Der Verfasser gibt zunächst einen Überblick über das vielfältige Angebot an Ersatzreligionen, wobei er zwischen Ersatzreligion und Quasi-Religion differenziert. Er zeigt dann an einigen Beispielen auf, wie die These vom Säkularismus als Ersatzreligion verstanden werden kann, und greift hierzu auf den Bonner Fundamentaltheologen Albert Lang, auf Alfred Müller-Armack und Eric Voegelin zurück. Auch der Säkularismus weist, wie gezeigt wird, unterschiedliche Facetten auf. Dazu gehören der Wissenschaftsglaube als neue Religion, eine kämpferisch-religionskritische Variante und eine technokratische Variante. Der neue Säkularismus ist weniger eine Kritik an Religion als eine Kritik am Monotheismus. Ob er eine Basis für Freiheit und Humanität bilden kann, bleibt zweifelhaft. (ICE)
Dieser Aufsatz erschien zuerst 2005 in der Zeitschrift "KAS-Auslandsinformationen" und beschäftigt sich mit dem Säkularismus in Indien sowie gegenwärtigen Bedrohungen für den säkularen Staat. Basierend auf seiner Verpflichtung gegenüber mehrwertigen Doktrinen sowie einer grundsatzorientierten Distanz zu den Religionen des Landes, stellt der Säkularismus indischer Prägung eine eigenständige, kulturabhängige Idee dar, die ihn zwar von dem westlichen Säkularismus unterscheidet, ihn jedoch keineswegs weniger angreifbar macht.
Säkularismus ist in Indien spätestens seit den Assembly Debates Ende der 1940er Jahre ein Schlüsselbegriff in öffentlichen Debatten und ein zentraler Wert der Verfassung und der nationalen Identität. Als Gegenkonzept zu Kommunalismus, insbesondere Hindunationalismus, und Gewalt wird Säkularismus in Indien vorrangig als Toleranz und equal respect for all religions konzipiert. Die akademische Debatte über Säkularismus erscheint in Indien ausgesprochen normativ, emotional und politisiert. In der von mir untersuchten Kontroverse, die um die Frage kreist, inwieweit es sich bei der Kategorie Säkularismus um ein hegemoniales, westliches Konzept oder eine indigene Tradition handele, stehen sich zwei Lager oder "Clans" gegenüber. Während die postkolonialistischen Säkularismus-Kritiker T.N. Madan und Ashis Nandy diese in ihren Augen fremde, imperiale Kategorie ablehnen und Säkularismus in Indien als gescheitert betrachten, unternehmen die Säkularismus-Befürworter Rajeev Bhargava und Romila Thapar den Versuch, säkulare Wurzeln in der indischen Tradition zu rekonstruieren und Säkularismus damit in Indien anschlussfähig zu machen. Interessanterweise beziehen sich alle vier Wissenschaftler in ihren Texten auf die tolerante Religionspolitik des Maurya-Königs Ashoka (3. Jh. v. Chr.) und des Mogulherrschers Akbar (16. Jh. n. Christus). Während Bhargava und Thapar darin eine Art Proto-Säkularismus sehen, geht es Nandy und Madan darum, die indische Toleranztradition von der Vorherrschaft der Säkularismuskategorie zu befreien. Ihnen schwebt eine tolerante "ghandianische" Staatspolitik vor, die nicht unter dem Label Säkularismus läuft, sondern auf alten, indischen Traditionen und der gelebten, auf Religion basierenden Toleranz des Volkes gründet. Alle vier Wissenschaftler bekennen sich in ihren Texten über den Säkularismus explizit zu ihren politischen Positionen und verstehen sich gleichzeitig als Wissenschaftler und Aktivisten. Beide Lager, sowohl Madan und Nandy, als auch Thapar und Bhargava, engagieren und echauffieren sich in der Kontroverse über Säkularismus und die Anwendbarkeit dieses Konzepts im indischen Kontext in einem bemerkenswerten Ausmaß. Ziel meiner Arbeit ist es, Antworten auf die Frage zu finden, weshalb die untersuchte Debatte so hochgradig emotional ausfällt und was die Wissenschaftler antreibt, so leidenschaftlich am Säkularismus festzuhalten oder diese Kategorie genauso vehement abzulehnen.
Das Verhältnis von Religion und Moderne ist eines derjenigen Felder soziologischer Theoriebildung, das die Entwicklung dieser Disziplin, ihrer grundlegenden Fragestellungen und Untersuchungsgebiete von Beginn an mitbestimmt und befördert hat. Nicht von ungefähr sind einige soziologische Klassiker im Kern auch Religionssoziologen, ob Emile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber oder auch Thomas Luckmann, Peter Berger und Niklas Luhmann. Religiöser Wandel gilt seither als paradigmatischer Fall eines allgemeinen Musters strukturellen Wandels, der sich durch die Ausdifferenzierung säkularer gesellschaftlicher Teilbereiche wie Wissenschaft, Ökonomie und Politik auszeichnet. Hiernach befördert funktionale Differenzierung eine Emanzipation von religiösen Normen und Institutionen, und schließlich das Absinken der gesellschaftlichen Motiv- und Bindungskraft von Religion (Luhmann 2000). Auch wenn (west)europäische und nordamerikanische Gesellschaften jeweils auf eigene Weise hierdurch charakterisiert sind (Spohn 2009, 2010; Spohn/Koenig/Knöbl 2015), gilt Säkularisierung als ein grundlegendes Strukturmerkmal gesellschaftlicher Modernisierung. Nahtlos reiht sich es sich neben Rationalisierung und Bürokratisierung, Demokratisierung und die Ausbildung säkularer nationaler Identitäten in die Charakteristika des als universal verstandenen Typus der Moderne ein.Eine Publikation, in der die Analyse von Religion – wie im Fall der Studien von Detlef Pollack und Geregely Rosta (2015) – differenzierungstheoretisch gerahmt wird, stellt sich theoriegeschichtlich in diesen modernisierungstheoretischen Kontext. Damit verbindet sich für die Autoren primär das Anliegen einer empirischen Plausibilisierung der Säkularisierungsthese.
Indien ist laut Verfassung eine "souveräne, sozialistische, säkulare, demokratische" Republic Doch diese Attribute bieten gehörigen Sprengstoff, wie die aktuellen Debatten zeigen. Die Tatsache, dass das Wörtchen "secular" (panthnirpeksh) - wie auch das Wort "sozialistisch" - nicht im Originaldokument enthalten waren und erst 1976 hinzugefügt wurden, rechtfertigt nicht, es jetzt wieder zu entfernen.