verausgabung zu beschleunigen, zielgerichteter, sachgerechter zu machen und die Projektqualität zu verbessern? Ja oder nein? Und wenn die Antwort nein ist, sollten wir es lassen.
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Heute haben sich Kultusminister und Bundesbildungsministerin zum klärenden Kamingespräch getroffen. Die KMK-Pressekonferenz Stunden zuvor legte offen, warum beide Seiten zurzeit eine so komplexe Beziehungskiste haben.
KMK-Pressekonferenz mit Ties Rabe, Katharina Günther-Wünsch und Alexander Lorz (von links). Danach ging es zum vertraulichen Gespräch mit Bundesministerin Bettina Stark-Watzinger. Fotos: JMW.
AM FREITAGNACHMITTAG wollten die Kultusminister sich mit Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) zu dem mit Spannung erwarteten Kamingespräch treffen, direkt vorher luden sie zur Pressekonferenz. Warum vorher? Weil KMK und BMBF vereinbart hatten, dass das Gespräch mit Stark-Watzinger vertraulich sein sollte. Vertrauensbildung war angesagt mit einer Ministerin, die sich mit ihrer Zusage Zeit gelassen hatte.
So richtig ausgeprägt, das wurde schon zu Beginn der Pressekonferenz im Berliner Hotel Bristol deutlich, ist das Vertrauen auch auf Seiten der Kultusminister nicht. Tags zuvor hatten die Ost-Ministerpräsidenten die Bundesregierung gewarnt, auf keinen Fall den Rotstift beim versprochenen Digitalpakt 2.0. anzusetzen, am Freitag legten die Kultusminister nach.
"Wir können uns nicht vorstellen, dass der Digitalpakt 2.0 nicht kommt", sagte Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe, der die SPD-regierten Kultusministerien koordiniert. "Das wäre ein derartiges Desaster für die Schulbildung, für die Digitalisierung in Deutschland insgesamt."
Eine Journalistin hakte nach: Woher kämen überhaupt die Gerüchte, der Bund wolle das Programm streichen, wenn es doch keine diesbezügliche Ansage seitens des BMBF gebe? Rabes Antwort: Es gehöre zur Aufgabe von Politikern, "sehr hellhörig zu sein, Signale ernstzunehmen und einzuordnen". Aber ja, es seien nur Gerüchte, und er sei optimistisch, dass es nicht wirklich zu einer Streichung komme. Es schade aber nicht, die Bedeutung der Digitalpakt-Fortsetzung noch einmal zu betonen.
Rhetorisches Stochern im Nebel
Ein rhetorisches Stochern im Nebel, das irgendwie symbolisch ist in diesen Tagen und Wochen, bevor Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) sein Sparpaket voraussichtlich am 5. Juli offiziell im Bundeskabinett auf den Tisch legen soll. Fest steht, dass auch Stark-Watzingers Haushalt unter großem Druck steht – und damit die Kultusminister nicht weniger, die der Verlust der Digitalpakt-Fortsetzung offensichtlich mehr schmerzen würde als das Nichtzustandekommen des Startchancen-Programms für benachteiligte Schüler und Schulen.
Auf die Frage, ob die Kultusminister so weit gehen würden, eine Digitalpakt-Garantie durch Stark-Watzinger zur Voraussetzung für eine Zustimmung beim Startchancen-Programm zu machen, sagte Rabe, hier gebe es unterschiedliche Meinungen zwischen SPD- und unionsregierte Ländern. Seine Meinung sei: "Je mehr man miteinander verknüpft, desto schwieriger wird, überhaupt etwas über die Rampe zu bringen, weil dann immer noch etwas fehlt." Aber, fügte er hinzu, "schön wär’s schon, wenn es eine klare Aussage kommt, dass man sich keine Sorgen machen muss, wenigstens das."
Etwas anders zum Thema Verknüpfung stellt sich die Meinung der Unionsminister dar, in der KMK-Pressekonferenz am Freitagvormittag repräsentiert durch ihren Koordinator Alexander Lorz: Zwar gebe es keine direkte Verkopplung der Verhandlungen um Digitalpakt und Startchancen, sagte der hessische Kultusminister. "Was es aber natürlich gibt, sind sachliche Zwänge und in diesem Falle auch ganz einfach monetäre Zwänge." Sollte also etwas an den Gerüchten dran sein, dass der Bund sich vom Digitalpakt verabschieden könnte (was laut Lorz eine "Katastrophe", laut Rabe ein "Desaster" wäre), "würde uns das unter immense andere Handlungszwänge setze, weil wir dann mit Sicherheit nicht hingehen und sagen würden, wir lassen jetzt mal die Digitalisierung." In dem Fall käme, so Lorz, "alles auf den Prüfstand", weil sich die Kultusminister dann die weiter nötigen Ressourcen für die Digitalisierung in den Schulen anderswoher holen müssten.
Was man nur als Mahnung an BMBF-Chefin Stark-Watzinger verstehen konnte. Und damit die auch wirklich ankam, betonte Lorz noch einmal: "Wir müssen die Verhandlungen nicht parallel führen, nicht parallel die Vereinbarungen unterzeichnen, aber wir brauchen schon die Gewissheit, dass das eine nicht auf Kosten des anderen geht." Womit er Startchancen versus Digitalpakt meinte.
Damit befand sich der Hesse auf einer Linie mit Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU), die schon vergangene Woche hier im Blog zu Protokoll gegeben hatte: "Ohne die Klarheit über eine Finanzierung des Digitalpakts 2.0 durch den Bund kann es keine Verständigung zum Startchancen-Paket geben." Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) wiederum hatte am Donnerstag nach der Ost-Ministerpräsidetenkonferenz mit Scholz angekündigt, er werde Druck im Kreise der Ministerpräsidenten aufbauen, damit der Digitalpakt 2.0. nicht weggekürzt werde.
Welche Garantien kann Stark-Watzinger überhaupt geben?
Was zeigt, dass zumindest Wegner gar nicht mehr davon ausgeht, dass Stark-Watzinger Herrin des Verfahrens und der künftigen Dimensionen ihres Haushalts ist. Was dann wieder die Frage stellt, welche Garantien genau die Kultusminister in ihrem vertraulichen Gespräch eigentlich von ihr einfordern wollten. Für den Bildungsdirektor der Bertelsmann-Stiftung, Dirk Zorn, war übrigens genau der Einsatz der Ost-Ministerpräsidenten "ein Beleg dafür, wie er twitterte, "dass es bei zukunftsweisenden Entscheidungen für ein besseres Bildungssystem die Durchsetzungsmacht von Ministerpräsident:innen und Bundeskanzler braucht".
Die Bertelsmann-Stifung gehörte zu den inzwischen 89 Organisationen und Verbänden, die unter der Überschrift "#NeustartBildungJetzt" den Appell für einen Nationalen Bildungsgipfel unter Beteiligung von Bundeskanzler und Ministerpräsidenten veröffentlicht haben.
Auf den die Kultusminister am Freitag auf Nachfrage unisono zurückhaltend bis ablehnend reagierten: Berlins Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch, die amtierende Präsidentin der KMK ist, sagte, bei all den "Themen und den Problemen, die wir haben, benötigen wir momentan keine Debatte um den Föderalismus", wichtiger seien konkrete Maßnahmen und Entscheidungen, und es gebe mit der KMK eine Institution, die die nötigen Entscheidungen treffen könne.
Ties Rabe sagte, die Kultusminister müssten schon ernstnehmen, dass es eine große Bewegung gebe und dass sich bei vielen der Eindruck verfestige, das deutsche Schulsystem stecke in einer tiefen Krise. Er sage aber ganz offen: "Diesen Eindruck habe ich nicht." Er vertrete die KMK im EU-Ministerrat, und dabei sei ihm noch einmal deutlich geworden: "Die Entwicklung, die Deutschland macht, mit dem Nachlassen der Kernkompetenzen in Klassestufe 4, speziell im Lesen, ist kein Privileg von Deutschland, sondern Sie finden das in den meisten europäischen Ländern, vor allem in denen, die wie wir offene Grenzen und freundlich ausgebreitet Arme haben. Deshalb halte die Zuspitzung auf eine nationale Bildungskrise für verkehrt."
Den Dialog mit den Verbänden müsse man aber trotzdem führen, sagte Rabe, auch darüber wolle man mit Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger sprechen. Aber die Lösung könne nicht darin bestehen, "so zu tun, als ob wir Deutschland mal eben neu erfinden könnten und dass das besonders schnell geht, wenn wir uns mit 89 verschiedenen Interessengruppen an einen Tisch setzen, die sich bei allem nur darin einig sind." Konkrete Fortschritte etwa beim Startchancen-Programm oder beim Kampf gegen den Lehrkräftemangel halte er für "wesentlich zielführender als solche riesigen Grundsatzdiskussionen, die bestenfalls in drei Jahren das Ergebnis haben, möglicherweise aus Beteiligungsmangel langsam einzuschlafen."
Übliche Abwehrreaktionen der Kultusminister?
Alexander Lorz verwies in dem Zusammenhang auf den Lehrkräftemangel und die seines Erachtens in den meisten OECD-Staaten sehr ähnliche Demografie. Freilich treffe auch er sehr oft die Illusion, "da müssten sich doch alle nur einmal an den Tisch setzen, sich tief in die Augen schauen, sich die Hände reichen und sagen, so machen wir das jetzt, und dann läuft das auch." Lorz betonte: "So funktioniert Politik ganz generell nicht, und Bildungspolitik schon mal gar nicht."
Wobei es nun auch nicht so wahnsinnig überrascht, dass Kultusminister wenig begeistert von der Aussicht sind, ihr Aufgabengebiet könnte zur Chefsache der Ministerpräsidenten werden. So wie freilich auch dahingestellt bleibt, ob Politik so funktioniert, dass die Bildungsminister vor ihrem vertraulichen Gespräch mit Stark-Watzinger noch einmal demonstrativ per Beschluss die Fortsetzung der "Qualitätsoffensive Lehrerbildung" vom Bund forderten, der demnächst ausläuft.
Die BMBF-Chefin hatte ihnen bereits mehrfach und auch per Brief zu verstehen gegeben, dass sie nicht bereit sei, das Programm zu verlängern. Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, dass auch hier haushälterische Gründe eine große Rolle spielen. Ob es da wirklich viel bringt, Stark-Watzinger gleichzeitig bei Digitalpakt und QLB unter Druck zu setzen? Vielleicht ist das Kalkül der Kultusminister aber auch eher, einen QLB-Verzicht irgendwann als Zugeständnis an den Bund darstellen zu können.
So blieb es vor dem vertraulichen Gespräch eine komplexe politische und atmosphärische Gemengelage zwischen KMK und Bund. Höchstes Ziel dürfte sein, dass der Kamin auch wirklich vertraulich bleibt. Immerhin aber gab es den Kamin überhaupt. Bei den Wissenschaftsministern der Länder, die sich am Freitagmorgen ebenfalls trafen, herrscht weiter Konsterniertheit. Ihren wiederholten und dringend Wunsch nach einem Treffen hatte Stark-Watzinger abgelehnt.
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Startchancen: Ist das Glas nun halb voll oder halb leer?
Vergangene Woche war der Optimismus auf Arbeitsebene groß gewesen direkt im Anschluss an drei Tagen Bund-Länder-Klausur zum Startchancen-Programm. So als stünde der Durchbruch in den Verhandlungen unmittelbar bevor. Allerdings wurde danach sehr schnell deutlich, dass viele Kultusminister der Euphorie nur bedingt folgen wollten. Vor allem aus der CDU gab es Widerspruch: Trotz Annäherungen in einigen Teilbereichen blieben wichtige Punkte von Seiten des Bundes noch offen und ungeklärt, erklärte Hessens Kultusminister Alexander Lorz vergangene Woche Donnerstag – "wie die Finanzierung, die genaue Mittelverteilung oder die rechtliche Umsetzung". Die Länder benötigten endlich verbindliche Aussagen.
Womöglich hatte die Skepsis der CDU-Minister aber auch mit der Furcht zu tun, dass zu viel Einigungs-Optimismus (und infolge dessen Einigungsdruck) in Sachen Startchancen ihre Verhandlungsposition um den Digitalpakt 2.0 schwächen könnte? Eine Vermutung, gegen die Lorz sich in der KMK-Pressekonferenz verwahrte. "Wir haben ein Interesse daran, beide Projekte so schnell wie möglich unter Dach und Fach zu bringen, und es würde uns überhaupt nicht weiterbringen, wenn wir das jetzt an einer Seite künstlich verlangsamen, um mit der anderen Seite voranzukommen."
SPD-Senator Rabe kommentierte, es komme auf die Perspektive an. Die sozialdemokratischen Minister sähen das Startchancen-Glas eher halb voll, die CDU-Kollegen halb leer. Aber immerhin sei man sich einig, dass schon Wasser drin sei. "Das kann was werden", sagte Rabe. Das sei vor acht Wochen noch nicht so erkennbar gewesen. So sei man sich etwa bei der Frage der Mittelverteilung schon "sehr, sehr nahegekommen", er halte keine der noch offenen Punkte mehr für unüberwindbar.
Demgegenüber sagte Lorz, es gebe erhebliche Bewegungen auf Seiten des Bundes, aber: "Das Ding ist weit davon entfernt, in trocknen Tüchern zu sein." Bremsklötze sehe er unter anderem bei der rechtlichen Umsetzung, so strebe der Bund ein sogenanntes Artikelgesetz an, das die Zustimmung der Länder im Bundesrat erfordert. Da wiederum stimmte Rabe ihm zu: Da müsse man am Ende alle 16 Länder mitnehmen.
Was sonst noch wichtig war
Man sei beim Lehrermangel konfrontiert mit strategischen Versäumnissen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte, die mit einer demographischen Krise kollidierten, leitete KMK-Präsidentin Katharina Günther-Wünsch ihren Bericht über die Beratungen der Kultusminister ein. Wobei sie diesen Satz, vielleicht aus Höflichkeit gegenüber den neben ihr sitzenden Ministerkollegen, später auf Nachfrage keineswegs als Kritik an der KMK verstehen wollte, der sie selbst erst seit wenigen Wochen angehört. Man habe das Ministertreffen am Donnerstagabend ordentlich überzogen, sagte Günther-Wünsch weiter, was an den Inhalten und Beschlüssen abzulesen sei.
So scheint etwa die Bereitschaft in der KMK zu grundsätzlichen Reformen und Schritten gegen den Lehrkräftemangel inzwischen groß zu sein. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) will hierzu Ende des Jahres ihr Gutachten vorlegen, dann will die KMK entscheiden. Man müsse sich freimachen von Denkverboten, sagte Günther-Wünsch, und nannte die Stichworte: duale Studienmodelle für künftige Lehrkräfte, Ein-Fach-Lehrer, ein schnelleres, stärker an der Schulpraxis orientiertes Studium, die Qualifizierung von Bestandslehrkräften.
Weitere wichtige Themen seien eine Diskussion mit der unabhängigen Beauftragten des Bundes für Fragen des sexuellen Kindermissbrauchs gewesen, die beschlossene Weiterentwicklung der 20 Jahre alten Bildungsstandards für Englisch und Französisch – oder auch der Ausbau der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen innerhalb des KMK-Sekretariats. 70 neue Stellen zusätzlich zu den 330 vorhandenen sollen gewährleisten, dass jedes Jahr 55.000 ausländische Abschlüsse und Qualifikationen zusätzlich anerkannt werden können – als Beitrag im Kampf gegen den Fachkräftemangel.
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Es waren Antifaschist:innen, die die italienische Verfassung ausgearbeitet haben. Sie trat 1948 in Kraft und sollte sicherstellen, dass niemand jemals wieder die Kontrolle über die Republik übernehmen konnte, ähnlich wie dies der Diktator Benito Mussolini die Jahre zuvor vollbracht hatte. Seitdem hat Italien bereits 67 Regierungen erlebt, doch die aktuelle Regierung, Nummer 68, ist auch für Italien besonders (Siefert, 2023). Sie wurde mehrfach als "gefährlichste Frau Europas" betitelt (Brandl & Ritter, 2022). Die Rede ist von Giorgia Meloni, die am 22. Oktober 2022 als Vorsitzende der nationalistischen, konservativen und postfaschistischen Partei Fratelli d'Italia (FDI) als Ministerpräsidentin vereidigt wurde.Mit dem Wahlsieg der italienischen Postfaschistin ist ein weiterer Schritt in Richtung einer politischen Entwicklung vollzogen worden, die den autoritären Rechtspopulismus als Regierung zu einem sichtbaren Bestandteil der politischen Realität macht. Ihre politische Gruppierung wird weithin als populistisch, postfaschistisch und weit rechts im politischen Spektrum positioniert, was in weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wurde. Die folgende Seminararbeit versucht nach mehr als einem Jahr an der Macht eine Bilanz zu ziehen, die Auswirkungen der Wahl zu analysieren und die Besonderheiten der italienischen Rechten näher zu beleuchten.Melonis Aufstieg in der politischen Landschaft Italiens: Vom Engagement in der Jugendpolitik über die MSI zur Gründung der Fratelli d'Italia Die am 15. Januar 1977 in Rom geborene Meloni ist nicht nur die erste Frau, die das Amt ausübt, sondern auch die erste Regierungschefin, deren politische Karriere in der postfaschistischen Ära Italiens begann. Sie kandidierte bereits in ihren Jugendjahren für politische Ämter in Italien. Im Jahr 2006 wurde sie zur jüngsten Ministerin Italiens ernannt. Heute ist die Vorsitzende der von ihr mitbegründeten rechtsextremen Partei Fratelli d'Italia (Brüder Italiens, benannt nach der ersten Zeile der Nationalhymne, mit Wurzeln in der postfaschistischen Bewegung) die erste weibliche Premierministerin.Vor 31 Jahren, im Juli 1992, begann Giorgia Meloni ihr politisches Engagement in Rom mit dem Beitritt zur Jugendorganisation des Movimento Sociale Italiano (MSI, Italienische Soziale Bewegung), einer von Faschist:innen gegründeten Partei (Ventura, 2022, S. 8 ). Die italienische Ministerpräsidentin unterstreicht häufig, dass sie aus bescheidenen Verhältnissen stammt und in einer Familie von Angestellten aufgewachsen ist. Dabei verschweigt sie allerdings gerne die Tatsache, dass ihre Mutter, Anna Paratore, der MSI damals angehörte (Feldbauer, 2023, S. 15).Die am 26. Dezember 1946 gegründete Italienische Soziale Bewegung entstand unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Gründer:innen der Partei waren politisch in der Italienischen Sozialen Republik (Repubblica Sociale Italiana, RSI) aktiv, einem Satellitenstaat, der während der deutschen Besatzung von 1943 bis 1945 von Mussolini regiert wurde. Ideologisch bezog sich die Partei auf den "sozialen Faschismus" der RSI (Ventura, 2022, S. 2). Die MSI zeichnete sich nicht nur durch ihre antikapitalistische und antiliberale Ideologie mit korporatistischer Entscheidungsfindung aus, sondern auch durch ihren ausgeprägten Antikommunismus und ihre scharfe Kritik an den etablierten Parteien. Obwohl es innerhalb der MSI von Anfang an eine konservative und pro-westliche Minderheit gab, blieb die Partei bis Anfang der 1990er Jahre unfähig, sich wesentlich zu reformieren und konnte daher keinen nennenswerten Einfluss auf das politische System Italiens ausüben (ebd.).Im Januar 1995 wurde die Partei kurz nach dem Beitritt Melonis aufgelöst und in die "Alleanza Nazionale" (AN, Nationale Allianz) umgewandelt. Die AN fusionierte 2009 mit der Partei "Forza Italia" (FI, Vorwärts Italien) von Silvio Berlusconi zur Partei "Il Popolo della Libertà (PdL, Das Volk der Freiheit). Der damalige Parteivorsitzende Gianfranco Fini wollte den von der AN eingeleiteten liberal-konservativen Rechtsruck erfolgreich zu Ende führen, was jedoch einigen ehemaligen Aktivist:innen und Führungskräften aus den Reihen der MSI missfiel. Diese Unzufriedenheit machte sich später Meloni zunutze. Im Jahr 2006 wurde Meloni ins Parlament gewählt und zwei Jahre später wurde sie die jüngste Ministerin (Jugend und Sport) in der Geschichte Italiens. Die einzige Regierungserfahrung hat sie auf nationaler Ebene (ebd.).Verhältnis zum (Post)Faschismus Eine Woche vor dem hundertsten Jahrestag von Mussolinis "Marsch auf Rom", der Machtübernahme durch den "Duce", übernahm Meloni ihr Amt. Ihr Kabinett, welches hauptsächlich aus Anhänger:innen Mussolinis besteht, wurde in linken Medien als eine Regierung von "reuelosen Faschisten" beschrieben (Feldbauer, 2023, S. 38f). Meloni war im Jahr 2012 Mitbegründerin der Partei FdI, die in der Tradition des italienischen Faschismus steht, und gehört somit zur dritten Generation des Partito della Fiamma (Livi & Jansen, 2023, S. 173). Das Symbol der faschistischen Flamme, das in der Vergangenheit der MSI vorbehalten war, ist im Parteilogo vertreten (Feldbauer, 2023, S. 16f).Im Jahr 1929 wurde das Wort "Faschismus" zum ersten Mal in den Duden aufgenommen. Dies geschah sieben Jahre, nachdem die italienische Partito Nazionale Fascista (PNF) unter Benito Mussolini 1922 in die Regierung Italiens eingetreten war. 1926 entwickelte sie sich zu einer diktatorischen Staatspartei, bevor sie 1943 aufgelöst wurde. Der Begriff "Faschismus" wurde von der PNF als Selbstbezeichnung verwendet und entstammt dem italienischen Wort "fascio", dessen Bedeutung dem Begriff "Bund" gleichgestellt ist (Schütz, 2022). Im heutigen Sprachgebrauch bezeichnet der Terminus eine nationalistische, antidemokratische und rechtsextreme Ideologie, die nach dem Führerprinzip ausgerichtet ist. Seit den Parlamentswahlen in Italien im vergangenen Jahr sind vermehrt Artikel zum Thema "Postfaschismus" verfügbar. Dies hängt mit dem Sieg bei der Parlamentswahl und der FdI zusammen, welche als "postfaschistisch" bezeichnet wird (ebd.).Gianfranco Fini distanzierte sich 2003 offiziell vom Faschismus und bezeichnete ihn als "absolut böse" (Tagesschau, 2022). Giorgia Meloni hat es jedoch bis heute vermieden, eine so eindeutige Aussage über die Wurzeln ihrer Partei zu tätigen. Meloni erhob sogar Vorwürfe gegen Gianfranco Fini, das Erbe der italienischen Rechten zu zersplittern (Ventura, 2022, S. 6). Im Jahr 2014 wurde Meloni zur Vorsitzenden der FdI gewählt. Sie konnte den harten Kern der Faschist:innen um sich versammeln, indem sie sich auf Mussolini bezog. Aufgrund der möglichen Verluste eines Teils ihrer Wählerschaft an die Lega kann sie die Flamme nicht aus dem Parteilogo entfernen. Sie hob wiederholt hervor, wie stolz sie auf das Wappen mit der italienischen Trikolore sei, bezeichnete Mussolini sogar als einen "guten Politiker" (Feldbauer, 2023, S. 16).Froio (2020) stellt fest, dass die FdI ein "emotionales" Verhältnis zu ihrer faschistischen bzw. postfaschistischen Vergangenheit pflegt, mit der sie sich nie wirklich kritisch auseinandergesetzt hat. Dies wird durch die Statements von Giorgia Meloni sowie durch die Aussagen und Handlungen von Vertreter:innen und Führungskräften der FdI deutlich. So trat Meloni am Tag vor der Wahl 2018 bei einer Wahlkampfveranstaltung in Latina, einer von Mussolini gegründeten Stadt südlich von Rom, in Begleitung seiner Enkelin Rachele Mussolini auf. Dabei kündigte sie die Absicht ihrer Partei an, dem Symbolort den ihm gebührenden Platz in der Geschichte der italienischen Rechten wieder zu verschaffen (Latza Nadeau, 2018). Bei ihrem Versuch, sich in ihrer Ansprache vor der Abgeordnetenkammer am 25. Oktober 2022 trotz ihrer früheren Bekenntnisse zum Faschismus Mussolinis zu distanzieren, stieß Meloni angesichts der genannten Tatsachen auf Widerstand. Mit ihrer Partei verkörpert Meloni nach wie vor die "Kontinuität des Faschismus" (Feldbauer, 2023, S. 16f).Auch Tronconi und Baldini (zit. nach POP, 2023) erkennen die Identitätswurzeln der FdI im Neofaschismus, der in Italien jahrzehntelang durch die MSI verkörpert wurde. Ihrer Meinung nach sei es jedoch falsch, die FdI als neofaschistische Partei zu bezeichnen, da wesentliche Merkmale wie die Akzeptanz von Gewalt als Mittel des politischen Wettbewerbs fehlen würden. In der öffentlichen Debatte und in den offiziellen Dokumenten der Partei würden tatsächlich die für die europäische radikale Rechte typischen Themen wie Islamophobie und eine allgemeine Feindseligkeit gegenüber der Einwanderung betont, die als potenzielle Verwässerung der Identität der italienischen Nation angesehen werden.Der Weg einer "Frau, Mutter, Italienierin und Christin" an die MachtMeloni präsentiert sich gerne als Frau, Mutter, gläubige Christin und als hilfsbereite Vertreterin aller Italiener:innen (Feldbauer, 2023, S.70). Diese Worte passen zum allgemeinen Slogan "Gott, Heimat und Familie" (Dio, patria e famiglia), welcher von Melonis Partei und anderen radikalen Rechtsparteien in der Vergangenheit übernommen wurde (De Giorgi et. al, 2022).Im Jahr 2022 wurden mehr als 70 Prozent der parlamentarischen Parteien in den EU-Mitgliedsstaaten von männlichen Führungskräften geleitet (Openpolis, 2022, zit. nach De Giorgi et. al, 2022). In Italien wurde bis zum Jahr 2013 keine Partei, weder aus dem politischen Establishment noch aus dem rechten Spektrum, von einer Frau geführt (De Giorgi et. al, 2022). Studien, die sich auf das weibliche Führungsverhalten konzentrieren, betonen oft, wie Frauen Führungspositionen erreichen können, wenn sie von einem "Legacy Advantage", also sozusagen von einem Vorteil ihres Erbes profitieren, wie als Ehefrau, Witwe, Tochter oder eine andere enge Verwandte eines Schlüsselakteurs in der Politik (Baker & Palmieri, 2021). Diese Praxis ist auch bei rechtsextremen Parteien üblich. Ein bekanntes Beispiel ist Marine Le Pen, die die Führung des Front National (jetzt Rassemblement National) von ihrem Vater übernommen hat. Auch in Italien gibt es rechtsgerichtete Politikerinnen mit starken familiären Bindungen zu ehemaligen Staatsoberhäuptern und prominenten politischen Persönlichkeiten, wie Alessandra Mussolini, die Enkelin des ehemaligen Diktators, die mehrmals als Abgeordnete für die AN gewählt wurde (De Giorgi et. al, 2022). Giorgia Meloni hebt sich von diesem Weg ab. Ihr politisches Engagement begann 1992, als Meloni der Jugendorganisation der MSI beitrat. Im Unterschied zu anderen Oppositionsführer:innen, welche dazu neigen, ihre politische Außenseiterposition zu betonen, hebt Meloni oft ihren beruflichen Werdegang sowie ihr politisches Know-how hervor und verbindet dies mit der Idee der "Kompetenz". Darüber hinaus gibt es in Italien keine weitere politische Partei, die von einer Frau geführt wird, wodurch Meloni zweifellos eine beachtliche Medienpräsenz in dieser Hinsicht erreicht hat (Feo & Lavizzari, 2021).Angesichts der politischen Geschichte Italiens sei der Erfolg der FdI nicht verwunderlich. Die italienischen Rechten sind mit ihren traditionellen Anliegen seit Jahrzehnten erfolgreich. Der Gesamterfolg der FdI-FI-Lega-Koalition im Jahr 2022 kam daher weder überraschend noch sei er außergewöhnlich (POP, 2023). Der Erfolg kann auf die langjährige Dominanz der wechselnden Mitte-Rechts-Koalitionen um Berlusconi zurückgeführt werden, die in den letzten drei Jahrzehnten die Mehrheit der Wahlen gewinnen konnten. Trotz der langen Präsenz der größten kommunistischen Partei des Westens in Italien seit mehr als 50 Jahren war das Land mit Ausnahme einer kurzen Periode in den 1970er Jahren immer strukturell rechts orientiert (Livi & Jansen, 2023, S. 178f).Die Mehrheit der italienischen Gesellschaft war antikommunistisch, prokapitalistisch, katholisch und von konservativen Vorstellungen über die Familie, Geschlechterrollen und soziale Ordnung geprägt. Die Christlich-Demokratische Partei (DC, Democrazia Cristiana), die in der Ersten Republik dominierte, integrierte eine breite konservative Mittelschicht, die sich als antikommunistisch verstand und einem autoritären traditionellen Katholizismus anhing. Diese Schicht bildete die Grundlage für Berlusconis Aufstieg in den 1990er Jahren. So entstand eine neue konservative Rechte. Berlusconi mobilisierte eine bis dahin politisch unsichtbare konservative Strömung in der Gesellschaft, die im Hintergrund agierte (ebd.).Mit 43 Prozent der Stimmen ist die Koalition nicht weit von ähnlichen Prozentsätzen entfernt, die Mitte-Rechts-Koalitionen in den neunziger Jahren oder bei den Wahlen 2001, 2006 und 2008 erzielt haben. Die konservativen Parteien genießen in Italien mehr Unterstützung als die progressiven, und wenn diese aus allgemeinen Wahlen als Sieger hervorgehen, dann vor allem infolge von Spaltungen innerhalb der rechtsgerichteten Parteien (POP, 2023).Neben ihrer eigenen Partei, die bei den Wahlen 26 Prozent der Stimmen erhielt, gehören zur Regierungskoalition der Premierministerin zum einen die Lega, Matteo Salvinis Partei, die mit fremdenfeindlichen und separatistischen Ansichten bis 2018 als Lega Nord bekannt war. Zum anderen die liberal-populistische Partei von Ex-Premier Silvio Berlusconi, Forza Italia. Die Lega kam auf 8,8 Prozent, gefolgt von der Forza Italia mit 8,1 Prozent (Feldbauer, 2023, S.7). Aufgrund der besonderen Regeln des italienischen Wahlrechts verfügen diese drei Regierungsparteien über breite Mehrheiten in beiden Kammern des Parlaments, der Camera und dem Senato (Livi & Jansen, 2023, S.169). Neben der Berufung ihres Schwagers hat die italienische Ministerpräsidentin auch ihre Schwester in die Führungsebene ihrer Partei geholt. Melonis ältere Schwester, Arianna, ist nun verantwortlich für das politische Sekretariat. Ihr Ehemann, Francesco Lollobrigida, Landwirtschaftsminister und Mitglied der FdI, gilt als enger Vertrauter von Meloni (Ventura, 2022, S. 3).Laut Tronconi und Baldini (zit. nach POP, 2023) liegt der interessante Aspekt darin, dass sich die FdI innerhalb der rechten Parteien durchsetzte. Dies könnte vor allem damit begründet werden, dass die Forza Italia eine schon lange schwindende Partei sei, während die Positionen von FdI und Lega in den wesentlichen Punkten übereinstimmen. Dazu gehören feindselige Haltungen gegenüber Migration, die Verteidigung traditioneller Werte, die Unterstützung der wirtschaftlichen Interessen zahlreicher italienischer Kleinunternehmen, der Schutz der traditionellen Familie vor einer angeblichen "Gender-Theorie", die darauf abziele, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu verwischen oder auszulöschen, und die vertikale Abgrenzung zur EU in Form von Skepsis bzw. offener Feindseligkeit gegenüber dem europäischen Integrationsprojekt. Allerdings habe die Persönlichkeit von Giorgia Meloni im Vergleich zu Matteo Salvinis abnehmender Führungsstärke sowie die Glaubhaftigkeit und Beständigkeit der Partei der FdI 2022 den entscheidenden Vorteil gebracht. Salvini habe sich im Vergleich zu Meloni in der Vergangenheit auf Koalitionen, wie zum Beispiel mit der Fünf-Sterne-Bewegung eingelassen, die nicht besonders gut bei den rechten italienischen Wähler:innen ankamen. Meloni war und ist jedoch innerhalb des Rechts-Bündnisses eine überzeugte Hardlinerin (Feldbauer, 2023).WählerschaftDie Partei von Giorgia Meloni übte vor allem eine Anziehungskraft auf ehemalige Lega-Wähler:innen aus, aber auch Wähler:innen der Forza Italia bekundeten Interesse an der FdI. In soziodemografischer Hinsicht ist festzustellen, dass FdI-Anhänger:innen in der Altersgruppe von 50-64 Jahren überrepräsentiert, in der jüngsten Altersgruppe (18-34 Jahre) unterrepräsentiert waren. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass jüngere Wähler:innen ihre Proteststimme eher der Fünf-Sterne-Bewegung ohne postfaschistische Vergangenheit gaben. Die Partei erhielt Unterstützung von verschiedenen Berufsgruppen wie Handwerker:innen, Händler:innen, Selbstständigen sowie Angestellten und Lehrkräften, also weitgehend der (unteren) Mittelschicht.Die geografische Verteilung der Wählerschaft der FdI zeigt nicht nur - wie anfangs in der Parteigeschichte - eine starke Präsenz im Süden Italiens, sondern auch eine landesweite Verbreitung. Die Wählerschaft weist migrationsfeindliche und europaskeptische Tendenzen auf, insbesondere bei langjährigen Anhänger:innen. Neu gewonnene Wähler:innen zeigen eine populistische und anti-elitäre Haltung, bei der die Ablehnung von Migration eine große Rolle spielt (Ventura, 2022, S. 5).Migrationspolitik als Kernthema Bei den Parlamentswahlen stand die Migrationspolitik im Fokus. Es bestanden Bedenken, die neue Regierung unter der Führung der FdI könne in der Asyl- und Migrationspolitik einen äußerst restriktiven und sogar illegalen Weg einschlagen. So hatte Meloni für ihr Amt mit dem Ziel kandidiert, der "illegalen" Einwanderung nach Italien Einhalt zu gebieten. Es wurde auch über die mögliche Errichtung einer Seeblockade vor Nordafrika sowie die Einrichtung von Hotspots auf afrikanischem Territorium diskutiert (Angeli, 2023, S. 4f). Durch ihre Forderungen in der Opposition konnte sie das Thema Migration für sich gewinnen. Dennoch ist die Verwirklichung politischer Versprechen im Wahlkampf und ihre Umsetzung in konkrete Politik keineswegs als selbstverständlich anzusehen. Im Zuge der sogenannten "Flüchtlingskrise" bestimmten nativistische und souveränistische Motive die Haltung der Partei zur Migration. Die auf dem Parteitag 2017 verabschiedeten programmatischen "Thesen von Triest für die patriotische Bewegung" stellten die Migration als existenzielle Bedrohung für den Fortbestand der europäischen Nationalstaaten dar. In diesem Zusammenhang fand auch die Verschwörungstheorie vom "großen Austausch" Eingang in das Parteiprogramm (Baldini et. al, zit. nach Angeli, 2023, S. 6). Die Partei warf der EU vor, aus demografischen Gründen ein "multikulturelles Prinzip" zu verfolgen, woraus angeblich eine Zustimmung zur unkontrollierten Einreise von Menschen aus anderen Kontinenten abgeleitet wurde (FdI, 2017, zit. nach Angeli, 2023, S. 6). Die Partei befürwortete restriktive Maßnahmen im Zusammenhang mit legaler Zuwanderung. Diese sollten nur für Staatsangehörige möglich sein, die sich problemlos integrieren könnten, ohne Sicherheitsprobleme zu verursachen. Dabei wurde die Bedeutung des Grenzschutzes besonders betont, der mit dem Schutz des "Vaterlandes" gleichgesetzt wurde. Die FdI schlugen drastische Maßnahmen, wie eine internationale "Landmission" vor, die Kontrolle über die Häfen übernehmen sollte, sowie die Möglichkeit einer Seeblockade. Der Schwerpunkt lag dabei auf Nationalitäten, die weniger bereit seien, die Gesetze und die Kultur zu akzeptieren, insbesondere wurden damit Muslim:innen gemeint. Darüber hinaus wurde zum ersten Mal die Einrichtung von Hotspots in Nordafrika zur Prüfung von Asylanträgen vorgeschlagen, verbunden mit der Absicht, das Recht auf "humanitären Schutz" abzuschaffen. Die programmatische Entwicklung der Partei im Bereich der Migrationspolitik war von zwei konträren Tendenzen geprägt. Einerseits stand die Partei unter dem Druck, sich dem Mitte-Rechts-Bündnis anzupassen, was zu einem einheitlichen Programm für die Parlamentswahlen 2018 führte, welches jedoch nicht die radikalsten migrationspolitischen Positionen enthielt. Andererseits sorgte die Konkurrenz innerhalb des Rechtsbündnisses für einen Differenzierungsbedarf insbesondere in der Migrationspolitik. Hier konkurrierten die FdI und die Lega darum, sich als die restriktivere und migrationsfeindlichere Partei zu präsentieren (Angeli, 2023, S. 6f).Die FdI hob zunehmend ihr Alleinstellungsmerkmal durch die kompromisslose Verteidigung der italienischen Interessen hervor, insbesondere durch die häufige Verwendung von "Italians first". Dieser Slogan implizierte einen Wettbewerb zwischen Italiener:innen und Menschen mit Migrationshintergrund und wurde zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen verwendet (Ventura, 2022). Im Wahlprogramm für die Europawahl 2019 wurde der Vorrang der italienischen Bevölkerung hervorgehoben und normativ untermauert (ebd.). Das Wahlprogramm für die Parlamentswahlen 2022 markierte eine Abkehr von der Radikalisierung der Partei in der Migrationspolitik, die in den vergangenen Jahren zu beobachten war. Stattdessen kehrte die FdI zu einer sicherheitspolitisch motivierten Migrationsskepsis zurück, ähnlich wie im Wahlmanifest von 2013. Im Gegensatz zu früheren Positionen betonte das Manifest nicht mehr den Grundsatz "Italians first", der das Primat der italienischen Identität und Interessen in der Migrationspolitik hervorhob. Stattdessen verfolgte das Programm einen nüchternen Ansatz zur Migration, ohne aggressive oder aufrührerische Sprache. Dies deutet darauf hin, dass die Partei realistische und machbare Ansätze für eine geregelte Einwanderung und soziale Integration formulieren wollte (Angeli, 2023, S. 6f). In ihrer ersten Regierungserklärung schlug Meloni einen versöhnlichen Ton an, auch in Bezug auf das Thema Migration. Es gab kaum nativistische Elemente. Zwar betonte sie die strategische Rolle Italiens im Mittelmeerraum, doch die Verhinderung irregulärer Einwanderung wurde vor allem mit juristischen oder humanitären Gründen gerechtfertigt, etwa um Schiffbrüche oder Menschenhandel zu verhindern (ebd.).Melonis migrationspolitische Maßnahmen und Entscheidungen in den letzten 12 Monaten könnten auf einen pragmatischen Umschwung hindeuten. Diese Annahme ist jedoch mit Vorbehalten behaftet. Die Entwicklung des migrationspolitischen Programms der FdI zeigte bereits vor den letzten Parlamentswahlen eine Mäßigung bzw. "Entradikalisierung" (Angeli, 2023, S. 9). Das Wahlprogramm 2022 betonte die Förderung der legalen Migration und verstärkte diplomatische Bemühungen mit Herkunfts- und Transitländern irregulärer Migranten. Dennoch hat Meloni wenig getan, um der Kriminalisierung von NGOs entgegenzuwirken, die Rettungsschiffe für Asylsuchende betreiben. Sie argumentiert, diese Schiffe seien ein "Pull-Faktor", der die illegale Migration begünstige. Meloni hat sogar strenge Bedingungen für Rettungsaktionen von NGOs eingeführt, um die Ressentiments ihrer Anti-Migrations-Wählerschaft zu befriedigen. Es bleibt abzuwarten, ob die steigende Zahl von Geflüchteten, die das Mittelmeer überqueren, Meloni dazu veranlassen werden, radikalere Maßnahmen zu ergreifen, um sich die Unterstützung ihrer Anti-Migrations-Wählerschaft zu sichern. Erste Anzeichen für einen Umschwung gab es Mitte September, als Melonis Kabinett unter dem Druck negativer Schlagzeilen eine Verschärfung der Maßnahmen beschloss, darunter die Erhöhung der Höchstdauer der Abschiebehaft und die Einrichtung spezieller Abschiebegefängnisse durch das Militär in dünn besiedelten Regionen des Landes (Angeli, 2023, S. 10).Die politikwissenschaftliche Forschung hat in jüngerer Zeit wiederholt die Diskrepanz zwischen rechtspopulistischen Migrationsdiskursen und der tatsächlichen Migrationspolitik untersucht (Lutz, 2021). Demnach komme es öfters zu Mäßigungen, sobald Rechtspopulisten an der Regierung beteiligt seien. Die Ausprägung dieser Mäßigung kann jedoch stark variieren und von vielen Faktoren beeinflusst werden. Unter anderem sind sie als Regierungspartei institutionellen Zwänge unterworfen, die ihr politisches Agieren limitieren. Aber auch die Notwendigkeit, die bestehenden Verfassungsorgane zu bewahren, veranlasst sie oft dazu, sich von ihren radikalsten Ansätzen im Bereich der Migrationspolitik zu distanzieren. Darüber hinaus stehen rechtspopulistische Parteien vor der Aufgabe, neben ihren eigenen Anhänger:innen auch breitere Gesellschaftsschichten und die Eliten für ihre Ziele zu gewinnen. Aus diesem Grund könnten sie ihre Migrationspolitik entsprechend umgestalten, um weitere wichtige Interessengruppen zu erreichen. Schließlich kann auch internationaler Druck zu einer Kursänderung rechtspopulistischer Parteien führen. Bei der italienischen Regierung betrifft dies vor allem die EU, die finanzielle Hilfe als Druckmittel zur politischen Einflussnahme nutzen kann (Angeli, 2023, S. 4). Das Thema Migration war für die FdI von Anfang an ein zentrales Wahlkampfthema. Allerdings ist diesem Thema nur einer von insgesamt 25 Abschnitten im Wahlprogramm von 2022 gewidmet. Dennoch sollte die Bedeutung dieses Abschnitts keineswegs unterschätzt werden. Die "Gefahr" der irregulären Migration hat der Partei zu politischer Sichtbarkeit verholfen, insbesondere aufgrund des gestiegenen Interesses der italienischen Öffentlichkeit am Thema Migration seit 2013. Der Umgang der Partei mit dem Thema spiegelt somit die Radikalisierungs- und Mäßigungstendenzen wider, welche sie während der letzten zehn Jahre erfahren hat (Angeli, 2023, S. 5f). In einem Artikel mit dem Titel " Das schwarze Jahr " kritisierte die Zeitung "La Repubblica" die Migrationspolitik von Giorgia Meloni als gescheitert. Meloni selbst gab in einem Interview mit der RAI zu, dass die erzielten Ergebnisse nicht den Erwartungen entsprechen. Daraufhin kündigte sie erneut härtere Maßnahmen an, darunter die Verlängerung der möglichen Abschiebehaft auf die EU-Höchstdauer von 18 Monaten und den Bau weiterer Abschiebezentren. Sie forderte die Vereinten Nationen auf, den Menschenhändler:innen einen "globalen Krieg" zu erklären (ZEIT ONLINE, 2023).Wirtschafts- und SozialpolitikBesonders frauenpolitische Themen spielten eine wichtige Rolle in und für Melonis Partei. Es wird davon ausgegangen, dass die Parteivorsitzende Meloni eine wichtige Rolle für die weibliche Wählerschaft spielt. Sie setzt sich für einen Imagewandel der männerdominierten Partei ein und engagiert sich insbesondere für Frauen und Mütter, zumindest im Hinblick auf den Schutz vor potenziellen "Bedrohungen", wie dem Zuwachs an Migration, der Islamisierung und sozialer Unsicherheit, wie von der Kommilitonin Schmidt bereits beschrieben wurden (Feo & Lavizzari, 2021, S. 13). Zusätzlich engagiert sie sich entschlossen in der Verteidigung der Frauenrechte, wobei der Fokus jedoch auf anti-immigrationspolitischen Zielen liegt. In Bezug auf frauenrelevante Themen hat Giorgia Meloni niemals ihre anti-abtreibungsorientierten Überzeugungen verschleiert. Diese basieren auf ihrem katholischen Glauben sowie persönlichen Erfahrungen. In ihrer Biografie wird dargelegt, dass ihre Mutter in Erwägung zog, die Schwangerschaft abzubrechen (Meloni, 2021, zit. nach De Giorgi et. al, 2022). Meloni strebt vor allem eine breite Unterstützung in katholischen Kreisen an, indem sie sich gegen Abtreibung und Leihmutterschaft aussprach. Nachdem sie dort jedoch auf erheblichen Widerstand stieß, versuchte sie ihre Position zu mildern, indem sie betonte, das Recht auf Abtreibung nicht abschaffen zu wollen. Im Unterschied dazu blieb sie gegenüber Homosexuellen und sexuellen Minderheiten unverändert kompromisslos (Feldbauer, 2023, S. 70)."Wir wollen eine Nation, in der es kein Skandal mehr ist, zu sagen, dass – unabhängig von legitimen Entscheidungen und Neigungen jedes einzelnen – wir alle geboren sind durch einen Mann und eine Frau. Eine Nation, in der es kein Tabu mehr gibt. Es heißt, dass es die Mutterschaft nicht zu kaufen gibt, dass die Gebärmutter nicht zu mieten ist, dass Kinder keine Produkte sind, die man aus dem Regal kauft, als wäre man im Supermarkt. Wir wollen neu beginnen beim Respekt der Würde." (Meloni, 2022, zit. nach Seisselberg, 2023)Wie aus dem Zitat hervorgeht, betont die Politikerin ausdrücklich ihre Unterstützung der sogenannten natürlichen Familie, um die traditionellen Werte zu bewahren. Mit der Verteidigung dieser Werte und dem klassischen Vater-Mutter-Kind-Bild erfolgt eine Ablehnung der LGBTQ+-Gemeinschaft, die von Meloni als "LGBT-Lobby" bezeichnet wird (De Giorgi et. al, 2022). Die Ministerpräsidentin zeigt kein Interesse an einer feministischen Agenda, sondern strebt weiterhin ein traditionelles Familienmodell an (POP, 2023). Frauenrechte und Geschlechtergleichheit wurden von Meloni und ihrer Partei mehr für femonationalistische Argumente instrumentalisiert (De Giorgi et. al, 2022).In wirtschaftspolitischer Hinsicht herrscht in Italien eine Unzufriedenheit, da verschiedene Wahlversprechen nicht umgesetzt wurden. Dies ist auf das Schrumpfen der italienischen Wirtschaft im zweiten Quartal sowie der hohen Inflation zurückzuführen. Zudem wurde noch kein Mindestlohn eingeführt. Die Regierung unter Giorgia Meloni wurde auch dafür kritisiert, dass knapp 170.000 Menschen per SMS darüber informiert wurden, dass sie ab sofort keinen Anspruch mehr auf die Sozialleistung reddito di cittadinanza, auch Bürgergeld genannt, haben. Dies wurde von Gewerkschaften als "soziale Bombe" bezeichnet (ZEIT ONLINE, 2023). Es sei jedoch absehbar gewesen, dass die Umstrukturierung des Staatshaushalts wesentlich auf Kosten der ärmeren Bevölkerung erfolgen würde. Dennoch glaubten die meisten Menschen, dass die postfaschistische Regierung in den Augen der Weltöffentlichkeit nicht so weit gehen würde, wie ihre Rhetorik des "Runter vom Sofa" suggerierte, mit der sie ihren Geldgebern in Industrie, Landwirtschaft und Tourismus billige Arbeitskräfte zur Verfügung stellen wollten (Seeßlen, 2023).EU und Außenpolitik Der Zuwachs an Migration wurde von Meloni vor allem dazu genutzt, um das Thema der irregulären Migration auf die europäische Tagesordnung zu setzen. Sie war auch maßgeblich am Zustandekommen des Europäischen Migrationspaktes beteiligt, gegen den Widerstand ihrer einstigen Verbündeten aus Polen und Ungarn. Durch diese diplomatischen Bemühungen wird Meloni nun nicht mehr als internationale Außenseiterin in Bezug auf die europäische Migrationspolitik betrachtet. Im Gegensatz zu einigen früheren Verbündeten, wie Viktor Orbán, steht sie nicht mehr auf der Seite der Visegrád-Staaten (Angeli, 2023, S. 8f). Melonis Wandlung zu einer gemäßigten Politikerin findet nicht nur national, sondern auch im internationalen Kontext innerhalb und außerhalb der EU statt. Trotz ihrer Position als Präsidentin der EU-Parlamentsgruppe der Europäischen Konservativen und Reformer (ECR) hat Meloni ihre frühere euroskeptische Haltung zurückgefahren. Die Entscheidung, von der Leyen in Rom zu empfangen, wird als Versuch der Anbahnung einer Zusammenarbeit zwischen der ECR (unter Melonis Führung) und der Europäischen Volkspartei (EVP) bewertet. Die FdI hat einen moderaten Kurswechsel von radikalen Positionen gegenüber der EU hin zur Mitte vor den Wahlen 2022 vollzogen. Ziel dieses Kurswechsels sei der Aufbau eines guten Rufs im Ausland und die Sicherung vorteilhafter internationaler Abkommen (Griffini, 2023). Giorgia Meloni hat ihre gemäßigte politische Ausrichtung durch das Einhalten ihres Wahlversprechens im Hinblick auf Atlantizismus und Unterstützung für die Ukraine gegenüber dem russischen Eindringling weiter gestärkt. Ihre diplomatischen Beziehungen zur Ukraine und das Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew untermauern dies. Im Gegensatz zu Salvini, der im Bezug auf die russische Invasion in der Ukraine uneindeutige Standpunkte vertrat, zeigte sich Meloni klar positioniert. Der Unterschied in ihrer Haltung zum Krieg in der Ukraine führte zu Spannungen innerhalb der Regierungskoalition und betonte Melonis gemäßigte Position in dieser Angelegenheit (ebd.). Manche sagten für Italien einen heißen Herbst voraus, aber nicht in Hinblick auf die außenpolitische Lage. Meloni verfolgte in diesem Bereich einen äußerst pragmatischen Ansatz. Der schrille Ton des Wahlkampfes, in dem sie die EU für fast alle Probleme verantwortlich gemacht hat, ist vorbei. Das hat auch mit der prekären Finanzlage des Staates zu tun, denn Italien braucht dringend die fast 200 Milliarden Euro, die ihr von der EU zur Bewältigung der Folgen des Coronavirus versprochen wurden (ZEIT ONLINE, 2023).Meloni in den Medien"Melonis Politik, anders als die einiger ihrer Vasallen, besteht auch darin, die innere Faschisierung nicht allzu sehr als ein internationales lesbares Bild zu präsentieren. Die Giorgia Meloni, die erscheint, wo man unter sich ist, und die Giorgia Meloni, die vor internationalen Kameras spricht, unterscheiden sich gewaltig" (Seeßlen, 2023).Durch die Stärkung des Kerns der Partei ist es Meloni gelungen, mit einem breiteren Publikum zu interagieren, wobei ihr geschickter Einsatz von Social-Media-Plattformen eine Schlüsselrolle spielte. Dies führte dazu, dass sie als das neue Gesicht der italienischen Politik wahrgenommen wird. Ihre einzigartige Position als erste weibliche Ministerpräsidentin in Italien hat zweifellos dazu beigetragen. Außerdem hat sie bewiesen, dass sie in der Lage ist, die Herausforderungen zu meistern, mit denen populistische Politiker:innen konfrontiert sind (POP, 2023).Der Erfolg der FdI wäre ohne die entschlossene und konsequente Führungsperson, die dem Volk sehr nahe steht, unvorstellbar. Durch ihre Ansprachen an das Volk im römischen Dialekt kommt sie den Italiener:innen sehr nahe. Schon kurz nach der Gründung und dem Vorsitz der FdI war die charismatische Führerin ein gern gesehener Gast in den wichtigsten Talkshows. Sie zeichnete sich durch Jugend, Attraktivität, Selbstbewusstsein, außergewöhnliche Eloquenz und eine kompromisslose Haltung aus und scheute keine Konfrontation. Man kann behaupten, Meloni brachte frischen Wind ins Fernsehen und erfreut sich auch heute noch großer Beliebtheit in diesem Medium (Ventura, 2022, S.6).Im Laufe der Zeit hat ihre Medienpräsenz stetig zugenommen, insbesondere in den letzten Jahren, als sie eine immer bedeutendere Funktion im Mitte-Rechts-Lager einnahm. Meloni macht ausgiebigen Gebrauch von sozialen Medien wie Facebook, Twitter und Instagram, in denen sie ihre politischen Inhalte darstellt und gleichzeitig ihr öffentliches Image zu pflegen versucht. Unter den italienischen Politiker:innen war sie Vorreiterin bei der Einrichtung eines Instagram-Profils. Darauf veröffentlichte sie in erster Linie Bilder, die Botschaften von Stärke und Entschlossenheit vermitteln und in der Popkultur verwurzelt sind. Parallel dazu zieht sie informative, institutionelle und ereignisbezogene Nachrichten vor (Moroni, 2019).Bis vor wenigen Jahren versuchte Meloni, ihr Privatleben aus der Öffentlichkeit weitestgehend herauszuhalten. Doch in letzter Zeit begann sie damit, ihr Privatleben zu inszenieren und sehr persönliche Einblicke zu gewähren, was auch als "intimate politics" beschrieben werden kann. Vor allem in ihrer 2021 erschienenen Autobiografie präsentiert sie sich als Tochter, Mutter und Partnerin. Diese Inszenierung wird von den Medien in zahlreichen Interviews und im Fernsehen aufgegriffen, wobei vor allem Infotainment- und Unterhaltungssendungen erneut die Aufmerksamkeit auf Melonis Pop- und Privatseite lenken. Dabei geraten viele der eigentlichen politischen Botschaften des Buches in den Hintergrund (Ventura, 2022, S. 6).Auf ihrem Popkanal präsentiert Giorgia Meloni ein attraktives Bild von sich selbst, das ihre kulturellen und politischen Ansichten in den Hintergrund drängt. Diese Ansichten spiegeln u.a. ein ambivalentes Verhältnis zum italienischen Faschismus und Postfaschismus wider. Laut Ventura (2022, S. 6) propagiert sie die Idee einer illiberalen und organisierten Gesellschaft, die auf einer reaktionären Auslegung der individuellen Rechte beruht, wobei das Individuum stets der Familie und der Gemeinschaft verpflichtet ist. Sie vertritt auch einen essentialistischen und ethnozentrischen Nationalismus und relativiert die Werte, die nach dem Sieg über den nationalsozialistischen Totalitarismus entstanden sind. Trotz ihres reaktionären Weltbildes, welches einen stark vereinfachenden Gegensatz zwischen Volk und Elite sowie eine verschwörungstheoretische Interpretation der Realität beinhaltet, kann ihre Kommunikation als erfolgreich bewertet werden (ebd.).Die laufende Legislaturperiode erstreckt sich über weitere vier Jahre, was normalerweise keine typische Amtszeit für italienische Regierungschefs ist. Diese Ausdauer wird der Rechtsnationalistin jedoch zugute gehalten. Berichte über die verschiedenen Angriffe der Regierung auf die Pressefreiheit zeigen auf, dass es Verleumdungsklagen und Versuche gibt, die öffentliche Rundfunkanstalt RAI auf Linie zu bringen, indem sie ihre eigenen Leute in der Leitung beruft und kritische Programme streicht (Braun, 2023). Sie habe den staatlichen Fernsehsender RAI weitgehend unter ihre Kontrolle gebracht. Einige Leute würden bereits über "Tele-Meloni" spotten, allerdings stellen Privatsender keine große Bedrohung dar, da viele von ihnen der Familie von Silvio Berlusconi gehören (ZEIT ONLINE, 2023). Ein weiteres Beispiel dafür ist die Streichung des Programms des prominenten Anti-Mafia-Journalisten und Aktivisten Roberto Saviano (Braun, 2023).Melonis Umgestaltung hat für die Frage nach der Kontinuität, Mäßigung oder Radikalisierung der Partei in der Regierung eine doppelte Bedeutung. Einerseits zeigt Meloni ihre "Nähe zum Volk", was ein typisches Merkmal populistischer Parteien ist. Auf diese Weise betont sie ihre anti-elitäre und volkszentrierte Haltung, die seit der Gründung der FdI besteht. Auf der anderen Seite zeichnet sich ihre Rhetorik durch eine bürgerliche Aura aus, die durch Werte wie den Respekt vor der EU, der Rechtsstaatlichkeit, der nationalen Sicherheit und den Rechten der Frauen unterstrichen wird. Diese Betonung von Gewöhnlichkeit und Bürgersinn verbirgt jedoch radikalere ideologische Aspekte der neuen Regierung unter Meloni. Es handelt sich um eine Strategie, die darauf abzielt, eine bürgerliche Fassade zu schaffen. Diese Strategie ist von radikalen populistischen Rechtsparteien in Europa als Versuch bekannt, Ideologie und Politik zu mäßigen und sich selbst in führende Machtpositionen zu bringen (Griffini, 2023).Deutlicher Rechtsruck?"Es hätte schlimmer kommen können" – so lautete nicht nur der Titel eines Beitrags im Deutschlandfunk Kultur über das erste Jahr von Giorgia Meloni als Regierungschefin in Italien. Dieser Tenor stand im Mittelpunkt vieler Analysen zu ihrem Jahrestag als Ministerpräsidentin. In zahlreichen Medien wurde bezeugt, dass sie sich in ihrem ersten Amtsjahr weitaus gemäßigter verhalten hat als erwartet. "Die gefährlichste Frau Europas" sei sie keinesfalls (Seisselberg & Kolar, 2023, zit. nach Galetti, 20230). Die Grundaussage war, dass die Faschisten nicht so besorgniserregend seien wie befürchtet. Es scheint, als hätte Giorgia Meloni den inneren Frieden in Italien bisher nicht gefährdet und als bleibe das Land eine "stabile" parlamentarische Demokratie mit intakten Institutionen. Insbesondere in grundlegenden Bereichen wie der Außenpolitik und der Wirtschaft wird betont, dass Melonis Regierung nicht als Bedrohung für die Europäische Union gesehen wird. Die bisherige Amtszeit Melonis wird als eher konventionelles Regieren bezeichnet (Reisin, 2023). Sie sei "gekommen, um zu bleiben" und innerhalb weniger Monate zu einer "festen Größe" geworden (ZEIT ONLINE, 2023).Andere Journalist:innen sind jedoch der Meinung, dass die Gefahr in den Details liege. Sie argumentieren, dass Meloni sehr geschickt agiere und es fraglich sei, ob sich ihre politische Haltung überhaupt geändert habe (Reisin, 2023). Seeßlen (2023) warnt davor, Italien als eine Demokratie mit einer rechten Regierung zu betrachten. Stattdessen beschreibt er das Land als einen Ort, an dem die Verbindung von neoliberaler Postdemokratie und funktionalem Postfaschismus exemplarisch erprobt werde. Die Gesamtheit dieser Transformation könnte übersehen werden, da es der Regierung unter Meloni noch gelingt, nicht alle Aspekte ihrer Machtübernahme deutlich erkennbar zu machen. Die Rhetorik von Populisten ist bekanntermaßen darauf ausgerichtet, extreme Positionen vor der allgemeinen Öffentlichkeit zu verbergen. Auch das kommunistische Online-Portal Contropiano (zit. nach Feldbauer, 2023, S. 81) hat vor der Gefahr gewarnt, Meloni zu unterschätzen, da sie ihr reaktionäres Weltbild mit rechtsextremen, nationalistischen, fremdenfeindlichen und homophoben Positionen gegenüber der EU mit der Inszenierung als vernünftige und verantwortungsbewusste Politikerin kaschiere. Die Frage nach einem möglichen Rechtsruck in Italien wird kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite wird der Wahlsieg Melonis als Teil einer allgemeinen europäischen Tendenz hin zum rechten Spektrum gedeutet. Auf der anderen Seite wird betont, dass die Regierung unter Meloni eine gewisse Kontinuität mit den politischen Entwicklungen der letzten 30 Jahre in Italien aufweist und somit nicht als radikaler Neuanfang zu interpretieren ist. Melonis Erfolg wurde vor allem auch durch die Enttäuschung über etablierte politische Figuren begünstigt (Livi & Jansen, 2023).FazitAls Giorgia Meloni mit ihrer postfaschistischen Partei Fratelli d'Italia die Wahlen gewann, stellte sich in ganz Europa die Frage, wie mit ihr umgegangen werden sollte. Ob diese Frage nun vollständig geklärt ist, erscheint ungewiss. Für viele macht Meloni bisher jedoch einen relativ gemäßigten Eindruck. Die Zusammenarbeit mit der EU wirkt jedoch eher zweckorientiert als von tiefer Überzeugung getragen. Obwohl Meloni eine pro-europäische Haltung einnimmt, kann man sie nicht uneingeschränkt als überzeugte Verfechterin der EU bezeichnen. Während sie eine gemäßigte Außenpolitik verfolgt, engt sie im Inneren die Freiheit der Medien ein, limitiert die Rechte von Minderheiten und stellt die Elternschaft gleichgeschlechtlicher Eltern in Frage. Trotz der Befürchtungen über eine mögliche Radikalisierung der FdI deuten die gegenwärtigen Anhaltspunkte in eine andere Richtung. Angesichts dieser Erkenntnisse lässt sich ableiten, dass die FdI zweifellos als populistisch-radikale Rechtspartei agiert, die zur Mäßigung tendiert. Weite Teile zeigen die Kontinuität der Partei mit den Wahlaussagen von 2022, obwohl einige Schwankungen in Richtung Radikalisierung erkennbar sind. Es bleibt abzuwarten, ob sie diesen gemäßigten Ansatz in der Migrationsdebatte langfristig beibehalten wird, oder ob sie angesichts der steigenden Zahlen von Geflüchteten zu einer aggressiveren Rhetorik und Politik zurückkehrt. Obwohl eine Legislatur auf dem Papier fünf Jahre dauert, liegt die durchschnittliche Dauer italienischer Regierungen bei 18 Monaten (Siefert, 2023). Die Prognosen bezüglich Melonis politischer Zukunft sind vorsichtig optimistisch, wobei einige spekulieren, dass sie eine längere Amtszeit haben und sogar zur Galionsfigur der "neuen Rechten" in Europa werden könnte. Die Vergangenheit hat jedoch gezeigt, dass sich solche Vorhersagen als irreführend erweisen können (ZEIT ONLINE, 2023).Insgesamt scheint es, als fehle es in Italien an Diskursen und Ideen sowie Kraft für Widerstand. Die italienische Gesellschaft, die aus widersprüchlichen Lagern der Linken und der katholischen Gemeinschaft sowie aus den nördlichen, mittleren und südlichen Teilen besteht, ist zersplittert. Von der Opposition kommt wenig Kritik an der aktuellen Regierung und es scheint, als ob ihr die Herausforderungen, vor denen Italien steht, noch weniger zugetraut werden. Bei vielen sozialen Fortschritten der letzten Jahre, einschließlich der Errungenschaften im Kampf gegen die Mafia, der Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder auch Maßnahmen gegen Verfall von Bildung und Infrastruktur deutet sich ein Rückschritt an. Der Weg in Richtung einer offenen und toleranten Gesellschaft wird unter Melonis Führung stark gehemmt. Mit der Postfaschistin an der Macht wird in Italien eine rückwärtsgerichtete Umkehr angestrebt, ganz im Sinne eines reaktionären Katholizismus. Literatur Angeli, O. 2023: Giorgia Meloni und die Migrationsfrage. Rückblick auf ein Jahr Regierung, MIDEM-Policy Paper 2023-4, Dresden. Baker, K. & Palmieri, S. (2023). Können weibliche Politiker die gesellschaftlichen Normen der politischen Führung stören? Eine vorgeschlagene Typologie des normativen Wandels. International Political Science Review, 44(1), 122–136. https://doi.org/10.1177/01925121211048298 Brandl, L. & Ritter, A. (2022). Wenn Italien wackelt, schwankt die EU: Darum ist Giorgia Meloni die gefährlichste Frau Europas. https://www.stern.de/politik/ausland/wahlen-in-italien--ist-giorgia-meloni-die-gefaehrlichste-frau-europas--32742572.html De Giorgi, E., Cavalieri, A. & Feo, F. (2023). Vom Oppositionsführer zum Premierminister: Giorgia Meloni und Frauenfragen in der italienischen radikalen Rechten. Politik und Governance, 11(1). https://doi.org/10.17645/pag.v11i1.6042 Feo, F. & Lavizzari, A. (2021): Fallstudie Italien; in: Triumph der Frauen? Das weibliche Antlitz des Rechtspopulismus und -extremismus in ausgewählten Ländern, Heft 06, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) - Forum Politik und Gesellschaft, online unter: https://www.fes.de/themenportal-gender-jugend-senioren/ gender-matters/artikelseite/fallstudie-italien. Finchelstein, F. (2017). Populismus als Postfaschismus – Essay. BPB.de. https://www.bpb.de /shop/zeitschriften/apuz/257672/populismus-als-postfaschismus-essay/ Griffini, M. (2023). Auf dem Grat zwischen Mäßigung und Radikalisierung: Die ersten 100 Tage der Meloni-Regierung. Quaderni dell Osservatorio elettorale QOE - IJES. https://doi.org/10.36253/qoe-14413 Latza Nadeau, B. (2018): Femme Fascista: Wie Giorgia Meloni zum Star der extremen Rechten Italiens wurde, in: World Policy Journal, 35, 2, 2018. Livi, M. & Jansen, C. (2023). Giorgia Meloni und der Rechtsruck in Italien: Eine Analyse fünf Monate nach der Wahl. Leviathan, 51(2), 169–185. https://doi.org/10.5771 /0340-0425-2023-2-169 Lutz, Philip (2021): Neubewertung der Gap-Hypothese: Hartes Reden und schwaches Handeln in der Migrationspolitik? In: Party Politics, 27(1), S. 174–186. Verfügbar unter: https://doi. org/10.1177/1354068819840776Moroni, C. (2019): La politica si fa immagine: la narrazione visual del Leader politico, in: H-ermes. Zeitschrift für Kommunikation, 15. 2019.Oliviero, A. (2023). Giorgia Meloni und die Migrationsfrage. Rückblick auf ein Jahr Regierung (MIDEM-Policy Paper 2023-4). https://www.stiftung-mercator.de/content/uploads/2023/10 /TUD_MIDEM_PolicyPaper_2023-4_Giorgia-Meloni-und-Migrationsfrage.pdf (POP) Politisches Observatorium für Populismus. (2023). Brüder und Schwestern Italiens: Von den faschistischen Wurzeln zur Normalisierung – ein Doppelinterview. https://populismobserver.com/2023/07/11/brothers-and-sisters-of-italy-a-double-interview/ Reisin, A. (2023). Italien.Medien schreiben sich das erste Amtsjahr von Giorgia Meloni schön. https://uebermedien.de/89003/wie-sich-medien-das-erste-amtsjahr-von-giorgia-meloni-schoenschreiben/ Roio, C. (2020). Prefazione. La grande trasformazione dell'ultradestra, in: C. Mudde: Ultradestra. Rom: Luiss University Press. Schütz, D. (2022). Begriff "Postfaschismus". Italienischer Sonderweg. TAZ.de. https://taz.de/Begriff-Postfaschismus/!5880112/ Seeßlen, G. (2023, 17. August). Giorgia Melonis Kürzung der Sozialhilfe als faschistischer Krieg gegen die Armen Italiens. Gesellschaft als Beute Italien: Ein Lehrstück der Faschisierung in Europa. Jungle.World, Hintergrund (2023/33). Seisselberg, J. (2023). Ein Jahr Meloni in Italien – Neue Schale, rechter Kern (04.10.2023; NDR Info Hintergrund). https://www.ndr.de/nachrichten/info/epg/Ein-Jahr-Meloni-neue-Schale-rechter-Kern,sendung1384714.html Siefert, A. (2023). Italien. Meloni und ihre "Mutter aller Reformen". https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-11/italien-giorgia-meloni-verfassungsreform Tagesschau. (2022). Porträt. Giorgia Meloni. "Zuallererst Italienerin". Tagesschau.de https://www.tagesschau.de/ausland/italien-meloni-107.html ZEIT ONLINE. (2023, 25. September). Gekommen um zu bleiben: Ein Jahr Giorgia Meloni. https://www.zeit.de/news/2023-09/25/gekommen-um-zu-bleiben-ein-jahr-giorgia-meloni