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ChatGPT und Co sind eine Herausforderung für das Lernen und Lehren. Und eine einmalige Chance für die Hochschulen: Wenn sie jetzt selbst zu Anbietern freier Sprachmodelle werden, stärken sie ihre Lehre, Forschung und digitale Autonomie. Ein Gastbeitrag von Benjamin Paaßen.
Benjamin Paaßen ist Juniorprofessor für Wissensrepräsentation und Maschinelles Lernen an der Universität Bielefeld und Senior Researcher im Educational Technology Lab des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI). Foto: Studio Monbijou.
SEIT ZEHN JAHREN forsche ich zum Einsatz von Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) in der Bildung – bislang ein Nischenthema, denn die Digitalisierung in der Bildung, von Künstlicher Intelligenz ganz zu schweigen, schreitet hierzulande nur langsam voran. Im Jahr 2023 konnte ich mich plötzlich vor Vortrags- und Interviewanfragen kaum retten: ChatGPT war über das deutsche Bildungssystem hereingebrochen, und nun wünschte man sich seitens der KI-Expert*innen Einordnung und Rat.
Mein Eindruck aus all diesen Gesprächen und Begegnungen: Lehrende und Lernende sind sich im Wesentlichen einig, dass es keinen Sinn ergibt, Sprachmodelle wie ChatGPT (englisch: large language models oder LLM) zu verbieten. Zum ersten, weil ein solches Verbot ohnehin nicht durchsetzbar wäre, denn es gibt bis dato keinen verlässlichen Weg, Erzeugnisse von LLM von menschlichen Texten zu unterscheiden. Zum zweiten (und wichtiger), weil wir den Anspruch haben sollten, Lernenden beizubringen, wie mit den neuen Technologien verantwortungsvoll umzugehen ist. Zum dritten, weil LLM als Werkzeuge für das Lernen und Lehren große Potenziale haben. Die ständige wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz beispielsweise plädierte kürzlich erst für die Nutzung von LLM im Unterricht.
Um diese Potenziale zu erschließen, müssen sie Lernenden und Lehrenden allerdings so zur Verfügung gestellt werden, dass eine verantwortungsvolle Nutzung überhaupt möglich wird. Überspitzt gefragt: Können wir Lehrkräften guten Gewissens empfehlen, die Daten der eigenen Lernenden auf die Server eines US-Konzerns zu übertragen? Können wir gleiche Bedingungen zwischen Lernenden sicherstellen, wenn der Zugang zu den Modellen kostenpflichtig ist? Und wollen wir uns im Bildungssystem überhaupt davon abhängig machen, dass Unternehmen die Modelle verlässlich zu akzeptablen Bedingungen zur Verfügung stellen? Viele würden diese drei Fragen verneinen.
Glücklicherweise haben die Hochschulen jetzt die einmalige Chance, dem gesamten Bildungssystem eine Alternative anzubieten – und zwar, indem sie sich strategisch dazu entscheiden, selbst LLM bereitzustellen. Transparent, kostengünstig und verlässlich.
Drei Zutaten für eigene Sprachmodelle
Dafür braucht es drei Zutaten: Erstens die trainierten Modelle selbst. Diese sind unter freier Lizenz ("open source") auf Seiten wie huggingface.co zu finden. Zweitens die Recheninfrastruktur, um die Modelle zu betreiben, vor allem Server mit starken Grafikkarten. Drittens, am wichtigsten, die Expertise, um die aktuell leistungsfähigsten LLM auszuwählen, auf die eigene Infrastruktur zu bringen und einfache Benutzungsschnittstellen für Lernende und Lehrende bereit zu stellen.
Viele Institutionen verfügen über Zutaten eins und zwei – aber kaum jemand ist im Hinblick auf die dritte Zutat so gut aufgestellt wie die Hochschulen. Eine besonders gute Ausgangslage haben Standorte mit einer starken LLM-Forschung, etwa die TU Darmstadt oder die LMU München. Aber auch an vielen anderen Hochschulen (meine Universität eingeschlossen) wurde seit 2022 rapide Expertise zu LLM-Forschung aufgebaut – und im gleichen Zuge die nötige Recheninfrastruktur beschafft.
Ganz ohne Investitionen wird es freilich nicht gehen. LLM für die Forschung zu betreiben ist naturgemäß etwas Anderes, als sie im Rahmen eines Web-Service für Millionen von Lernenden und Lehrenden bereit zu stellen. Daher wird es voraussichtlich nötig sein, Serverkapazitäten auszudehnen und Personal auf Dauerstellen dafür einzusetzen, die Server, Modelle und Schnittstellen stets aktuell zu halten und die Nutzenden zu betreuen. Dafür braucht es Fördermittel von Bund und Ländern. Aber in überschaubarer Höhe. Pro teilnehmende Hochschule belaufen sich die Kosten für den Hochlauf im ersten Jahr voraussichtlich auf nicht mehr als eine Million Euro.
Ziel sollte es sein, in jedem Bundesland mindestens eine Hochschule zu finden, die frei lizensierte LLM für alle Hochschulen und Schulen (mindestens für die Sekundarstufe, wie von der KMK empfohlen]) im Bundesland bereitstellt. Mit diesen LLM können Lernende und Lehrende den verantwortungsvollen Umgang lernen bzw. eigene pädagogische Konzepte entwickeln. Nicht nur das: Die Hochschulen können mit den Daten der Lernenden und Lehrenden – informiertes Einverständnis vorausgesetzt – an der Entwicklung neuer Bildungstechnologien forschen, etwa weiter trainierter LLM oder neuer Nutzenden-Schnittstellen für das Bildungssystem. Forschung und Lehre könnten hier also Hand in Hand gehen.
Schon in wenigen Monaten könnten wir technologisch oder vertraglich auf proprietäre Modelle festgelegt sein. Insofern ist die digitale Autonomie im Bildungssystem gefährdet, wovor Amrei Bahr und Maximilian Mayer in einem Gastbeitrag in der FAZ zu Recht gewarnt haben. Auch der Wissenschaftsrat betont die Relevanz digitaler Souveränität in der Wissenschaft. Um diese Souveränität zu wahren, ist es jetzt an den Hochschulen, die Initiative zu ergreifen. Es ist eine einmalige Chance, die die Hochschulen nutzen sollten – für ein starkes und zukunftsfähiges Bildungssystem, das sich nicht ohne Not von Privatunternehmen abhängig macht.
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Russlands Küche gilt nicht. Sie ist im allgemeinen westlichen Bewusstsein nicht präsent. Mit Polen assoziiert man vage Pierogi, ähnliche Pielmieni mit der Ukraine, ähnlich wie der in Ostdeutschland früher echt populärer Soljanka-Eintopf. Aber Russland?Witold Szabłowski, polnischer Journalist mit Koch-Erfahrung in Skandinavien, schaut den Russen in die Töpfe. Dabei zeichnet er russische, sowjetische und wieder russische Geschichte in zwölf Topf-Geschichten, die Personen, Regionen oder Ereignissen zugeordnet werden. Er beschränkt sich aber nicht etwa auf übliche Gastro-Literaturtipps, ganz im Gegenteil, die angegebenen Rezepte sind nicht immer "zum Probieren" gedacht, vielmehr geht es um die Geschichten hinter den Töpfen oder vor den Herdplatten. Und wer steht dort? Natürlich Köche und andere Kreml-Vertraute oder die man dafür hält, die ihre Lebensgeschichten erzählen.Eine übliche Rezepte-Sammlung zum Nachahmen oder um sie als Geschenk-Kochbuch herauszugeben wäre nur im ersten Fall der Zarenküche lohnend, denn viele könnte es heute noch interessieren, wie die Speisen am damaligen Zarenhof schmeckten. Klar hatte der Zar einen Hofstaat zu ernähren, in der Küche des Winterpalasts arbeiteten immerhin mehr als 150 Angestellte, davon haben zehn nur für den Zaren gearbeitet, seine Familie und die Privatgäste. Vier Köche waren mit dem Backen und Braten beschäftigt, vier weitere mit Suppen. Darüber hinaus gab es eine Menge "Praktikanten", die alle Bereiche durchlaufen mussten. An einem gewöhnlichen Tag aß die Familie zum Frühstück z.B. eine Spargelsuppe, einen Hummer, Gänsefleisch, Selleriesalat und Kaffee. Zu Mittag tischte man Graupensuppe (mit Sauergurken, Möhren und Erbsen) auf, dazu Kartoffelpuffer mit Lachspaste, Roastbeef, gebratene Hähnchenbrust, Birnen in Sherry und Kuchen mit Preiselbeeren und Zuckerguss. So gesehen aß die Zarenfamilie zwar ausgesucht, aber insgesamt eher bescheiden. Das alles wissen wir von Alexandra L., der Urenkelin eines Angestellten des letzten Zarenkochs, die die Geschichte Ivan Charitonows hütet und dem polnischen Journalisten Witold Szabłowski zum ersten Mal verrät. Charitonow war der erste und der letzte Russe als Zarenkoch und dies auch zum Schluss der Zarenära, nachdem der letzte Franzose den Petersburger Hof in den Wirren des Weltkriegs und der Revolution verließ. Von da an ging es mit dem imperialen Menü eher abwärts, die Familie musste zwar nicht hungern, bis es in Jekaterinburg, wohin die Bolschewiki sie verbannt hatten, dann so schlecht war, dass Charitonow auf der Straße um Nahrungsmittel für den Zaren betteln musste. Nach Aussagen aus der Umgebung des Zaren hat ihn die Oktoberrevolution ziemlich wenig interessiert, erbost war Nikolaus II. nur wegen der Plünderung und Zerstörung der Kellervorräte an Wein und ausgesuchten Alkoholika. Der Koch und der Butler gehörten zum Zaren wie die engsten Familienmitglieder, das erkannten die Bolschewiki auch so an und ließen die beiden gleich nach dem Zaren töten, erst danach die Zarin, ihre Zofe und die Kinder. Nachdem die Leichname übereinander in eine Grube geworfen wurden, war es nach der Exhumierung (erst 1990, nach dem Fall der UdSSR) unmöglich, die Gebeine Nikolaus II. und die seines Kochs Charitonows eindeutig zu identifizieren. "So liegt der Koch mit dem Zaren in einem Sarg, symbolisch, nicht wahr?", fragt Alexandra Z.Die russische Küche hatte es von nun an unter den Kommunisten schwer. Bis zum Fall der Sowjetunion hatte das beinahe 200 Millionen Menschen zählende "Volk" immer mit einem Ernährungsproblem zu kämpfen, die verstaatlichten Betriebe (Kolchosen und Sowcosen) fielen in der Produktivität so rasant zurück, dass Geschäfte eigentlich zu keiner Zeit genügend Ware angeboten, um den Menschen einen Essgenuss zu bieten. Von nun an durften nur einige Wenige über üppige Tische verfügen – im ganzen Land wurde die Ernährungssituation zum Politikum. Schuld daran waren die politischen Vorgaben – die rücksichtslose Kollektivierung, die Wegnahme des Saatguts, die Verbannung der Bauern aus der Ukraine nach Sibirien, die Veruntreuung in den staatlichen Betrieben, die räuberische Naturausbeutung und die politisch bedingte Verteilungspolitik, genauso wie z. B. der Getreideexport zu Hungerszeiten.Dabei aßen die kommunistischen Revolutionäre wenig, wie Lenin zum Beispiel, der sein Leben lang über Magen- und Verdauungsprobleme klagte. Auch Stalin war kein Gourmet, ihm reichten schon einfache Speisen wie Graupen mit Buttermilch. Erst mit der Zeit holte er Köche aus seiner georgischen Heimat in den Kreml samt den südländischen Sorten von Obst und Gemüse, wie in Russland bis dahin eher unbekannte Zucchini, Tomaten, Auberginen oder Paprika. Bei Lenin soll das Weißbrot an seiner gesundheitlichen Misere schuld gewesen sein. Die Uljanows, so die Erzählung, folgten der bürgerlichen Weißbrot-Mode, die im Schwarzbrot enthaltenen Mineralien und Ballaststoffe hatten sie aber kaum durch andere Speisen ergänzt und so waren Magenprobleme vorprogrammiert. Lenins Mutter, eine Wolga-Deutsche, achtete dabei auf Sauberkeit und vor allem auf Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit bei der Ernährung. So soll Wladimir Ilitsch ärgerlich geworden sein, wenn Gäste sich verspäteten und dadurch feste Mahlzeiten verschoben werden mussten. Er war kein Snob, aß, was man ihm auftischte, es ist nicht überliefert, was und ob ihm irgendetwas mal besonders schmeckte. Nach der Revolution wohnte Lenin in Gorki bei Moskau, um seine Gesundheit aufzubessern. Dort hatte er eine eigene Köchin mit Namen Schura. In der Sowjetunion durfte man nicht davon sprechen, dass Lenin eine Köchin hatte, offiziell kochten seine Schwester oder seine Frau Nadeschda Krupska.Auch Stalin hatte zunächst kein Händchen für die Küche. Auch fürs Aufräumen nicht. Als er, vom Zaren wegen revolutionärer Umtriebe nach Sibirien verbannt, eine Hütte mit Swerdlow und Kamenew teilte, zeigte sich schnell, dass er nicht vorhatte, etwa wie alle anderen im Wechsel zu kochen, geschweige denn zu spülen. Nur für die Jagd konnte er sich erwärmen. Später in Moskau, schon als Funktionär und Parteisekretär, aß er tagein tagaus in der Kreml-Mensa. Aber es sollte anders kommen, was Szabłowski in Stalins Heimat Gori von Iwan Aliachnow, dem Nachkommen einer georgischen Gastronomenfamilie erfährt. Iwans Stiefvater Alexander Egnataschwilli war ein umtriebiger Unternehmer in der kurzen wirtschaftsliberalen Zeit der 1920er Jahre gewesen (der sogenannten NEP-Ära). Er führte in Tiflis mehrere Restaurants und eine Weingroßhandlung. Den wirtschaftlichen Erfolg legte er seiner aus Thüringen stammenden Nachbarin Liliana zu Füßen, die er aber erst nach dem Tod ihres Mannes ehelichen konnte. Alex kannte auch "Keke", Stalins Mutter, die in jungen Jahren bei seinem Vater als Köchin aushalf. Iwan beteuert, dass Alexanders Leben nicht spannender hätte sein können - im guten wie im schlechten Sinne. Nach der neuen Parteidevise nach dem Ende der NEP-Politik sollten alle Privatunternehmer durch Steuern drangsaliert werden. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Alex kam wegen Steuerschulden ins Gefängnis, von wo er von "Keke" gerettet wurde. Kurze Zeit danach ging er mit Liliana nach Moskau. Stalin empfing ihn freundlich und gab ihm eine Anstellung als Chef eines Partei-Erholungsheimes auf der Krim. Später übertrug er ihm die Leitung seiner Datscha in Kunzewo bei Moskau, wo Alex auch für ihn kocht. Stalin aß damals einfach, zu seinem 50. Geburtstag tischte er z.B. "nur" eine rustikale Sauerkrautsuppe mit Kalbsfleisch auf. Irgendwann fragte er Stalin, ob ihm die georgische Küche nicht fehlen würde. Szabłowski schreibt: "Der Wechsel der Küche brachte Stalin viel Freude". So kamen Farbe und Vitamine auf dem Tisch des Diktators.Aber der Parteichef hatte seine tagtäglichen Marotten und Phobien. Eine davon war die Angst, vergiftet zu werden. So wurde Alex, der selber zwar immer weniger kochte, zum "Versuchskaninchen", der Stalins Mahlzeiten kostete. Alle Nahrungsmittel wurden vor Ort, d.h. in Kunzewo angebaut, ebenfalls wurden dort alle zum Verzehr bestimmten Nutztiere gezüchtet, Fische kamen aus dem eigenem Teich. Iwan Alichanow erzählte Szabłowski noch die Geschichte seiner unglücklichen Mutter Liliana, die um nichts in der Welt Alex und die Sowjetunion verlassen wollte, als dieser sie vor dem deutsch-sowjetischen Krieg warnte und sie nach Deutschland schicken wollte. Liliana geriet als Deutsche in den Sog "antifaschistischer" Propaganda und einer allgemeinen Anti-Spion-Psychose. Und selbst Alex, Stalins Koch und Vertrauter, konnte ihr nicht helfen… eine dramatische, tragische Geschichte.An Dramatik sind jedoch einige weitere Fragmente, welche die Zeit des Hungertodes in der Ukraine und des Zweiten Weltkriegs behandeln, nicht zu übertreffen. Nicht erst seit dem aktuellen Getreideabkommen mit der Ukraine weiß man, was es bedeutet, wenn Russland der Welt mit Hunger droht. Schon früher wurde dort nämlich mit Nahrungsmitteln Politik gemacht. Die Welt merkte davon wenig oder wollte sich damit nicht befassen. Linke Intellektuelle besuchten die Sowjetunion in den 1930er Jahren, die Allermeisten davon waren von den schnellen Errungenschaften der jungen Sowjetmacht begeistert. Die andere Seite der Medaille – dass es sich bei den Erfolgen um Sklavenarbeit im Gulag-System handelte, wollten diese Menschen nicht wissen. So gehören die Kapitel über Kollektivierung der Landwirtschaft in der Ukraine, die zum Raub der Lebensmittelreserven und Saatgut und zur Verbannung der "Kulaken" nach Sibirien führte, zu den dramatischen Momenten der in der Regel verschwiegenen Geschichte des Sowjetstaates. Über den "Holodomor" durfte man in der Sowjetunion nicht sprechen und auch der Westen war nicht interessiert, brauchte dieser Stalins UdSSR doch zunächst als Verbündeten im Kampf gegen Hitler-Deutschland. Damals starben Millionen Ukrainer auf den ertragsreichsten landwirtschaftlichen Gebieten der Welt. Der Hungertod war auch im Zweiten Weltkrieg im Osten Europas allgegenwärtig. Ohne die Nahrungsmittelhilfe der verbündeten Amerikaner ist der schnelle Vormarsch der Roten Armee 1944 wohl nicht denkbar… Und dennoch mussten viele Städte im Krieg hungern, über die Versorgung der Flüchtlinge und der nach Sibirien Vertriebenen machte sich die Sowjetmacht nur allzu wenig Gedanken, wie an anderer Stelle, etwa bei Wiktor Krawtschenko, einem sowjetischen Dissidenten, nachzulesen ist. Und über den Hunger in der Ukraine erzählt der Film von Agnieszka Holland "Mr. Jones", der allerdings in Deutschland kaum Erfolg hatte.Und was geschah nach dem Krieg? Auch da blieb die sowjetische Landwirtschaft hinter den Erwartungen der Gesellschaft, aber auch im Vergleich zu vielen anderen Ländern zurück. Für die festlich hergerichteten Tafeln im Kreml hatte das keine allzu große Bedeutung, wie Viktor Belajew, einer der erfahrensten Chef-Köche im Kreml berichtet. Er kochte für Breschnew, Gorbatschow, Jelzin und Putin, dabei kannte er die Geheimnisse der Kreml-Küchen wie kein anderer. Belajew teilt die dortigen Köche in "allgemeine" und "personengebundene". So hatten die hohen Persönlichkeiten in Staat und Partei ihren eigenen Koch, der vom KGB abgeordnet war. Mit dem Ableben "seines" Prinzipals oder im Falle dessen politischen Karriereknicks waren sie ebenfalls verpflichtet zu gehen. Viktor war ein "allgemeiner" Koch, der bei großen Empfängen in der Breschnew-Ära tätig war, auch für den polnischen Parteiführer Edward Gierek. In Moskau gab es damals keine exotischen Früchte oder Gemüse, viele ausländische Gäste brachten eigene Köche und Vorräte mit. "Das Einzige, was die Polen mitbrachten, das waren die Würste, solche hatten wir in der Sowjetunion nicht!", so Viktor im Gespräch mit Szabłowski. Mit Wehmut erinnert er sich an die üppig ausstaffierten Tafelrunden bei Breschnew: "Die Kreml-Tische – das ist eine Geschichte für sich, es gab eine ganze Dekor-Philosophie, damit waren auch -zig Leute beschäftigt. Das Wissen, das sich seit der Zarenzeit mehrte, hatte damals seinen Zenit erreicht. Auf den Tischen standen hübsch dekorierte Störe, versilberte Schüsseln mit schwarzem und rotem Kaviar, Krabbensalat, alle Arten von Fleisch und Fisch", so Belajew. Merkwürdig dabei war irgendwie doch die Anknüpfung an die "Dekadenz" der Zarenzeit, da doch die Parteifunktionäre Chruschtschow und Breschnew aus kleinen ukrainischen Dörfern bzw. Kleinstädten stammten. Nach offiziellen Anlässen wurden sie dann noch von ihren "persönlichen" Köchen bekocht und nicht selten mit einfachen Stampfkartoffeln mit Buttermilch beglückt.Szabłowski geht noch weiter – über die Ära Gorbatschow, der die übertriebene Üppigkeit Kremlscher Ess- und Trink-Rituale wieder abschaffte, über den alkoholkranken Jelzin bis hin zu Putin und dessen Großvater Spiridon, der Koch in einem Sanatorium gewesen sein soll. Dieser hätte sein Fach noch zu Zarenzeiten absolviert, so Putin in einem Zeitungsgespräch in den 1990er Jahren, kurz bevor er zum ersten Mal für das Amt des Präsidenten kandidierte. Später soll sein Großvater bei Lenin in Gorki und in einer Stalin-Datscha gekocht haben, aber beweisen lässt sich das nicht. Szabłowski merkt, dass das Thema schwierig ist und bekommt als Antwort von einem seiner Gesprächspartner: "Wenn der Präsident sagte, dass sein Großvater hier arbeitete, dann bin ich sicher, dass solche Nachweise bald ans Tageslicht kommen", sagte er, der anonym bleiben will. Anonym bleiben? Ja, in Putins Russland gilt nach wie vor die Devise, dass man lieber zu wenig als zu viel sagt.Und dennoch liest sich das Buch prächtig, da der Autor ein Meister seines Fachs ist und bleibt. Es gelingt ihm auch noch, Frauen zu finden, die nach der Katastrophe von Tschernobyl dort für die Rettungsmannschaft kochten, oder Frauen, die in Afghanistan in der Armee-Mensa tätig waren.Kaluzas Pflichtlektüren befassen sich meistens mit polnischen Büchern, die ich gerne auf Deutsch sehen würde, bei diesem Buch ist es anders, es ist soeben übersetzt worden und es wird gerade gedruckt! Das spannende (Koch)-Buch erscheint zur Frankfurter Buchmesse im Katapult Verlag, die Übersetzung besorgte Paulina Schulz-Gruner, ich wünsche dem Buch viel Erfolg!