Ein ganzheitliches Konzept der Lehrerbildung
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Soziale Ungleichheit, Lernrückstände, Geflüchtete: Die Herausforderungen in den Schulen sind groß, die Zahl der Lehrkräfte zu klein, ihre Ausbildung hat mit den Veränderungen nicht Schritt gehalten. Wie kommen wir weg vom Flickwerk? Ein Interview über einen Plan, das Lehramtsstudium neu zu erfinden.
Karin Vach (rechts) ist Rektorin der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Havva Engin (links) ist dort Professorin für Allgemeine
Pädagogik. Fotos: privat.
Deutschlands Kultusminister wollen die Lehrerbildung reformieren. An der Pädagogischen Hochschule Heidelberg
hätten Sie da ein paar Vorschläge im Angebot, richtig?
Havva Engin: Es ist doch so: Uns alle treibt die Sorge um, was da gerade in unserem Bildungssystem passiert. Die Schülerschaft verändert sich rasant, die sozialen Unterschiede
wachsen, mehr und mehr Schülerinnen und Schüler verlieren den Anschluss. Und dann sind da über 300.000 Kinder und Jugendliche, die seit Februar 2022 allein aus der Ukraine eingewandert sind. All
das trifft auf einen immer eklatanter werdenden Lehrkräftemangel. Die Politik in allen Bundesländern reagiert mit Notmaßnahmen, mit immer neuem Flickwerk. Das geht zwangsläufig auf Kosten der
Qualität. Was fehlt, ist ein ganzheitliches Konzept der Lehrerbildung, das flexibel auf all diese Bedarfe reagiert, aber gleichzeitig hohen inhaltlichen und wissenschaftlichen Standards genügt.
Karin Vach: Wir nennen es das Integrierte Lehramt, und wir meinen damit eine Integration auf verschiedenen Ebenen. Die Wichtigste: In unserem Modell bringen wir eine
Qualifizierung von Quereinsteigern mit einem grundständigen Lehramtsstudium zusammen. Das heißt: Sie können nach dem Abitur einsteigen im ersten Semester oder als Quereinsteigerin zu einem
späteren Zeitpunkt; zum Beispiel wenn Sie Germanistik studiert haben und bei uns die Didaktik und ein zweites Fach nachholen.
Engin: Wir schauen uns jeden Studienbewerber und jede Studienbewerberin genau an und stufen sie ein entsprechend ihrer individuellen Voraussetzungen und Kompetenzen. Solche, die
sich durch Zeugnisse und Zertifikate nachweisen lassen, und andere mehr informelle, die wir selbst anerkennen.
"Wir sind quasi startklar."
Ist das nur ein Gedankenspiel oder mehr?
Vach: Wir sind quasi startklar. Wir könnten zum Wintersemester 2024 mit dem ersten Studienjahrgang loslegen. "Integriertes Lehramt" meint aber noch viel mehr: Unsere Studierenden
sind vom ersten Semester an in der Hochschule und in der Schule, und auch hier gilt: Jede:r bekommt in der Schule die Aufgabe, die zu ihrer Erfahrung hat. Das heißt, Studienanfänger werden zur
Unterstützung der Lehrkraft eingesetzt, während etwa Lehrkräfte aus dem Ausland schon eigene Unterrichtseinheiten gestalten.
Engin: In den ersten drei Semestern sind das nur ein oder zwei Tage die Woche in der Schule. Doch schon hier beginnt die besondere Herausforderung für unsere Studierenden:
Berufspraxis und Wissenschaft zusammendenken, Schule und Studium miteinander organisieren. Ab dem 4. Bachelorsemester sind es dann zum Beispiel 13 Stunden in der Schule, das ist die eine Hälfte,
die andere ist an der Hochschule und im Studienseminar. Im Master bleibt es bei dieser Verteilung, aber der praktische Anteil wird dann durch den Vorbereitungsdienst ausgefüllt.
Das Referendariat ist also auch noch ins Studium integriert?
Vach: Das Referendariat ist eingerechnet in die Studiengangsplanung, ja.
Und trotzdem schaffen Sie das alles in den üblichen fünf Jahren? Drei Jahre bis zum Bachelor, zwei weitere bis zum Master? Das klingt so, als ob Sie die bisherigen Inhalte eines
Lehramtsstudiums ziemlich zusammenkürzen müssten.
Engin: In einem herkömmlichen Lehramtsstudium gibt es ja auch Praxisanteile. Darum kürzen wir eigentlich nur an einer Stelle: beim Referendariat. Normalerweise dauert das 17 oder
18 Monate, bei uns sind es studienintegriert zwölf Monate. Wir können das, weil in unserem Modell Referendariat und Studium miteinander abwechseln, also eine Verzahnung und gegenseitiges
Reflektieren möglich wird, die in der normalen Lehrerbildung fehlt. Was habe ich schon im Studium gelernt, das mir jetzt in der Praxis hilft? Und wo stoße ich im Unterricht noch an Grenzen, weil
mir die theoretischen Grundlagen fehlen? Aus der Forschung wissen wir, dass genau hierin ein großes Defizit des traditionellen Modells besteht. Da sind sie als Referendarin schon komplett raus
aus der Hochschule.
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Und wie funktioniert das jetzt mit den Quereinsteigern?
Engin: Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Da ist eine Kollegin, eine Deutschlehrerin, die 14 Jahre lang in der Ukraine Deutschunterricht gegeben hat. Ihr fehlt aber das zweite Fach, um
sich in Deutschland für eine reguläre Stelle bewerben zu können. Da würden wir alles erheben, was sie mitbringt, Didaktik, Methodik, Fachlichkeit, und vielleicht kämen wir zum Ergebnis, das sie
nur noch die vier Mastersemester macht und darin integriert das Referendariat in der Schule. Das heißt, sie könnte sofort in die Schule, was sie ja will, und die Schule hätte eine versierte
Referendarin, die nebenher in Studienseminar und Hochschule begleitet wird. Am wichtigsten ist, dass wir Menschen, die mit teilweise großartigen Qualifikationen zu uns kommen, nicht in einer
Warteposition lassen wollen. Sie können von Anfang an ihrer Expertise an den Schulen einbringen und erhalten nebenher all das bei uns, was ihnen noch fehlt.
Klingt faszinierend. Aber mal ehrlich: Das klappt doch nur, wenn zufällig alle ideal zusammenwirken: Hochschule, Studienseminar – und ein ganzes Netzwerk eingebundener Schulen. Vielleicht
gibt es diesen Glücksfall bei Ihnen in Heidelberg, dann herzlichen Glückwunsch. Aber wie übertragbar ist so ein Idealmodell in die Fläche?
Vach: Sie sprechen da einen wichtigen Punkt an. Wir müssen mehr herausfinden über die Gelingensbedingungen. Darum wollen wir ja ein Pilotprojekt mit zwei aufeinanderfolgenden
Studienjahrgängen starten, also mit zwei Kohorten. Außerdem lassen wir von Anfang an eine Evaluation mitlaufen, um solide Daten zu erhalten. Vor allem kommt es auf die Rückmeldungen aus den
Schulen an, was brauchen sie, was hilft ihnen wirklich? Mit den Studienseminaren wird der Kommunikationsbedarf sicher auch groß sein. Aber seien wir mal ehrlich: Wenn wir wirklich eine Innovation
erreichen wollen, wenn wir wirklich etwas für die Schule, für die Bildung, für die Gesellschaft als Ganzes tun wollen, dann müssen wir alle weg von unserem gewohnten
Revierverteidigungsverhalten.
"Im Moment ist es doch so, dass oft einer auf den anderen wartet und so gute Ideen zur Reform der Lehrerbildung ausgebremst werden."
Engin: Das wird nicht gehen ohne einen Runden Tisch, an dem Ansprechpersonen von allen Partnerinstitutionen sitzen, vom ersten bis zum letzten Semester zusammenarbeiten und sich
abstimmen. Am Ende müssen eine Struktur und ein Prozess entstehen, die weiter funktionieren, wenn die Verantwortlichen irgendwann wechseln. Wenn wir das schaffen, kann unser Modell auch schnell
auf sich abzeichnende neue Bedarfe in den Schulen reagieren. Im Moment ist es doch so, dass oft einer auf den anderen wartet und so gute Ideen zur Reform der Lehrerbildung ausgebremst
werden.
Was sagen denn die für Wissenschaft und Kultus zuständigen Ministerinnen in Stuttgart zu Ihrem Projekt?
Vach: Wir hatten die Gelegenheit, unser Konzept beiden Ministerinnen vorzustellen, und haben in den Gesprächen eine gewisse Wertschätzung wahrgenommen. Dann haben wir allerdings
eine Weile nichts gehört. Bis vergangene Woche der Auftrag aus dem Wissenschaftsministerium kam, unser Modell weiter zu konkretisieren und die anderen Pädagogischen Hochschulen in
Baden-Württemberg einzubeziehen – und Schulen und Studienseminare außerhalb Heidelbergs. Das freut uns sehr.
Engin: Sie haben es selbst am Anfang gesagt. Nicht nur Baden-Württemberg, ganz Deutschland hat erkannt, dass die Lehrerbildung grundlegend reformbedürftig ist. Wir glauben, dass
die Antwort ein Konzept ist, das sich um den konkreten Bedarf an den Schulen herum entwickelt und die Schulpraxis wirklich in einen Austausch mit der Wissenschaft und der Pädagogik bringt. Die
Alternative, die wir fürchten, ist, dass angesichts des Lehrkräftemangels Schmalspur-Modelle entstehen – eigens konzipiert für Quereinsteiger, die dann zwar auch schnell, aber ohne ausreichenden
Forschungsbezug und wissenschaftliche Fundierung qualifiziert werden. Dann wären wir zurück in den 60er Jahren bei den damaligen Lehrerausbildungsseminaren. Das kann keiner wollen, oder?