In: Soziologie in der Gesellschaft: Referate aus den Veranstaltungen der Sektionen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der Ad-hoc-Gruppen und des Berufsverbandes Deutscher Soziologen beim 20. Deutschen Soziologentag in Bremen 1980, S. 826-830
In den Familienstudien geht es darum, den vorbewußten Bereich biographischer Organisation psychiatrischer Fälle aus unterschiedlichen Perspektiven zu analysieren. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das Problem der Alltagsroutine, das zunächst erläutert wird. Es werden die in den Familienstudien angewandten Methoden beschrieben und am Beispiel der klinischen Geschichte von Alfred A. und der Geschichte seiner Familie erläutert. Der Gang der Familienstudie wird nachgezeichnet, wobei auf die Handlungsorganisation im Familienmilieu, auf die leiblich-räumliche Organisation und auf die sprachliche Organisation eingegangen wird. Auf dieser Grundlage werden die Dimensionen der Verstrickung der Person in das Familienmilieu aufgezeigt. (KW)
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 1602-1609
"Der Vortrag beschreibt ein Konzept zur Analyse von historischen, autobiographischen Dokumenten, in denen die Autoren über selbst erlebte Erfahrungen des 'Deliriums' und des Wahns berichten. Grundlage ist eine aktuelle Studie (Brückner 2006) über 121 Fälle von psychischen Grenzerfahrungen aus dem europäischen Raum seit der Antike bis 1900. Das methodische Design soll vorgestellt werden und wird mit Fallvignetten aus dem 18. und 19. Jahrhundert illustriert. Im Zentrum steht eine methodologisch und kulturhistorisch begründete Argumentation für die Realisierung der Subjektperspektive in der Psychiatriegeschichte. Die medizingeschichtliche Biographieforschung zielt traditionell entweder auf die Viten 'großer' Ärzte oder auf die Pathographien 'berühmter' Persönlichkeiten. Erst in den letzten 25 Jahren haben sich auch patientengeschichtliche Untersuchungen durchgesetzt (vgl. Porter 1987). Um die Sichtweise der historischen Subjekte von Krankheitserfahrungen zu erschließen, bieten sich Selbstzeugnisse und persönliche Dokumente als empirisches Material an. Mit dem inhaltlichen Fokus auf das Gebiet der Psychosen und speziell auf die Erfahrung des Wahns, kann die Perspektiventriangulation zum kritischen Leitprinzip einer gültigen und zuverlässigen Auswahl der subjektiven Texte werden. Im Kern handelt es sich um eine qualitative Stichprobenziehung; charakteristisch dafür ist die ständige Verfeinerung der Auswahlkriterien im laufenden Forschungsprozess durch die Wechselwirkung zwischen Einzelfallrekonstruktion, Hypothesenbildung und Stichprobenerstellung. Am Anfang stehen begriffsgeschichtliche Untersuchungen: Wahnphänomene wurden vor dem 19. Jahrhundert noch nicht mit dem heute geläufigen, psychiatrischen Wahnbegriff bezeichnet, sondern seit dem 16. Jahrhundert mit dem umfassenden Begriff des 'Deliriums'. Zu kurz griffe nun eine Selektion des Materials am Maßstab von heutigen diagnostischen Kriterien (retrospektive Diagnostik) oder aber allein am Maßstab der früheren historischen Begrifflichkeiten, ersteres würde die historischen Bedeutungsgehalte 'präsentistisch' unterschlagen, letzteres würde Erkenntnisfortschritte 'kontextualistisch' nivellieren. Demgegenüber gilt es, die Sichtweise der Autoren, das Urteil ihrer nahen Zeitgenossen und die heute möglichen Interpretationen systematisch zu vergleichen, um entscheiden zu können, ob ein Text relevante Passagen enthält und damit zur Stichprobe gehört oder nicht. Die Quellen sollten zudem weiteren Gütekriterien genügen. Die Untersucherperspektive geht als Expertenperspektive in die Beurteilung ein. Dabei kommt es nicht darauf an, zu entscheiden, ob eine bestimmte Person tatsächlich krank war, sondern darauf, entsprechende Hypothesen methodengeleitet zu produzieren und die Kriterien zu explizieren. Auf diese Weise kann eine heterogene Vorauswahl von fraglichen Texten in eine vergleichbare Stichprobe überführt werden, die dann weiter untersucht werden kann, etwa hinsichtlich der sozialen Bedingungen des Schreibens, der subjektiven Krankheitstheorien der Autoren, ihres Sprachverhaltens oder ihrer Bezüge auf die zeitgenössische Theoriebildung." (Autorenreferat)
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 1060-1077
"Im Jahre 2002 erscheint das Buch 'Linked' von Albert-László Barabasi. Es trägt den Untertitel 'The New Science of Networks'. Das Buch wird sofort ein wissenschaftlicher Bestseller. Fast noch bekannter wird ein ähnliches Buch 'Six Degrees. The Science of a Connected Age' von Duncan Watts. Die Berichte und Rezensionen über beide Bücher erscheinen, unter anderem in der New York Times, im Economist, Science Magazine und in Nature und sorgen für die Wahrnehmung der Bücher in einer breiten Öffentlichkeit. Barabasi ist Physiker an der Universität von Notre Dame in Indiana, USA; Duncan Watts ist promovierter Physiker, lehrt aber auch Soziologe an der Columbia University in New York. Obgleich die soziale Netzwerkanalyse zu diesem Zeitpunkt, je nach dem, wann man ihren Beginn verortet, bereits 50 oder 70 Jahre als ist, offenbart die 'Neuerfindung', dass die Physiker kaum an die vorhandene Tradition anschließen. Diese Ignoranz der Physiker gegenüber den Entwicklungen in der Ethnologie, Sozialpsychologie und Soziologie führte innerhalb der Fachwelt der Netzwerkforscher zu heftigen Diskussionen. Dabei ist die Geschichte der Netzwerkanalyse durch die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen geprägt. Neben den Sozialwissenschaften waren schon immer auch Mathematiker und an wesentlicher Stelle auch Physiker beteiligt. Die neuere Dominanz von Physikern führt dazu, dass naturwissenschaftliche Weltsichten zur Erklärung von sozialen Sachverhalten herangezogen werden. Das bedeutet, dass Physiker neben Soziobiologen und Hirnforschern sich nun vermehrt auf einem Terrain tummeln, welches ureigenes sozialwissenschaftliches Gebiet ist. Im Vortrag werden einerseits die Kontroversen um die erfolgreichen Bücher nachgezeichnet, andererseits wird gefragt, warum eigentlich die Bücher von Naturwissenschaftlern eine offensichtlich größere Aufmerksamkeit erfahren, als die Werke der Sozialwissenschaftler." (Autorenreferat)
In: Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Teilbd. 1 und 2, S. 4525-4533
"Ein Großteil der Soziologie hat seit ihrem Anbeginn in der Nachfolge von Theologie, Philosophie und Ökonomie ein Menschenbild favorisiert, das Moral, Vernunft und rationales Kalkül als maßgebliche Bestimmungsfaktoren menschlichen und sozialen Handelns betrachtet und einen Bogen um Leidenschaften, Affekte und Emotionen macht. Noch in der Gegenwart, von Habermas bis zu den Rational-Choice-Vertretern, ist das nicht anders. Aber seit einiger Zeit begegnet dieser mainstream munteren Nebenflüssen. So gibt es verschiedene Ansätze zu einer Soziologie der Emotionen. Darüber hinaus müssen Versuche zu soziologischen Handlungstheorien Einsichten der Gehirnforschung, Psychologie und Verhaltensforschung in die affektuellen und emotionalen Grundlagen der Motivation des Sozialverhaltens zur Kenntnis nehmen. Die Soziologie sollte sich - im Rahmen einer interdisziplinär informierten Tiefensoziologie - mehr für die vorbewussten und nicht-rationalen Ebenen gesellschaftlicher Prozesse interessieren, um zu triftigeren Erklärungen sozialer Phänomene zu kommen. Das wird hier exemplarisch für den Bereich der Genese jugendlicher Gewalt gezeigt." (Autorenreferat)
Seit dem Aufkommen der evidenzbasierten Psychotherapie mit dem Ziel einer systematischen Integration individueller klinischer Expertisen ist eine Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis entstanden, die für alle helfenden Berufe neue Perspektiven eröffnet und Aspekte der Qualitätssicherung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Durch die strikte Begrenzung auf operationalisierbare Therapieziele und lineare Kausalitäten evidenzbasierter Psychotherapieforschung geraten jedoch systematische Beobachtungen von Veränderungsprozessen, die KlientInnen als wirkungsvoll für sich erlebt haben, in den Hintergrund. Abgesehen von einzelnen Kasuistiken gibt es wenige regelgeleitete, vergleichende Deskriptionen, wie sich Veränderungen in Psychotherapie und Beratung tatsächlich vollziehen und wodurch sie in Bewegung gesetzt werden. Das geschilderte Forschungsvorhaben unternimmt den Versuch, über halbstrukturierte Erhebungsverfahren explizites ExpertInnenwissen und implizites KlientInnenwissen zu sammeln und einer systematischen Analyse zu unterziehen. Im Zentrum steht die Fragestellung, wie Beratung und Psychotherapie KlientInnen bei der Bewältigung komplexer Traumatisierung optimal unterstützen kann. Im Gegensatz zum quantitativ orientierten Mainstream der Psychotherapieforschung soll dabei von der subjektiven Erfahrung Betroffener ausgegangen werden und der Faktor Geschlecht besondere Aufmerksamkeit erfahren. Die problemzentrierten Interviews werden durch eine begleitende quantitative Untersuchung mit diagnostischen und therapie-evaluierenden Fragebögen ergänzt. Zur Auswertung der Interviews wird die qualitative Inhaltsanalyse mit einem geschlechtssensiblen Verfahren kombiniert werden, um der explorativen, induktiven Vorgehensweise mehr Raum zu eröffnen und dem Gender-Aspekt als Schwerpunkt des Forschungsgegenstandes gerecht zu werden. Die Ergebnisse aus den quantitativen Daten fließen in die qualitative Auswertung ein. Die Schnittstelle zwischen qualitativen und quantitativen Daten sowie ihre Chancen und Probleme in der Interpretation der Daten wird kritisch diskutiert. Die Ergebnisse könnten die Kontroverse um eine inhaltliche wie methodische Neubestimmung psychotherapeutischer Theorie und Praxis bereichern, die derzeit vielerorts diskutiert wird.