Symposium: Europäisches und internationales Minderheitenrecht
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Blog: Verfassungsblog
In Österreich sind bereits seit Mitte der 1980er-Jahre obstruierende Aktivitäten der Oppositionsparteien im parlamentarischen Verfahren zu beobachten. Der Gesetzgeber und die parlamentarische Praxis haben seit den 1980ern unterschiedliche Instrumente entwickelt, um der Gefahr der Obstruktion der parlamentarischen Tätigkeit im Nationalrat[1] durch die missbräuchliche Ausübung von Minderheitenrechten zu begegnen, ohne gleichzeitig Minderheitenrechte völlig auszuschließen. Diese Abwägung ist nicht in allen Fällen geglückt und effektiv. Der Gedanke, dass im parlamentarischen Verfahren im Widerstreit von Mehrheit und Minderheit über unterschiedliche Interessenlagen ein politischer Konsens entstehen kann und soll, scheint dabei zusehends in den Hintergrund zu treten.
Blog: DPI-Blog
Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit wurde vor 30 Jahren, am 17. Juni 1991, in Bonn unterschrieben.[1] Nachbarschaft und Freundschaft trägt der Vertrag in Titel und Präambel. Die dauerhafte Verständigung und Versöhnung, derer der Vertrag dient, solle, so heißt es, in einem europäischen Rahmen geschehen.Ist der Vertrag inzwischen ein deutsch-polnischer oder europäischer Erinnerungsort – oder mehr ein historisches Arbeitsprogramm? Ohne Zweifel ist der Vertrag, und alle Entwicklungen, die eng mit ihm verknüpft sind, die Grundlage für die heutigen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen. Der Vertrag, der vom Wunsch nach Frieden, Versöhnung und guter Zusammenarbeit geprägt war, stellt einen wirkmächtigen Rahmen zur Gestaltung des bilateralen Verhältnisses in einem europäischen Kontext zur Verfügung.Doch trotzdem würde sicher keine der Expert:innen, die sich in der Vergangenheit damit auseinandergesetzt haben oder die sich anlässlich des 30jährigen Jubiläums um die Reflexion und die künftige Entwicklung der Beziehungen bemühen, behaupten, man könne den Vertrag als europäischen Erinnerungsort bezeichnen. Aber von welchen Erwartungen wurde der Vertrag 1991 begleitet, welche Wahrnehmungen gab es von deutscher und polnischer Seite? Der Inhalt des VertragsDas oberste Ziel des Vertrags ist die Wahrung des Friedens. Totalitarismus, Rassismus, Antisemitismus, Fremdenhass und die Verfolgung von Menschen aus religiösen oder ideologischen Gründen werden verurteilt. Beide Staaten bekennen sich außerdem zu einem geeinten Europa, das auf der Grundlage von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit basiert.Vorausgegangen war am 14. November 1990 der deutsch-polnische Grenzvertrag, der die Oder-Neiße-Grenze als deutsch-polnische Grenze endgültig anerkannte.[2]Der Nachbarschaftsvertrag widmet sich vielen denkbaren Kooperationsfeldern: Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, Partnerschaften zwischen Regionen, Städten und Gemeinden, Arbeits- und Sozialpolitik, Justiz, wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit, Katastrophenhilfe, Gesundheitsvorsorge, Verkehrs- und Infrastruktur, Landwirtschaft, Kriegsgräberpflege. Besondere Betonung liegt auf der Kooperation im Bereich Schule und Bildung. Der kulturelle Austausch soll auf allen Ebenen intensiviert werden "und damit zur europäischen kulturellen Identität beitragen" (Art. 23).Ein viel beachteter Punkt von Beginn an ist die Gründung des Deutsch-Polnischen Jugendwerks im Rahmen des Vertrags. Sie wurde ebenso gesondert geregelt wie die Einrichtung einer Regierungskommission für regionale und grenznahe Zusammenarbeit und die Vereinbarung über einen deutsch-polnischen Umweltrat.Der europäische Bezug ist allgegenwärtig, er ordnet das Verhältnis beider Länder in allen Facetten im Kontext Europa ein, ihre gute Nachbarschaft soll den europäischen Gedanken voranbringen, ihr kulturelles Erbe in und durch Europa ein gemeinsames Gut werden. Starker Bezugspunkt sowohl normativer Art als auch durch die explizite Nennung von Förderinstrumenten, ist naturgemäß die Europäische Union. Die Bundesrepublik verpflichtete sich, die Heranführung Polens an die Europäische Union zu unterstützen. Und auch die Hinwirkung auf die Entwicklung Polens im Rahmen einer voll entwickelten sozialen Marktwirtschaft wird zugesichert. "Damit sollen auch die Bedingungen für eine wesentliche Verringerung der Entwicklungsunterschiede geschaffen werden" (Art. 9, Abs. 2).Aber auch die Konventionen des Europarats und andere werden als Orientierung herangezogen, nicht zuletzt, um die schwierige Minderheitenfrage aufzufangen und handhabbar zu machen. Die Frage des Umgangs mit der deutschen Minderheit in Polen und der polnischen Menschen in Deutschland, die im Vertrag ausführlich bedacht wird, spaltet im Vorfeld die Gemüter, vor allem in der Bundesrepublik. Ein Blick ins (Presse-)ArchivUnd so wird im Jahr 1991, rund um den Vertragsabschluss, mit Superlativen der Versöhnung, mit denen der Vertrag in der Folge oft belegt wurde, meist gespart. Zunächst einmal standen für Teile der deutschen Öffentlichkeit ja auch handfeste Fragen im Raum, am kontroversesten im Bereich der Minderheitenrechte: In welcher Form werden sie schließlich Eingang in den Vertrag finden? Welche Forderungen der Vertriebenenverbände macht sich die CSU zu eigen, und schafft Helmut Kohl es, diese einzuhegen? Wie groß ist der Ärger der polnischen Seite über diese Forderungen und Störungen? Für die polnische Regierung waren die Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Zusagen zur Hilfe in Sachen Entschuldung von tagesaktuell allergrößter Bedeutung. Die Behandlung von möglichen Entschädigungen für Zwangsarbeiter:innen wird schlussendlich ausgespart. Jenseits aller Debatten und Wahrnehmungen gehört in die unmittelbare Vorgeschichte des Vertrags aber auch der Tag der Umsetzung des visafreien Reiseverkehrs im April 1991: Als die ersten Polinnen und Polen von dieser Möglichkeit Gebrauch machen und die Grenze passieren, werden sie von Rechtsradikalen empfangen – die Polizei war darauf nicht vorbereitet.Fundstück aus dem DPI-ArchivAls nach einigen Verzögerungen in Sachen Minderheit schließlich die Einigung da ist, reisen der polnische Ministerpräsident Jan Krzysztof Bielecki sowie der Außenminister Krzysztof Skubiszewski nach Bonn und unterschreiben am 17. Juni 1991 gemeinsam mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl sowie Außenminister Hans-Dietrich Genscher den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit.Bestandteil des Vertragskomplexes wird ein Briefwechsel mit vorab ausgehandeltem feststehendem Wortlaut zwischen den beiden Außenministern, der zusätzliche Positionen zur deutschen Minderheit in Polen und zu polnischen Menschen in Deutschland darlegt. Im Vertrag wird die Verpflichtung besiegelt, beidseitig die Entwicklung der ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Identität der Gruppen zu fördern. Maximalforderungen der Vertriebenenverbände finden keinen Platz.Nicht nur Helmut Kohl würdigt das Vertragswerk als wichtigen Beitrag zur Ordnung des Friedens, der Stabilität und der Zusammenarbeit in Europa, auch Jan Krzysztof Bielecki spricht über die grundlegende Bedeutung, über Verständigung und Versöhnung, und davon, dass der Vertrag dafür nicht nur neue rechtliche und politische, sondern auch "moralisch-ethische Grundlagen" schaffe.[3]Die Mischung aus dem Wunsch zu Verständigung und Versöhnung, die aber immer im Rahmen von geopolitischen Positionierungen und Plänen für die europäische Integration auf beiden Regierungsseiten fest verankert ist, verdeutlicht ein nüchtern formulierter Gedanke aus der Tischrede des polnischen Ministerpräsidenten: "In unseren bilateralen Beziehungen gilt als gemeinsames Ziel, ein dichtes Netz gegenseitiger Verknüpfungen in allen Bereichen zu schaffen. Das verstehe ich als praktische Verwirklichung der deutsch-polnischen Interessengemeinschaft und zugleich die beste Garantie, daß der Kurs der Verständigung und der Versöhnung stabil bleibt."[4] Kommentar der Tageszeitung Życie Warszawy vom 15./16. Juni 1991 im DPI-ArchivDie Losung von der Interessengemeinschaft hatte sich in Polen in den Monaten vor Vertragsabschluss bereits manifestiert. Aus Anlass der Unterzeichnung lesen die Polinnen und Polen in der polnischen Tageszeitung. Życie Warszawy den Appell: "Nachbarn müssen einander nicht mögen, sondern respektieren."[5]. Die Klage des Kommentars über die fehlende Orientierung auf Deutschland mündet in der Forderung, diese innere psychologische Barriere zu überwinden. In der Gazeta Wyborcza bewertet Artur Hajnicz, ein führender außenpolitischer Berater des Parlaments, den Vertrag als wichtigstes außenpolitisches Dokument seit dem polnisch-sowjetischen Vertrag von 1921.[6] Auf einer Konferenz formuliert er das später vielzitierte Bild des Vertrags als "Grundgesetz der deutsch-polnischen Beziehungen", die Gegenthese lautet, es handele sich lediglich um eine "Bereinigung des Vorfeldes" der Beziehungen.[7]Die Süddeutsche Zeitung referiert die polnischen Reaktionen, entdeckt darin "Große Erwartungen".[8] Auch in der deutschen Presse wird zum Teil funktional kommentiert, das Thema Minderheit bleibt. "Die Deutschen können nichts anderes wollen, als daß es den Nationen an ihrer Seite gutgehe. Wohlstand senkt den Abwanderungsdruck, öffnet neue Märkte, fördert die Demokratie, den inneren Frieden und die Toleranz gegenüber Minderheiten." – so der Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am Tag der Vertragsunterzeichnung. Die Auszüge aus dem Vertrag, die am Folgetag im Blatt abgedruckt werden, sind nicht aus Präambel oder den ersten Artikeln, sondern wiederum diejenigen mit Bezug zu Minderheitenrechten sowie zur Kultur (Art. 21 bis 24).[9] Es wird wenig glamourös getitelt von der "Verpflichtung" zu nachbarschaftlichem Zusammenwirken.[10] In der Zeit gibt Adam Krzemiński dem Vertragswerk gute Wünsche mit auf den Weg, zumal im Vergleich zu dem vorausgegangenen deutsch-polnischen Grenzvertrag vom 14. November 1990: "Daß dieselbe Grenze gleich dreimal – 1950, '70, '90 – vertraglich besiegelt werden mußte, spricht Bände. Wollen wir hoffen, daß der just in Warschau paraphierte Vertrag über gute Nachbarschaft in zwanzig Jahren mit größerer Selbstverständlichkeit verlängert wird, als die Begleitmusik bei seinem Zustandekommen vermuten läßt."[11]Illustration zum Zeit-Artikel von Adam Krzemiński "Neue Brücken über Oder & Neiße" vom 6. September 1991 im DPI-ArchivDer Blick von 2021 ausSo ganz mag die von Adam Krzemiński erwähnte Begleitmusik lange nicht verstummen. Immer noch gibt es Kritik von polnischen Stellen, dass die Förderung von Menschen mit polnischer Abstammung in Deutschland nicht vertragsgemäß umgesetzt werde, insbesondere, was die Förderung von Polnisch als Muttersprache angeht. Und noch 2016 brachte ein Streit über die historische Einordnung der Versöhnungsbereitschaft der Heimatvertriebenen im deutschen Bundestag einen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD über "Versöhnung, Partnerschaft, Zusammenarbeit – 25 Jahre deutsch-polnischer Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit" beinahe zum Scheitern.[12] Zugleich wird in der dann doch stattfindenden Bundestagsdebatte die grundlegende Bedeutung des Vertrags eingehend gewürdigt. Besonders herausgestellt wird die gelungene Integration Polens in Europa auf allen Ebenen, für die Deutschland, wie vertraglich vereinbart, stets der aktive Fürsprecher war.Man könnte damit aber auch sagen: Einige Artikel des deutsch-polnischen Vertrags sind erfolgreich abgearbeitet, wie genau dieser Prozess der europäischen Osterweiterung. Und auch die Bezüge zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation oder zur Entschuldung Polens haben sich historisch erledigt. Wo sie es noch nicht haben sollten, sind die 30 Jahre alten Formulierungen in ihrer historisch begründeten Asymmetrie, etwa was die wirtschaftlichen Verhältnisse der Vertragspartner anging, heute nicht mehr anschlussfähig.Und so erscheint der heutige Blick auf den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag im Angesicht des 30jährigen Jubiläums wieder gespeist von beiden Wahrnehmungen: Der Reflexion über Versöhnung und Verständigung, die durch den Vertrag auf eine neue Ebene gehoben wurden, sowie dem Blick darauf, wie Themenfelder mit neuem Leben gefüllt werden können. Denn bereits abgearbeitete Punkte sind zugleich in der deutsch-polnischen Wirklichkeit gelebter Beziehungen durch neue Fragestellungen ersetzt worden. Also mehr eine Mischung aus Anspruch an die Zukunft und weiterentwicklungsfähige Arbeitsagenda, eine Art nützlicher Steinbruch von Themen und Erwartungen, gefasst in einen großen Rahmen? Vielleicht ein besserer Grund zum Gratulieren als ein gefeierter Erinnerungsort, der möglicherweise irgendwann erkaltet …
[1] Vertragstext – https://www.bpb.de/225326/dokumentation-deutsch-polnischer-partnerschaftsvertrag (8.6.2021).
[2] Die Online-Ausstellung "Vom Vertrag zum Vertragen" (mit Bezug zum Jubiläum des Warschauer Vertrages vom Dezember 1970) zeigt u. a. die Bedeutung der Grenzverhandlungen und die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen in einer Perspektive seit dem Zweiten Weltkrieg – https://www.vom-vertrag-zum-vertragen.de (8.6.2021).
[3] Die Ansprache des Ministerpräsidenten der Republik Polen Herrn Jan Krzysztof Bielecki, aus Anlass [sic] der Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Republik Polen und der Bundesrepublik Deutschland über gute Nachbarschafft und freundschaftliche Zusammenarbeit, Bonn, 17.6.1991, in: DPI Archiv, Sig. 4.6.
[4] Tischrede des Ministerpräsidenten der Republik Polen Herrn Jan Krzysztof Bielecki, aus Anlaß des Essens gegeben vom Bundeskanzler Helmut Kohl am 17. Juni 1991 in Bonn, in: Ebda.
[5] Christoph Royen: Sąsiedzi nie muszą się lubić, lecz szanować, in: Życie Warszawy vom 15.–16. Juni 1991.
[6] Marek Rapacki: Najważniejszy od 70 lat, in: Gazeta Wyborcza vom 17. Juni 1991, S. 9.
[7] Tytus Jaskułowski, Karoline Gil (Hg.): Zwanzig Jahre danach. Gespräche über den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag, Wrocław 2011, S. 23f.
[8] Dt.: Große Erwartungen in Warschau, in: SZ vom 18. Juni 1991.
[9] Stefan Dietrich: Nachbarschaft mit Polen, in: FAZ vom 17. Juni 1991, S. 1.
[10] Claus Gennrich: Bonn und Warschau verpflichten sich zu nachbarschaftlichem Zusammenwirken, in: FAZ vom 18. Juni 1991, S. 1.
[11] Adam Krzemiński: "Neue Brücken über Oder & Neiße" in: Die Zeit vom 6. September 1991, S. 56.
[12] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2016/kw25-ak-deutschland-polen-vertrag-426432 (8.6.2021).
Blog: Rechtspopulismus
Die Fidesz-Partei hat seit ihrem Regierungsantritt im Jahr 2010 einen entscheidenden Einfluss auf die Richtung des Landes ausgeübt. Unter der Führung von Viktor Orbán hat sich die Partei zu einem Zentrum konservativer und nationalistischer Werte entwickelt. Ein besonders prägnantes Merkmal ihrer Regierungszeit ist der Umgang mit der LGBTQIA+-Bewegung in Ungarn. Obwohl Ungarn einst eines der liberalsten Länder in der Region war, Homosexualität bereits Anfang der Sechzigerjahre entkriminalisiert wurde und gleichgeschlechtliche Partnerschaften 1996 anerkannt wurden, drängt der rechtspopulistische Ministerpräsensident Orbán diese Freiheiten mit scharfen Gesetzen wieder zurück. Die Politik der Fidesz-Partei im LGBTQIA+- Bereich wirft grundlegende Fragen über die Natur der ungarischen Demokratie, den Schutz von Minderheitenrechten und die zukünftige Ausrichtung des Landes auf.Die Geschichte der LGBTQIA+ Bewegung in Ungarn ist geprägt von einem Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung. Trotz einiger Fortschritte in den frühen 2000er Jahren bleibt die gesellschaftliche Akzeptanz in vielen Teilen des Landes begrenzt. Dies ist besonders in ländlichen und konservativen Bereichen der Fall, wo traditionelle Werte tief verwurzelt sind. Die LGBTQIA+-Bewegung in Ungarn hat es mit einer gesellschaftlichen und politischen Umgebung zu tun, die oft feindlich gesinnt ist. Ihre Bemühungen um Gleichstellung sind in einem Land, das zunehmend von konservativen und nationalistischen Ideologien geprägt ist, auf erhebliche Hindernisse gestoßen. In diesem Kontext ist die Rolle der Fidesz-Partei von besonderer Bedeutung.Im Jahr 2021 wurde Minderjährigen beispielsweise verboten, über Queerness und Transgeschlechtlichkeit aufgeklärt zu werden. Seit März 2020 hat das ungarische Parlament nämlich mehrere Gesetze verabschiedet, die die Rechte von queeren und trans Personen einschränken. Zunächst wurde Transpersonen untersagt, ihr Geschlecht legal anzuerkennen (vgl. Darida 2021). Anschließend wurde ein weiteres Gesetz erlassen, das festlegt, dass der Vater ein Mann und die Mutter eine Frau ist, wodurch queeren und alleinstehenden Personen die Adoption von Kindern untersagt wird. Das 2021 verabschiedete Gesetz ist Teil eines Pakets, das Strafverschärfungen für sexualisierte Gewalt an Kindern vorsieht und zugleich die "Propagierung" von Homosexualität verbietet.Das geplante Gesetz beinhalte ein Verbot von Büchern, Filmen und anderen Inhalten, die Kindern und Jugendlichen zugänglich sind und nicht-heterosexuelle Sexualität darstellen. Zudem soll jede Werbung untersagt werden, in der Homosexuelle oder Transsexuelle als Teil der Normalität erscheinen (vgl. Felschen 2021). Die ungarische Regierungspartei Fidesz verbindet nämlich seit Jahren die Themen Homosexualität und Kinderschutz (vgl. Darida 2021). In Bezug auf ein Kinderbuch mit queeren Figuren äußerte Premierminister Viktor Orbán: "Lasst unsere Kinder in Ruhe." (vgl. Darida 2021).Aktivist*innen warnen davor, dass die neue Gesetzgebung in Ungarn queere und trans Personen gefährdet, insbesondere Jugendliche, die nicht cis und/oder hetero sind. Trotz tausender Proteste vor dem Parlament wurde der Gesetzesentwurf einen Tag später mit der Zustimmung von 157 von 199 Abgeordneten verabschiedet. Das Europäische Parlament hat dieses neue ungarische Gesetz zur Behandlung von Homosexualität und Transgender 2021 scharf kritisiert. Die Abgeordneten bezeichneten es als "klaren Verstoß" gegen die Werte, Grundsätze und Rechtsvorschriften der EU (vgl. Tschirner 2021).Wie ernst Orbán es mit diesem "Homophobiegesetz" meint, erkennt man an dem Vorfall Anfang November 2023, als der Direktor des Nationalmuseum entlassen wurde, weil er wegen LQBTI- Darstellungen in einer Ausstellung gegen das Kinderschutzgesetz verstoßen haben soll. Das Kultusministerium gab bekannt, dass Simon Gesetzwidrigkeiten in seinem Haus geduldet habe, weshalb er nicht länger im Amt bleiben könne. Der Auslöser für die Entlassung war eine Ausstellung der internationalen Stiftung World Press Photo im Nationalmuseum. Diese zeigte weltweit preisgekrönte Pressefotos, darunter Bilder von Bewohnern eines Altenheimes auf den Philippinen, in dem LGBTI-Menschen leben, einige davon in Frauenkleidern.Im April 2023 wollte die ungarische Regierung ein weiteres kontroverses neues Gesetz verabschieden, das es Bürgern ermöglicht hätte, anonym gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern bei den Behörden zu melden. Kabinettschef Gergely Gulyás argumentierte, dass die Regelung die EU-Hinweisgeberrichtlinie umsetzt, die Whistleblower schützen soll. Das Gesetz erlaube Meldungen "im öffentlichen Interesse" und "zum Schutz der ungarischen Lebensweise", insbesondere wenn die "verfassungsmäßige Rolle von Ehe und Familie" infrage gestellt wird (vgl. Peer 2023). Kritiker sehen darin eine Schikane, die sich vor allem gegen LGBTQ+-Personen richtet.Die Verfassung von 2019 beschränkt die Ehe auf Mann und Frau. Besorgte Bürger befürchteten, dass Kinder aus gleichgeschlechtlichen Familien durch die neue Meldemöglichkeit in Gefahr sein könnten. Áron Demeter von Amnesty International bezeichnet das Gesetz als "legalen Nonsens", der zu Selbstzensur und Angst in der LGBTQ-Gemeinschaft führt (vgl. Peer 2023). Die französische Europaministerin Laurence Boone kritisiert das Gesetz als nicht im Einklang mit europäischen Werten und als schlechtes politisches Signal. Die ungarische Staatspräsidentin Katalin Novak hat jedoch überraschend dieses umstrittene Gesetz abgelehnt, das die Rechte von LGBTIQ- Personen enorm einschränken wurde (vgl.. o.A. 2023).In der seit 2010 währenden Amtszeit des rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán hat erstmals ein Staatsoberhaupt Einspruch gegen ein Gesetz erhoben, das für Orbáns konservative Ideologie von großer Bedeutung ist. "Das Veto der Präsidentin bedeutet, dass das Parlament das Gesetz neu verhandeln muss. Grundsätzlich kann es dieses aber auch in unveränderter Fassung neu beschließen, wogegen die Präsidentin keine Handhabe mehr hätte" (o.A. 2023).Diese Politik sorgt nicht nur innerhalb des Landes für Spannungen, sondern belastet auch Ungarns Beziehungen zu internationalen Partnern. Die Zukunft der LGBTQIA+-Rechte in Ungarn bleibt ungewiss und hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab, einschließlich der Innenpolitik Ungarns, dem internationalen Druck und den sich verändernden gesellschaftlichen Einstellungen.Literatur:Darida, M. (2021): "Kinder sollten lernen, dass wir Menschen sind". In: Zeit-Online. Unter: https://www.zeit.de/zett/queeres-leben/2021-06/queere-menschen-ungarn-lgbtq-gesetz-viktor-orban-minderjaehrige (letzter Zugriff 18.01.2024)Felschen, C. (2021): Tausende Ungarn demonstrieren gegen Anti- LGBT- Gesetz. In: Zeit Online. Unter: https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-06/ungarn-lgbtq-gesetz-minderjaehrige-verbot-proteste (letzter Zugriff 18.01.2024)o.A. (2023): Erstes Veto seit Orbans Machtantritt: Ungarns Präsientin Novak stoppt weiteres Anti- LQBTIQ- Gesetz". In: Tagesspiegel. Unter: https://www.tagesspiegel.de/internationales/erstes-veto-seit-orbans-machtantritt-ungarns-prasidentin-novak-stoppt-weiteres-anti-lgbtiq-gesetz-9705128.html (letzter Zugriff 18.01.2024)Peer, M. (2023): Regierung verteidigt neues LGBTQ- feindliches Gesetz. In: Zeit- Online. Unter: https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-04/ungarn-lgbtq-feindliches-gesetz-kritik-menschenrechtler(letzter Zugriff 18.01.2024)Tschirner, U. (2021): EU- Parlament verurteilt Ungarns LGBTG- Gesetz "auf das schärfste"". In: Zeit- Online. Unter: https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-07/ungarn-homosexuellen-gesetz-verabschiedung-umstritten-kritik-eu (letzter Zugriff 18.01.2024)
Blog: DPI-Blog
"Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus" – so lautet das jüngst im Suhrkamp Verlag erschienene Buch von Olga Shparaga[1], in dem die belarusische Philosophin die aktuelle Protestbewegung in ihrer Heimat analysiert. Wie schon der Titel verrät, steht dabei die Rolle der Frauen im Fokus. Sie sind es, die das Bild der revolution-in-progress, wie Shparaga die Ereignisse in Belarus seit den gefälschten Wahlen vom Sommer 2020 nennt, maßgeblich bestimmen.Auch in Polen ist es eine Frau, die das Bild der belarusischen Proteste prägt und es damit in den letzten Wochen regelmäßig auf die Titelseiten der polnischen und internationalen Zeitungen geschafft hat. Die Rede ist von der Künstlerin und Aktivistin Jana Shostak aus Hrodna in Belarus. Stets in ein weiß-rot-weißes Kleid gekleidet – den Farben, die für den Widerstand gegen das Regime von Alexander Lukaschenko stehen – macht sie zudem mit ihrer Aktion "Krzyk dla Białorusi" ("Schrei für Belarus") unermüdlich auf die politische Situation in ihrer Heimat aufmerksam. Eine Minute lang dauert ihre Aktion, die mittlerweile unter dem Hashtag #globalscream bekannt ist. Eine Minute schreit sie mit voller Lautstärke und lädt die Herumstehenden zur Teilnahme ein. Shostak nannte es zuletzt eine "krzykoterapia" – eine "Schreitherapie". Diese bringe das Wechselbad der Emotionen zum Ausdruck, die durch die hoffnungsvollen Proteste und die blutigen Gegenreaktionen des Lukaschenko-Regimes hervorgerufen werden. In Kunstkreisen ist Shostak, die aus einer belarusisch-polnischen Familie stammt und 2010 zum Kunststudium nach Polen kam, schon seit einigen Jahren bekannt und ist regelmäßig auf zahlreichen polnischen und europäischen Ausstellungen vertreten. Zuletzt war sie auf Schönheitswettbewerben in Polen unterwegs, die sie als Plattform für künstlerische Projekte nutzt. Erstmals Aufmerksamkeit erregte sie 2017 mit ihrer Abschlussarbeit, die im Atelier des bekannten Installationskünstlers Mirosław Bałka an der Warschauer Kunstakademie entstand und als Gegenentwurf zur restriktiven Flüchtlingspolitik der Regierung gelesen werden kann.Sensibilisiert durch ihren eigenen Migrationshintergrund begab sich Shostak hier auf die Suche nach einer Alternative für das polnische Wort "uchodźca", zu Deutsch "Flüchtling".In Gesprächen mit in Polen lebenden Ausländer:innen, polnischen Bürger:innen und Sprachwissenschaftler:innen ging sie der Bedeutung des Begriffs "Flüchtling" nach. Um die mit diesem Wort verbundene stigmatisierende Wirkung in eine positive Assoziation zu wandeln, schlug sie vor, "Flüchtling" mit "Nowak" zu ersetzten – also mit dem in Polen am häufigsten vorkommenden Nachnamen, der ins Deutsche mit "Neuling", ins Englische mit "newcomer" übersetzt werden kann. Dies diskutierte sie auch in der beliebten TV-Show "Słownik Polsko-Polski" ("Polnisch-Polnisches Wörterbuch") und präsentierte ihre Ergebnisse öffentlich im beliebten Warschauer Einkaufszentrum "Złote Tarasy". Shostaks Ziel ist es, die polnische Sprache nachhaltig zu verändern und auch andere zum Gebrauch der neuen Wortschöpfung zu bewegen. Zu diesem Zweck benutzt sie seitdem in allen Interviews und öffentlichen Auftritten konsequent die Substantive "Nowak, Nowaczka, Nowacy", wenn sie von Flüchtlingen spricht und zählt darüber hinaus zum kleinen Kreis von Verfechter:innen einer gendersensiblen Sprache in Polen.[2] Seit dem Beginn der Protestbewegung gegen das Regime von Alexander Lukaschenko setzt sich Jana Shostak nun vor allem für ihre aus Belarus geflüchteten Landsleute ein. Mit ihrer einminütigen Schrei-Aktion appellierte sie im Herbst 2020 mehrere Dutzend Mal im musealen Kontext und vor dem Warschauer Büro der Europäischen Kommission für mehr Aufmerksamkeit für die Probleme von Belarus:innen. Angefangen hat sie mit dieser performativen Aktion bereits Ende August, als sie aus ihrer belarusischen Heimatstadt Hrodna von den Protesten nach der gefälschten Wahl nach Warschau zurückkehrte. Zudem engagiert sich Shostak seitdem bei der praktischen Organisation von Unterstützung für die nach Polen vor Repressionen und Folter Geflüchteten und fordert von der polnischen Politik die Einhaltung der versprochenen Hilfeleistungen. Erfolgreich war die mittlerweile 28-Jährige damit bereits im September 2020. Während eines Treffens zwischen dem polnischen Premierminister Mateusz Morawiecki mit der belarusischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja konnte Jana Shostak auf die formellen Visa-Probleme aufmerksam machen, mit denen die belarusischen Flüchtlinge zu diesem Zeitpunkt zu kämpfen hatten. Nachdem sie bei einem offiziellen Spaziergang durch die Warschauer Innenstadt lautstark ihre Stimme erhoben hatte, suchte der Amtschef des polnischen Ministerpräsidenten das Gespräch mit ihr. Shostak erreichte, dass die Ausgabe von Touristenvisa für Belarusen wieder aufgenommen und den Inhabern von humanitären Visa der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht wurde. Zuvor hatte sie ohne Ergebnis versucht, andere Abgeordnete sowie die Helsinki- Stiftung für Menschenrechte in Polen mit Sitz in Warschau zu kontaktieren. "Dank des Trainings durch meine Schrei-Minute (…) habe ich mir eine starke Stimme erarbeitet", erklärte sie ihren Erfolg im Nachhinein der Presse und setzte so auch diese Aktion in Bezug zu ihrem Schrei-Protest für Belarus.[3]Viral ging ihr Schrei-Protest, als sie bei der vom EU-Parlamentarier Robert Biedroń einberufenen Pressekonferenz nach der Gefangennahme des Bloggers und Journalisten Roman Protasewitsch teilnehmen durfte. Am 24. Mai, einen Tag nach dem Vorfall, kamen in Warschau vor der Botschaft der Republik Belarus Politiker:innen zusammen; auch in Polen lebende belarusische Oppositionelle waren bei der Pressekonferenz dabei. Shostak, wie immer in ihrem weiß-rot-weißen Kleid und diesmal mit einem Pappschild mit SOS-Schriftzug in den Händen, beendete ihren verzweifelten Appell an die EU mit dem einminütigen Schrei. Nicht nur hielt die internationale Presse diesen eindrücklichen Moment fest, in Polen erregte vor allem ihr Dekolleté oder vielmehr die Tatsache, dass sie unter ihrem Kleid keinen BH trägt, große Aufmerksamkeit.Dabei kam die Kritik nicht, wie zu erwarten wäre, vonseiten der rechtskonservativen Kreise, sondern von der Linken-Abgeordneten Anna-Maria Żukowska. Auf Twitter postete diese unter dem Foto von Shostaks Aktion einen inzwischen gelöschten Kommentar: "Warum habe ich nicht das Gefühl, dass es ihr tatsächlich um Belarus geht?"[4] Die mit der linken Zeitschrift Krytyka Polityczna verbundene Journalistin Wiktoria Bieliaszyn repostete sofort: "Jana Shostak reißt sich seit Monaten die Beine aus, ihre ganze Zeit opfert sie dem Aktivismus und realen Hilfeleistungen für Belarusen und die Opfer des Regimes. Anna-Maria Żukowska, angeblich eine Abgeordnete der Linken, sieht einen Bildschirm, auf dem man sich abzeichnende Brustwarzen sieht, also veröffentlicht sie einen blöden, ordinären, sexistischen und misogynischen Kommentar. Würden männliche Brustwarzen bei Ihnen auch so viele Emotionen hervorrufen? Schäm dich, Linke!"[5] #DekoltDlaBiałorusi – ein Dekolleté für Belarus Es folgten heftige Reaktionen in den sozialen Medien und eine große Solidarisierungwelle. Künstler:innen und Aktivist:innen organisieren seitdem in ganz Polen Schrei-Aktionen für Belarus. Besonders aktiv ist der Künstler Arek Pasożyt in Toruń. Bartosz Bielenia, der Hauptdarsteller des Oscar-nominierten Films "Corpus Christi" nutze wiederum eine offizielle Preisverleihung im Europarlament für seinen Schrei für Belarus.Shostak selbst drang in Warschau sogar bis in den Senat vor[6] und nutze die ihr zuteilwerdende Aufmerksamkeit: Über ihre sozialen und inoffiziellen Netzwerke initiierte sie die Aktion #DekoltDlaBiałorusi. Hierfür kam sie erneut vor dem Warschauer Büro der Europäischen Kommission mit einer Gruppe von Künstlerinnen und Aktivistinnen zusammen, die nur mit einem BH bekleidet oder mit ganz nacktem Oberkörper ihre Schrei-Performance begleiteten. Alle hatten dabei mit schwarzer Schrift auf dem Dekolleté die Namen von polnischen und internationalen Firmen stehen, die weiterhin mit dem Regime von Alexander Lukaschenko zusammenarbeiten. Abb. Mit freundlicher Erlaubnis von Künstlerin und vom Fotografen Die Aktion erinnert auf den ersten Blick an die Femen-Proteste – also an die in der Ukraine entstandene und mittlerweile von Frankreich aus weltweit tätige Aktivistinnen-Gruppe, die mit entblößten Brüsten und auf die Haut gemalten Sprüchen nicht unumstritten auf Frauenunterdrückung und Sexismus aufmerksam macht. #DekoltDlaBiałorusi wirkt allerdings vorsichtiger und durch die Mischung von bekleideten und obenherum entblößten Frauen weniger provokant. So ist auch zu erwähnen, dass die Brustwarzen der obenherum unbekleideten Frauen abgeklebt waren, um so die Zensur durch die sozialen Medien zu umgehen und die Weiterverbreitung der Aktion nicht zu gefährden.Nichtsdestotrotz ist es auch hier der nackte Frauenkörper in Verbindung mit dem lauten Schrei, der die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit fordert und so Veränderung – in diesem Fall die Aufgabe der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit dem belarusischen Diktator – erreichen will. #DekoltDlaBiałorusi im Kontext der feministsichen Kunst und des Frauenstreiks in Polen Die Aktion #DekoltDlaBiałorusi hat folglich offensichtliche feministische Elemente. Im polnischen Kontext geht der Einsatz des nackten Frauenkörpers als Werkzeug des politischen und gesellschaftlichen Protests bereits auf die 1970er und frühen 1980er Jahre zurück. So kann die Aktion #DekoltDlaBiałorusi auch in die Tradition der Arbeiten der polnischen Performancekünstlerin Ewa Partum gestellt werden. Die seit 1983 in Berlin lebende Partum, die heute als Pionierin der feministischen Kunst Ostmitteleuropas gilt, schuf 1980 unter dem Titel "Samoidentyfikacja" ("Selbstidentifikation") einen Zyklus von Fotomontagen. In diesen komponierte sie ihren eigenen nackten Körper in Fotografien des grauen, sozialistischen Warschauer Alltags hinein, so dass es wirkt, als würde sie unbekleidet durch die Innenstadt laufen.Partums so in Szene gesetzte Nacktheit wird zu einem Moment der Kritik gegenüber dem kommunistischen System. Adressiert wird in der Serie "Selbstidentifikation" allerdings ebenso die konservative polnische Gesellschaft samt ihrer politischen Opposition, die mit ihrer Nähe zur katholischen Kirche ein traditionelles Frauenbild propagierte. Letzteres führte schließlich auch dazu, dass die seit 1956 geltende liberale Regelung auf Abtreibung 1993 im Sinne der Wiederherstellung der nationalen polnischen Ordnung und Überwindung des kommunistischen Systems verschärft wurde. Ab da war Abtreibung nur in Ausnahmefällen möglich.[7] Hatten die Frauen in Polen dies noch weitestgehend stillschweigend akzeptiert und waren feministische Stimmen wie die Ewa Partums noch eine Seltenheit, kommt es seit 2016 zu regelmäßigen Protesten gegen Versuche der weiteren Verschärfung des Rechts auf Abtreibung. Als das regierungsfreundliche Verfassungsgericht in Polen schließlich am 22. Oktober 2020 durchsetzte, dass fortan Schwangerschaftsabbrüche auch aufgrund schwerer Fehlbildungen des Fötus als verfassungswidrig gelten, überzog eine Welle von Protestaktionen das Land. Bis heute flammen diese immer wieder auf und haben sich zu einem zivilgesellschaftlichen Gegengewicht zur offiziellen Politik der PiS-Partei entwickelt. Geprägt sind die Proteste von performativen Aktionen und visuellen Symbolen wie dem roten Blitz, der zum Erkennungszeichen der Bewegung geworden ist. Sowohl im öffentlichen Raum wie auch in den sozialen Medien sind diese anzutreffen und stehen für die Forderung nach körperlicher Selbstbestimmung. Auch in diesem Kontext sind die Aktionen #DekoltDlaBiałorusi und #globalscream zu sehen. So soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass das gemeinsame Schreien bereits im Kontext des Frauenstreiks eine Form des Protests darstellte.[8] Nun allerdings von der internationalen Empörung getragen, die die perfide Verhaftung Roman Protasewitsch auslöste, hat der #globalscream durch Jana Shostak in Polen eine Erweiterung und gleichzeitig Neu-Kontextualisierung erhalten. Ohne Zweifel geht es allen, die sich aktuell daran beteiligen, hauptsächlich um Aufmerksamkeit für die Situation in Belarus und Hilfe für die aus dem Land Geflüchteten. So wurde insbesondere durch die Verbindung mit der Aktion #DekoltDlaBiałorusi auch vermehrte Aufmerksamkeit auf den ebenfalls vor dem vor dem Warschauer Büro der Europäischen Kommission Anfang Juni parallel andauernden Hungerstreik der Belarusinen Stasia Glinnik, Bażena Szamowicz und Karalina Sauka gelenkt, die ähnliche Ziele wie die Schreienden verfolgten und Sanktionen der EU gegen das Lukaschenko-Regime forderten.Abb. Mit freundlicher Erlaubnis vom Künstler und vom Fotografen Aber wäre die Kritik an Jana Shostaks Dekolleté auch so viral gegangen, bestünde aktuell weniger Sensibilität für feministische Themen, zu denen auch die selbstbestimmte Wahl der Kleidung gehört? Hätte sie auch dann soviel Solidarität und Aufmerksamkeit für ihr Anliegen bekommen? Wäre es Jana Shostak ohne ihr bestehendes Netzwerk in der polnischen Kunstszene gelungen, so viele Menschen für die Solidarität mit Belarus zu mobilisieren und damit auch die Politik zum Handeln aufzufordern?Zwischen Kunst und politischem Aktivismus Neben Personen aus der belarusischen Diaspora handelt es sich nämlich bei vielen der Protagonist:innen, die Shostak bei ihren aktuellen Aktionen unterstützen, um Aktivist:innen und Künstler:innen, die auch den Frauenstreik mitprägen. Auch Jana Shostak selbst gehört zu jenen, die den Frauenstreik unterstützen und die sich ebenso immer wieder für Klimaschutz, gegen Rassismus und Homophobie einsetzen. Dabei werden jenseits der parteigelenkten Politik "postartistische", meist performative Praktiken an der Grenze von Kunstbetrieb und politischem Aktivismus entwickelt. Diese überwinden den musealen Kontext und gemeinsam mit einer breiten Masse wird für Minderheitenrechte und gegen Diskriminierung in Polen und weltweit eingestanden.Shostaks Engagement in dieser Sache offenbart nicht nur ihr eingangs erwähntes Projekt "Nowak, Nowaczka, Nowacy". Deutlich wurde dies zuletzt auch während der "Parada Równości", der "Pride-Parade", die am 19. Juni 2021 in Warschau stattfand. Hier taten sich Vertreter:innen des Frauenstreiks mit den belarusischen Aktivist:innen zusammen und demonstrierten gemeinsam mit der LGBTQI-Community friedlich gegen die von der Regierung mitbefeuerte Homophobie. Shostak appellierte dabei auch an die belarusische Oppositionsbewegung, bei den eigenen Bemühungen um die europäischen Werte und Rechte selbst auch keine Minderheiten auszugrenzen. Dafür musste sie wiederum Stimmen der Kritik von der oftmals konservative Werte vertretenden belarussischen Diaspora hinnehmen. Abb. Facebook-Screenshot mit freundlicher Erlaubnis der Künstlerin
[1] Olga Shparaga: Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus, Berlin 2021.
[2] Vgl. https://www.calvertjournal.com/articles/show/9664/newcomers-poland-migration-art (29.6.2021.)
[3] Maciek Piasecki: Historia jednego protestu: nakrzyczała na Morawieckiego i wywalczyła pomoc dla Białorusinów, oko.press vom 3. Oktober 2020, https://oko.press/nakrzyczala-na-morawieckiego-i-wywalczyla-pomoc/ (29.6.2021)
[4] Anna Maria Żukowska komentuje zdjęcie aktywistki. "Dlaczego nie mam wrażenia, że naprawdę chodzi jej o Białoruś?", wprost.pl vom 25. Mai 2021, https://www.wprost.pl/polityka/10450242/jan-shostak-wzniosla-krzyk-rozpaczy-anna-maria-zukowska-krytykuje-aktywistke.html (29.6.2021).
[5] https://twitter.com/bieliaszyn/status/1396869027721515010?s=27 (29.6.2021).
[6] "Łukaszenka uczynił z polskiej mniejszości kozła ofiarnego", TVN 24 Polska vom 11. Juni 2021,https://tvn24.pl/polska/senat-debata-na-temat-dzialan-polskiego-rzadu-w-sprawie-bialorusi-5118137 (29.6.2021).
[7] Vgl. Stephan Raabe (unter Mitarbeit von Janina Härtel): Zur Korrektur eines Klischees: Abtreibung in Polen Zahlen und Schätzungen, Konrad-Adenauer-Stiftung in Polen, 9. Mai 2007, https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=4f270774-45bc-a804-cf3c-49183e68ca6f&groupId=252038 (29.6.2021)
[8] Akcja "Global Scream" w Poznaniu - minuta krzyku kobiet na Półwiejskiej, in: Polska Times (Onlineausgabe) vom 9. März 2019.
https://polskatimes.pl//akcja-global-scream-w-poznaniu-minuta-krzyku-kobiet-na-polwiejskiej-zdjecia-wideo/ar/13949883 (29.6.2021). In Berlin organisiert das mit dem polnischen Frauenstreik verbundene Kollektiv Dziewuchy Berlin seit 2019 auch #globalscream-Aktionen. Vgl. HERstoria współczesna – o Global Scream, https://www.dziewuchyberlin.org/2021/06/19/herstoria-wspolczesna-o-global-scream/?fbclid=IwAR3iqp1iYEpz3fW_3NUWEBRCGzJpmhI0rnDl0H67qYF_e9bZIhiItxJMREI (29.6.2021)