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Jedes Bundesland geht seinen eigenen Weg, die Hochschulen stricken munter Studienmodelle – und wo bleibt die Koordination? Was für Ärzte möglich ist, sollte auch bei künftigen Lehrern funktionieren – erschienen im WIARDA-BLOG am 10. April 2017.
Sharon Hinchliffe: "teacher", CC BY-NC-ND 2.0
ZUGEGEBEN, AM ENDE der Verhandlungen hatte der Masterplan, der das Medizinstudium revolutionieren sollte, ein bisschen an Glanz eingebüßt. Schuld war ein ärgerlicher Streit zwischen Wissenschafts- und Gesundheitsministern über die ungesicherte Finanzierung des Großprojekts. Ärgerlich insofern, weil jede gute Idee nur so viel wert ist wie ihre Umsetzung, und die wird im Falle des "Masterplan Medizinstudium 2020" nach ersten internen Schätzungen mit rund 250 Millionen Euro jährlich zu Buche schlagen.
Trotzdem war die Begeisterung über das Erreichte, die besonders Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) bei der Präsentation Ende März zur Schau trug, mehr als die Selbstinszenierung von Politikern im Vorwahlkampfmodus. Wer weiß, wie vielfältig, wie unterschiedlich und häufig genug konträr die Interessen im Gesundheitssektor sind, der kann erst so recht einzuschätzen, was es bedeutet, das Ziel und die Inhalte der gesamten Ärzteausbildung von Grund auf neu zu formulieren (die Details finden Sie hier). Aber es ist möglich.
Warum redet keiner drüber?
Warum diese Erkenntnis so wichtig ist: Es gibt einen zweiten Sektor öffentlichen Gemeinwohls, dessen Ausbildungsgrundlagen einer dringenden und nicht weniger grundlegenden Überholung bedürfen. "Wann wird es einen Masterplan Lehramtsstudium geben?", fragte vorvergangene Woche jemand auf Twitter. Auf den ersten Blick mag man darüber schmunzeln. Und auf den zweiten fragen: Ja, wann eigentlich? Und warum redet keiner drüber? >>>
Seit 25 Jahren beschäftigte ich mich mit Hochschulen, Bildung und Wissenschaft. Viel ist passiert in dieser Zeit, vieles davon durfte ich als Journalist begleiten. Der Blick zurück zeigt, wie aktuell einige meiner Themen von einst geblieben sind – obwohl sich fast alles verändert hat. Machmal allerdings auch, weil sich fast gar nichts verändert hat. Der 21. Teil einer Serie. Einen Überblick über die gesamte Serie "Blick zurück" finden Sie hier.
>>> Von der zielgenaueren (Selbst-)Auswahl künftiger Lehrer über ihre Beratung vor Studienbeginn und die Orientierung in den ersten Semestern bis hin zur richtigen Verknüpfung frühzeitiger Unterrichtspraxis mit den fachlichen Inhalten, den Fachdidaktiken und der allgemeinen Pädagogik: Jedes Bundesland geht seinen eigenen Weg. Und es mangelt an mutigen Ideen, die das Lehramtsstudium endlich ins 21. Jahrhundert (vielleicht sogar gleich ins Jahr 2020?) katapultieren. Ein Jahrhundert, in dem die Vielfalt der Schüler immer weiter wächst und die soziale Zusammensetzung der Elternhäuser genauso im Wandel begriffen ist wie die Gesellschaft, deren aktive Mitgestalter die Schulabgänger werden wollen.
Es ist schon ein frappierender Gegensatz: Während Bildungsstandards für eine stärkere Vergleichbarkeit des im Unterricht Gelernten sorgen sollen, und zwar über ganz Deutschland hinweg, während landauf, landab über die zentrale Bedeutung des Lehrerberufs für die Zukunft unseres Landes schwadroniert wird, listet der "Monitor Lehrerbildung" nach eigenen Angaben „mehr als 8000 relevante Daten und Fakten“ auf, um das Lehramtsstudium in Deutschland auch nur halbwegs erfassen zu können.
Wie viele weitere Daten wären wohl nötig, um auch die zweite Phase der Lehrerbildung (Referendariat) und danach die Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte deutschlandweit beschreiben zu können?
Zu wenig, zu zerfasert, zu allgemein
Worauf sich die Kultusminister in den vergangenen 15 Jahren geeinigt haben, sind elf mit so genannten "Standards" gekoppelte Kernkompetenzen für die Bildungswissenschaften, deren Verbindlichkeitsgrad schon aus den Formulierungen deutlich wird. Beispiel Kompetenz 1: "Lehrerinnen und Lehrer planen Unterricht unter Berücksichtigung unterschiedlicher Lernvoraussetzungen und Entwicklungsprozesse fach- und sachgerecht und führen ihn sachlich und fachlich korrekt durch." Oder Kompetenz 10: "Lehrerinnen und Lehrer verstehen ihren Beruf als ständige Lernaufgabe."
Auf die einzelnen Fächer heruntergebrochen gibt es die "ländergemeinsamen inhaltlichen Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung", aber die stammen schon von 2008. Darüber hinaus existiert lediglich eine Reihe kurzer Empfehlungen zur Inklusion oder zur "Eignungsabklärung" von Studienanfängern.
Bei den Vorgaben zum Referendariat (Vorbereitungsdienst) und dem Staatsexamen wird es noch dünner, die diesbezüglichen "Ländergemeinsamen Anforderungen" sind inklusive Titelblatt gerade mal vier Seiten lang, und in Bezug auf die Fort- und Weiterbildung findet sich auf der Website der Kultusministerkonferenz (KMK) nur ein Link zu den zuständigen Landesinstituten.
Zu wenig, zu zerfasert, zu allgemein: So lassen sich die bisherigen Anstrengungen der Kultusminister zusammenfassen, die Lehrerbildung, diese ewige, aber nie richtig umgegrabene Reformbaustelle, strategisch abzustimmen und auf die Zukunft auszurichten. Und selbst das Bisschen, was sie machen, wird mitunter von den Hochschulen konterkarriert, die sich dank ihrer (an sich sinnvollen) Autonomie jeweils ganz eigene Versionen des Lehramtsstudiums stricken können.
Groß denken lohnt sich
Immerhin: Angestoßen ausgerechnet von der eigentlich gar nicht zuständigen Bundesregierung, fördern Bund und Länder in der zeitlich befristeten "Qualitätsoffensive Lehrerbildung" neue Studienmodelle. Ertrag: offen. Und sonst? Müssen Studenten, Lehrer und Schulen sich also hilflos seufzend dem Schicksal beugen, das der Föderalismus ihnen zugedacht hat? Werden die Kultusminister auch künftig entschuldigend mit den Händen ringen, wann immer die Rede auf die immer noch ausstehende grundsätzliche Reform des Lehramtsstudiums kommt?
Der "Masterplan Medizinstudium 2020" sagt: Nein. Groß denken lohnt sich. Die Entgegnung, dass sich dafür nicht nur die Wissenschafts-, sondern auch die Schulminister aus allen 16 Ländern einig werden müssten, überzeugt nicht wirklich. Denn auch wenn beim Masterplan am Ende vor allem über den Streit berichtet wurde, gehört zur Bilanz, dass sich über die inhaltliche Neuausrichtung des Medizinstudiums nicht nur 16 Wissenschaftsminister und 16 Gesundheitsminister, sondern sogar Bund und Länder einig geworden sind. Und beim Lehramt hat der Bund noch nicht einmal etwas zu sagen.
Ein Masterplan Lehramtsstudium wäre mehr als ein Zusammenfassen verstreuter Einzelempfehlungen. Er wäre mehr als das Sammeln zukunftweisender Ideen aus Pädagogik und Bildungsforschung als Reaktion auf Inklusion, Digitalisierung und die Etablierung neuer Schulformen. Ein Masterplan Lehramtsstudium wäre ein Symbol, ein Signal der Bildungspolitik: Wir wollen nicht nur immer ein besseres Lehramtsstudium. Wir gehen es an. Und zwar gemeinsam.
siehe auch:
Gastbeitrag: "Nehmen wir die Medizin als Ansporn!"
Das Lehramtsstudium braucht auch einen Masterplan, fordert Manfred Prenzel. (04. Mai 2017) >>>
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Soziale Ungleichheit, Lernrückstände, Geflüchtete: Die Herausforderungen in den Schulen sind groß, die Zahl der Lehrkräfte zu klein, ihre Ausbildung hat mit den Veränderungen nicht Schritt gehalten. Wie kommen wir weg vom Flickwerk? Ein Interview über einen Plan, das Lehramtsstudium neu zu erfinden.
Karin Vach (rechts) ist Rektorin der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Havva Engin (links) ist dort Professorin für Allgemeine Pädagogik. Fotos: privat.
Deutschlands Kultusminister wollen die Lehrerbildung reformieren. An der Pädagogischen Hochschule Heidelberg hätten Sie da ein paar Vorschläge im Angebot, richtig?
Havva Engin: Es ist doch so: Uns alle treibt die Sorge um, was da gerade in unserem Bildungssystem passiert. Die Schülerschaft verändert sich rasant, die sozialen Unterschiede wachsen, mehr und mehr Schülerinnen und Schüler verlieren den Anschluss. Und dann sind da über 300.000 Kinder und Jugendliche, die seit Februar 2022 allein aus der Ukraine eingewandert sind. All das trifft auf einen immer eklatanter werdenden Lehrkräftemangel. Die Politik in allen Bundesländern reagiert mit Notmaßnahmen, mit immer neuem Flickwerk. Das geht zwangsläufig auf Kosten der Qualität. Was fehlt, ist ein ganzheitliches Konzept der Lehrerbildung, das flexibel auf all diese Bedarfe reagiert, aber gleichzeitig hohen inhaltlichen und wissenschaftlichen Standards genügt.
Karin Vach: Wir nennen es das Integrierte Lehramt, und wir meinen damit eine Integration auf verschiedenen Ebenen. Die Wichtigste: In unserem Modell bringen wir eine Qualifizierung von Quereinsteigern mit einem grundständigen Lehramtsstudium zusammen. Das heißt: Sie können nach dem Abitur einsteigen im ersten Semester oder als Quereinsteigerin zu einem späteren Zeitpunkt; zum Beispiel wenn Sie Germanistik studiert haben und bei uns die Didaktik und ein zweites Fach nachholen.
Engin: Wir schauen uns jeden Studienbewerber und jede Studienbewerberin genau an und stufen sie ein entsprechend ihrer individuellen Voraussetzungen und Kompetenzen. Solche, die sich durch Zeugnisse und Zertifikate nachweisen lassen, und andere mehr informelle, die wir selbst anerkennen.
"Wir sind quasi startklar."
Ist das nur ein Gedankenspiel oder mehr?
Vach: Wir sind quasi startklar. Wir könnten zum Wintersemester 2024 mit dem ersten Studienjahrgang loslegen. "Integriertes Lehramt" meint aber noch viel mehr: Unsere Studierenden sind vom ersten Semester an in der Hochschule und in der Schule, und auch hier gilt: Jede:r bekommt in der Schule die Aufgabe, die zu ihrer Erfahrung hat. Das heißt, Studienanfänger werden zur Unterstützung der Lehrkraft eingesetzt, während etwa Lehrkräfte aus dem Ausland schon eigene Unterrichtseinheiten gestalten.
Engin: In den ersten drei Semestern sind das nur ein oder zwei Tage die Woche in der Schule. Doch schon hier beginnt die besondere Herausforderung für unsere Studierenden: Berufspraxis und Wissenschaft zusammendenken, Schule und Studium miteinander organisieren. Ab dem 4. Bachelorsemester sind es dann zum Beispiel 13 Stunden in der Schule, das ist die eine Hälfte, die andere ist an der Hochschule und im Studienseminar. Im Master bleibt es bei dieser Verteilung, aber der praktische Anteil wird dann durch den Vorbereitungsdienst ausgefüllt.
Das Referendariat ist also auch noch ins Studium integriert?
Vach: Das Referendariat ist eingerechnet in die Studiengangsplanung, ja.
Und trotzdem schaffen Sie das alles in den üblichen fünf Jahren? Drei Jahre bis zum Bachelor, zwei weitere bis zum Master? Das klingt so, als ob Sie die bisherigen Inhalte eines Lehramtsstudiums ziemlich zusammenkürzen müssten.
Engin: In einem herkömmlichen Lehramtsstudium gibt es ja auch Praxisanteile. Darum kürzen wir eigentlich nur an einer Stelle: beim Referendariat. Normalerweise dauert das 17 oder 18 Monate, bei uns sind es studienintegriert zwölf Monate. Wir können das, weil in unserem Modell Referendariat und Studium miteinander abwechseln, also eine Verzahnung und gegenseitiges Reflektieren möglich wird, die in der normalen Lehrerbildung fehlt. Was habe ich schon im Studium gelernt, das mir jetzt in der Praxis hilft? Und wo stoße ich im Unterricht noch an Grenzen, weil mir die theoretischen Grundlagen fehlen? Aus der Forschung wissen wir, dass genau hierin ein großes Defizit des traditionellen Modells besteht. Da sind sie als Referendarin schon komplett raus aus der Hochschule.
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Und wie funktioniert das jetzt mit den Quereinsteigern?
Engin: Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Da ist eine Kollegin, eine Deutschlehrerin, die 14 Jahre lang in der Ukraine Deutschunterricht gegeben hat. Ihr fehlt aber das zweite Fach, um sich in Deutschland für eine reguläre Stelle bewerben zu können. Da würden wir alles erheben, was sie mitbringt, Didaktik, Methodik, Fachlichkeit, und vielleicht kämen wir zum Ergebnis, das sie nur noch die vier Mastersemester macht und darin integriert das Referendariat in der Schule. Das heißt, sie könnte sofort in die Schule, was sie ja will, und die Schule hätte eine versierte Referendarin, die nebenher in Studienseminar und Hochschule begleitet wird. Am wichtigsten ist, dass wir Menschen, die mit teilweise großartigen Qualifikationen zu uns kommen, nicht in einer Warteposition lassen wollen. Sie können von Anfang an ihrer Expertise an den Schulen einbringen und erhalten nebenher all das bei uns, was ihnen noch fehlt.
Klingt faszinierend. Aber mal ehrlich: Das klappt doch nur, wenn zufällig alle ideal zusammenwirken: Hochschule, Studienseminar – und ein ganzes Netzwerk eingebundener Schulen. Vielleicht gibt es diesen Glücksfall bei Ihnen in Heidelberg, dann herzlichen Glückwunsch. Aber wie übertragbar ist so ein Idealmodell in die Fläche?
Vach: Sie sprechen da einen wichtigen Punkt an. Wir müssen mehr herausfinden über die Gelingensbedingungen. Darum wollen wir ja ein Pilotprojekt mit zwei aufeinanderfolgenden Studienjahrgängen starten, also mit zwei Kohorten. Außerdem lassen wir von Anfang an eine Evaluation mitlaufen, um solide Daten zu erhalten. Vor allem kommt es auf die Rückmeldungen aus den Schulen an, was brauchen sie, was hilft ihnen wirklich? Mit den Studienseminaren wird der Kommunikationsbedarf sicher auch groß sein. Aber seien wir mal ehrlich: Wenn wir wirklich eine Innovation erreichen wollen, wenn wir wirklich etwas für die Schule, für die Bildung, für die Gesellschaft als Ganzes tun wollen, dann müssen wir alle weg von unserem gewohnten Revierverteidigungsverhalten.
"Im Moment ist es doch so, dass oft einer auf den anderen wartet und so gute Ideen zur Reform der Lehrerbildung ausgebremst werden."
Engin: Das wird nicht gehen ohne einen Runden Tisch, an dem Ansprechpersonen von allen Partnerinstitutionen sitzen, vom ersten bis zum letzten Semester zusammenarbeiten und sich abstimmen. Am Ende müssen eine Struktur und ein Prozess entstehen, die weiter funktionieren, wenn die Verantwortlichen irgendwann wechseln. Wenn wir das schaffen, kann unser Modell auch schnell auf sich abzeichnende neue Bedarfe in den Schulen reagieren. Im Moment ist es doch so, dass oft einer auf den anderen wartet und so gute Ideen zur Reform der Lehrerbildung ausgebremst werden.
Was sagen denn die für Wissenschaft und Kultus zuständigen Ministerinnen in Stuttgart zu Ihrem Projekt?
Vach: Wir hatten die Gelegenheit, unser Konzept beiden Ministerinnen vorzustellen, und haben in den Gesprächen eine gewisse Wertschätzung wahrgenommen. Dann haben wir allerdings eine Weile nichts gehört. Bis vergangene Woche der Auftrag aus dem Wissenschaftsministerium kam, unser Modell weiter zu konkretisieren und die anderen Pädagogischen Hochschulen in Baden-Württemberg einzubeziehen – und Schulen und Studienseminare außerhalb Heidelbergs. Das freut uns sehr.
Engin: Sie haben es selbst am Anfang gesagt. Nicht nur Baden-Württemberg, ganz Deutschland hat erkannt, dass die Lehrerbildung grundlegend reformbedürftig ist. Wir glauben, dass die Antwort ein Konzept ist, das sich um den konkreten Bedarf an den Schulen herum entwickelt und die Schulpraxis wirklich in einen Austausch mit der Wissenschaft und der Pädagogik bringt. Die Alternative, die wir fürchten, ist, dass angesichts des Lehrkräftemangels Schmalspur-Modelle entstehen – eigens konzipiert für Quereinsteiger, die dann zwar auch schnell, aber ohne ausreichenden Forschungsbezug und wissenschaftliche Fundierung qualifiziert werden. Dann wären wir zurück in den 60er Jahren bei den damaligen Lehrerausbildungsseminaren. Das kann keiner wollen, oder?
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Eine schnelle Lösung zeichnen sich nicht ab. Ein erster Schritt wäre aber, die Krise in den Kitas genauso ernst zu nehmen wie die in den Schulen. Die deutsche Bildungsmisere nimmt dort ihren Anfang.
Foto: Pxfuel.com, CC0.
ES SIND DIE ZAHLEN eines beachtlichen gesellschaftspolitischen Erfolgs. Und zugleich Anzeichen einer Personalkrise, die den viel diskutierten Lehrkräftemangel locker in den Schatten stellt.
2022 arbeiteten in Deutschlands Kitas inklusive Leitung rund 722.000 Erzieherinnen und Erzieher, ein Anstieg um satte 55 Prozent – oder 258.000 Personen – gegenüber 2012. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Kitas um 7.300 auf über 59.000, die der betreuten Kinder um 690.000 auf 3,85 Millionen. Was – nebenbei bemerkt – bedeutet, dass sich der Betreuungsschlüssel sogar verbessert hat. Nachlesen kann man die Zahlen im neuen "Fachkräftebarometer Frühe Bildung", das alle zwei Jahre von der "Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte" am Deutschen Jugendinstitut und an der Technischen Universität Dortmund erstellt wird. Sie sind ein Beleg dafür, welches Veränderungspotenzial eine politische Zielsetzung – die Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz für unter Dreijährige 2013 – entfalten kann.
Nur zeigt die Analyse genauso eindrucksvoll, dass selbst dieses dramatische Personalwachstum nicht ausreicht, um den Bedarf zu befriedigen. Trotz 44 neugegründeten Fachschulen für Sozialpädagogik in den vergangenen zwei Jahren: Das Ausbildungssystem stoße an Kapazitätsgrenzen, warnen die Forscher:innen. Es fehlt an Räumlichkeiten und Lehrkräften für die angehenden Fachkräfte. Und trotz deutlich gestiegener Gehälter und kaum noch befristeter Arbeitsverträge: Die Kitas würden noch deutlich mehr Kräfte einstellen, aber sie können es nicht. Die Arbeitslosenquote unter Erzieher:innen ist mit 1,1 Prozent quasi nicht mehr existent. Auf 100 freie Stellen kommen 62 arbeitslos Gemeldete. "Weggeschmolzen" sei das Arbeitskräftereservoir.
Die nächste Herausforderung kommt erst noch
Und dabei steht die nächste große Herausforderung erst noch bevor: Von 2026 an gilt der nächste Rechtsanspruch: für Ganztagsbetreuung in der Grundschule, was bedeutet, dass die Schulen nochmal verstärkt in den Wettbewerb um pädagogische Fachkräfte einsteigen.
Der Bund unterstützt die Länder über das Kita-Qualitätsgesetz in den nächsten zwei Jahren mit weiteren vier Milliarden Euro, während Experten seit langem fordern, die Kitas als Orte der frühkindlichen Bildung zu stärken. Doch droht in der Realität durch die Personalnot vielerorts das Gegenteil: die Sicherstellung der Betreuung als oberste Priorität. Der Ausbau der kindheitspädagogischen Studiengänge stockt derweil, die ohnehin geringe Zahl der jährlichen Bachelorabsolventen geht seit 2019 sogar zurück. Auf bundesweit gerade noch 2.162.
Schnelle Lösungen zeichnen sich nicht ab. Doch ein erster Schritt wäre, die Krise in den Kitas in Medien und Öffentlichkeit endlich genauso ernst zu nehmen wie die Krise in den Schulen. Die deutsche Bildungsmisere nimmt dort ihren Anfang.
Dieser Kommentar erschien zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.
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Da mache er sich überhaupt keine Sorgen, kommentiert der Bildungsforscher Olaf Köller Forderungen, aus dem internationalen Schulvergleich auszusteigen: "Nicht wissen zu wollen, was ist, passt nicht in die heutige Zeit." Zur Kritik von Lehrerverbänden an Andreas Schleicher sagt Köller, in der Substanz liege der OECD-Bildungsdirektor "oft gar nicht falsch".
Olaf Köller ist Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) in Kiel und Ko-Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz. Foto: IPN/Davids/Sven Darmer.
Herr Köller, der Lehrerverband wirft OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher nach dessen Interviews in der Stuttgarter Zeitung und anderswo Unwissenschaftlichkeit vor, der Philologenverband fordert die Aussetzung von PISA, solange Schleicher internationaler PISA-Koordinator ist. Die FAZ will sogar unabhängig von Schleicher den Ausstieg Deutschlands aus der weltweit größten Bildungsstudie. Was ist da los?
Es gab in Deutschland schon häufiger Empörung von Lehrerverbänden und Politikern über Aussagen von Andreas Schleicher. Doch auch wenn diese im Ton manchmal überzogen und im aktuellen Fall sicher mit Absicht provokant formuliert waren, in der Substanz liegt er oft gar nicht so falsch.
Zum Beispiel?
Dass wir in Deutschland im internationalen Vergleich sehr hohe Lehrergehälter haben. Nehmen Sie eine 50 Jahre alte Studienrätin, verheiratet, zwei Kinder, privat krankenversichert, mit einem Nettogehalt von über 5000 Euro im Monat. Wenn sie krank ist, bekommt sie schnell einen Arzttermin, und wenn sie in Ruhestand geht, kann sie mit 3500 Euro und mehr Pension rechnen. Damit steht sie im Vergleich zu fast allen ihren internationalen Kolleginnen und Kollegen extrem gut da. Und wenn Andreas Schleicher sagt, wir hätten in Deutschland ein Problem mit der Unterrichtsqualität, muss man das nicht so drastisch ausdrücken wie er, aber für die Feststellung an sich gibt es empirische Evidenz, auch in der aktuellen Pisastudie.
"Wenn wir sehen, dass die mathematikbezogene Motivation erneut heruntergegangen ist, kann man schon mit einiger Plausibilität die Hypothese ableiten, dass das mit der Qualität das Unterrichts zu tun hat."
Evidenz welcher Art?
Rund 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland, die ein Gymnasium besuchen, berichten davon, dass ihr Mathematikunterricht wenig unterstützend und kaum kognitiv aktivierend sei. Und bei Pisa 2022 haben wir eine Ergänzungsstudie durchgeführt, die Aufschluss über die Qualität der Klassenarbeiten gibt: meist relativ triviale mathematische Routine und kaum Aufgaben, die zur Problemlösung herausfordern.
Die Philologenverband-Bundesvorsitzende Susanne Lin-Klitzing wirft Schleicher vor, mit seinem fortgesetzten Lob der Schulsysteme undemokratischer Staaten wie China "könnte man zudem annehmen, dass der PISA-Koordinator dem Missbrauch schulischer Bildung durch totalitäre Systeme nachgerade das Wort rede".
Ich würde wirklich allen Seiten raten, die Polemik herauszunehmen. Wir wissen seit der ersten Timms-Studie Mitte der 90er Jahre, dass viele asiatische Länder sehr, sehr guten und aktivierenden Unterricht anbieten. Und das nicht nur in Mathematik. Auch in den Naturwissenschaften oder in Englisch folgt der Unterricht einer anderen Choreographie als bei uns. Das betrifft die Volksrepublik China, das betrifft aber auch demokratische Staaten wie Japan oder Taiwan. Überall gibt es einen klaren Blick dafür, welche Aufgaben ich als Lehrkraft wählen muss, um in 45 oder 60 Minuten das Unterrichtsziel zu erreichen, das ich mir selbst gesteckt habe. Klar bekommen wir bei Besuchen zum Teil einstudierte Vorführstunden gezeigt, aber auch wenn wir das einpreisen, bleibt die Feststellung: Viele asiatische Schulsysteme wissen, was guten Unterricht ausmacht, und wir können einiges von ihnen lernen.
Auch die FAZ kommentierte, Schleicher nutze jede Gelegenheit, Kausalitäten aus PISA-Daten abzuleiten, die es überhaupt nicht gebe.
Den Vorwurf halte ich für überzogen. Natürlich wissen wir, dass Pisa-Daten in der Regel keine kausalen Schlüsse zulassen. Aber Hinweise geben sie schon. Wenn wir etwa sehen, dass die mathematikbezogene Motivation zwischen 2018 und 2022 in Deutschland erneut deutlich heruntergegangen ist, kann man daraus schon mit einiger Plausibilität die Hypothese ableiten, dass das etwas mit der Qualität das Unterrichts zu tun hat. Natürlich ist das dann nur eine Hypothese, die man weiter untersuchen muss. Und das tun wir. Das Quamath-Programm, das über zehn Jahre hinweg die Qualität mathematischen Unterrichts in Deutschland verbessern soll, hat die Kultusministerkonferenz übrigens auch nicht gestartet, weil wir hierzulande so einen Bombenunterricht haben.
"Herr Schleicher trägt zur Bildungsforschung in Deutschland nichts bei. Er schadet ihr aber auch nicht."
Der Philologenverband befindet: "Ob sich die seriöse empirische Bildungsforschung von dem Schaden und Vertrauensverlust erholt, den Andreas Schleicher ihr in Deutschland zufügt, bezweifeln wir."
Wenn Sie in Deutschland herumfragen, wer die Protagonisten der empirischen Bildungsforschung sind, würde der Name Andreas Schleicher gar nicht fallen. Er ist als Leiter des OECD-Direktorats für Bildung primär dafür verantwortlich, dass PISA weltweit administrativ klappt. Sogar er selbst hat, glaube ich, nicht den Anspruch, Bildungsforscher im engeren Sinne zu sein. Wenn Sie nach Deutschland schauen, Tina Seidel von der TU München, die ist eine Bildungsforscherin, oder Nele McElvany von der TU Dortmund. Soll heißen: Die deutsche Bildungsforschung ist viel breiter aufgestellt als nur mit PISA, wobei ich ich persönlich auch die deutschen PISA-Koordinatorinnen dazu zählen würde. Herr Schleicher aber trägt zur Bildungsforschung in Deutschland nichts bei. Er schadet ihr aber auch nicht.
Der Lehrerverband fragt trotzdem: "Wenn man den PISA-Macher nicht mehr ernstnehmen kann, kann man dann noch PISA ernstnehmen?"
Andreas Schleicher ist nicht verantwortlich für die Feldarbeit in den Ländern, nicht für die Erhebung der Daten. Er schreibt auch nicht den PISA-Bericht. Er zieht Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen wie viele andere auch. Der frühere Hamburger Bildungssenator Ties Rabe zum Beispiel. Oder Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger. PISA spielt in der Gesamtstrategie der Kultusministerkonferenz (KMK) eine zentrale Rolle, weil diese Studie über die Jahre hinweg immer wieder verlässliche Information über die Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems liefert.
Aber wie verlässlich sind die? Es gebe gute Gründe, an der Aussagefähigkeit der Daten zu zweifeln, schreibt die FAZ. Deutschland sei das einzige Teilnehmerland, das eine Zielpopulation von über 99 Prozent im Jahr 2018 und über 90 Prozent im Jahr 2022 hatte. "Das bedeutet, dass auch Förderschüler dabei sind. Andere Länder haben deutlich niedrigere Zielpopulationen und deshalb bessere Ergebnisse."
Diesem FAZ-Kommentar liegt ein Missverständnis zugrunde, eine Verwechslung zwischen Zielpopulation und Teilnahmequoten. Die meisten PISA-Staaten haben eine Zielpopulation von über 90 Prozent, das ist der Anteil der 15jährigen Schülerinnen und Schüler, der potenziell getestet wird. Bei den tatsächlich getesteten liegt Deutschland wie viele andere Staaten zwischen 85 und 90 Prozent. Man kann sich also nicht einfach damit herausreden, dass in Deutschland andere Schülerpopulationsanteile getestet würden. Und selbst wenn wir sagen würden, wir lassen einfach alle internationalen Vergleiche weg, müssten wir immer noch konstatieren: Das deutsche Gymnasium hat in Mathematik zwischen 2012 und 2022 im Vergleich mit sich selbst rund 50 Punkte verloren, das entspricht dem Lernzuwachs von mehr als anderthalb Schuljahren.
Genau das fordert die FAZ ja: Deutschland soll aus PISA und weiteren internationalen Studien wie IGLU und Timss aussteigen und dafür den nationalen Vergleich des IQB-Bildungstrends ausweiten.
Dann hätten wir aber nicht mehr den Benchmark mit Ländern, die ganz ähnliche Bildungssysteme haben wie wir: Österreich, die Schweiz, Luxemburg. Und wenn wir den Blick etwas weiten, sehen wir viele EU-Länder, die bei PISA ähnlich hohe Teilnahmequoten erreichen wie wir und wo trotzdem immer wieder interessante Reformen stattfinden. Polen oder Estland, um nur zwei zu nennen. Insofern würden uns ohne PISA-Teilnahme viele Erkenntnisse entgehen: etwa auch, dass es in den vergangenen Jahren in vielen Ländern abwärts ging, aber in Deutschland eben stärker als im internationalen Durchschnitt. Das sind Informationen, die man hinsichtlich ihrer Bedeutung nicht unterschätzen sollte, auch zur Einordnung bildungspolitischer Weichenstellungen in Deutschland.
"Es verlangt auch keiner von den Wirtschaftsweisen, keine Prognosen mehr zum Wirtschaftswachstum abzugeben, weil wir uns in einer Konjunkturkrise befinden."
Die heftige Kritik an PISA erinnert an Grundsatzdebatten in den ersten Jahren nach Einführung der Studie in den Nullerjahren. Kommen die jetzt wieder?
Wir haben schon nach dem IQB-Bildungstrends 2021 und 2022 erlebt, dass die Rolle der Lehrkräfte und die Qualität des Unterrichts in den Fokus rückte. Was nicht wundert bei einem solchen Leistungsrückgang auch an den Gymnasien. Was mich wundert ist, dass die Lehrerverbände sich in Reaktion darauf gleich in solch eine defensive Haltung begeben haben. Man kann ja über einzelne Punkte und Methodiken diskutieren, aber jetzt einfach den Ausstieg aus PISA zu fordern, und das dann noch mit Äußerungen von Andreas Schleicher zu begründen, erscheint mir nicht zielführend. Es verlangt auch keiner von den Wirtschaftsweisen, keine Prognosen mehr zum Wirtschaftswachstum abzugeben, weil wir uns in einer Konjunkturkrise befinden. Nicht wissen zu wollen, was ist, passt nicht in die heutige Zeit. In keinen Politikbereich. Ohne Informationen über Problemlagen, etwa dass in Mathematik in Deutschland 30 Prozent zur Risikogruppe zählen, ziehen wir den Karren nicht aus dem Dreck. Das muss auch den Lehrerverbänden klar sein.
Der Deutsche Lehrerverband nutzt die Informationen aus den Studien selbst durchaus für seine Argumentation. So stellt er fest, dass der steigernde Leistungsabfall in den PISA-Studien parallel zur Implementierung zu "Änderungen in Pädagogik, Methodik und Didaktik" gelaufen sei, wobei als Beispiele "Kompetenzorientierung, selbstgesteuertes Lernen, Absage an Leistungsprinzip, Gründung neuer Gesamt- und Gemeinschaftsschulen" genannt werden. Diese Änderungen müsse die deutsche Bildungspolitik daher überprüfen, fordert der Lehrerverband.
Die Kompetenzorientierung war vielen schon immer ein Dorn im Auge. Da liegt es natürlich nahe zu sagen: Die Ergebnisse sind deshalb schlecht, weil wir die Dinge nicht mehr so machen, wie wir sie früher gemacht haben. Aber wie ich schon erwähnte: Wenn wir uns den tatsächlichen Unterricht anschauen, wie er vielerorts an deutschen Schulen läuft, lautet die Diagnose eher, dass dort noch ziemlich viel so gemacht wird wie immer. Wir Bildungsforscher wären richtig glücklich, wenn wir im Matheunterricht beobachten könnten, dass dort eine stärkere Ausrichtung am Leben außerhalb der Schule erfolgen würde. In Englisch ist das der Fall, der Englischunterricht hat Antworten gegeben auf die sich verändernde Welt, und die Leistungen der Schülerinnen und Schüler im IQB-Bildungstrend sind zwischen 2016 und 2022 gestiegen.
Ist PISA in Deutschland ein Auslaufmodell, Herr Köller?
Nein, da mache ich mir gar keine Sorgen. Die nächste Erhebungsrunde für PISA 2025 ist in Vorbereitung, die KMK bekennt sich zur Qualitätssicherung im Bildungssystem, bei dem PISA, Timss und CO eine ebenso wichtige Rolle spielen wie der IQB-Bildungstrend. Im Übrigen steht PISA nicht nur in Deutschland auf festem Boden, sondern ist international eine Riesen-Erfolgsgeschichte. 2000 sind wir mit 32 Staaten gestartet, inzwischen sind wir bei fast 90 Ländern und Regionen weltweit angelangt. Überall herrscht der Eindruck, dass PISA keinen Blödsinn produziert, sondern ein wichtiger Indikator ist zur Feststellung der Leistungsfähigkeit der Bildungssysteme.
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Der Bildungsforscher Olaf Köller sagt, warum er positiv überrascht ist vom Startchancen-Verhandlungsergebnis, wie die Wissenschaft zum Erfolg des Programms konkret beitragen und welche Rolle dabei die Ständige Wissenschaftliche Kommission spielen könnte.
Olaf Köller ist Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) in Kiel und Ko-Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK). Foto: IPN/Davids/Sven Darmer.
Herr Köller, die Verhandlungsführer von Bund und Ländern haben sich auf Eckpunkte zum Startchancen-Programm geeinigt. Hat der Bildungsföderalismus herausgeholt, was er aus sich herausholen kann?
Eine Milliarde Euro Bundesgeld pro Jahr ist nicht viel, da muss man sich nichts vormachen, das sind 250.000 Euro pro Schule. Trotzdem finde ich: Bund und Länder haben eine Menge herausgeholt. Ich war positiv überrascht, als ich das Papier gelesen habe. Alle Länder haben sich verpflichtet, Sozialkriterien für die Auswahl ihrer Schulen zu bestimmen. Auch diejenigen, die bislang keinen eigenen Sozialindex haben. Einigkeit herrscht über das wichtigste Ziel: Die Zahl derjenigen, die die Mindeststandards in den Kernfächern nicht erreichen, soll in zehn Jahren halbiert werden. Für schlau halte ich es, dass man nicht mit allen 4000 Schulen auf einmal beginnt, sondern mit 1000. Dadurch wird es wahrscheinlicher, dass der Einstieg überhaupt noch zum Schuljahr 2024/25 gelingt. Besonders erfreulich ist schließlich, dass Bund und Länder den Erfolg des Programms nicht nur behaupten, sondern messen lassen wollen.
"Es war absehbar, dass, wenn man den Königsteiner Schlüssel aufgibt, ein anderer Mechanismus sicherstellt, dass kein Land zu kurz kommt."
Stört Sie, dass das Bundesgeld zu großen Teilen weiter per Gießkanne auf die Länder verteilt wird? Und widerspricht das nicht dem immer wieder behaupteten Paradigmenwechsel?
Es war absehbar, dass alle Länder ordentlich etwas abhaben wollen und dass, wenn man schon den Königsteiner Schlüssel aufgibt, jetzt ein anderer Mechanismus sicherstellt, dass kein Land zu kurz kommt. Darum ist der eigentliche Paradigmenwechsel für mich ein anderer: dass Bund und Länder sich zu einer wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation des Programms verpflichtet haben, und zwar mit explizitem Bezug auf ein Impulspapier, das wir als Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) vergangenes Jahr vorgelegt haben. Wir haben viele große bildungspolitische Reformen erlebt in den Jahrzehnten nach Pisa 2000, von der Einführung der Ganztagsschulen über G8 bis zurück nach G9, doch hat es fast immer und in fast allen Ländern an der Bereitschaft gefehlt, mit harten Indikatoren die Wirkung dessen zu überprüfen, was man da beschlossen hat. Genau das passiert jetzt mit dem Startchancen-Programm, ausgestattet mit einem eigenen Evaluationsbudget. Das ist der Paradigmenwechsel. Wenn es denn so kommt und die Länder nicht vor ihrem eigenen Mut zur Empirie zurückschrecken.
Aber was genau kommt denn? Die Eckpunkte sprechen von einem "verbindlichen Berichtswesen", von "wissenschaftlicher Begleitung" und "Evaluation", die getrennt voneinander laufen sollen.
Ich habe mich auch gefragt, wie es genau gemeint ist. Persönlich würde ich wissenschaftliche Begleitung als formative Evaluation begreifen, bei der man schaut, für welche der ergriffenen pädagogischen Maßnahmen es Evidenz gibt und wie sie in den Schulen implementiert werden. Man kann dann auch die Schulen bei der Auswahl und Implementation wirksamer Programme unterstützen. Während das, was im Papier als Evaluation bezeichnet wird, vermutlich summativ verstanden wird: Man misst nach einer bestimmten Zeit, welche Kompetenzstände Schülerinnen und Schülern erreicht haben.
An der Stelle bleibt das Papier ziemlich vage. Was empfehlen Sie der Bildungspolitik?
So vage ist das gar nicht. Durch die Fokussierung auf die Basiskompetenzen, den Bezug zu den Bildungsstandards und die Halbierung der Risikogruppe in zehn Jahren haben Bund und Länder sich selbst den entscheidenden Benchmark gesetzt. Und zugleich das Instrument zu dessen Messung impliziert: den IQB-Bildungstrend, den das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen für die Klassenstufen vier und neun entwickelt hat. Wir müssen also das Rad an der Stelle nicht neu erfinden. Es eignet sich aber auch keine andere vorhandene Methodik, die vielleicht von einzelnen Bundesländern angewandt wird – weil nur der Testaufgabenpool des Bildungstrends so eng und valide auf die Erfüllung der Bildungsstandards abzielt. Ein Vorgehen könnte daher sein, dass das IQB im Frühjahr 2025 eine sogenannte Null-Messung an den dann ausgewählten ersten 1000 Startchancen-Schulen durchführt, in Deutsch, Mathe und vielleicht noch Englisch. Und zwar sowohl in Klasse vier als auch in den Klassenstufen neun und zehn, je nachdem, wann die Sekundarstufe I im jeweiligen Land und in der jeweiligen Schulart endet. Nach fünf Jahren wird die Messung in den gleichen Klassenstufen zum ersten Mal wiederholt, nach zehn Jahren zum zweiten Mal.
Diese Art der Messung würde bedeuten, dass sich keine Aussagen über einzelne Schülerkarrieren treffen ließen.
Ein Ansatz bei der Evaluation des Startchancen-Programms wäre tatsächlich eine Trenderfassung der Schulen mit Feststellung der Leistungsniveaus der Schülerinnen und Schüler als Ganzes. Für alles andere bräuchte man eine Längsschnittstudie, bei der dieselben Kinder bzw. Jugendlichen immer wieder getestet würden. Das halte ich in der Größenordnung, über die wir bei den Startchancen sprechen, nicht für realistisch. Sehr wohl wäre es aber ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn, kleinere Stichproben von Schülerinnen und Schüler so, wie Sie das sagen, über einen längeren Zeitraum zu begleiten.
"Es wird auf jeden Fall
recht uneinheitlich zugehen."
Apropos Größenordnung der Evaluation: Was passiert mit den 3000 Schulen, die später dazu kommen?
Ich würde davon abraten, alle 4000 Schulen gleichermaßen evaluieren zu wollen, das wäre zu aufwändig und wohl ebenfalls zu teuer. 1000 Schulen bieten einen großen Ausschnitt, sind für das IQB eine zusätzliche Herkulesaufgabe, aber vermutlich handelbar, und eine Vorbereitungszeit von anderthalb Jahren erscheint realistisch. Ein weiterer Vorteil der Nullmessung wäre, dass so geprüft würde, ob die Länder mit ihren eigenen Sozialkriterien jeweils die richtigen Schulen erwischt haben: nämlich diejenigen mit den besonders leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern – oder ob hier einzelne Länder noch einmal nachsteuern müssen. Es ist ja kein Naturgesetz, dass sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler grundsätzlich geringe Kompetenzniveaus aufweisen.
Erwarten Sie eine stark unterschiedliche Treffsicherheit – je nachdem, ob die Länder schon etablierte Sozialindizes haben?
Es wird auf jeden Fall recht uneinheitlich zugehen. Diejenigen Länder, die bereits Programme für benachteiligte Schüler und Schulen betreiben, werden versuchen, die Schulen aus ihren Programmen auch in die Startchancen zu bringen. Und Länder, die noch keinen Sozialindex haben, müssen erst einen Algorithmus entwickeln, von dem sie nicht wissen, wie er sich auswirkt. Schließlich wird es Unterschiede geben zwischen Ländern mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler und anderen, die eine geringere Armutsdichte aufweisen. All das könnte durch die Nullmessung ermittelt werden – unter der Voraussetzung, dass sie mit Fragebögen zum sozialen und familiären Hintergrund der Schülerinnen und Schüler begleitet werden, wie das IQB das beim Bildungstrend bereits tut.
Was aber bedeuten die Ergebnisse, die bei der wiederholten Messung nach fünf oder zehn Jahren herauskommen? Wer sagt, dass die festgestellte Verbesserung oder Verschlechterungen der Kompetenzen an einer Startchancen-Schule etwas mit dem Programm zu tun hat?
Eine berechtigte Frage – weshalb die wissenschaftliche Begleitung im Sinne formativen Assessments so wichtig ist. Wir brauchen regelmäßig erhobene Daten, wie an jeder untersuchten Schule die drei Säulen des Programms konkret umgesetzt werden, wobei mir die Baumaßnahmen noch am wenigsten ausschlaggebend erscheinen. Aber wie genau wird die Interaktion zwischen Lehrkräften, Förderkräften, Sozialarbeitern und Schülerinnen/Schülern gestaltet? Werden nur Maßnahmen etabliert, für deren Qualität es empirische Evidenz gibt? Werden zwar Förderkräfte eingestellt, müssen diese aber Vertretungs- statt Förderstunden geben? Dann, das wissen wir, würde ihre Wirkung verpuffen.
Gehen wir also davon aus, dass sich bei der richtigen Kombination von wissenschaftlicher Begleitung und Evaluation nach fünf oder zehn Jahren ein Zusammenhang herstellen lässt zwischen den ergriffenen Maßnahmen und der Entwicklung der Schülerkompetenzen, was folgt daraus?
Das ist doch klar: Nach fünf Jahren muss die Politik bei einigen Schulen nachsteuern, und das konsequent. Vermutlich werden viele Schulen nach fünf Jahren noch weit von dem Ziel der Halbierung entfernt sein. Hoffentlich wird es auch Standorte geben, an denen man positive Effekte sieht – die sich dank der Kopplung von formativer und summativer Evaluation auf die Maßnahmen des Programms zurückführen lassen. Die Politik wird sich Gedanken machen müssen, wie sie mit denjenigen Schulen verfahren will, die über Jahre Geld bekommen haben, ohne dass es vorangeht. Sicherlich wird man dann verstärkt über neue Zielvereinbarungen sprechen müssen, mit einer verstärkten Kooperation zwischen Schulen und Schulaufsicht, damit auch diese Schulen die Früchte des Programms ernten. Das wäre zumindest meine Empfehlung.
"Es wäre furchtbar, wenn das Geld nicht bei den Richtigen ankäme und nicht die gewünschten Effekte hätte."
Die sie als wer aussprechen? Als Chef des IPN Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik – oder als einer der Vorsitzenden der SWK?
Ich vermute, vieles von dem, was ich hier im Interview gesagt habe, wird von den meisten Bildungsforscherinnen und Bildungsforschern in Deutschland geteilt werden. Aber nichts davon ist abgestimmt mit den übrigen 15 Mitgliedern der SWK. Letzteres auch deshalb nicht, weil wir als Ständige Wissenschaftliche Kommission bislang gar nicht explizit nach unseren konkreten Ideen zur Evaluation des Startchancen-Programms gefragt oder beauftragt worden sind.
Würden Sie gern beauftragt werden?
Natürlich würde ich mir wünschen, dass die Bildungsforschung eingebunden und um Rat gefragt wird. Nicht, weil wir auf irgendwelche zusätzlichen Forschungsgelder aus sind, sondern weil wir ein genuines Interesse daran haben, den Bund und die Länder in ihrem Vorhaben zu unterstützen. Der Bund will insgesamt zehn Milliarden Euro einsetzen, die Länder, in welcher Form auch immer, zehn weitere Milliarden dazu geben. Es wäre furchtbar, wenn das Geld nicht bei den Richtigen ankäme und nicht die gewünschten Effekte hätte. Die SWK ist allerdings eine Kommission der Kultusministerkonferenz, sie stimmt dementsprechend auch ihr Programm mit der KMK ab. Gleichwohl könnten KMK und BMBF sich zusammentun und uns in die Diskussion um eine wissenschaftliche Begleitung beziehungsweise Evaluation einbinden. Ich kann mir vorstellen, dass die SWK dann eine Stellungnahme erarbeiten und darin ausbuchstabieren würde, wie eine wissenschaftliche Begleitung, eine Evaluation und ein Monitoring des Startchancen-Programms aussehen könnte. Um das mit Leben zu erfüllen, was das Eckpunktepapier als ambitioniertes Ziel ausgegeben hat.
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Die KI-Methoden, um Schüler individuell zu fördern und Lehrkräfte zu entlasten, existieren. Doch damit sie den Unterricht wirklich verändern können, muss die Politik die Kooperation von Wissenschaft, EdTech und Bildungspraxis systematisch unterstützen. Ein Gastbeitrag von Detmar Meurers.
Detmar Meurers ist Professor für Computerlinguistik an der Universität Tübingen und leitet ab April die Arbeitsgruppe "Sprache und KI in der Bildung" am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM). Foto: IWM.
KATHARINA GÜNTHER-WÜNSCH fasste es als KMK-Präsidentin Ende 2023 klar zusammen: "Die Ergebnisse der PISA-Studie 2022 sind besorgniserregend, sie bestätigen die Befunde der IGLU-Studie sowie der IQB-Bildungstrends 2021 und 2022. Eine zunehmend heterogene Schülerschaft stellt das Schulsystem und auch die Lehrkräfte vor enorme Herausforderungen. [....] Alle sind sich einig, dass es jetzt vor allem auf die Stärkung der Basiskompetenzen ankommt."
Dass bei der Stärkung der Basiskompetenzen in einer heterogenen Schülerschaft digitale Systeme eine wichtige Rolle spielen können, liegt nach dem Strategiepapier "Bildung in der Digitalen Welt" nahe, in dem die KMK bereits 2017 festhielt: "Digitale Medien halten ein großes Potential zur Gestaltung neuer Lehr- und Lernprozesse bereit, wenn wir allein an die Möglichkeiten zur individuellen Förderung von Schülerinnen und Schülern denken."
Allerdings standen dann bei der Digitalisierung der Bildung in den vergangenen sechs Jahren vor allem die Hardwareausstattung und Internetverbindung von Schulen im Fokus sowie die medienpädagogische Vorbereitung auf eine zunehmend digitale Welt. Dieser Beitrag soll ein Weckruf sein, neben Visionen von Digitalität tatsächlich gezielt digitale Methoden zu entwickeln und systematisch zu nutzen, die konkret die eingangs identifizierten Herausforderungen der schulischen Bildung angehen. Hierfür bieten insbesondere adaptive intelligente Systeme in der Schulpraxis effektive Möglichkeiten zur individuellen Förderung der Lernenden und Unterstützung der Lehrkräfte.
Heterogenität ernst nehmen
Lernende unterscheiden sich substanziell nicht nur in ihrem fachlichen Wissen und ihren Kompetenzen, sondern auch in ihren bildungssprachlichen Fähigkeiten, kognitiven Eigenschaften, Interessen und Motivation und ihrem soziokulturellen Hintergrund. Um das Potenzial digitaler Medien zur adaptiven individuellen Förderung von Basiskompetenzen realisieren zu können, benötigt es das Zusammenspiel von Lehr-Lernforschung, Fachdidaktik und KI-Methoden (i) zur Modellierung der individuellen Lernenden und der curricularen Ziele und (ii) zur Erstellung und Auswahl von vielfältig parametrisierten Aufgaben für adaptive Lernpfade. Außerdem kommt es (iii) auf die automatische Verarbeitung von Sprache an zur Analyse sprachlicher Komplexität und dem Generieren von Feedback.
Entgegen dem medialen Hype um KI als unspezifisches Wundermittel werden KI-Methoden hier also gezielt genutzt. Dabei können traditionelle und generative KI-Methoden integriert, weiterentwickelt und evaluiert werden, um adaptive individuelle Lernpfade im realen komplexen Schulkontext zu ermöglichen. Denn dieser ist von verschiedensten Lernvoraussetzungen, pädagogischen Möglichkeiten und expliziten curricularen Lernzielen geprägt.
Feedback und Lernpfade im realen Schulkontext
Die Wirkung von individuellem Feedback während der Aufgabenbearbeitung haben wir anhand des von uns entwickelten Intelligenten Tutorsystems (ITS) FeedBook untersucht, das Übungen für die 7. Klasse Englisch mit KI-generiertem Feedback anbietet. Die Abbildung illustriert eine Rückmeldung des Systems zur Formulierung von Vergleichen, die erklärt, wie die relevanten Formen zu bilden sind.
Solche Rückmeldungen müssen nicht pro Aufgabe hinterlegt werden, sondern ergeben sich dank der KI-Methoden aus den allgemeinen Regularitäten der Sprache und dem pädagogischen Modell. Ob solches Feedback während der Aufgabenbearbeitung auch im regulären Schulkontext wirkt, haben wir in der ersten randomisierten Feldstudie mit einem ITS in deutschen Schulen untersucht. Das System wurde von allen genutzt, jedoch erhielten die in zwei Gruppen unterteilten Lernenden zu unterschiedlichen sprachlichen Mitteln – etwa zum Einsatz von Nebensätzen, Vergleichen oder Konditionalsätzen – spezifisches Feedback vom System. Der Lernerfolg bei den sprachlichen Mitteln, zu denen sie Feedback erhielten, war in den ansonsten wie üblich unterrichten Klassen um 63 Prozent höher.
Solche adaptiven Systeme können also Lehrkräfte von Routineaufgaben entlasten und der Heterogenität durch die adaptive individuelle Vorbereitung so begegnen, dass die Lernenden besser am gemeinsamen Unterricht teilhaben können – wie bei einem Orchester, bei dem jede und jeder individuell entsprechend den Fähigkeiten geübt hat, sodass bei den Proben und im Konzert der Fokus auf dem Zusammenspiel liegen kann. Die effektive Integration des individuellen Übens und des gemeinsamen Unterrichts haben wir in einer weiteren Feldstudie mit der "Interact4School" genannten Weiterentwicklung unseres ITS-Systems FeedBook untersucht und konnten zeigen, dass eine explizite Motivation des Übens als Vorbereitung für kommunikative Aufgaben in der Klasse den Lernerfolg weiter stärkt.
Weniger unter Druck, zufriedener mit der eigenen Leistung
Um die Idee von adaptiven Lernpfaden konkret zu machen, sehen wir uns eine Umsetzung im deutschen Schulkontext an, die wir gemeinsam mit der Universität Lüneburg und dem IÖB Oldenburg in dem von der Joachim Herz Stiftung geförderten ALEE-Projekt entwickelt und in einer gerade abgeschlossenen randomisierten Feldstudie in zehn Schulen in drei Bundesländern im regulären Unterricht untersucht haben. Hierfür haben wir systematisch Lernaufgaben unterschiedlicher fachlicher, sprachlicher, kognitiver Komplexität für das in den Bildungsplänen verankerte Thema "Markt und Preisbildung" entwickelt und in einer digitalen Plattform bereitgestellt. Die Hälfte jeder Klasse erhielt Aufgaben nach einer festen Liste, wie sie üblicherweise von Lehrkräften festgelegt wird; die Aufgaben für die andere Klassenhälfte wurden vom System individuell adaptiv ausgewählt. Die Abbildung links zeigt die Lösungswahrscheinlichkeiten für den Standardpfad und rechts zwei individuelle Pfade durch die vielfältig parametrisierte Aufgabenlandschaft.
Trotz der sehr unterschiedlich langen Lernpfade empfand die adaptive Gruppe das Lernen einer ersten Auswertung zufolge als interessanter, die Lernenden fühlen sich weniger unter Druck, waren mit der eigenen Leistung zufriedener und kamen weiter im Lernstoff. Ein solcher Ansatz kann also gerade die zentrale Herausforderung adressieren, für eine heterogene Gruppe die grundlegenden Kenntnisse sicherzustellen, auf denen dann die gemeinsame Arbeit in der Klasse aufbauen kann.
Zusammenfassend kann die gezielte Entwicklung und der systematische Einsatz adaptiver digitaler Werkzeuge konkrete Lösungen bieten für die Stärkung grundlegender Kompetenzen einer zunehmend heterogenen Schülerschaft. Für eine erfolgreiche Implementierung und kontinuierliche Verbesserung sollte die Politik Ansätze unterstützen, die die Verbindung zwischen Wissenschaft, Unternehmen und Bildungspraxis stärken. Zugleich sollte sie eine Finanzierung adaptiver Bildungsmedien sicherstellen und die Nutzung von Bildungsdaten für adaptive Lernförderung und dadurch eine verbesserte Bildungsgerechtigkeit ermöglichen.
Der Gastbeitrag von Detmar Meurers basiert auf dem ebenfalls von ihm verfassten Text "KI-Methoden für konkrete Herausforderungen in der Bildung“, der heute in der Reihe "Analysen & Argumente" der Konrad-Adenauer-Stiftung erscheint.
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Was die Pläne der Kultusminister zur Reform des Lehramtsstudiums tatsächlich bedeuten. Ein Gastbeitrag von Susanne Lin-Klitzing.
Susanne Lin-Klitzing ist beurlaubte Professorin für Schulpädagogik für die gymnasiale Lehrerbildung an der Universität Marburg und Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbandes. Foto: DPhV.
DIE NOT IST GROß, der Lehrkräftebedarf hoch – und je nach Land und je nach Schulart und Schulform noch einmal verschieden. Die Co-Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission, Felicitas Thiel, warnte in dieser Situation gut begründet vor der Einrichtung dualer Studiengänge, dem Perpetuieren von Sondermaßnahmen und einer weiteren Senkung der Zugangsvoraussetzungen für künftige Lehrkräfte: "Eigentlich müssten wir die Schwellen erhöhen." Doch die Kultusministerkonferenz (KMK) beschloss am 14. März:
• die Qualifizierung von Ein-Fach-Lehrkräften,
• die Möglichkeit dualer Lehramtsstudiengänge
• und ein Quereinstiegs-Masterstudium.
Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK hatte sich zuvor zwar auch für künftige Ein-Fach-Lehrkräfte ausgesprochen, aber mit dem Hinweis, dass diese sich in einem zweiten Fach berufsbegleitend universitär nachqualifizieren sollten/könnten. Ein duales Lehramtsstudien hatte die Kommission abgelehnt und für einen "Q-Master" keine unmittelbare Empfehlung gegeben.
Die Kultusminister folgten einer anderen Logik: Viele Länder haben bereits eigene Not-Maßnahmen beschlossen und wollen diese nun per KMK-Beschluss in Übereinstimmung bringen mit dem 2005 in Quedlinburg verabschiedeten "Eckpunkten für die gegenseitige Anerkennung von Bachelor- und Masterabschlüssen" in Lehramts-Studiengängen. Immerhin haben sie ihrem Beschluss vom 14. März noch Disclaimer wie diese hinzugefügt: "Die Einführung von zusätzlichen Maßnahmen bzw. Qualifikationswegen über die grundständige Lehrkräftebildung hinaus ist immer mit einer Prüfung, ob und inwieweit diese zu verstetigen sind, verbunden." Oder auch: "Die Länder bieten diese Maßnahmen je nach länderspezifischem Bedarf an". Zudem wollen die Länder einen ergänzenden Beschluss zur "Gestaltung von zusätzlichen Wegen ins Lehramt" formulieren.
Die Kultusminister laufen der
Macht des Faktischen hinterher
Statt aber der eigenen wissenschaftlichen Kommission und ihren Empfehlungen zu folgen, statt verantwortungsvoll mit Blick auf die Bildungschancen zukünftiger Generationen nach vorn tatsächlich zu gestalten, ergibt sich die KMK der scheinbaren Macht des Faktischen und läuft den Entwicklungen in den Ländern hinterher.
Neben dem regulären grundständigen Lehramtsstudium, das zwei Fächer, Erziehungs- bzw. Bildungswissenschaften und den anschließenden Vorbereitungsdienst umfasst, soll es nun als Rahmenmodell auch ein verkürztes duales einphasiges Lehramtsstudium geben mit Entlohnung bereits während des Bachelorstudiums, weil schon die Bachelorstudierenden fest an den Schulen unterrichten sollen.
Keine klaren Aussagen gibt es bislang, in welche Laufbahnen dies beamten- und tarifrechtlich in den Ländern führen soll und welche dieser länderspezifischen "Ausbildungen" in anderen Bundesländern künftig anerkannt werden.
Wegen des Lehrkräftemangels ist es eher unwahrscheinlich, dass diese "Auszubildenden" in ihrem Bachelor adäquat von Mentorinnen und Mentoren begleitet werden können. Das wäre jedoch zwingend erforderlich. Es ist offen, ob die duale Entlohnung auskömmlich sein wird, auch angesichts der Pendelei zwischen Universitäts- und Schulort, und ebenso, wie sich die Rechtssituation bei der Notengebung gestaltet, sollte ein solches "duales Lehramtsstudium" nicht erfolgreich abgeschlossen werden.
In ihrer Ländervereinbarung von 2020/2021 hatten die Kultusminister keine Standards für den Quer- und Seiteneinstieg ins Lehramt formuliert. Grundlegende Kompetenzen von Lehrkräften beschrieben sie darin bereits mit "unterrichten, erziehen, betreuen und beraten" anstatt mit "beurteilen und beraten", wie in den Lehrerbildungsstandards beschlossen, und außerdem verorteten sie die Erlangung von Studierfähigkeit explizit nicht bei den allgemeinbildenden, sondern bei den berufsbildenden Schulen. Vor diesem Hintergrund ist der KMK-Beschluss vom 14. März tatsächlich nicht überraschend, auch wenn – ich gestehe es – mein Erschrecken über diesen Offenbarungseid der KMK groß ist, einer Institution, die ein Mindestmaß an Qualität und Vergleichbarkeit über alle Länder der Bundesrepublik herstellen soll.
Verwunderlich ist jedoch selbst unter diesen Voraussetzungen, dass sich das vorliegende Beschlusspapier nicht einmal mehr auf alle Schularten bezieht, sondern ausschließlich auf die Lehrkräftebildung für die weiterführenden Schularten, auf die sogenannten Lehramtstypen 3,4 und 5. Damit wird auch für den letzten Idealisten deutlich, dass es wirklich nicht um positive Reformen geht. Weil der Mangel im Grundschullehramt offenbar dem Ende entgegengeht, die Not in den weiterführenden Schulen groß und größer wird, will man mit diesen Vorschlägen allein eine möglichst schnelle Abdeckung des Unterrichtsbedarfs an eben diesen Schularten ermöglichen.
Für das gymnasiale Lehramt scheidet
ein solches Ausbildungsmodell aus
Wie ein bereits im Bachelor unterrichtender Lehramtsstudierender seinen Schülerinnen und Schülern die laut KMK-Richtlinien erforderlichen Fähigkeiten für die Gymnasiale Oberstufe vermitteln soll, angefangen mit der Wissenschaftspropädeutik über eine vertiefte Allgemeinbildung bis hin zur Studierfähigkeit, müsste – um in "KI-Sprache" zu reden – wohl "halluziniert" werden.
Bislang umfasst ein grundständiges Lehramtsstudium 360 akademisch erworbene ECTS-Punkte, ohne Einrechnung des darauffolgenden Referendariats. Mit dem dann erreichten Masterabschluss oder Staatsexamen ist zudem die Promotionsberechtigung verbunden. Ich schließe daraus, dass ein solches Anforderungsprofil von einem im Bachelor und Master dual ausgebildeten Lehramtsstudierenden nicht erfüllt werden kann, woraus folgt, dass eine duale Lehramtsausbildung für das gymnasiale Lehramt ausscheiden muss. Konsequent wäre es außerdem in einem solchen Szenario, die reguläre Eingangsbesoldung für alle vollständig in zwei Fächern und zweiphasig ausgebildeten Lehrkräfte zu erhöhen.
Neue Konflikte sind also vorprogrammiert, wenn die Kultusminister im Juni dazu erneut tagen. Mögen sie hier weiser unterscheiden zwischen einem notwendigen internen Austausch über vorübergehende länderspezifische Maßnahmen und der grundsätzlichen Legitimation eines "Bauchladens Lehrkräftebildung" durch die KMK.
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An den Hochschulen ist das Führungspersonal aus Ostdeutschland immer noch unterrepräsentiert – wie kam es dazu? Und ändert sich das bald?
Die Bibliothek der BTU Cottbus-Senftenberg, der einzigen Hochschule in Brandenburg mit ostdeutscher Chefin. Foto: Michal Rudziak, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons.
DAS ERSTE MAL, dass Nadine Spörer sich als Wissenschaftlerin besonders ihrer ostdeutschen Herkunft bewusst wurde, war, als man sie zur Dekanin wählte. Spörer ist Professorin für Psychologische Grundschulpädagogik an der Universität Potsdam. Als sie vor zwei Jahren an die Spitze der Humanwissenschaftlichen Fakultät rückte, schaute sie sich an ihrer Hochschule und anderen um und fragte sich: Wo sind die anderen Dekan:innen und Unipräsident:innen mit Ost-Biographie? Warum sind wir so wenige? "Und da merkte ich: Die ‘Gläserne Decke’ kommt offenbar, sobald es um Führungspositionen geht."
34 Jahre sind vergangen seit der Wende, das entspricht anderthalb Professorengenerationen. Als die Mauer fiel, war Spörer 14 Jahre alt. Ihre gesamte wissenschaftliche Sozialisation fand also im wiedervereinten Deutschland statt.
Wer in irgendeiner Form in der DDR Führungsverantwortung trug, in Politik, Wissenschaft oder anderswo, ist längst in Rente oder kurz davor. Und doch ist die Macht an den Hochschulen in Deutschland immer noch so verteilt, als seien ostdeutsche Wissenschaftlerbiographien mit einem Makel behaftet.
Ostdeutsche sind statistisch unterrepräsentiert
Eine regelmäßige Auswertung des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) zeigte im Mai, dass von 163 betrachteten staatlichen Hochschulen bundesweit zuletzt nur 15 von gebürtigen Ostdeutschen, inklusive Berlinern, geleitet wurden. Vom Einwohneranteil her müssten es mehr als doppelt so viele sein.
Noch extremer ist das Bild in Brandenburg. Von den vier staatlichen Universitäten, inklusive der Filmuniversität Konrad Wolf, hat nur die Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg (BTU) mit Gesine Grande eine Ostdeutsche als Chefin. Von den vier staatlichen Fachhochschulen in der Mark keine einzige. Wie kann das sein?
Axel-Wolfgang Kahl ist Historiker und promoviert an der Universität Potsdam in einem Forschungsprojekt zur "Transformation ostdeutscher Hochschulen in den 1980/90er Jahren". Er sagt, dass nach der Wiedervereinigung tatsächlich zahlreiche Chefposten auch in der Wissenschaft neu besetzt worden seien, aber längst nicht in allen Fächern und Bundesländern gleichermaßen. "Hochschulen, die als DDR-Kaderschmieden galten, waren naturgemäß stärker betroffen, genauso wie Disziplinen mit starkem politischem Bezug wie die Juristerei, Ökonomie oder Politikwissenschaft, vormals Marxismus-Leninismus."
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Umgekehrt sei der personelle Wechsel in den ersten Jahren vielfach nicht so radikal gewesen wie vermutet. "Unser Forschungsteam stellt fest, dass bis Mitte der neunziger Jahre noch viele ostdeutsche Hochschulen und Universitäten von Ostdeutschen geleitet wurden." Das waren engagierte und politisch nicht oder kaum vorbelastete DDR-Wissenschaftler.
"Bis sie ins Pensionsalter kamen oder den Platz frei machten für die nächste Generation. Doch jüngere Ostdeutsche waren vielfach in den Westen abgewandert, verfügten nicht über die notwendigen akademischen Netzwerke und Positionen – oder hatten schlichtweg Positionen außerhalb der Wissenschaft übernommen."
Westlastig nach dem ersten Generationswechsel
Auch Gesine Grande, Jahrgang 1964 und seit 2020 Hochschulchefin an der BTU, ging nach der Wende zuerst in den Westen. Sie war 27 und in der DDR diplomierte Psychologin, als sie nach Bielefeld kam und dort, wie sie sagt, ihre wissenschaftliche Karriere ein zweites Mal startete. „Hätte ich damals den Osten nicht verlassen, wäre meine Karriere anders verlaufen“, vermutet sie. Erst nach 13 Jahren kehrte sie zurück und übernahm eine Professur an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) Leipzig, deren Präsidentin sie 2014 wurde.
Nadine Spörer fing Mitte der Neunziger Jahre ein Psychologie-Studium in Potsdam an. "Es hätte aber auch irgendwo in Westdeutschland sein können", sagt sie. "Fast alle meine Professoren, meine Mentoren, meine Vorbilder hatten einen westdeutschen oder internationalen Hintergrund."
Die Hochschulen, sagt Gesine Grande, hätten nach der Wende erstmal alle Stellen neu ausgeschrieben, die alten Professorinnen und Professoren konnten sich wieder bewerben – aber in Konkurrenz mit Forschenden aus den alten Bundesländern. "Das hatte erhebliche Auswirkungen auf die Personalstruktur, insbesondere in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern."
Doch auch an dieser Stelle, sagt Historiker Kahl, dürfe man es sich nicht zu leicht machen. Die meisten Westdeutschen seien nach der Wende aktiv von ihren ostdeutschen Kollegen hergebeten wurde, als Unterstützung bei der Entwicklung neuer Curricula oder weil sie die Erfahrung hatten mit der Beantragung von Forschungsprojekten. "Die halfen mit viel Idealismus, es gab nur wenige, die sich wie die vielzitierten Besserwisser und Kolonialherren aufgeführt haben."
Wie auch immer: Viele von denen, die bis 2000 aus dem Westen kamen, stehen nun wiederum kurz vor dem Ruhestand. Bedeutet das, dass jetzt doch bald die demografische Normalisierung auch in den Führungspositionen eintritt?
Nadine Spörer ist sich da nicht so sicher. Laut "Elitenmonitor" der Universität Leipzig seien zwischen 2018 und 2022 die Hälfte der Top-Führungspositionen neu besetzt worden, doch die Repräsentanz Ostdeutscher habe sich dadurch nur von 10,9 auf 12,3 Prozent verbessert. "Es gibt Netzwerke, die sich über lange Zeit gebildet haben, und vielen Ostdeutschen gelingt es offenbar bis heute nicht gut, Teil solcher Netzwerke zu werden. Vielleicht wollen sie es auch nicht.“
Es gibt Unterschiede im Kommunikationsstil
Menschen, die im Osten sozialisiert wurden, hätten bis heute einen anderen Kommunikationsstil, sagt Gesine Grande – "sachorientierter, eher aus der zweiten Reihe agierend, weniger auf Selbstvermarktung aus". In Bezug auf Führungspositionen komme es so zu einer Mischung aus Fremd- und Selbstselektion.
In letzter Zeit frage sie sich häufiger, sagt Nadine Spörer, wie lange es noch dauert, bis die Herkunft Ost oder West egal ist. Vielleicht, sagt die Bildungsforscherin, sei das wie beim Label "Migrationshintergrund": "Da betrachten wir auch, wo die Person selbst oder die Elterngeneration geboren wurde und aufgewachsen ist."
Doch dann müsse sie wiederum an ihre Tochter denken, die ist jetzt bald 14 – so alt, wie Spörer war, als die Mauer fiel. "Natürlich sprechen wir hin und wieder darüber, wie das in der DDR war. Aber über ein Leben ohne Digitalisierung wundert sie sich ehrlicherweise viel mehr."
Dieser Artikel erschien zuerst im Tagesspiegel.
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Die Lehrerbildung befindet sich inmitten des größten Umbruchs seit vielen Jahren. Aber schaffen es die Kultusminister, ihren Reformen eine stimmige und gemeinsame Richtung zu geben? Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK präsentiert dazu ihr lange erwartetes Gutachten.
Foto: Katerina Holmes, Pexels.
LANGE GEPLANT kommt das Gutachten jetzt mit einer Aktualität, die man sich gar nicht hat wünschen können: Drei Tage nach Bekanntgabe der historisch schlechten deutschen PISA-Ergebnisse veröffentlichte das wichtigste wissenschaftliche Beratungsgremium der Kultusministerkonferenz (KMK) am Freitagmittag seine Empfehlungen "zur Lehrkräftegewinnung und Lehrkräftebildung für einen hochwertigen Unterricht". Zuvor hatten die 16 Experten der Ständigen Wissenschaftlichen hin Kommission (SWK) ihr Gutachten in vertraulicher Runde den Kultusministern vorgestellt.
Die Vorschläge der SWK kommen auf den ersten Blick teilweise wenig radikal daher, doch würde ihre Umsetzung die Schulen in Deutschland nachhaltig verändern – und die KMK gleich mit.
Insgesamt elf Empfehlungen umfasst das Gutachten, sortiert nach vier Kapiteln. Mit die wichtigste Forderung: Es muss endlich eine vernünftige Datenbasis her. Denn bislang ist die KMK noch jedesmal von der Entwicklung der bundesweiten Schülerzahlen überrascht worden, auch hat sie die Änderungen der bildungspolitischen Rahmenbedingungen (etwa den Ausbau von Inklusion oder Ganztagsschule) nie ausreichend in ihren Modellierungen abgebildet. Im Gegensatz etwa zu den Prognosen, die der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellt hat und die fast immer näher an den tatsächlichen Lehrerbedarf herankamen.
"Sonst kommen wir nie zu einer verlässlichen Prognose"
Warum? Lange hatte die KMK ihrer Modellrechnungen zu selten aktualisiert, das immerhin hat sie inzwischen abgestellt und sammelt die Rückmeldungen der Bundesländer in jährlichem Abstand (allerdings ist aktuelle Veröffentlichung weit überfällig). Doch ändert dies laut Olaf Köller, dem Ko-Vorsitzenden der SWK, nichts daran, dass die Grundlage der KMK-Berechnungen, die Länderzumeldungen, nicht so recht zusammenpassen. "Es fehlt die Transparenz über in die Annahmen, die die Länder jeweils ihren Prognosen zugrundelegen", sagt Köller, im Hauptberuf Direktor des IPN Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und der Mathematik. "Darum müssen die Daten künftig systematisch und vergleichbar in allen Ländern erhoben werden, unter Berücksichtigung des tatsächlichen Bedarfs, und alle Länder müssen etwaige Datenlücken schließen, sonst kommen wir nie zu einer verlässlichen Prognose."
Eine solche Systematik würde freilich eine andere KMK voraussetzen: eine, die in der Lage ist, die für eine Vergleichbarkeit nötigen Datendefinitionen herzustellen und, in Form ihrer Verwaltung, des KMK-Sekretariats, dann selbstbewusst von den Ländern die nötige Datenqualität einzufordern. Was, nebenbei gesagt, nur beschleunigen würde, was die Kultusminister bei ihrem Treffen in Berlin ohnehin, je nach Bundesland und Perspektive mehr oder weniger begeistert, diskutiert haben: die überfällige grundlegende Reform der KMK, ihrer Prozesse und Verfasstheit.
Zweites großes Thema des SWK-Gutachtens: den Ausbildungserfolg der Lehramtsstudierenden erhöhen. Auch hier, das zeigte zuletzt eine Analyse des Stifterverbandes eindrucksvoll, handelt es sich zu einem guten Teil um ein Datenproblem. Viele lehrerbildende Universitäten können nämlich gar nicht sagen, wie viele ihrer Lehramt-Studienanfänger bis zum Abschluss kommen – geschweige denn, warum sie zu welchem Zeitpunkt entscheiden, doch nicht Lehrer zu werden. Von einer "großen Forschungs- und Datenlücke", die es zu füllen gelte, sprach im Sommer der Stifterverband, "denn nur auf Basis belastbarer Befunde können bildungspolitische Maßnahmen ergriffen werden, die letztendlich einen Bildungsnotstand verhindern."
Genau diese Datenlücke will die SWK schließen und fordert, die Studierbarkeit der Lehramtsstudiengänge müsse "datengestützt" verbessert werden, zudem müsse die soziale und akademische Integration in die Hochschulen gestärkt werden. Das entscheidende Mittel für beides: ein funktionierendes Qualitätsmanagement und verlässliche Abstimmungsstrukturen, die auch die erste Phase der Lehrerbildung, das Studium, mit der zweiten, dem Vorbereitungsdienst, verbinden. Beide Phasen laufen bislang oft nebeneinander, umso mehr gilt das für die dritte, die Fort- und Weiterbildung der bereits berufstätigen Lehrer.
Hoffnung Ein-Fach-Lehrer
Womit die SWK beim Kern ihrer Empfehlungen angekommen ist, der künftigen Gestaltung der Studiengänge, man könnte auch sagen: ihrer zumindest teilweisen Neugestaltung. Denn die Experten empfehlen, neben dem klassischen grundständigen Studium einen "wissenschaftsbasierten, qualifizierten zweiten Weg in den Lehrkraftberuf" zu eröffnen. Oder weniger verklausuliert formuliert: den seit einer Weile viel diskutierten Ein-Fach-Lehrer einzuführen. Genaus das hatte der Wissenschaftsrat im Sommer bereits im Sommer vorgeschlagen, allerdings nur bezogen aufs Mathematikstudium.
Das Modell der SWK ist schnell erklärt: Bewerber haben einen fachlichen Bachelor oder Master, beispielsweise in Germanistik. Dann starten sie in einen viersemestrigen Master of Education, der ihnen das gesamte pädagogische Rüstzeug mitgibt, um Lehrer zu werden: die Fachdidaktik, die Bildungswissenschaften, dazu die Praktika und einen Spezialisierungsbereich wie Digitalisierung, Inklusion, Sprachbildung oder Berufsorientierung. Nach diesem Master folgt der Übergang in ein reguläres Referendariat und anschließend die volle Lehrbefähigung – allerdings nur für ein Fach.
Berufsbegleitend soll es dann die Option geben, ein zweites Fach hinzuzustudieren – aber nicht verpflichtend. "Hier setzen wir auf die Motivation der Lehrkräfte", sagt die Berliner Professorin für Schulpädagogik, Felicitas Thiel, neben Köller Vorsitzende der SWK. Hier dürfte das Gutachten der Kommission größere Diskussionen auslösen: Andere Erziehungswissenschaftler warnen nämlich davor, dass Ein-Fach-Lehrer in den Schulen zu einseitig belastet würden, den Unterrichtsbedarf nicht ausreichend abbilden und die Stundenplanorganisation verkomplizieren könnten. Weshalb ihre Ausbildung, wenn man sie zulasse, mit der Verpflichtung einhergehen müsse, ein zweites Fach nachzuholen. Doch schon der Wissenschaftsrat hatte diese Gründe nicht als plausibel genug für eine verpflichtende Zweit-Fach-Weiterbildung erachtet.
In jedem Fall aber ist diese SWK-Empfehlung für die Schulwirklichkeit wohl die weitreichendste. Denn auch wenn es hier und da bereits gut funktionierende wissenschaftliche Aufbau-Masterprogramme gibt: Vielerorts besteht derzeit nur die Wahl zwischen dem traditionellen Lehramtsstudium und aus der Not geborenen Seiteneinsteiger-Programmen, die zwar flexibel sind, denen jedoch vielfach, wie nicht nur die SWK klagt, die Wissenschaftsbasierung fehlt. Würde es der KMK gelingen, einen Ein-Fach-Lehramt nach einheitlichen Maßstäben zu etablieren, wäre der Zugang zum Lehramtsstudium dauerhaft flexibler – auch über den aktuellen dramatischen Lehrkräfte-Mangel hinaus.
Absage an ein duales Lehramtsstudium
Für die Debatten unter den Kultusministern schon bei der Vorstellung des SWK-Gutachtens dürfte unterdessen gesorgt haben, dass die Experten einem anderen bei Bildungspolitik und lehrerbildenden Hochschulen in Mode gekommenen Reformvorhaben eine Absage erteilen: dem dualen Lehramtsstudium. "Wir können nicht verstehen, wo da eigentlich die Euphorie herkommt", sagt Felicitas Thiel. Schon außerhalb des Lehramts gelinge in dualen Studiengängen die Verschränkung von Theorie und Praxis nicht wirklich gut, hinzu komme: "Wer soll, wenn wir an manchen Schule nur noch zehn Prozent grundständig ausgebildete Lehrkräfte haben, noch nebenbei die aufwändige Begleitung dual Studierender übernehmen?"
Anders sieht das unter anderem der Wissenschaftsrat, der, schwer kritisiert unter anderem vom Deutschen Philologenverband, im Sommer seine Empfehlungen zur Zukunft des Matheunterrichts vorgelegt hatte, inklusive einem Plädoyer zur Entwicklung des dualen Studiums.
Ebenfalls keine Unterstützung von der SWK erhalten Überlegungen, komplette Lehramtsstudiengänge zumindest für die beruflichen Schulen auch an Hochschulen für angewandte Wissenschaften laufen zu lassen. "Es gibt bereits 34 Universitätsstandorte, die in der Lehrerbildung mit HAWs kooperieren", sagt SWK-Mitglied Isabell van Ackeren, Professorin für Bildungssystem- und Schulentwicklungsforschung an der Universität Duisburg-Essen, die an der Ausarbeitung des Gutachtens maßgeblich beteiligt war. Um ausreichend wissenschaftsbasiert und berufsfeldbezogen zu sein, sagt sie, würde die Abwicklung eines kompletten Lehramtsstudiums aber erhebliche zusätzliche personelle Ressourcen und organisationale Strukturen an den HAWs erfordern. "Das halten wir nicht für zielführend, weitere Kooperationen hingegen schon."
Wofür die SWK sich indes ausspricht: die Einführung sogenannter Assistenz-Lehrkräfte, die auf der Grundlage eines Bachelorabschlusses und einer Weiterqualifizierung an die Schulen kommen könnten. Ohne Berechtigung zum eigenständigen Unterricht, aber in Anbindung und zur Unterstützung an eine voll qualifizierte Lehrkraft. Eine Idee, die so ähnlich schon vor zwei Jahrzehnten mit der Einführung der Bologna-Studiengänge im Lehramt diskutiert wurde, sich aber nie hat durchsetzen können.
Zweite Chance für die Assistenz-Lehrkraft?
"Anders als damals gibt es jetzt aber ein funktionierendes Vorbild aus der Medizin, den Physician Assistent als zusätzliche Karriereoption für Pflegekräfte", sagte Felicitas Thiel. "Das hat macht uns optimistisch, dass wir es jetzt auch in der Lehrerbildung schaffen, in einem vielfältigeren System von Karrierewegen zu denken, mit unterschiedlichen Verantwortlichkeiten in der Schule, aber immer auf Augenhöhe." Eine Debatte darüber, so Thiel, sei überfällig – auch um klare Kriterien und Kompetenzen festzulegen.
Apropos klare Kriterien: Länder wie Brandenburg etablieren bereits neue, stark umtstrittene Lehrer-Laufbahnen auf Bachelorebene – allerdings dann mit vollständiger Lehrbefähigung. "Genau das wollen wir nicht", betont Thiel – wohl ahnend, dass die SWK-Vorschläge genau mit solchen Modellen in einen Topf geworfen werden könnten, etwa von den Lehrergewerkschaften.
Und sonst? Schlagen die SWK-Experten vor, den Vorbereitungsdienst einheitlich auf zwölf Monate zu verkürzen, allerdings nur unter Voraussetzung eines Gesamtkonzepts, das wie gefordert erste und zweite Phase und Berufseinstieg sowie Theorie und Praxis besser verknüpft, vor allem in Form eines über die Phasen hinweg kohärenten Curriculums, das außerdem Mentoren und Fachseminarleiter wissenschaftsbasiert qualifiziert und die Unterrichtsverpflichtung während Referendariat und Berufseinstieg möglichst gering hält.
Außerdem fordert die Kommission einen ländergemeinsamen Qualitätsrahmen für ein in sich stimmiges, qualitätsgesichertes Forbildungssystem, von dem die SWK das Bildungssystem trotz einer (theoretischen) Fortbildungsverpflichtung in allen Ländern weit entfernt sieht. Stichworte sind hier zertifizierte Module der wissenschaftlichen Weiterbildung etwa für ein weiteres Unterrichtsfach in Mangelfächern, für andere Unterrichtsbereiche, für eine sonderpädagogische Fachrichtung oder zur Nachqualifizierung für eine andere Schulform, außerdem der Ausbau von Master- und Promotionsstudiengänge etwa für Leitungspositionen und Koordinationsfunktionen.
Dicke Bretter, klare Ansagen
Dicke Bretter und klare Ansagen – in dem, was die SWK gut heißt, genauso aber, wovon sie abrät. Jetzt ist es an der Bildungspolitik. Im März wollen die Kultusminister ihren eigenen Aufschlag zur Zukunft der Lehrerbildung beschließen, auf der Grundlage des SWK-Gutachtens und weiteren Papieren wie den Empfehlungen des Wissenschaftsrats zum Mathestudium. Auch der Stifterverband hatte vor wenigen Wochen einen ambitionierten Reformkatalog vorgelegt.
Vieles von dem Vorgeschlagenen, werden die Kultusminister argumentieren, gebe es schon. Stimmt. Allerdings, und das ist der entscheidende Punkt der SWK-Experten, fehlt derzeit zweierlei in der deutschen Lehreraus- und weiterbildung: Stimmigkeit und Systematik. Beides will das neue Gutachten erreichen. Ob die KMK ihm folgen kann, selbst wenn die Kultusminister es wollten? So, wie sie im Augenblick ist, an vielen Stellen vermutlich nicht. Ein Grund mehr, sie zu reformieren.
Nachtrag am 08. Dezember, 12.45 Uhr:
Was die Kultusminister zum SWK-Gutachten sagen
Von einer "klaren Positionierung für hohe Qualitätsstandards in der Lehrkräftebildung", sprach KMK-Präsidentin Katharina Günther-Wünsch (CDU), im Hauptberuf Berliner Bildungssenatorin. "Die Kultusministerkonferenz wird sich eingehend mit den vorgeschlagenen Empfehlungen auseinandersetzen und entsprechende Maßnahmen formulieren." Zur Absage der SWK an ein duales Lehramtsstudium sagte Günther-Wünsch, der Begriff der Dualität sei ungünstig gewählt. Nichts desto trotz gebe es Debatten in den Bundesländern über die Verkürzung der Studiendauer und Verknüpfung der Praxisanteile, und man werde darüber nun mit der SWK weiterdiskutieren, vielleicht dann unter einer anderen Überschrift als "duales Studium".
Hamburgs Schulsenator Ties Rabe, der die SPD-Bildungspolitik in den Ländern koordiniert, sagte: "Die Idee, neben dem klassischen Lehramtsstudium einen zweiten Weg mit einem neuen Studiengang in den Lehrberuf zu eröffnen, erschließt ganz neue Chancen für Studierende." Die Verkürzung des Referendariats durch eine bessere Verzahnung von Studium und Praxis sollte sorgfältig geprüft werden.
Rabes Gegenüber auf CDU-Seite, Hessens Kultusminister Alexander Lorz, sagte, er begrüße insbesondere die Ansätze, "neue Personengruppen für den Beruf als Lehrkraft zu erschließen, ohne dabei den Qualitätsanspruch aus dem Blick zu verlieren". Die etablierte und qualitätsgesicherte grundständige Ausbildung unserer zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer durch alternative Formen zu gefährden, lehnt die SWK ab. "Dem schließe ich mich an."
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Am Donnerstag treffen sich die Kultusminister. Die Bildungswissenschaftlerin Felicitas Thiel warnt sie vor der Einrichtung dualer Lehramtsstudiengänge, dem Perpetuieren von Sondermaßnahmen und einer weiteren Senkung der Zugangsvoraussetzungen für künftige Lehrkräfte: "Eigentlich müssten wir die Schwellen erhöhen".
Felicitas Thiel ist Professorin für Schulpädagogik und Schulentwicklungsforschung an der Freien Universität Berlin und Ko-Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz. Foto: Janetzko/SWK..
Frau Thiel, am Donnerstag berät die Kultusministerkonferenz (KMK) erneut über die Reform der Lehrkräftebildung. Grundlage ist ein Konzept, das die Kommission Lehrkräftebildung vorlegt. Finden Sie als Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK), dass Ihre Empfehlungen aus dem Dezember genügend wertgeschätzt werden?
Gut finde ich, dass die KMK wieder über die Qualität in der Lehrkräftebildung redet und nicht allein über Quantität, um dem Personalmangel zu begegnen. Ebenso erfreulich ist, dass die KMK sich in unseren Gesprächen eindeutig zur Wissenschaftsorientierung in den Lehramtsstudiengängen bekannt hat. Was uns sorgt: dass die Kultusminister möglicherweise vorhaben, den bunten Strauß an Sondermaßnahmen, den jedes Land für sich zur Bewältigung des Mangels etabliert hat, bestehen zu lassen. Das Ziel darf aber mittelfristig nicht sein, den Zugang zum Lehrerberuf so weit offen zu halten, dass sich fast jeder und jede dafür qualifiziert. Wir brauchen die besonders geeigneten, die wirklich an dem Beruf interessiert sind. Denen müssen wir es einfach machen. Aber nur denen.
"Die Kultusminister haben bisher alles offen gelassen."
Wie kommen Sie darauf, dass die Kultusminister die Sondermaßnahmen beibehalten wollen?
Die Kultusminister haben in ihren Aussagen bisher alles offen gelassen, auch die Frage zum dualen Studium, das die von uns aufgeworfene Qualitätsfrage sogar noch verschärfen würde – zumindest wenn damit ein duales Studium schon im Bachelor gemeint sein sollte.
Was aber ist denn schlimm daran, in Zeiten des massiven Lehrkräftemangels die Tore möglichst weit zu öffnen?
Eine internationale Studie von Erik Hanushek zeigt, dass ein deutlicher Zusammenhang besteht zwischen der Gewinnung leistungsstarker Lehrkräfte und dem Lernerfolg von Schülerinnen. Ökonomen warnen deshalb zurecht davor, dass eine Senkung der Zugangsanforderungen unweigerlich auch Personen anzieht, die weniger leistungsbereit und weniger motiviert sind. Damit sinkt das Berufsprestige und im schlimmsten Fall wird der Mangel sogar perpetuiert. Deshalb müssten wir eigentlich genau das Gegenteil tun: Die Zugangsschwellen erhöhen, Eingangstests vorschalten und attraktive Aufstiegschancen für die besonders Leistungsbereiten eröffnen.
Mit dem Ergebnis, dass wir noch weniger Lehrer hätten?
Mit dem Ergebnis, dass wir den Beruf womöglich für Zielgruppen spannend machen, die ihn derzeit meiden. Estland, eines der erfolgreichen PISA-Länder, hat genau diese Strategie in einer Mangelsituation verfolgt. Außerdem sollten wir die Fakten zur Kenntnis nehmen. Es ist ja inzwischen deutlich, dass an den Grundschulen der Lehrkräftebedarf in den nächsten Jahren deutlich zurückgeht. Deshalb sollte sich die Politik gerade hier nicht vom Mangel treiben lassen. Demografiebedingt sinkt zugleich die Zahl der Studienbewerber, die an den Universitäten aufgebauten Kapazitäten sind also nicht mehr ausgelastet und könnten für Qualitätsverbesserungen eingesetzt werden. Auch das ein Argument gegen ein duales Studium. Und es gibt weitere.
"Ich frage mich schon, warum die Kultusminister unter diesen Voraussetzungen ausgerechnet dem dualen Studium einen so zentralen Stellenwert einräumen"
Zum Beispiel?
Bildungswissenschaften und Fachdidaktiken haben an den Universitäten mit Mitteln der Qualitätsoffensive Lehrerbildung digital gestützte Lernsettings und Simulationen zur Praxisvorbereitung entwickelt, weil Praxiserfahrung nicht nur wissenschaftlich begleitet, sondern auch vorbereitet werden muss. Sollen wir darauf wirklich verzichten? Im Übrigen: Schauen Sie an Brennpunktschulen in Berlin und anderswo, wo 80 Prozent der Neueinstellungen Lehrkräfte ohne Lehrbefähigung sind. Wenn dann noch die dualen Studierenden dazu kämen, wer sollte die alle begleiten? Schon jetzt haben wir in einigen Ländern die absurde Situation, dass Bachelorstudierende, die als Vertretungslehrkräfte arbeiten, ihre Master-Kommilitonen im Praxissemester als Mentoren begleiten. Ich frage mich schon, warum die Kultusminister unter diesen Voraussetzungen nun ausgerechnet dem dualen Studium einen so zentralen Stellenwert einräumen.
Noch ist ja nichts entschieden.
Weshalb ich hoffe, dass man das nochmal überdenkt. Als SWK haben wir andere Möglichkeiten vorgeschlagen, um das Lehramtsstudium flexibler zu machen, und das bei hoher Qualität. Vor allen Dingen kann der Ein-Fach-Master ein guter Weg sein, um pragmatisch und schneller als bislang den Bedarf an Lehrkräften zu decken, insbesondere an den nichtgymnasialen Brennpunktschulen. Die schon bestehenden Quereinstiegs-Master zeigen die hohe Nachfrage nach solchen Angeboten, teilweise müssen Interessierte abgewiesen werden, weil sie kein zweites Fach nachweisen können. Die Universitäten sind in der Lage, innerhalb von zwei Jahren Studierende mit einem Fach wissenschaftsbasiert so zu qualifizieren, dass sie erfolgreich durchs Referendariat kommen, in den Schulen starten und parallel zum Unterrichten das zweite Fach dazu studieren. Ein Drittel der Menschen entscheiden sich im Laufe ihres Berufslebens, den Beruf zu wechseln und der Lehrerberuf ist allen Unkenrufen zum Trotz ein sehr attraktiver Beruf. Da liegt also ein Riesenpotenzial.
Nur um dem Lehrkräftemangel zu begegnen?
Das wäre zu wenig. Der Ein-Fach-Master hat das Potenzial, ein vollwertiger zweiter Weg ins Lehramt zu werden. Er schafft ein atmendes System, das in Phasen des Lehrkräftemangels wie des Überschusses anpassungsfähig ist. Außerdem, auch das ein wichtiger Punkt, wird die deutsche Lehrerbildung dadurch anschlussfähiger an die internationale Praxis. In den meisten Ländern sind Ein-Fach-Modelle üblich. Wir könnten also ausländische Lehrkräfte viel schneller in unsere Schulen integrieren und auf regulärem Wege berufsbegleitend weiterbilden.
Der Ein-Fach-Master wird in der KMK auch ausführlich diskutiert.
Wie viele andere sinnvolle Vorschläge, die SWK, Wissenschaftsrat, Stifterverband und andere in den vergangenen Monaten gemacht haben. Dass die Kultusminister sich zunächst einmal die Empfehlungen herauspicken, die den Mangel adressieren, war erwartbar, sie können ja auch nicht alles gleichzeitig beschließen. Wichtig ist allerdings, dass weitere wichtige Reformen nicht aufgeschoben werden und die Minister dann auch zügig zu den anderen großen Baustellen kommen. Neben dem Ein-Fach-Master fällt der gesamte Komplex um Fort- und Weiterbildung darunter, die Planung und Finanzierung sinnvoller Angebote, und ganz wichtig, die Rekrutierung und Ausbildung derjenigen, die sie durchführen sollen. Und dann ist da das Thema Mobilität, das dringend geklärt werden muss. Es ergibt keinen Sinn, jetzt in Land A neue Studiengänge aufzubauen, dual oder nicht, die dann in Land B nicht anerkannt werden. Eigentlich müsste die Mobilitätsfrage vor allen anderen geklärt werden. Nicht zu vergessen: Sowohl SWK als Wissenschaftsrat haben die unzureichende Verzahnung von Theorie und Praxis der Lehrkräftebildung angemahnt. Es kann nicht sein, dass in der zweiten Phase, dem Referendariat inhaltlich völlig Anderes gemacht wird als in Phase eins, dem Studium. Genauso wenig sinnvoll ist, wenn sich exakt die gleichen Inhalte wiederholen. Beides kommt vor. Wir brauchen ein phasenübergreifendes Curriculum und hier sind auch die Fachverbände gefragt.
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Nach einer externen Evaluation mit erschreckendem Ergebnis beschließen die Kultusministerinnen und -minister der 16 Länder Eckpunkte für eine Reform der Kultusministerkonferenz. Hat der Beschluss das Zeug, aus der KMK eine agile Organisation zu machen, die in der Lage ist, auf aktuelle Herausforderungen zu reagieren?
Bild: Gerd Altmann / Pixabay.
ALS DIE KULTUSMINISTERKONFERENZ (KMK) im Herbst 2022 beschloss, sich selbst von einer Unternehmensberatung durchleuchten zu lassen, war die Skepsis groß. "Es gibt genügend Expertise, die seit Jahrzehnten Lösungen vorschlägt", die aber "überhört, ignoriert wird", meinte etwa der bekannte Rostocker Schulpädagogik-Professor Falk Radisch. "Nun ja, dann jetzt also neoliberale Ökonomisierung des Bildungssektors auf dieser Ebene. Traurig."
Als ein Jahr später die Evaluationsergebnisse an die Öffentlichkeit durchsickerten, redete freilich kaum noch einer davon, dass sie von einem Schweizer Wirtschaftsforschungsunternehmen stammten. Zu atemberaubend las sich, was "Prognos" da in seiner schonungslosen Analyse präsentierte: 177 Gremien unter dem Dach der KMK, die 2022 insgesamt fast 600 Mal im Jahr konferierten unter Beteiligung von 1.300 Einzelpersonen.
Doch führte diese Vielzahl kaum zu Synergieeffekten, denn die allermeisten saßen jeweils in nur einem einzigen Gremium, wie "Prognos" außerdem feststellte. Man tagte also nebeneinander her, noch dazu meist ohne Beschlussmacht: 434 der 595 Sitzungen fanden 2022 in den 123 sogenannten AGs statt, die irgendwann einmal zu irgendeinem Zweck eingesetzt wurden.
Für politisch-akute Themen nicht geeignet
Und die Minderzahl der KMK-Gremien, die konkrete Beschlusskompetenzen hatten, brauchten extrem lang dafür. Die "strukturbedingt langen Entscheidungszyklen" führten dazu, dass die Beschlussvorlagen sich vom Beratungsbeginn bis zu ihrer Verabschiedung zwischen den Gremien im Kreis bewegten, worüber üblicherweise mindestens neun Monate vergingen. "Für politisch-akute Themen nicht geeignet", befanden die Evaluatoren.
Es ging allerdings noch krasser: Weitere 59 Sitzungen, mehr als eine pro Woche, entfielen auf 29 weitere AGs, die sich sogar ohne Einsetzungsbeschluss von oben einfach selbst gebildet hatten. Und als sei das nicht genug, kamen neue Gremien beständig hinzu: Allein im Jahr 2022 ein Dutzend.
Ausgerechnet in einem dieser in jüngster Zeit hinzugekommenen Gremien dürften sie angesichts des "Prognos"-Leaks nicht nur unglücklich gewesen sein: die Mitglieder der eigens eingesetzten Strukturkommission II zur "Weiterentwicklung der Kultusministerkonferenz sowie des Sekretariats". Hatten sie doch genau deshalb für die Beauftragung einer externen Unternehmensberatung plädiert: um den nötigen Veränderungsdruck zu erzeugen, den man von innen heraus so meist nicht hinbekommt.
Kultusministerien ziehen Konsequenzen
Ein Beben mit Folgen: Vergangene Woche, bei ihrem Treffen in Berlin, haben die Kultusministerinnen und Kultusminister aller 16 Länder die Konsequenz gezogen. Sie einigten sich nach langen, teilweise hitzigen Diskussionen auf den Einstieg in einen Reformprozess, der, wenn man den Beteiligten glauben darf, einer grundlegenden Neuaufstellung einer Institution gleichkommen würde, die nächstes Jahr ihren 76. Geburtstag feiert und damit älter ist als die Bundesrepublik.
Zeit würde es: In den vergangenen Jahren hat die KMK zwar schon vieles, was lange unmöglich erschien, geschafft. Sie hat ein neues Länderabkommen für eine verbindlichere Zusammenarbeit verabschiedet, sie hat sich mit der "Ständigen Wissenschaftlichen Kommission" ein unabhängiges wissenschaftliches Beratungsgremium gegeben, sie hat für die Kulturpolitik eine weitgehend eigenständige Kulturministerkonferenz geschaffen. Doch abgesehen von ein bisschen Kosmetik hat sich die KMK dabei an sich selbst, an ihre eigene Verfasstheit und Prozesse, nicht herangetraut.
Bis vergangene Woche. Aus den zwölf im Abschlussbericht der "Prognos"-Berater enthaltenen Empfehlungen hat die Strukturkommission sieben Eckpunkten abgeleitet, die die Kultusminister jetzt wiederum per Beschluss zu ihrem Reformbekenntnis gemacht haben.
Die Kultusministerinnen und -minister hätten "jetzt die Chance, die notwendigen politischen und strukturellen Veränderungen vorzunehmen, um eine funktionsfähige Kultusministerkonferenz für die Zukunft zu entwickeln", sagte KMK-Präsidentin Katharina Günther-Wünsch, im Hauptberuf CDU-Bildungssenatorin von Berlin.
Zu wenig systematische Steuerung
Tatsächlich waren sich nämlich auch die Kultusministerien sehr bewusst, was sie mit der Beauftragung von "Prognos" lostreten würden. Denn obgleich die Unternehmensberater die KMK-Organisationsmängel selten prägnant auf den Punkt brachte, neu waren sie den meisten Kennern des real existierenden Bildungsföderalismus kaum.
Etwa dass der KMK bei all ihrer Gremienvielfalt die strategische Steuerung fast völlig abgeht. Das Präsidium trifft sich in Normalzeiten nur einmal im Monat, während die Verwaltung der Kultusministerkonferenz, das KMK-Sekretariat, personell auf dem Kopf steht: Von den gut 414 Vollzeit-Planstellen entfallen laut "Prognos"-Zählung überhaupt nur 78 auf die drei Abteilungen, die für die gesamte föderale Koordination in Schule, Hochschule Wissenschaft, Kultur, Qualitätssicherung, Internationales und Statistik verantwortlich sind. Und nur 4,7 Stellen davon sind für führende und übergreifende Aufgaben vorgesehen.
Das bedeutet keineswegs, dass die übrigen über 300 KMK-Mitarbeiter nicht gebraucht würden, leisten sie doch in der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen (ZAB) grundlegende Arbeit bei der Bewertung von im Ausland erworbenen Qualifikationen, oder sie gehören zum Pädagogischen Austauschdienst (PAD). Doch überdeckt die vermeintlich große Gesamtmitarbeiterzahl der KMK ihre dramatische strukturelle Schwäche genau an der Stelle, wofür sie in der Öffentlichkeit steht: bei der Gestaltung einer länderübergreifenden Bildungspolitik.
"Versäult" sei das KMK-Sekretariat, kritisierten die Berater, "mit wenig horizontaler Zusammenarbeit und Informationsaustausch", die kleinteilige Aufgabenzuordnung und der Zuschnitt der Organisationseinheiten böten "wenig Flexibilität und Steuerungsmöglichkeit", das Wissensmanagement sei dezentral und konzentriere sich auf Fachwissen. Und dann mangele es in den Kernprozessen auch noch an technischer Unterstützung.
Auf die wichtigen Themen konzentrieren
All das hat weitreichende Folgen für die Entscheidungsprozesse. Die Tagesordnung der Kultusministerkonferenz entstehe zum großen Teil "Bottom Up", resümieren die "Prognos"-Berater nach einer Vielzahl von Gesprächen, die sie in den Landesministerien, im KMK-Sekretariat und drumherum geführt haben. Es gebe "wenig systematische Steuerung oder Priorisierung von Beratungsgegenständen". Anders gesagt: Die Arbeitsebene spült zur Entscheidung nach oben, was sie für relevant hält, und die Chefs sollen sich dann damit beschäftigen.
Entsprechend betonte der Hamburger Bildungssenator Ties Rabe, der die Bildungspolitik der SPD-regierten Länder koordiniert, nach dem KMK-Reformbeschluss vergangene Woche: "Ziel muss es sein, dass wir uns stärker auf die wichtigen Themen konzentrieren und nicht im Kleinkram ersticken." Deshalb müsse die Vielzahl der Arbeitsgruppen reduziert werden, und auch die Zahl der Projekte und Themen müsse verringert werden.
Und in noch eine organisatorische Wunde der KMK legten die "Prognos"-Berater ihren Finger: in das unausgegorene Nebeneinander der Bereiche Schule, Hochschule und Wissenschaft. Der Bereich Schule dominiere die KMK-Beratungen, es gebe unklare Prioritäten für Beratungen zu Hochschulen. Die gegenwärtige Teiltrennung zwischen Schule und Hochschule werde als "nicht funktional beschrieben", berichtet "Prognos".
Einrichtung einer eigenen Wissenschaftskonferenz
Aus einer ähnlichen Schieflage heraus hatten sich die für Kultur zuständigen Minister in der KMK bereits 2019 ihre eigene Konferenz mit weitgehender Eigenständigkeit gesichert. Entsprechend waren jetzt die Wissenschaftsminister mit die ersten, die bei dem in Berlin beschlossenen Reformprozess Nägel mit Köpfen machen wollen. Überwiegend begeistert griffen sie den zweiten der sieben Eckpunkte der Strukturkommission auf: die Einrichtung einer eigenen Wissenschaftsministerkonferenz "mit eigenem (nicht notwendigerweise jährlich wechselndem) Vorsitz und Präsidium und separaten Beratungsstrukturen, deren Zeitplan mit den Teilnahmeverpflichtungen von Wissenschaftsministerinnen und -ministern an anderen Konferenzen (GWK, Wissenschaftsrat) abgestimmt ist".
Entweder analog zur bestehenden Kulturministerkonferenz unter dem Dach der KMK "mit dem Sekretariat als zentraler Unterstützungseinheit (aber mit einer separaten Unterstützungsstruktur Hochschule und Wissenschaft)". Oder aber, was die Extremlösung wäre, völlig losgelöst von der KMK.
So weit wird es aller Voraussicht nach nicht kommen, aber schon die Tatsache, dass dies diskutiert wurde, zeigt die Radikalität, die inzwischen eingezogen ist in die Reformdebatte: Die Loslösung der Wissenschaft würde faktisch das Ende der bisherigen KMK bedeuten. Von einer "Revolution statt Evolution in der KMK", sprach schon einmal Bayerns CSU-Wissenschaftsminister Markus Blume, dessen Ministerium zusammen mit Hamburg den Vorsitz in der Strukturkommission führt. "Wir müssen schneller, agiler und politischer werden. Gerade die Einrichtung einer eigenen Wissenschaftsministerkonferenz ist ein wichtiger Schritt, um den wissenschafts- und hochschulpolitischen Themen eine deutlich höhere Eigenständigkeit und Sichtbarkeit zu geben."
KMK-Präsidentschaft über mehrere Jahre?
Dem "Prognos"-Gutachten folgend beschlossen die Kultusminister außerdem unter anderem eine Verschlankung der Gremienstruktur, ein Monitoring für KMK-Beschlüsse und "ein adäquat aufgestelltes Sekretariat", das zum zentralen "Wissens-Hub", "der für die Länder Fach- und Prozesswissen vorhält", weiterentwickelt werden soll.
Ein besonders heißes Eisen fassen die Eckpunkte unter Punkt 3, "Strategiefähigkeit erhöhen", an: Für die Einführung einer strategischen Arbeitsplanung, heißt es da, erscheine "eine Weiterentwicklung der Präsidiums- /Vorsitzstrukturen notwendig. Diese sollen eine längerfristige Ausrichtung und ein politisches Controlling der Vorhaben ermöglichen." Eine KMK-Präsidentschaft, die über mehrere Jahre reicht und sich politischer definiert – so lautet eine der wichtigsten von KMK-Kritikern immer wieder vorgetragene Forderung. Offenbar ist man auch dafür in der KMK endlich offen – oder noch nicht alle Kultusministerinnen und Kultusminister haben die Sprengkraft des von ihnen beschlossenen Absatzes erkannt.
Keine Aussage findet sich indes zu einer Aufweichung oder Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in finanzwirksame und vielen Grundsatzfragen, das in der Vergangenheit oft zu wenig ambitionierten Beschlüssen führte. Weil dies, wie Skeptiker sagen, mindestens einen Staatsvertrag, womöglich aber eine Grundgesetzänderung erfolgen würde? Nein, ist aus der Strukturkommission zu hören – weil, wenn die Gremienstrukturen erstmal umgebaut sind, die Abstimmungsprinzipien automatisch drankämen. Genau wie sich mit der Neustrukturierung des KMK-Sekretariat zwangsläufig nach Rolle, Auswahl und Amtszeit künftiger Generalsekretäre stelle.
Und auch wenn die Eckpunkte in Teilen noch abstrakt klingen mögen, vor allem unter 7, beim weiteren Vorgehen, sind sie außerordentlich konkret: Im März bereits soll ein erstes Umsetzungskonzept das KMK-Ministerplenum passieren, so dass "jedenfalls" die Wissenschaftsministerkonferenz schon zum 1. Juli 2024 kommen könne.
Dass es sich dabei um ein Mindestziel handelt, lässt sich auch daran erkennen, dass die KMK bei der Struktur- und Organisationsveränderung in Gremien und Sekretariat inklusive "Umsetzungscontrolling und -begleitung" plant. Womit offenbar erneut die Beauftragung einer externen Agentur gemeint ist. Man ist, so scheint es, auf den Geschmack gekommen.
Dieser Artikel erschien heute zuerst im Deutschen Schulportal.
Ein Resolution zu PISA, ein Aktionsplan gegen Antisemitismus und eine realistischere Lehrkräfte-Prognose
In Reaktion auf die mauen deutschen PISA-Ergebnisse sprachen sich die Kultusminister in einem Beschluss für neun Maßnahmen aus, darunter der Vorrang für die Vermittlung der Bildungssprache Deutsch "für alle Fächer und Lernbereiche", Sprachstandsfeststellungen vor dem Schulbesuch "und bei entsprechendem Bedarf verbindliche Sprachförderung vor der Einschulung". Außerdem müssten die Konzepte zum Unterricht Deutsch als Zweitsprache auf den Prüfstand gestellt werden, eine entsprechende Expertenanhörung befinde sich bereits in Vorbereitung. Die Kernfächer und die basalen Kompetenzen müssten in der Schule insgesamt gestärkt werden. Die Digitalisierung des Systems Schule sei prioritär und beschleunigt umzusetzen, weshalb die Länder von der Bundesregierung "schnellstmöglich verbindliche Finanzierungszusagen" zur Fortsetzung des Digitalpakts erwarteten.
Schließlich bekannten sich die Kultusminister einmal mehr zu einer "kohärenten Gesamtstrategie Bildungsmonitoring" inklusive der Beteiligung an internationalen und nationalen Vergleichsstudien und Durchführung von Tests und Lernstandserhebungen als "notwendige Grundlage für eine evidenzbasierte Schul- und Unterrichtsentwicklung" (wissend, dass viele von ihnen in den vergangenen Jahren und vor allem in der Corona-Pandemie genau beim Monitoring vieles haben schleifen lassen). Bei der Neugestaltung der Lehrkräftebildung müsse die Vermittlung von Konzepten der sprachlichen Bildung und Sprachförderung "Bestandteil aller Phasen der Lehrkräftebildung sein" und weiterentwickelt werden. Um Risikoschüler gezielt zu erreichen, müsse das von Bund und Ländern geplante Startchancen-Programm als ein Baustein für Schulen in besonders herausfordernden Lagen schnellstmöglich umgesetzt wird.
Mit reichlich Verspätung beschloss die KMK zudem die – eigentlich jährliche – Modellrechnung zur voraussichtlichen Entwicklung des Lehrkräftebedarfs und –angebots. In der Summe der Berechnungen der einzelnen Länder stehen demzufolge einem Einstellungsbedarf von 463.000 in den Jahren 2023 bis 2035 lediglich 395.000 fertige Lehrer gegenüber, folglich ergebe sich eine rechnerische Differenz in Höhe von 68.000 Lehrkräften. Wobei die KMK sofort betont, eine derartige Differenz lasse "keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Lehrkräfteversorgung – insbesondere
auch auf den tatsächlichen Lehrkräftemangel zu". Erst ab Beginn der 2030er Jahre wird jetzt eine spürbare Entspannung erwartet. Bei ihrer Modellrechnung im März 2022 war die KMK noch von einer Unterversorgung von 23.400 ausgegangen – für den Zeitraum 2021 bis 2035.
Mit der auf 68.000 hochgeschnellten rechnerischen Lücke nähert sich die KMK nun erstmals den Prognosen des Essener Bildungsforschers Klaus Klemm an, dessen Vorhersagen in den vergangenen Jahren deutlich näher an der dann jeweils eingetroffenen Realitäten gelegen hatten. In seiner jüngsten Vorausberechnung 2022 hatte Klemm die Lücke bis 2035 mit 85.000 Lehrkräften beziffert. Der Prognosezeitraum der KMK sei nicht ganz identisch, doch sehe er mit Genugtuung, sagt Klemm, dass viele Kultusministerien nun realistischer und präziser in ihren Annahmen würden. "Aber nicht alle. Es fällt auf, dass einige Länder es sich immer noch zu einfach machen. Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein zum Beispiel sagen für das Angebot an Berufseinsteigern im Sekundarbereich I jedes Jahr zwischen 2023 und 2025 dieselbe Zahl vorher. Das ist aus der Luft gegriffen."
Wie bei der außerordentlichen Sitzung der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) Ende November angekündigt verabschiedeten die Landeswissenschaftsminister einen zehn Punkte umfassenden Aktionsplan gegen Antisemitismus und Israelfeindlichkeit, dem sich auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) anschloss. Darin bekräftigen sie unter anderem ein Nein zu Antisemitismus in jeder Form, jüdische und israelische Studierende und Mitarbeitende müssten sich an den Hochschulen sicher fühlen können. Die Hochschulen werden ermuntert, die Antisemitimus-Definiton der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken als Grundkonsens zu übernehmen, außerdem seien sie aufgerufen, Foren zur interkulturellen und interreligiösen Begegnung sowie kritisch-friedlicher Reflexion zu etablieren, wo diese noch nicht bestünden. Die Lehre und Forschung zu Israel, Judaistik und Antisemitismus sollten ausgebaut werden, und: "Wir ermutigen die Hochschulen, den Austausch mit jüdischen Gemeinden und Studierendenvereinigungen zu vertiefen und bestehende Kooperationen mit israelischen Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen zu fördern."
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Deutschlands Neuntklässler erreichen bei der neuen PISA-Studie historisch niedrige Testwerte. Was das bedeutet – und warum ein neuer PISA-Schock vermutlich trotzdem ausbleiben wird.
Illustration: Venita Oberholster / Pixabay.
ERINNERT SICH noch jemand an die Aufregung nach der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie 2000? Sie war so außerordentlich und so nachhaltig, dass das Narrativ vom "PISA-Schock" prägend wurde für die deutsche Bildungsdebatte der Nullerjahre. Und einen ungeahnten Bildungsaufbruch markierte.
22 Jahre später ist es passiert. Nach einem langsamen, mühsamen, aber bemerkenswerten Aufstieg bei den Schülerleistungen bis Mitte der Zehnerjahre folgte der umso rasantere Abstieg. Und jetzt, bei den am Dienstagvormittag veröffentlichten Ergebnissen der achten Pisa-Studie, haben Deutschlands Neuntklässler in zwei von drei getesteten Kompetenzbereichen mit der historisch schlechtesten Punktzahlen abgeschnitten, schlechter noch als bei PISA 2000, und im dritten nur knapp über den damaligen Werten.
Das bedeutet, dass die heute 15-Jährigen im Schnitt maximal so lesen, rechnen und naturwissenschaftliche Probleme bearbeiten können wie ihre Altersgenossen vor zwei Jahrzehnten. Was damals, siehe oben, einen enormen bildungspolitischen Veränderungsdruck erzeugte. Und heute? Dazu später mehr. Zunächst die wichtigsten Ergebnisse von PISA 2022 im Überblick
o In Mathematik erreichten Deutschlands 15-Jährige 475 PISA-Punkte, satte 25 weniger als vor vier Jahren. 30 Punkte entsprechen Bildungsforschern zufolge etwa dem Lernstoff eines Schuljahres. Damit liegt Deutschland nur noch drei Punkte über dem OECD-Schnitt, was im Gegensatz zu 2018 statistisch nicht mehr bedeutsam ist. Von den erreichten Höchstwerten Mitte der Zehnerjahre haben sich die Schüler inzwischen rund 40 PISA-Punkte entfernt. Jungen schneiden im Mittel etwas besser ab als Mädchen. Mit Ausnahme von Japan verschlechterte sich die überwiegende Mehrheit der OECD-Staaten gegenüber 2018. International auf den vorderen Plätzen: Japan (536), Korea (527), Estland (510), Schweiz (508), Kanada (497).
Wer hat mitgemacht? Wer hat getestet?
In Deutschland haben 6116 Schüler:innen an 257 Schulen aller Schularten an dem "Programme for International Student Assessment", kurz PISA, teilgenommen, womit die ermittelten Kompetenzniveaus für die Bundesrepublik insgesamt statistisch repräsentativ sind. Wegen der Corona-Pandemie wurde die turunusmäßige Erhebung um ein Jahr nach hinten geschoben, und es waren nur halb so viele Schüler bei den Tests dabei wie 2018.
Gleichzeitig wurden die Jugendlichen zu ihren Lernbedingungen und Einstellungen sowie ihrer sozialen Herkunft befragt, auch Schulleiter, Lehrkräfte und Eltern wurden einbezogen.
Jede PISA-Runde leuchtet einen Kompetenzbereich besonders intensiv aus, diesmal, im achten Durchgang seit 2000, war wieder die Mathematik dran.
Weltweit nahmen rund 690.000 Schüler:innen an der Studie teil, sie stammen aus 81 Ländern und Volkswirtschaften. Anders als in den ersten PISA-
Runden werden die Testaufgaben und Fragebögen seit 2015 am Computer bearbeitet.
Der Wert von 500 PISA-Punkten entspricht dem durchschnittlichen Kompetenzniveau aller Teilnehmerstaaten bei der ersten PISA-Runde 2000. Damals erreichte Deutschland in Mathematik 490, im Lesen 484 und in den Naturwissenschaften 487 Punkte.
Verantwortlich für den deutschen Teil der Studie ist das Zentrum für internationale Vergleichsstudien (ZIB), ein An-Institut der TU München (TUM), an dem außerdem das Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) und das Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) beteiligt sind. Als nationale PISA-Leiterin fungiert die TUM-Bildungsforscherin und ZIB-Vorstandsvorsitzende Doris Lewalter. Auftraggeber sind Kultusministerkonferenz und Bundesministeriums für Bildung und Forschung.
o 30 Prozent der deutschen Neuntklässler sind nicht in der Lage, vollständig beschriebene mathematische Aufgaben zu lösen, sie liegen damit unterhalb der sogenannten Kompetenzstufe II . Im Schnitt aller OECD-Länder gilt das für 31 Prozent. Gegenüber 2018 ist die Gruppe der leistungsschwachen Schüler in Deutschland mit acht Prozentpunkten sehr stark gewachsen, gegenüber 2012 beträgt die Zunahme sogar zwölf Prozentpunkte. Ihr Anteil ist durch alle Schulformen hindurch gestiegen, auch an Gymnasien, dort von 0,7 Prozent (2012) auf allerdings immer noch niedrige vier Prozent. Zum Vergleich der Anstieg bei den nichtgymnasialen Schulformen: von 25 auf 40 Prozent. Am anderen Ende der Leistungsskala sind nach PISA-Maßstäben nur noch neun Prozent aller deutschen Schüler leistungsstark (Kompetenzstufen V und VI) – eine Halbierung gegenüber 2012 (17 Prozent).
o Im Fragebogen äußerten die deutschen Neuntklässler 2022 deutlich mehr Ängstlichkeit in Bezug auf die Mathematik als 2012, während umgekehrt die Freude und das Interesse an der Mathematik sowie die Motivation und die sogenannte Selbstwirksamkeitserwartung bei klassischen Matheaufgaben stark nach unten gegangen sind. Am häufigsten empfinden die deutschen Schüler während des Mathematikunterrichts Müdigkeit und Langeweile.
"Wir brauchen einen fast schon revolutionären Neuanfang"
Was Deutschlands Politiker, Bildungsexperten und Verbände zu den historisch schlechten PISA-Ergebnissen sagen. (05. Dezember 2023) >>>
o Bei den naturwissenschaftlichen Kompetenzen erreichten die Neuntklässler in der Bundesrepublik bei PISA 2022 noch 492 Punkte, was nur sieben Punkte, aber immerhin noch statistisch signifikant über dem OECD-Mittel von 485 liegt. 2018 wurden 503 Punkte erreicht. Gegenüber 2012 summiert sich der Rückgang inzwischen auf über 30 Punkte. Jungen und Mädchen schneiden in etwa gleich gut ab. International auf den vorderen Plätzen: Japan (547), Korea (527), Estland (526), Kanada (515), Finnland (511).
o Der Anteil leistungsschwacher Schüler ist in Deutschland auch in den Naturwissenschaften signifikant gestiegen, um drei Prozentpunkte auf 22,9 Prozent, was etwas unterhalb des OECD-Schnitts liegt. Besonders häufig sind sie mit 31,9 Prozent an den nichtgymnasialen Schulformen anzutreffen (+4,4 Prozentpunkte gegenüber 2018), an Gymnasien befinden sich 2,9 Prozent der Schüler unterhalb von Kompetenzstufe II, was indes fast einer Verdopplung gegenüber 2018 (1,6 Prozent) gleichkommt. 9,7 Prozent der deutschen Schüler erreichen die Kompetenzstufen V und VI und sind daher als leistungsstark anzusehen, ähnlich viele wie 2018 (10,0 Prozent) und deutlich mehr als im OECD-Mittel (7,5 Prozent).
o Beim Lesen schafften die deutschen Neuntklässler diesmal 480 PISA-Punkte, 18 weniger als 2018 und knapp 30 unterhalb von 2012 – womit Deutschland von der statistischen Signifikanz her auf den OECD-Durchschnitt zurückfällt. Mädchen erreichen deutlich bessere Ergebnisse als Jungen. Außer Deutschland haben sich 18 weitere OECD-Staaten in den vergangenen vier Jahren deutlich verschlechtert. International auf den vorderen Plätzen: Irland (516), Japan (516), Korea (515), Estland (511), Kanada (507).
o 25,5 Prozent der deutschen Schüler erreichten beim Lesen nur Kompetenzstufe I und gelten damit als leistungsschwach (+5 Prozentpunkte im Vergleich zu 2018). An den Gymnasien hat sich ihr Anteil von einem niedrigen Niveau kommend auf 3,8 Prozent der Schülerschaft mehr als verdoppelt. An den übrigen Schulformen liegt er allerdings mit 35 Prozent neunmal so hoch, nochmal sechs Prozentpunkte mehr als 2018. Das bedeutet laut nationalem PISA-Bericht: "Diese Jugendlichen verfügen nur über sehr eingeschränkte Lesekompetenzen und sind kaum in der Lage, sinnentnehmend Texte zu lesen, was mit Problemen der gesellschaftlichen Teilhabe einhergehen kann." Die Gruppe der besonders lesestarken Neuntklässler verringerte sich seit 2018 um drei Prozentpunkte auf 8,2 Prozent – wobei der Rückgang an Gymnasien von 27,3 auf 19,2 Prozent ebenfalls rasant ausfiel.
o Die soziale Herkunft spielte bei den Leistungen in Deutschland, gemessen an den Mathematikkompetenzen, erneut eine größere Rolle als im OECD-Durchschnitt, zumindest bezogen auf die Berufe der Erziehungsberechtigten und deren sozioökonomischen Status. Allerdings: Werden weitere Faktoren wie Bildungsdauer der Erziehungsberechtigten, das Vorhandensein von Büchern oder die Anzahl der Computer im Haushalt einberechnet, verschwindet der Unterschied. Die Stärke des statistischen Zusammenhangs (gemeint ist hier der Anteil der aufgeklärten Varianz) zwischen sozialer Herkunft und Pisa-Leistungen bleibt aber trotzdem über den OECD-Mittel.
o Die deutschen Schülerleistungen sind in der Pandemie stärker gesunken sind als in vielen anderen Ländern, vor allem deutlich stärker als im OECD-Schnitt. 71 Prozent der deutschen 15-Jährigen gaben an, dass in ihrem Schulgebäude wegen der Corona-Krise mehr als drei Monate lang kein Unterricht stattgefunden habe (im OECD-Durchschnitt sagten das 51 Prozent). Die Auswertung der internationalen Daten zeige allerdings, dass es keinen systematischen Zusammenhang zwischen der Dauer der Schulschließungen und Leistungsrückgängen zwischen 2018 und 2022 gegeben habe, betont die deutsche PISA-Studienleiterin Doris Lewalter. Weiter ergab die PISA-Befragung, dass der Distanzunterricht in Deutschland signifikant seltener mithilfe digitaler Geräte und viel häufiger mithilfe versendeter Materialien zum selbständigen Lernen ablief. Dass deutsche Schüler gleichzeitig seltener Tipps zum eigenständigen Lernen erhielten und seltener gefragt wurden, wie es ihnen ging. Und dass Gymnasiasten nach Angaben von Schulleitungen weitaus besser erreicht wurden durch den Distanzunterricht als Schüler nichtgymnasialer Schulen. "Deutschland war im internationalen Vergleich nicht gut auf den Distanzunterricht vorbereitet, was die Ausstattung mit Digitalgeräten angeht – hat dann aber aufgeholt“, sagt PISA-Studienleiterin Lewalter.
o Jugendliche aus Einwandererfamilien (bis einschließlich zweite Generation) schneiden in fast allen europäischen Staaten schlechter ab. Auffällig ist zudem, dass unter den vier Staaten, die in wechselnder Reihenfolge die PISA-Spitze unter sich ausmachen, drei sind fast ohne Einwanderung: Japan und Korea, die meist vorn liegen, außerdem Estland, das mit Abstand beste europäische Land. Dann folgen allerdings mit Kanada schon ein klassisches Einwanderungsland und nicht weit dahinter weitere Staaten mit viel Zuwanderung: die Schweiz, Australien, das Vereinigte Königreich.
o In Deutschland indes ist der Effekt des Zuwanderungshintergrunds auf die Schulleistungen laut PISA-Forschern überdurchschnittlich stark ausgeprägt. Ihr Rückstand zu Nicht-Einwanderern erkläre sich zu erheblichem Anteil durch die soziale Herkunft und ihren häuslichen Sprachgebrauch. Gegenüber 2012 hat sich der Anteil der Einwandererkinder auf 38,6 Prozent veranderthalbfacht. Knapp über die Hälfte von ihnen spricht zu Hause Deutsch, von Jugendlichen der ersten Einwanderergeneration tun dies lediglich zwölf Prozent. 16 Prozent der ersten Einwanderergeneration besucht ein Gymnasium – im Vergleich zu 44 Prozent der Neuntklässler aus Nicht-Einwandererfamilien. Die Ergebnisse der ersten Generation nennen die deutschen PISA-Forscher "alarmierend": "Es ist offensichtlich, dass die Integration der Jugendlichen der ersten Generation in das deutsche Bildungssystem nicht gelingt. Die pandemiebedingten Schulschließungen der Jahre 2020 und 2021 dürften hier zusätzliche negative Effekte gehabt haben."
Wohlgemerkt: zusätzliche negative Effekte. Diese Betonung ist den Forschern offenbar besonders wichtig, und das aus gutem Grund. Denn keinesfalls darf über den vermutlichen Folgen der Schulschließungen und anderer Corona-Einschränkungen aus dem Blick geraten, dass der PISA-Abwärtstrend teilweise seit einem Jahrzehnt läuft. Die Pandemie habe insofern "eher als Verstärker bereits bestehender Probleme gewirkt", so formulieren das die Forscher.
Womit wir bei der Frage sind, was die Ergebnisse bedeuten – und was aus ihnen folgten sollte. Dazu drei Thesen:
1. Die deutschen PISA-Ergebnisse sind so schlecht wie nie, trotzdem droht ein zweiter PISA-Schock auszubleiben
Die Zahlen sind – nüchtern betrachtet – dramatisch: In allen drei Kompetenzbereichen fallen die deutschen Neunklässler auf oder unter die niedrigsten Werte zurück, die jemals im Rahmen von PISA gemessen wurden. Die Anteile der leistungsschwachen und damit besonders gefährdeten Schüler sind seit 2018 durch die Bank gestiegen, teilweise sehr stark. Folgt jetzt ein öffentlicher Aufschrei, der den des PISA-Schocks nach 2000 noch in den Schatten stellt?
Leider unwahrscheinlich. Denn unsere Gesellschaft ist, was schlechte Schülerleistungen angeht, inzwischen abgestumpft. Das hat viel mit den Folgen der Corona-Krise zu tun. Nach einer ganzen Batterie mieser Studienergebnisse von IGLU bis zum IQB-Bildungstrend haben Medien und Öffentlichkeit den enormen Lernschaden durch die Pandemie-Maßnahmen bereits "eingepreist", schon auf die letzten Studien reagierten sie nur noch mit einem Zucken, nach dem Motto: Schade, war aber ja erwartbar und ist nicht zu ändern. Was zwar nicht stimmt, aber scheinbar seine Rechtfertigung dadurch erhält, dass es anderswo kaum besser lief zwischen 2018 und 2022, Deutschland also quasi im OECD-Geleitzug nach unten gerauscht ist.
Paradoxerweise leiden die heute 15-Jährigen, vor allem aber auch die noch jüngeren Schüler, auf diese Weise ein zweites Mal unter der Pandemie – weil sich der Handlungsdruck auf die Bildungspolitik verringert. Forderungen nach einem grundsätzlichen Ruck könnten mit dem Narrativ von historisch einmaligen Umständen wegmoderiert werden, deretwegen man – ebenfalls anders als nach PISA 2000 – jetzt nicht gleich bildungspolitisch alles in Frage stellen oder die große Krise ausrufen dürfe.
Gegen einen PISA-Schock wirkt zudem, dass die gemessenen Werte zwar niedrig sind wie nie, aber Deutschland mit ihnen noch etwas über dem OECD-Mittel liegt. Das war vor 22 Jahren anders: Damals befand sich Deutschland mit ähnlichen PISA-Ergebnissen international unter dem Durchschnitt. Was so gar nicht dem damaligen Anspruch entsprach, eine führende Bildungsnation mit fairen Chancen für alle zu sein. Heute reicht das gleiche Niveau für ein (leicht) überdurchschnittliche internationale Mittelmaß. Indes: Macht es das irgendwie besser? Haben wir noch den bildungspolitischen Anspruch von einst? Oder haben wir auch diesen längst wegmoderiert? Sind wir zu müde, um noch einmal erschüttert zu sein? Nicht die kurzfristigen Reaktionen auf PISA 2022, die betroffenen Sprüche werden es zeigen, sondern die mittelfristigen, die bildungs- und finanzpolitischen Weichenstellungen der nächsten Monate und Jahre. Und zwar schonungslos.
2. Die Zuwanderung nicht als Ausrede nutzen, sondern als Gelegenheit
Es ist ein gefährlicher Satz – gefährlich, weil er zu falschen Schlussfolgerungen einlädt: Deutschlands Einwandererkinder ziehen die PISA-Ergebnisse merklich runter. Sie erreichen in Mathe 59 Kompetenzpunkte weniger als Gleichaltrige ohne Zuwanderungsgeschichte, das entspricht zwei Schuljahren. In Lesen ist der Abstand mit 67 Punkten noch größer. Wer das allerdings den Einwandererkindern und ihren Familien vorwirft, sie womöglich sogar bei den nationalen Ergebnissen rausrechnet, um zu zeigen, wo die Bundesrepublik ohne sie stehen würde, hat nichts verstanden. Die Wahrheit ist: Deutschland hat sich für Millionen Menschen geöffnet, viele davon Geflüchtete ohne ausreichende Schul- oder Berufsbildung, nun muss Deutschland sich aber auch auf sie und ihre Bedürfnisse einstellen. Hinzu kommt etwas, was PISA-Studienleiterin Lewalter betont: "Die mathematischen Kompetenzen der Jugendlichen ohne Zuwanderungshintergrund sind im Vergleich zu 2012 ebenfalls geringer geworden – sogar deutlicher als bei den Jugendlichen, deren Eltern zugewandert, die aber selbst in Deutschland geboren sind."
Und doch bleibt es eine der wichtigsten PISA-Botschaften: dass es gerade auch in den Schulen bisher nicht ausreichend gelingt, sich auf die Realitäten einer Einwanderergesellschaft einzustellen. Da nützt kein Lamentieren über die mangelnde Unterstützung durch die Eltern, die nicht vorhandenen Sprachkenntnisse der Jugendlichen – oder gar der Hinweis, dass erfolgreiche PISA-Länder wie Kanada oder Großbritannien fast ausschließlich hochqualifizierte Einwanderer ins Land lassen. Es sind jetzt alles unsere Kinder, und wir brauchen sie alle: weil die Gesellschaft dramatisch altert, weil schon jetzt hunderttausende Fachkräfte fehlen – und weil eine vielfältige Gesellschaft besser auf künftige Veränderungen wird reagieren können. Wie groß das Potenzial der Einwandererkinder ist, auch das hat neulich eine Studie gezeigt: Beim IQB-Bildungstrend standen neben alarmierend schlechten Deutsch-Ergebnissen starke Englisch-Werte – und gerade eingewanderte Jugendliche schnitten gut ab.
3. Deutschland hat Handlungsoptionen, es muss sie nur nutzen
Die deutschen PISA-Forscher mahnen in ihrem nationalen Bericht, die 2022er Ergebnisse seien "besorgniserregend und zeigen, dass großer Handlungsbedarf für das Bildungssystem in Deutschland besteht. Es bedarf entschiedener gemeinsamer Anstrengungen von Bildungspolitik, Bildungsforschung, Bildungspraxis und Zivilgesellschaft, um flächendeckende Maßnahmen auf den Weg zu bringen." Eine gemeinsame, man könnte auch sagen: eine nationale Kraftanstrengung. Doch schafft die Politik die auch ohne zweiten PISA-Schock?
Immerhin haben schon die IQB-Englischergebnisse gezeigt: Der Unterricht kann so gestaltet werden, dass Schüler mit unterschiedlichen Voraussetzungen mitgenommen werden. Deshalb wird die Unterrichtsgestaltung im Fokus der Bildungspolitik stehen müssen, das umfasst Lehreraus- und Fortbildung genauso wie die Schulentwicklung. Es geht ums Hinschauen, Abgucken und Weiterentwickeln.
Und da schulischer Erfolg stark mit Sprache verknüpft ist, muss Deutschland dessen Förderung noch absoluter setzen als bislang. Das bedeutet: Ähnlich wie etwa in Hamburg sollte es überall in Deutschland eine Vorschulpflicht schon für Fünfjährige geben, die in Deutschtests Defizite aufweisen. Denn die Pflicht geht dann in beide Richtung: Die Gesellschaft wird damit verantwortlich, die Kinder auf einen Sprachstand zu bringen, der ihnen die Bildungsteilhabe erst eröffnet. Also: systematisch diagnostizieren und systematisch fördern.
Richtig ist darüber hinaus, dass mit dem geplanten Startchancen-Programm ein Anfang gemacht werden soll, besonders jene Schulen zu fördern, an denen viele sozial benachteiligte Kinder lernen. Doch ist das vorgesehene Volumen mit zwei Milliarden pro Jahr und zehn Prozent der deutschen Schulen viel zu klein. Es muss mehr Geld fließen, und es muss noch deutlicher umgesteuert werden dorthin, wo es gebraucht wird. Nicht zu den Gymnasien und statt dessen besonders in den Kita- und Grundschulbereich. In die Bundesländer, Regionen und Stadtviertel, wo die sozialen Herausforderungen am größten sind. Das Gegenteil von Gießkanne. Wenn Bildung die soziale Frage des 21. Jahrhunderts ist, dann ist das der entscheidende Teil der Antwort. PISA 2022 akzentuiert sie einmal mehr.
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Berlins Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra über die neuen Berliner Hochschulverträge und den altbekannten Sanierungsstau, die Chancen des Exzellenzverbundes BUA – und wie es mit der Postdoc-Entfristung weitergeht.
Berlins Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra. Fotos: Nils Bornemann.
Frau Czyborra, am Dienstag hat der Berliner Senat die neuen Hochschulverträge beschlossen. Was drinsteht, war seit der Ihrer Einigung mit den Hochschulen im August im Wesentlichen bekannt. Vor allem, dass es bis 2028 jedes Jahr fünf Prozent mehr Landesgeld gibt und dass die Zahl der Lehramts-Studienplätze aufgestockt wird. Was ist aus Ihrer Sicht sonst noch bemerkenswert?
Ich bin sehr zufrieden mit dem Erreichten. Wir geben nicht einfach mehr Geld, wir haben auch die überkomplexe Systematik reformiert, nach der das Geldbislang verteilt wurde. Konkret: Wir haben die Zahl der Leistungsindikatoren für die Hochschulen verringert und dafür gesorgt, dass sich die gesetzten Anreize nicht mehr gegenseitig aufheben. Wichtig ist auch, dass Minderleistungen in einem Bereich nicht mehr durch Mehrleistungen an anderer Stelle ausgeglichen werden können. Es kann also zu Abzügen kommen.
Wie stark können die werden?
Theoretisch bis zu 30 Prozent. Aber da muss eine Hochschule schon alles falsch machen. Realistisch gehe ich von maximal fünf Prozent aus. Aber die können schon richtig wehtun.
Weil das meiste Budget in Personalkosten gebunden ist und jedes Minus voll auf die wenigen beweglichen Gelder durchschlägt. Und das ist eine gute Nachricht für die Hochschulen?
Die gute Nachricht ist, dass wir Leistung tatsächlich belohnen. Die Abzüge gehen ja nicht zurück in den Landeshaushalt, sondern fließen in den Topf der Qualitätsoffensive für die Lehre – aus dem wir dann wieder gezielte Maßnahmen in den Hochschulen finanzieren können, und zwar genau dort, wo eine besondere Innovationsdynamik herrscht. Das hilft auch den Präsidien. Beispiel Gleichstellung: Wenn eine Fakultät da nicht mitzieht, können die Hochschulleitungen die resultierenden Mittelabzüge direkt dorthin durchreichen, wo die Verantwortlichen sitzen. Allerdings, das gebe ich zu, hat unsere Indikatorik noch Schwächen.
Ina Czyborra, 57, ist promovierte Archäologin und stellvertretende SPD-Landesvorsitzende in Berlin. Über viele Jahre war sie wissenschaftspolitische Sprecherin ihrer Fraktion im Abgeordnetenhaus. Im April 2023 übernahm sie das Amt der Berliner Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege.
Welche meinen Sie?
Die dritte große Aufgabe der Hochschulen neben Lehre und Forschung ist der Transfer, da brauchen wir dringend mehr Output in Form technologischer und sozialer Innovationen, aber auch anderen Formen von Wissenstransfer. Dafür müssen wir aber erstmal wissen, wie wir erfolgreichen Transfer sinnvoll messen. Wir können ja nicht nach Bauchgefühl gehen. Unsere Aufgabe ist, diese harten Indikatoren jetzt zu entwickeln, damit wir sie in der nächsten Phase der Hochschulverträge einbauen können.
Keine Lösung präsentiert haben Sie darüber hinaus für die jetzt schon sechs Millionen Euro pro Jahr, die die Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) für das Studienangebot für künftige Polizeikräfte ausgibt. Zugunsten der Senatsverwaltung des Innern – aber die zahlt nicht.
Das ist nicht die Verantwortung der Innenverwaltung, sondern Folge der Eigenheit der Finanzverwaltung, Sonderprogramme außerhalb der normalen Haushaltssystematik zu produzieren, die dann alle zwei Jahre erneuert werden müssen, was bei einem Studiengang von drei oder vier Jahren absolut keinen Sinn ergibt. In der Wissenschaftsverwaltung waren wir da aber vielleicht auch etwas blauäugig.
Inwiefern?
Weil uns die Finanzverwaltung immer wieder signalisiert hatte, dass sie die Polizei-Thematik in den Hochschulverträgen berücksichtigen wolle, worauf wir uns verlassen haben. Wenn es jetzt heißt, dafür gebe es ja die fünf Prozent für alle Hochschulen oben drauf, daraus müssten auch die Polizei-Studienplätze finanziert werden, dann muss uns die Finanzverwaltung die Frage beantworten, an welcher anderen Stelle die Hochschulen das nötige Geld einsparen sollen. Etwa bei der Byzantinistik oder der Altphilologie? Bei der Elektrotechnik oder dem Maschinenbau, weil es da gerade weniger Bewerber gibt? Sollen Kürzungen wirklich die Antwort sein?
"Das sind die Debatten, die ich mit den Hochschulen führen möchte"
Wie lautet denn Ihre Antwort?
Wir sollten diese Studiengänge nicht kaputtsparen, sondern gemeinsam mit den Hochschulen darüber reden, wie wir sie attraktiver machen. Das sind die Debatten, die ich unterhalb der Hochschulverträge in den nächsten Jahren mit den Hochschulen führen möchte. Gleichzeitig hoffe ich, dass wir irgendwann mit der Finanzverwaltung und anderen Ressorts zu einem klaren Verständnis kommen, was die Stadt eigentlich an Studienangeboten braucht und erwartet. Im Augenblick höre ich nur Klagen, die Hochschulen erhielten so viel Geld, doch die nötigen Fachkräfte seien trotzdem nicht da. Meine Gegenfrage an die anderen Ressorts lautet: Welche Personalbedarfe habt ihr denn? Definiert die bitte für die nächsten zehn, 15 Jahren – von der Zahl der Pflegekräfte über die Verwaltung bis hin zu Radweg- und Verkehrsplanern. Dann kann ich mit den Hochschulen besprechen, wie wir die Bedarfe decken, in Einklang mit der Wissenschaftsfreiheit, versteht sich. Doch bislang bekomme ich keine Antwort.
Unstrittig ist der Bedarf an zusätzlichen Lehrkräften.
Erfreulicherweise sieht es so aus, als sei die Zahl der Bewerber um einen Studienplatz gestiegen. Ob daraus mehr Immatrikulationen werden, wissen wir noch nicht.
Sie haben in den Hochschulverträgen verabredet, dass bis 2028 die Zahl der Lehramts-Studienplätze auf 2500 aufgestockt werden soll. Wird das reichen, um die Zahl der Studiengänge mit Zugangsbeschränkungen zu senken? Derzeit kann man die Signale an die Bewerber nur als widersprüchlich bezeichnen: Die Politik beklagt den Lehrermangel, gleichzeitig lässt sie viele Lehramts-NCs zu.
Das ist ein Schein-Widerspruch. Da, wo der Bedarf an Lehrkräften hoch ist, in Mathe, Chemie oder Physik etwa, haben wir keinerlei NCs. Wenn aber viele junge Menschen Politologie oder Geschichte auf Lehramt studieren wollen, obwohl es gar nicht so viel Personalbedarf für das Fach gibt, dann ist es legitim, wenn wir vergleichsweise wenig Studienplätze zur Verfügung stellen. Hinzu kommt ein Phänomen, über das nicht so gern geredet wird. Wenn Sie in Berlin Grundschullehramt studieren, müssen Sie Mathe belegen. Es sei denn, Sie wählen alternativ Sonderpädagogik. Wenn es da dann plötzlich 1000 Bewerber gibt und einen extremen NC, handelt es sich ganz offenbar um eine Fehlsteuerung.
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Mehr Lehrkräfte würde die Stadt auch dadurch bekommen, dass die hohen Schwundquoten im Studium runtergehen.
Diese behaupteten Schwundquoten gibt es doch in der Form bei uns gar nicht. Wir haben zum Beispiel einen Bachelor mit Lehramts-Option. Wenn sich Studierende dagegen entscheiden, fertig auf Lehramt zu studieren, ist das so im System angelegt und kein Studienabbruch, nur weil sie vielleicht nicht im Master of Education auftauchen. Aus der Humboldt-Universität höre ich, dass sie tatsächlich im Grundschullehramt signifikant niedrigere Abbrecherquoten als anderswo haben.
Man hört viel und weiß wenig, weil die exakten Zahlen nicht erhoben werden?
Natürlich würden wir gern mehr wissen, was aus den Studienanfängern wird. Natürlich stützen wir uns zu oft auf anekdotische Evidenz und hätten gern mehr Verbleibstudien. Aber die Auskunftsfreude derjenigen, die sich exmatrikulieren, ist gering, der Rücklauf von Fragebögen entsprechend überschaubar. Persönlich würde ich gern selbst mal eine der Mathe-Klausuren schreiben, die im Grundschullehramt obligatorisch sind. Von den Studierenden vernehme ich da die schlimmsten Geschichten, während mir etwa die Freie Universität mitteilt, der abgefragte Stoff gehe über den Satz des Pythagoras nicht hinaus. Zumindest dessen Beherrschung erwarte ich dann schon von jeder Grundschul-Lehrkraft. Sonst kommen wir in Deutschland nie raus aus dem verqueren Verhältnis, was viele Menschen zur Mathematik haben.
Ende des Jahres legt die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz ihre Empfehlungen zur Reform der Lehrkräftebildung vor. Wie groß wird danach der Reformeifer in Berlin ausfallen?
Ich beobachte mit einer gewissen Faszination, wie an vielen Orten in Deutschland schon jetzt kräftig herumreformiert wird. Vieles davon erscheint mir wenig systematisch. Genau diese Systematik erhoffe ich mir aber vom SWK-Gutachten. Sehr hilfreich fand ich bereits das Papier des Wissenschaftsrats zur Lehramtsausbildung im Fach Mathematik. In Berlin haben wir zusammen mit der Bildungsverwaltung einige Runde Tische mit Experten vor uns. Als nächstes möchte ich mit den Universitäten in eine offene und zugleich zielgerichtete Debatte einsteigen. Mein Ziel ist, dass wir im ersten Halbjahr 2024 Eckpunkte zur Reform der Lehrerbildung in Berlin vorlegen. Persönlich bin ich ein großer Fan von Ein-Fach-Lehramtsstudiengängen, die flexible Einstiege ermöglichen und doch qualitativ hochwertig sind. Was ich für keine gute Idee halte: Im Rahmen eines dualen Studiums die Studienanfänger ohne jeden Abstand zur eigenen Schullaufbahn am ersten Tag vor eine Schulklasse zu stellen. Das geht auf Kosten der Unterrichtsqualität und der Studierenden.
"Es gab die richtige und hehre Absicht, aber nie einen zu Ende gedachten Plan, wie sich der Sanierungsstau in sinnvollen Schritten abarbeiten ließe"
Zurück zu den Hochschulverträgen: Die Freude an den Hochschulen ist stark getrübt, weil sich parallel der enorme Sanierungsstau immer handfester bemerkbar macht. Die Technische Universität Berlin musste mehrere Gebäude kurzfristig schließen, TU-Präsidentin Geraldine Rauch warnt vor dramatischen Konsequenzen für die Hochschullehre.
Ich habe die Wortmeldungen von Frau Rauch zur Kenntnis genommen, auch ihre Mahnungen, die Baumisere gefährde Berlins Chancen in der Exzellenzstrategie. Dazu noch ihre Forderung, verschiedene Gebäude in die Sanierungsplanung aufzunehmen. Als nächstes wünsche ich mir konkrete Vorschläge, wie wir mit den kurzfristigen Problemen umgehen. Weder werden Frau Rauchs Exzellenz-Warnungen auf Begeisterung bei den anderen Universitäten stoßen noch wird das Setzen auf irgendwelche Sanierungslisten etwas ausrichten gegen einen Wasserschaden in der Chemie oder die mutwillige Sabotage in der Mathematik. Zumal das neue Mathematik-Gebäude ja längst im Werden und 2025 fertig ist. Aber was machen wir bis dahin? Wo will die TU Container hinstellen, um die akute Platznot zu beheben und den Betrieb zu stabilisieren? Die Studierenden haben ein Anrecht auf baldige Antworten. Mit Frau Rauch stehen wir zu all diesen Fragen in einem engen Austausch. Ich freue mich, dass seit der vergangenen Woche zumindest Teile beider Gebäude wieder genutzt werden können.
Aber Frau Rauch hat doch einen Punkt! Der damalige Regierende Bürgermeister Michael Müller und sein Wissenschaftsstaatssekretär Steffen Krach hatten den Hochschulen schon vor Jahren bis 2036 jährlich 250 Millionen Euro für die Hochschulbau und -sanierung versprochen, doch diesen Aufbruch sieht man den Berliner Hochschulen nicht an.
Weil es zwar die richtige und hehre Absicht gab, aber nie einen zu Ende gedachten Plan, wie sich der Sanierungsstau über diesen langen Zeitraum in sinnvollen Schritten abarbeiten ließe. Hinzu kommt, dass sich die finanzielle Situation geändert hat. 2018 hatte wir steigende Steuereinnahmen, jetzt haben wir es mit enormen Baukostensteigerungen zu tun. Außerdem seit Jahren mit einem Fachkräfteproblem, auch in den Bauabteilungen der Hochschulen. Dann war da die Pandemie, die uns über Jahre im Griff hatte.
Und schließlich wurde viel Geld in Leuchtturmprojekte gesteckt.
Klar spielt das da rein, wenn wir, was ich für richtig und unabdingbar halte, für das Herzzentrum eine halbe Milliarde Euro ausgeben. Oder für das Museum für Naturkunde 330 Millionen. Beim Campus Tegel sind wir mittlerweile bei 365 Millionen angekommen, und die Planungen für die Charité, immerhin das siebtbeste Universitätskrankenhaus der Welt, schlagen ebenfalls zu Buche. Da sind Schwerpunkte gesetzt worden.
Und nun?
Was auf jeden Fall gilt: Wir müssen schneller werden, wegkommen von der Kameralistik und den ewigen Planungsprozessen zwischen drei Behörden und den Hochschulen. Es kann nicht sein, dass zwischen Beschluss und Fertigstellung eines Gebäudes zehn Jahre vergehen. Ich kann mir vorstellen, dass wir eine Hochschulbau-Gesellschaft gründen, die alles aus einer Hand macht. Aber die Hochschulen sollten sich auch an die eigene Nase fassen. Die TU hat in den vergangenen Jahren nur ein Drittel ihres Budgets für den Bauunterhalt ausgegeben und den Rest in die Rücklage gepackt. Wir alle müssen flexibler im Denken werden.
"Wir sollten als Land Berlin handeln und eine Gesellschaft für den Hochschulbau gründen."
Das heißt?
Da Studiengebühren ja kein Weg sind, sollten wir über neue Modelle der Baufinanzierung und -durchführung sprechen, wie sie zum Beispiel Österreich entwickelt hat. Dort gibt es die Bundesimmobilien-Gesellschaft, die den Schul- und Hochschulbau auf grundsätzlich neue, wirtschaftlich tragfähige Füße gestellt hat. Da wir Derartiges von unserem Bund nicht zu erwarten haben, finde ich, dass wir als Land Berlin handeln und eine Gesellschaft für den Hochschulbau gründen sollten. In die bringen wir bebaubare Grundstücke ein, das nötige Eigenkapital, und dann generieren wir über die Investitionsbank Berlin Brandenburg die nötige Restfinanzierung. Das würde auch planerisch große Synergien schaffen, darum möchte ich die Idee mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung gern vorantreiben.
Vorantreiben wollten Sie und Ihre Mitstreiter:innen im Abgeordnetenhaus einst auch die Entfristung von Postdocs ins Berlin. Als Sie kurz vor der Abgeordnetenhauswahl 2021 den umstrittenen Paragraph 110, Absatz 6 ins neue Berliner Hochschulgesetz bugsierten, haben Sie und ihre Parlamentskolleg:innen von den Grünen und der Linken anschließend eine Flasche Sekt aufgemacht und sich beim Anstoßen ablichten lassen. War die Sektlaune verfrüht?
Der Wortlaut der Bestimmung war nicht wirklich zu Ende gedacht. Das war dem hohen Zeitdruck geschuldet, unter dem er entstand – und der wenig seriösen Zuarbeit aus der damaligen Wissenschaftsverwaltung…
…die die Regelung nicht wollte…
Aber es hat sich ja alles geklärt seitdem. Berlin kann sich auf die Fahnen schreiben, dass wir mutig vorangeschritten sind und die "#IchbinHanna"-Debatte massiv beflügelt haben. Das war nicht nur für die noch immer nicht abgeschlossene Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) auf Bundesebene wichtig, sondern hat die Berliner Hochschulen motiviert, spannende Personalkonzepte zu entwickeln.
Die wurden im Herbst 2022 bei der Senatsverwaltung eingereicht. Seitdem ist nichts passiert. Im Gegenteil: Der neue Senat von CDU und SPD hat die geplante Entfristung der Postdocs bis 2025 ausgesetzt.
Die Hochschulen haben versprochen, trotz der Aussetzung an den Konzepten festzuhalten. Nachdem wir die Hochschulverträge unter Dach und Fach haben, können wir uns jetzt die unterschiedlichen Ideen genauer anschauen. In den meisten Fällen läuft es auf "2+4"-Modelle hinaus: also zwei Jahre einfache Befristung nach der Promotion, die anschließende Befristung für weitere vier Jahre ist dann mit einer Anschlusszusage verbunden, natürlich abhängig von der Erfüllung vereinbarter Leistungskriterien. Es gibt weitere spannende Ideen, etwa den Plan des Instituts für Philosophie der Humboldt-Universität, die Personalmittel der Mehrheit der Professoren in fünf neue Tenure-Track-Stellen für Postdocs umzuwandeln.
Wo aber ist die politische Initiative?
Wir werten aus, was die Schwarmintelligenz der Berliner Hochschulen an Konzepten hervorgebracht hat, wir warten das Ergebnis der WissZeitVG-Reform ab, und dann passen wir den Paragraphen 110 entsprechend an. Es kann gut sein, dass wir durch die WissZeitVG-Reform und mögliche Öffnungsklauseln sogar mehr Regelungskompetenz auf Länderebene bekommen. Die werden wir nutzen.
"Es ist völlig unklar, wann die Richter sich äußern, das kann zehn Jahre dauern. Deshalb machen wir uns davon unabhängig."
Und irgendwann wird sich das Bundesverfassungsgericht zum Paragraph 110 äußern. Ende 2021 hatte die Humboldt-Universität Verfassungsbeschwerde eingereicht, im Frühjahr 2022 folgte die damals oppositionelle CDU-Fraktion mit einer Normenkontrollklage.
Es ist völlig unklar, wann die Richter sich äußern, das kann zehn Jahre dauern. Die Prioritäten des Gerichts liegen – vorsichtig formuliert – woanders. Eine Verfassungsklage gegen das Thüringer Hochschulgesetz harrt seit 2019 der Dinge. Deshalb machen wir uns davon unabhängig. In der Vereinbarung von CDU und SPD ist klar geregelt, dass wir auf die Reform im Bund warten, dass die Neuregelung dann aber zum 1. April 2025 in Kraft tritt.
TU-Präsidentin Rauch warnt vor Folgen des Sanierungsstaus für die Exzellenzchancen. Sie sagen, das werde den anderen Universitäten der Berlin University Alliance (BUA) nicht gefallen. Ist die Stimmung in der BUA so schlecht?
Die BUA hatte einen schwierigen Start. Das hatte mit Corona zu tun und mit einem Selbstfindungsprozess zwischen den Universitäten, der nicht einfach war. Inzwischen habe ich den Eindruck, dass die Vorstellungen über den nächsten Antrag des Verbundes in der Exzellenzstrategie sehr klar sind.
Es gibt Stimmen, die sagen: Auf die Qualität des Antrags kommt es gar nicht an, die BUA ist ohnehin too big to fail.
Darauf würde ich mich nicht verlassen. Die BUA muss mehr sein als die Summe ihrer Teile, das hat auch etwas mit einem Gemeinschaftsgeist zu tun, der sich entwickeln muss. Dazu muss die BUA unter anderem das Verhältnis der einzelnen Cluster zueinander und zu ihrer Gesamtstrategie klären. Genau da haben wir noch einige Debatten vor uns.
Ein bisschen rosig gemalt, oder?
Die Wissenschaftslandschaft funktioniert nach ihren eigenen Gesetzen. Wer die heile Welt sucht, ist da falsch. Das gilt übrigens, sage ich als Gesundheitssenatorin, im Gesundheitswesen genauso. Hier wie da gibt es massive Einzelinteressen, daraus entsteht eine Vielstimmigkeit, die manchmal an Kakophonie grenzt. Das kann man nicht schönreden und ja, das erfordert mehr Commitment von allen BUA-Partnern.
Oder die Schlussfolgerung, dass es ein Fehler war, die Universitäten in die BUA zu drängen? Das Problem ist ja nicht die Zusammenarbeit in den einzelnen Clustern. Das Problem ist, dass die Hochschulleitungen ihre Entscheidungen zuallererst am Wohl der eigenen Institution ausrichten – auch wenn das auf Kosten der Partnerschaft geht.
Die Universitäten haben sich freiwillig zur BUA bekannt, und bei allem Einzelkämpfertum wissen sie, dass sie im Kampf um die wissenschaftlichen Fleischtöpfe dieser Welt nur in Kooperation bestehen können.
Hat die Exzellenzstrategie als Wettbewerb ihren Zenit überschritten? Fast alle Wissenschaftsminister:innen, die sie 2016 als Fortsetzung der Exzellenzinitiative auf den Weg gebracht haben, sind außer Dienst. Ihre Nachfolger finden andere Themen wie den Wissens- und Technologietransfer offenbar viel spannender. Die Politikerreden von "Exzellenz" weichen mehr und mehr den Forderungen nach Anwendungsnähe.
Ich glaube, dass der Exzellenz-Begriff falsch verstanden wird. Anders als oft behauptet geht es nicht um Elitenbildung, sondern Exzellenz bedeutet Relevanz, Transfer, Kooperation, das Arbeiten an den großen gesellschaftlichen Fragestellungen, den Grand Challenges. Übrigens bin ich überzeugt, dass auch Edelgard Bulmahn…
…die Bundesforschungsministerin, die die erste Exzellenzinitiative 2005 auf den Weg gebracht hat…
…Exzellenz genauso gemeint hat. Wenn ich die BUA-Cluster besuche, erlebe ich all das: transdisziplinäre Zusammenarbeit, die Suche nach Lösungen für die großen Probleme, die wir heute und in Zukunft haben. Die Cluster führen Menschen zusammen, die vorher nicht zusammengearbeitet haben, aus den verschiedensten Wissenschaften und Institutionen. In ihrem Miteinander, ihrer Vernetzung und an den Grenzflächen wird das wirklich Neue geschaffen.
" Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich nur eine einzige Wissenschaftlerin davon abschrecken lässt, dass es in Berlin nicht so leicht ist, einen Arzttermin zu bekommen."
Und während Sie über die großartigen Bedingungen der Spitzenforschung in Berlin schwärmen, berichten Forschende, dass sie keine Kita-Plätze für ihre Kinder bekommen, dass die Mieten unbezahlbar werden und sie ganze Nachmittage auf dem Einwohnermeldeamt verbringen.
Die Hürden in der Forschung haben Sie noch gar nicht erwähnt. Zum Beispiel, dass es viel zu lange dauert, bis Tierversuche genehmigt werden. Klar müssen wir bei all dem besser werden. Auf der anderen Seite kann ich mir nicht vorstellen, dass sich nur eine einzige Wissenschaftlerin davon abschrecken lässt, dass es in Berlin nicht so leicht ist, einen Arzttermin zu bekommen – wenn umgekehrt ein für sie einzigartiges Forschungsumfeld lockt.
Hamburgs Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) sagte neulich hier im Blog, man solle beim Vergleich der Metropolen auch über das Funktionieren der Bürokratie reden, und was das Fünf-Prozent-Plus in den Berliner Hochschulverträgen angeht, sagte sie: "Ich schaue mir die Zahlen immer gern sehr genau an und stelle dann fest: Fünf Prozent auf dem Papier sind am Ende nicht immer fünf Prozent, die bei den Hochschulen ankommen."
Und ich sage immer: Berlin und Hamburg sind neidische Schwestern. Wir streiten uns, aber irgendwie haben wir uns dann doch lieb. In Sachen Verwaltung könnten wir in der Tat einiges von Hamburg lernen. Wir versuchen das auch seit Jahrzehnten. Nur ist das mit der Umsetzung in Berlin immer eine besondere Herausforderung, das hat mit der Zerrissenheit der Stadt zu tun. Genau diese Zerrissenheit, diese manchmal chaotische Vielfalt ist es aber auch wiederum, die die Leute in die Stadt zieht. Ich erinnere mich an eine Islamwissenschaftlerin aus Yale, die dort irre viel Forschungsgeld und wenig Lehrverpflichtung hatte und doch nach Berlin kam, wegen der Stadt, wegen der Leute, wegen der wissenschaftlichen Dynamik.
Viele andere Landeswissenschaftsminister waren in den vergangenen Jahren zunehmend genervt von Berlin, das eine Bundesförderung nach der anderen einheimste. Bestes Beispiel: die Eingliederung des bundesfinanzierten Berliner Instituts für Gesundheitsforschung (BIG) in die Charité, ein zu dem Zeitpunkt bundespolitisch einzigartiger Vorgang. Verstehen Sie, wenn Ihre Kollegen sagen: Jetzt reicht es aber mal?
Ich kann das nachvollziehen. Wir sind ein föderaler Staat, wir haben viele Zentren. Wenn Misstrauen gegenüber einer großen und weiter wachsenden Hauptstadt entsteht, begleitet von der Angst, abgehängt zu werden, müssen wir das ernstnehmen. Hier gilt tatsächlich dieser Begriff "too big to fail": Alle wollen nach Berlin, die Studierenden, die Wissenschaftler:innen, viele neue außeruniversitäre Forschungsinstitute sind bei uns entstanden. Wenn die staatlichen Gelder knapper werden, fällt es anderen noch schwerer, mit uns im Streit um die besten Köpfe mitzuhalten.
Mit Verlaub: Oft war es weniger die wissenschaftliche Qualität, sondern das schon legendäre Verhandlungsgeschick von Müller und Krach.
Wir hatten aber auch die Flächen, wir konnten sagen: Kommt nach Berlin, wir stellen euch ein neues Gebäude mitten in die Stadt. Jetzt ist der Platz knapper, die Preise sind zu hoch, wir können nicht mehr alle und jeden zentral unterbringen. Wir können auch nicht immer noch mehr Kofinanzierung für vom Bund mitfinanzierte Einrichtungen leisten. Jetzt geht es mehr ums Konsolidieren und Qualität als Wachstum um jeden Preis, wir müssen die Ansiedlungen, die wir erreicht haben, langfristig finanziell absichern. Und ansonsten wählerisch sein und uns fragen: Was fehlt uns wirklich noch in der Berliner Wissenschaft?
"Wenn der Bund über die grundsätzliche Finanzarchitektur zwischen Bund und Ländern reden will: aber gern. Dann sollten wir aber überall da anfangen, wo die Bundesregierung Beschlüsse zulasten Dritter, von uns Ländern, macht"
Gerade jetzt fordert der Bund von den Ländern sogar noch mehr Kofinanzierung, wenn sie bestehende Bund-Länder-Programme fortgesetzt sehen wollen. Aktuell steht unter anderem die Verlängerung der Forschungsförderung an Hochschulen für angewandte Wissenschaften an. Bisher zahlen die Länder da keinen Euro dazu. Der Bund will künftig immer und überall mindestens 50 Prozent Länderanteil. Haben Sie dafür Verständnis?
Nein, habe ich nicht. Wenn der Bund seine Kooperation nur noch zu Bedingungen anbieten will, die sich kein Land leisten kann, wenn er sich dann als Konsequenz aus der Forschungsförderung zurückziehen würde oder aus dem Ausbau digitaler Bildungsangebote an Schulen und Hochschulen, dann frage ich: Worin sonst besteht die originäre Aufgabe eines Bundesministeriums für Bildung und Forschung, wenn nicht im Setzen solcher zusätzlichen Impulse? Die Kofinanzierung von uns Ländern ist die um ein Vielfaches teurere Grundfinanzierung, die wir jeden Tag leisten. Wenn der Bund über die grundsätzliche Finanzarchitektur zwischen Bund und Ländern reden will: aber gern. Dann sollten wir aber überall da anfangen, wo die Bundesregierung Beschlüsse zulasten Dritter, von uns Ländern, macht. Wenn ein FDP-Bundesfinanzminister die Umsatzsteuer für die Gastronomie dauerhaft auf sieben Prozent senken möchte, kostet das allein Berlin 90 Millionen pro Jahr. Das ist anderthalbmal so viel, wie der Bund insgesamt für die Förderung von Forschung an HAWs in allen 16 Ländern ausgibt.
Was antwortet Ihnen Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger auf solche Argumente?
Es gibt ja leider nicht so viel Austausch mit ihr. Vergangene Woche war sie eine Stunde bei der Kultusministerkonferenz dabei. Eigentlich müssten wir Ministerinnen und Minister uns open end zusammensetzen und miteinander klären, wie wir die anstehenden Zukunftsaufgaben stemmen wollen: vom Klimaschutz über die Digitalisierung und die Gebäudesanierung bis hin zu Investitionen in neue Forschungsprogramme. Das Fingerzeigen aufeinander können wir uns nicht mehr leisten.