Dialektik der Teilhabe. Dynamiken sozialräumlicher Öffnung und Schließung
Blog: Soziopolis. Gesellschaft beobachten
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Blog: Soziopolis. Gesellschaft beobachten
Blog: blog*interdisziplinäre geschlechterforschung
1930 schloss die Textilfabrik in Marienthal, einer Industriesiedlung rund 30 km südöstlich von Wien; was diese Schließung für den Ort bedeutete, erhob und veröffentlichte die Forschungsgruppe rund um...
Blog: netzpolitik.org
Es brodelt in der Branche. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Martin SanchezDie Schließung eines beliebten deutschen Studios offenbart Probleme einer kriselnden Branche, die von Spielerinnen und Spielern kaum bemerkt werden. Noch.
Blog: Demokratiegeschichten
Gerade einmal vier Monate war es her, dass von Paris aus eine Revolution über Europa rollte. Und nun brach erneut ein Aufstand in der französischen Hauptstadt aus: Tausende Arbeiter:innen zogen vom 22. bis zum 26. Juni durch die Straßen. Der Grund für diesen erneuten Aufstand war die Schließung der im ... mehr
Der Beitrag 1848: Der Juniaufstand erschien zuerst auf Demokratiegeschichten.
Blog: theorieblog.de
Das Promotionskolleg »Dialektik der Teilhabe. Dynamiken sozialräumlicher Öffnung und Schließung« veranstaltet im Wintersemester eine Ringvorlesung an der Goethe-Universität Frankfurt, die sich mit den widersprüchlichen Entwicklungsdynamiken demokratisch-kapitalistischer Gesellschaften befasst: Der historischen Bewegung einer institutionellen Garantie und Erweiterung von Teilhabemöglichkeiten, so die These der Veranstalter:innen, korrespondiert die Gegenbewegung ihrer Verweigerung und Einschränkung. Die Vorlesung nimmt solche Prozesse der Öffnung […]
Blog: DPI-Blog
Ab 24 Stunden vor dem Wahltag bis zu Schließung der Wahllokale herrscht in Polen die sog. cisza wyborcza (dt. Wahlstille oder Wahlkampfruhe). Die Wahlstille bedeutet das Ende des Wahlkampfes, der offiziell seit der Verkündung des Wahltermins andauert. In vielen Ländern, u.a. in Deutschland oder in den USA, ist das Konzept der Wahlstille unbekannt. In anderen versucht man hingegen durch diese Regelung den Wählerinnen und Wählern eine Atempause von den von jeder Seite einprasselnden politischen Eindrücken zu verschaffen, so auch in Polen. Die Wahlstille und die SchwierigkeitenDie Ursprünge der Wahlstille in Europa reichen laut Dr. Janusz Sibora bis zur Wende des 19. und 20 Jahrhunderts. In Polen wurden bereits bei den ersten Wahlen nach der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1918 Wahlreden, die Agitation in Wahllokalen sowie im Umkreis von 100 Metern verboten. Ebenfalls untersagt blieb der Konsum oder Verkauf von Alkohol, damit die Bürger und Bürgerinnen ihre Entscheidung bei klarem Verstand treffen konnten. Die Wahlstille wurde jedoch offiziell erst nach den Umbrüchen der Jahre 1989/1990 gesetzlich eingeführt und wird auch vor dem kommenden Wahltag am 15. Oktober gelten.Aktuell bedeutet die Wahlstille das Verbot der politischen Agitation, die im Wahlgesetz definiert wird. Die festgehaltene Definition lässt aber Spielraum für Interpretationen, die die Feststellung von etwaigen Gesetzverstößen erschweren. Es gibt aber einige grundlegende Regeln, die mit diesem Konzept verbunden sind.Unterlassen werden sollen u.a.: Versammlungen, Manifestationen oder Reden, die für oder gegen eine Partei organisiert oder abgehalten werden. Darüber hinaus ist das Aufhängen oder aber auch das Abhängen von Wahlplakaten, die Verbreitung von Flugblättern oder das Tragen parteispezifischer Symbole in den Wahllokalen verboten. Allerdings dürfen alle Werbeprospekte, die während des Wahlkampfes an bestimmten Stellen ausgelegt wurden, auch dort bleiben. Diskutiert wird jedoch der besondere Fall der Werbung auf Verkehrsmitteln: Diese sind ja schließlich vor der Wahlstille angebracht worden, können sich aber während dieser Zeit an wechselnden Orten befinden und so die Meinungen der Bürgerinnen und Bürger beeinflussen.Nicht gestattet ist ebenfalls die Veröffentlichung von Umfragewerten oder Nachwahlbefragungen (Exit polls), also der Werte, die aufgrund der Befragung der Wähler und Wählerinnen am Wahltag nach der stattgefundenen Stimmabgabe ermittelt werden. Jegliche Art der Berichterstattung, sei es im Fernsehen, im Radio oder in der Presse, die einen parteinahen Charakter haben, ist nach dem Gesetz verboten.Nicht verboten ist hingegen die Werbung für die Teilnahme an den Wahlen – die sog. "kampania frekwencyjna" (dt. Wahlbeteiligungskampagne). Gesellschaftliche Kampagnen, die auf das Recht und Sinnhaftigkeit der Wahlbeteiligung hinweisen, dürfen auch während der Zeit der Wahlstille durchgeführt werden. Diese Maßnahme unterliegt aber bestimmten Verordnungen, u.a.: die Werbung für die Wahlen darf nicht mit einer Partei oder einem bestimmten Kandidaten assoziiert werden können. Problematisch gestaltet sich deswegen die Wahl-Agitation im Fall von Personen des öffentlichen Lebens, die sich im Vorfeld eindeutig für eine Seite der politischen Landschaft geäußert haben und deren Werbung somit mit einer bestimmten Richtung in Verbindung gebracht werden könnte.Einen besonderen Fall der Wahlstille bildet auch das Internet. Theoretisch ist die politische Agitation auch innerhalb dieses Mediums nicht erlaubt, aber die Schnelllebigkeit der digitalen Formen macht es beinah unmöglich, im Falle eines vermeintlichen Verstoßes die Verantwortlichen zu ermitteln.Pro und contra Das Konzept der Wahlstille hat wahrscheinlich genauso viele Befürworter wie auch Gegner. Einerseits soll diese Maßnahme die Zeit des hitzigen Wahlkampfs beenden und den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit einer Reflexion der politischen Geschehnisse bieten. Um zu vermeiden, dass die politische Lage sich im schlimmsten Fall am Tag der Wahlen zuspitzt, hat die Institution der Wahlstille somit ihre Daseinsberechtigung. Die wichtige Wahlentscheidung lässt sich schließlich in einer ruhigen Atmosphäre, ohne äußeren Druck, wesentlich überlegter treffen. Allerdings sehen die Gegner in diesem Konzept eine Bedrohung für die Freiheit der Meinungsäußerung und deshalb einen Nachteil für die Wahlbeteiligung. Außerdem finden die Wahlen in Polen sonntags statt, die Wahlstille gilt also am Wochenende – da, wo die meisten Bürgerinnen und Bürger ihre freien Tage genießen. Das Fehlen politischer Informationen so kurz vor der Abstimmung solle auf die Wählerinnen und Wähler demotivierend wirken. Darüber hinaus wird immer wieder auf die Fiktionalität der Wahlstille hingewiesen – im Zeitalter des Internets ist die Durchsetzung dieser Maßnahme beinahe nicht machbar.Sonderfall: Referendum In diesem Jahr wird in Polen zusammen mit den Parlamentswahlen, ebenfalls ein umstrittenes Referendum durchgeführt. Auch in diesem Fall gelten die für die Wahlen festgelegten Regelungen – die Wahlstille (bzw. Referendumsstille) inbegriffen. Allerdings ist das Werben für die Teilnahme an einem Referendum, im Gegensatz zu den Wahlen, untersagt. Der Grund ist hierfür die Tatsache, dass die Beteiligung am Referendum über seine Gültigkeit entscheidet und die Absicht, daran teilzunehmen, bereits eine Art bindender Entscheidung darstellt.SchlussbemerkungIn diesem Jahr beginnt die Wahlstille um 00:00 Uhr in der Nacht vom 13. auf den 14. Oktober und gilt bis zur Schließung der Wahllokale um 21:00 Uhr am Wahltag. Für die Nichteinhaltung der Vorschriften drohen in Polen meist Geldstrafen, wobei die Höhe von der Art des Vergehens abhängt. Im Falle eines gemeldeten Verstoßes wird die Sachlage von den Strafverfolgungsbehörden und nicht von der Wahlkommission beurteilt. Bisher kam es bei sämtlichen Wahlen in Polen zu geringfügigen Verstößen gegen die Wahlstille.
Blog: Rechtspopulismus
In diesem Beitrag stellt Franka Hartnagel folgenden Text vor: Stern, Verena (2021): Die Profiteure der Angst? - Rechtspopulismus und die COVID-19-Krise in Europa; Friedrich Ebert Stiftung, online unter https://library.fes.de/pdf-files/dialog/17736-20210512.pdf.Stern geht in ihrem Text auf die Situation verschiedener europäischer Länder während der Corona-Pandemie ein. Des Weiteren geht sie anhand mehrerer Länderanalysen im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2020 der Frage nach, inwiefern extrem rechte und rechtspopulistische Parteien von dieser Krise profitieren konnten."Da die Pandemie zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch nicht überwunden ist, handelt es sich bei den vorgestellten Länderanalysen um Momentaufnahmen" (S. 1).DeutschlandDie rechtspopulistische und in Teilen rechtsextreme Oppositionspartei, Alternative für Deutschland (AfD), forderte am Anfang der Pandemie einen strikteren Lockdown, geschlossene Grenzen und versuchte außerdem, auf das ihrer Ansicht nach defizitäre Handeln der Regierung hinzuweisen. Nachdem diese Maßnahmen umgesetzt wurden, schlug sich die AfD auf die andere Seite und reagierte auf den sich in der Bevölkerung vermehrenden Missmut gegenüber den neuen Regelungen. Fortan wies die Partei auf die durch die Lockdowns entstehenden wirtschaftlichen Schäden und auf die "geraubte Freiheit" der Bevölkerung hin.Im Frühjahr 2020 bildete sich, trotz mehrheitlicher Zustimmung der Bürger_ innen hinsichtlich der Maßnahmen, eine heterogene Gruppe, die gegen die Corona-Regelungen protestierte. "Zum Schutz der Demokratie" gingen Impfgegner_innen, Esoteriker_innen mit Corona-Leugner_innen und Reichsbürger_innen auf die Straßen, um gegen die Einschränkungen zu protestieren (vgl. S. 2). Die Zustimmungsrate der AfD blieb wie vor der Pandemie bei etwa 9 bis 10 Prozent. Trotz der vermehrten rechten und rechtsextremen Proteste konnte die AfD ihre Zustimmungswerte nicht verbessern (vgl. S. 3).FinnlandDie rechtspopulistische Partei "Die Finnen" stellte sich im Gegensatz zur AfD in Deutschland nicht gegen die verordneten Corona-Maßnahmen, sondern versuchte, einen demokratisch-legitimierten Weg zu beschreiten. Außerdem forderte sie wie auch die bürgerlichen Oppositionsparteien "ökonomische Disziplin" (S. 3) und konnte auf diese Weise ihre Normalisierung weiter verstärken. Die Partei forderte die Schließung aller Unternehmen für einen kurzen Zeitraum, um später umso schneller wieder öffnen zu können. Zudem war es ihnen möglich, ihre Kritik an den EU-Hilfs- und Wiederaufbauprogrammen als ein plausibles Thema im Land zu etablieren.Durch den wachsenden Zuspruch der Bevölkerung zu den Regierungsparteien, vor allem während der ersten Welle der Pandemie, konnte die Finnen-Partei keine gestiegene Zustimmung verzeichnen. Die Umfragewerte vor der Pandemie lagen bei 24 Prozent. Dieser Wert sank während der Krise auf unter 20 Prozent. Sie konnte von der Corona-Krise also nicht profitieren (vgl. S. 3).FrankreichAuch der Rassemblement National (RN) verfolgte eine Strategie, welche die Kritik an der Regierung im Umgang mit der Pandemie und Forderungen nach härteren Maßnahmen beinhaltete. Der RN ließ ebenfalls auf rechtspopulistische Weise den Glauben entstehen, sich für "die Befreiung der Bürger_innen" (S. 3) einzusetzen. Wie auch "Die Finnen" kritisierte der RN die EU-Hilfs- und Wiederaufbauprogramme "und sprach dabei von einer "antinationalen Vision"" (S. 3).Sicherheit war und ist für den RN eines der wichtigsten Themengebiete, das die Partei auf unterschiedliche Weise immer wieder für sich nutzt. In diesem Zuge lehnten sie bspw. den Vorschlag der Regierung ab, die Verbreitung des Virus in Gefängnissen einzudämmen, indem bestimmte Gefangene früher entlassen werden dürfen (vgl. S. 3). Der RN konnte sich schlussendlich nicht wirklich profilieren, jedoch bleibt ungewiss, ob die Partei nicht doch noch aus den Spätfolgen der Corona-Krise Profit schlagen könnte (vgl. S. 4).ItalienAm Anfang der Pandemie waren die Forderungen der rechtspopulistischen Parteien eher wechselhaft, da sie abwechselnd mal für eine sofortige Öffnung waren und dann wieder eine komplette Schließung forderten. Extrem rechte und rechtspopulistische Parteien wie die Lega oder Forza Italia versuchten zu Beginn der Pandemie eine antieuropäische Einstellung zu verbreiten, Italien werde von der EU wieder allein gelassen (vgl. S. 4). Jedoch gehörte Italien zu den Hauptbegünstigten mit 209 Milliarden Euro durch die EU-Hilfs- und Wiederaufbauprogrammen, und so hatte dieses Argument keine Grundlage mehr.Maskenpflicht, Impfungen sowie die Gefahr, die von dem Virus ausging, wurden von den Rechten nicht angezweifelt. Durch die genutzten klassisch rechten Zugänge wie Fake News und die Angst vor Immigration entstand zunehmend Unsicherheit bei den Bürger_Innen, weswegen das Krisenmanagement rechter Parteien schlussendlich in Frage gestellt wurde. "Traditionelle Frames" (S. 5), die in früheren Krisen eine positive Wirkung für rechte Parteien erzielt haben, stellten sich in dieser neuen Krise als falsche Herangehensweise heraus. Die Zustimmung der Bevölkerung gegenüber rechtspopulistischen Parteien blieb in Italien vor und während der Pandemie auf demselben Stand. Es gab keinen Verlust, aber auch keine Zugewinne (vgl. S. 5).SchwedenSchweden ging in der Pandemie von Beginn an einen anderen Pfad. Die Regierung setzte auf die Vernunft und Freiwilligkeit ihrer Bürger_Innen, da es den Politikern wegen der schwedischen Verfassung nicht möglich war, so strikte Maßnahmen zu verhängen oder gar einen Ausnahmezustand auszurufen. Anfangs gab es einen "Waffenstillstand" (S. 5) zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien. Alle Parteien, auch die rechtspopulistischen Schwedendemokraten, die normalerweise immer wegen ihrer extrem rechten Ausrichtung ausgeschlossen wurden, trafen sich bis Juni einmal in der Woche, um über Maßnahmen in gesundheitlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Bereichen zu beraten.Die Schwedendemokraten äußerten Kritik an der Regierung einerseits in Bezug auf die Regelungen und andererseits hinsichtlich des verantwortungslosen Verhaltens angesichts der hohen Zahl an Todesopfer. Außerdem beschuldigten sie die Pfleger_Innen in Altersheimen, von denen viele eingewandert sind, in Bezug auf Hygiene nicht genug auf schwedische Kenntnisse zu achten. Durch die wöchentliche Beratschlagung, an denen die Schwedendemokraten teilnehmen durften, und durch den damit entstandenen Kontakt mit etablierten Parteien erreichten sie eine gewisse Normalisierung im Parlament. Ein indirekter Profit durch die Corona-Krise lässt sich also erkennen (vgl. S. 5-6).SpanienAuch die rechtspopulistische Partei Vox wechselte von einer zunächst konsensualen Position mit den regierenden Parteien zu einer komplett ablehnenden Position gegenüber den Maßnahmen. Durch den immer größer werdenden Unmut der Bürger_Innen gelang es der Partei, Proteste gegen die regierenden Parteien zu mobilisieren, die aber im Vergleich zu den deutschen Demonstrationen bescheidener ausfielen.Durch die Einflussnahme auf die konservative Partido Popular (PP) während der ersten Welle konnte Vox dazu beitragen, dass diese die Maßnahmen der Regierung nicht mehr unterstützte (vgl. S. 6). Wegen eines Misstrauensantrags von Vox gegen die Regierung grenzte sich die PP wieder klar von Vox ab, was zur Folge hatte, dass Vox wieder eindeutig rechtspopulistisch statt konservativ angesehen wurde und dass die Partei im Parlament wieder isoliert wurde. Vox konnte sich durch die Pandemie weder einen Vorteil verschaffen, noch ihre Umfragewerte substanziell erhöhen (vgl. S. 7).Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es vielen rechten Parteien am Anfang der Pandemie schwer fiel, ihren "rechten Platz" zu finden. Das Thema Gesundheit, das auf einmal so wichtig wurde, befand sich eher selten im Programm rechter Parteien. Diese anfängliche Unentschlossenheit zeigte sich v.a. in der Kooperation zwischen rechten und rechtspopulistischen Parteien und der Regierung. Diese Phase der Ungewissheit entwickelte sich jedoch rasch zu einer Strategie des Angriffs auf die Regierungsparteien und ihre Maßnahmen.Momentan sieht es nicht danach aus, dass extrem rechte und rechtspopulistische Parteien Profit aus der Corona-Pandemie schlagen konnten. In Deutschland konnten durch die Demonstrationen rechte Initiativen vorangetrieben werden, diese blieben aber Randerscheinungen. Die spanische Partei Vox konnte die Rhetorik nach rechts rücken, steuerte sich aber "selbst ins parlamentarische Aus" (S. 7). Eine gewisse Normalisierung und Eingliederung konnten "Die Finnen" und in Teilen auch die Schwedendemokraten erlangen, was aber vereinzelt schon vor der Corona-Krise der Fall war.
Blog: DPI-Blog
Die aktuelle Krise wird die meisten Bereiche unseres Lebens betreffen. Auch die deutsch-polnischen Beziehungen werden beeinflusst. Es mag eine große Herausforderung für sie sein, aber wie jede Veränderung kann auch diese Krise in einigen Bereichen ein kreatives Element mit sich bringen. Es ist nicht die Zeit für Kaffeesatzleserei, was genau, wann und wie in den deutsch-polnischen Beziehungen aufgrund der Coronakrise geschehen wird. Es gibt zurzeit mehr Fragen als Antworten. Um aber in der Zukunft nach Lösungen für auftretende Probleme suchen zu können, können sie bereits heute benannt werden, auch wenn sie hier nicht besonders detailliert beschrieben werden können.Stärke in der Gemeinschaft oder Flucht in die Nationalismen?Die durch das Coronavirus verursachte Krise hat einerseits die europäischen Nationalismen hervorgehoben – die Schließung innereuropäischer Grenzen, die gegenseitige Schuldzuweisung für zu verspätete gegenseitige Unterstützung und die mangelnde Koordinierung zwischen den EU-Mitgliedstaaten, insbesondere am Anfang der Krise – all dies wird in Erinnerung bleiben. Doch die Hilfe bei der Organisation der Rückkehr von Bürgern aus dem Ausland, die Aufnahme von Patienten aus Nachbarländern zur Behandlung in Krankenhäusern, Maskentransporte oder die Unterstützung von medizinischem Personal in den am stärksten betroffenen Ländern sind Zeichen der Solidarität. Welche Schlussfolgerungen werden für die Zukunft daraus gezogen? Inwieweit werden diese Erfahrungen des schnellen Geldtransfers und der neuen Ausgaben die laufenden Verhandlungen über den künftigen mehrjährigen EU-Haushalt beeinflussen? Werden die Vorgehensweisen der EU-Institutionen schneller reformiert, um diese Entscheidungen effizienter treffen können? Und werden Warschau und Berlin bei Diskussionen zu diesen Themen auf einer Seite stehen?Ein Nährboden für Fake-News – wie sehr wird sich die gegenseitige Wahrnehmung verändern?Die Darstellung der Aktivitäten der Europäischen Union – oder vielmehr ihrer Mängel – ist wiederum ein perfektes Beispiel dafür, wie die virusbedingte Situation die Verbreitung falscher Informationen ermöglicht. Das Tempo der Ereignisse, der Mangel an detailliertem Wissen und die durch die Epidemie verursachte Angst waren für einen verlässlichen Journalismus nicht förderlich. Politiker nutzten diese Situation gerne, um ihr Image in Abgrenzung zu den Maßnahmen anderer Länder oder der EU aufzupolieren, aber Trolle waren auch nicht untätig. Infolgedessen boten unzutreffende deutsch-polnische Wahrnehmungen und Stereotype einen perfekten Nährboden für die Verbreitung in den Medien. Negative Bilder werden bleiben und Nationalismen, Ängste oder Ressentiments vertiefen. Wie sehr werden sie die deutsch-polnische Wahrnehmung verändern? Und wie wird sich dies auf andere Bereiche der Beziehung auswirken?Wirtschaft als die Basis der Beziehungen – das Ende des Aufwärtstrends?Die Wirtschaftskrise in beiden Ländern ist eine offensichtliche Folge der gegenwärtigen Stagnation infolge der Epidemie. Die schlechtere ökonomische Situation in Deutschland, geringere Nachfrage, Produktionsunterbrechungen und Bankrott gehende Unternehmen werden die polnische Wirtschaft beeinträchtigen. Wie stark wird sich die Situation in der wirtschaftlichen Dimension der deutsch-polnischen Beziehungen verschlechtern? Wird die Verflechtung der polnischen und der deutschen Wirtschaft zu- oder abnehmen und in welchem Zeitraum? Inwieweit werden unterbrochene Lieferketten schnell und effizient wieder aufgebaut und inwieweit werden sie nicht mehr existieren? Wie wird sich dies auf den gegenseitigen Handel auswirken? Wie viele Firmen, die bisher in diesen Beziehungen tätig waren, werden verschwinden?Viele deutsche Unternehmen werden wahrscheinlich weniger investieren und möglicherweise weitere Entwicklungspläne in Polen aufgeben. Was bedeutet das für den polnischen Arbeitsmarkt? Wie viele polnischen Subunternehmer, Dienstleister und Kunden werden davon betroffen sein? Wie viele Menschen, die deutsch-polnische Kontakte aufgebaut haben, werden ihren Arbeitsplatz verlieren?In den letzten Jahren haben polnische Unternehmen in Deutschland immer effektiver investiert und insolvente Unternehmen übernommen. Wird diese Tendenz gestoppt? Oder werden im Gegenteil manche die neue Situation auf dem Markt nutzen können, da die Zurückhaltung, deutsche Unternehmen in chinesische Hände zu geben, noch weiter zunehmen wird? Polen in Deutschland – wie attraktiv werden Arbeit und Wohnen auf der anderen Seite von Oder und Neiße bleiben?Zu den Wirtschaftsbeziehungen gehören auch Tausende polnischer Arbeitnehmer, die regelmäßig nach Deutschland gereist und jetzt auf der polnischen Seite geblieben sind. Dies gilt sowohl für diejenigen, die täglich die Grenze überquerten – weil sie sich nicht der von der polnischen Regierung eingeführten zweiwöchigen Quarantäne unterwerfen wollten, als auch für diejenigen, die beschlossen haben, während der Epidemie zu ihren Familien nach Polen zurückzukehren. Es geht um Tausende polnischer Arbeitnehmer – Handwerker, Fachleute, Pflegekräfte und Putzfrauen, die vorübergehend westlich von Oder und Neiße geblieben sind. In der deutschen Landwirtschaft mangelt es wiederum an Polen, die in Deutschland als Erntehelfer arbeiten. Wie lange bleiben sie zu Hause in Polen? Wird die aktuelle Krise die Polen davon abhalten, Saisonarbeiten in Deutschland durchzuführen oder regelmäßig zu pendeln?Neben diesen polnischen Arbeitskräften, die regelmäßig nach Deutschland reisen, lebt eine große Gruppe von Polen und Personen mit polnischen Migrationshintergrund in Deutschland. Über Nacht wurden ihre direkten Kontakte zu Familien und Freunden in Polen erheblich behindert. Bisher war das einfache Reisen zwischen den beiden Ländern für viele einer der wichtigsten Faktoren für die Entscheidung, in der Bundesrepublik zu bleiben. Wird die Erfahrung der Krisenzeiten die Polen davon abhalten, ihren Aufenthalt fortzusetzen oder sich in Deutschland niederzulassen? Oder umgekehrt, werden die Maßnahmen des deutschen Staates im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Krise sie ermutigen, westlich von Oder und Neiße zu leben?Grenzgebiet – wie lange wird die Grenze wieder teilen?Eine der Gruppen, die täglich die Schließung der Grenze spürt, ist die im Grenzland lebende Bevölkerung. Sie ist es gewöhnt, ihr Leben auf beiden Seiten von Oder und Neiße zu führen. Wird die Erfahrung der Abriegelung das Gefühl der deutsch-polnischen Grenzgemeinschaft stärken? Wie schnell wird sich das Leben im Grenzgebiet wieder normalisieren? Welche Lösungen sollten implementiert werden, damit in Zukunft ähnliche Situationen nicht so viele Schicksale in privater und beruflicher Hinsicht beeinflussen? Können sich die Grenzgemeinden im Falle einer echten Krise in dieser Region gegenseitig helfen und wie wird sich dies auf die künftige Zusammenarbeit auswirken? Inwieweit wird das Vertrauen in die zentralen Behörden in diesen Regionen noch weiter sinken und das bilaterale Gemeinschaftsgefühl zunehmen?Weniger Kontakte – weniger Verständnis?Deutsch-polnische Kontakte bilden sich nicht nur aus politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, sondern entstehen durch Tausende deutsch-polnische Projekte zwischen Städten, Gemeinden, Schulen, NGOs, Universitäten und Hunderten anderen zivilen und staatlichen Trägern. Derzeit sind persönliche Treffen nicht möglich. Es ist unklar, wann sie offiziell wieder möglich sein werden, aber auch wann die Teilnehmer beschließen, ihre gegenseitigen Besuche wieder fortzusetzen. Wird der Jugendaustausch in den gegenseitigen Beziehungen weiter eine Selbstverständlichkeit bleiben? Wie lange werden Begegnungsstätten leer stehen? Werden Konferenzen und Workshops dauerhaft via Internet stattfinden? Und werden solche Online-Treffen aufgrund technischer Herausforderungen hauptsächlich nur für Personen möglich sein, die eine gemeinsame Sprache sprechen? Was wird mit Hunderten von Koordinatoren, Moderatoren, Dolmetschern, Dozenten und Sprachanimateuren geschehen, die täglich deutsch-polnische Projekte ermöglicht haben? Wie viele NGOs werden die Umsetzung deutsch-polnischer Projekte einstellen? Wie viele polnische Studierende werden sich nicht für Erasmus in Deutschland entscheiden und umgekehrt?Auch Touristen werden für eine längere Zeit ausbleiben. Wie viele Deutsche, die möglicherweise Polen besuchen und – wie Untersuchungen zeigen – die wunderschönen Landschaften und die Gastfreundschaft der polnischen Gastgeber schätzen würden, werden zu Hause bleiben? Oder vielleicht erweist sich eine Reise nach Polen als sicherer, weil es im Ausnahmefall einfacher ist, dann schnell nach Hause zurückzukehren? Und schließlich, wie viele deutsch-polnische Paare werden vor einer ernsten Herausforderung für ihre Beziehung stehen?Neue Arbeitsmethoden – Chance oder Bedrohung?Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen, Kulturzentren und Angestellte in Rathäusern stehen vor der Herausforderung, die Arbeitsmethoden zu verändern, wenn sie in den kommenden Monaten weiterhin deutsch-polnische Projekte umsetzen wollen. Für manche ist das kein Problem, sogar motivierend. Aber für viele ist es eine echte Herausforderung, es fehlt an Mut, Ideen und Technik. Welche Veränderungen werden durch die neue Situation in der Art und Weise der Zusammenarbeit in den Projekten entstehen? Wie wird sich dies auf das gegenseitige Verständnis von Polen und Deutschen und die Folgen der Zusammenarbeit auswirken? Wird der Kontakt im Internet ein ähnliches Vertrauen verschaffen wie eine Besprechung in der Realität? Es gibt viele Fragen. Die präsentierte Liste ist unvollständig, die Probleme sind sehr allgemein beschrieben, wahrscheinlich könnte jeder Leser zu dieser Liste viele Fragen und Sorgen hinzufügen. Sie zeigt aber schon jetzt Eines – wie reich das Netz der deutsch-polnischen Verbindungen ist. Und wie wertvoll es ist, sich um sie zu kümmern. Agnieszka Łada, April 2020
Blog: Rechtspopulismus
In manchen europäischen Ländern haben Populisten bereits die Macht übernommen, wie beispielsweise in Italien, Ungarn oder Polen. Auch in Deutschland ist die AfD stark wie nie und gewinnt zunehmend an Popularität. Spätestens im Herbst 2024 finden in Österreich wieder Nationalratswahlen statt. Und laut aktuellen Umfragen liegt dort ebenfalls eine rechtspopulistische Partei vorne, und zwar die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) mit Kanzlerkandidat Herbert Kickl.
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(INSA Austria 2023, Wahlumfrage vom 30.10. bis 02.11.2023, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-09/fpoe-oesterreich-rechtspopulismus-skandale)Doch wie hat es die FPÖ trotz vieler Skandale geschafft, zur beliebtesten Partei Österreichs zu werden und damit ein ernsthafter Anwärter auf die österreichische Kanzlerschaft zu sein? Daniel Harper mit seinem Artikel "A year away from national elections, Austria's far-right is more popular than ever" vom 06.10.2023, Christof Mackinger mit seinem Artikel "FPÖ in Österreich: Mit Antielitenkurs in die Regierung?" vom 08.09.2023 und Cathrin Kalweit mit ihrem Artikel "Österreich – Beziheung ja, Liebe nein" vom 25.06.2023 versuchen, auf diese Frage Antworten zu finden.Dazu ist ein Blick ins Jahr 2019 zurück hilfreich, als Heinz-Christian Strache, der damalige FPÖ-Parteivorsitzende und Vizekanzler, in einem Video erwischt wurde, wie er mit einer angeblichen russischen Oligarchennichte über Großinvestitionen, politische Gefälligkeiten und Korruption spricht. Mit diesem "Ibiza-Skandal" verlor die FPÖ selbst bei ihren treuesten Anhängern an Glaubwürdigkeit. Infolgedessen trat Heinz-Christian Strache zurück und die Regierungskoalition wurde aufgelöst. Im Jahr 2020 erlebte die FPÖ deswegen ein Umfragetief und erreichte in Umfragen lediglich 11 %.Doch diverse Krisen verhalfen der FPÖ schneller zum Comeback als gedacht. Mithilfe der Corona-Pandemie gelang es der FPÖ, aus dem Umfragetief zu kommen. Die FPÖ stellte sich damals klar gegen die Politik der Regierung. Gegen Beschränkungen der persönlichen Freiheit in Form von Schließungen oder auch Impfungen wurde eifrig mit österreichischen Flaggen demonstriert und Stimmung gemacht. Die FPÖ konnte in dieser Zeit viele Wählerinnen und Wähler davon überzeugen, dass sie die einzig wahrhaft "freie" Partei ist. Die Corona-Pandemie war für die FPÖ demnach der erste Schritt zurück zu alter Stärke.Ein weiterer entscheidender Faktor für das Wiedererstarken der FPÖ ist die anhaltende Schwäche der anderen Parteien, was sowohl Regierung als auch Opposition betrifft. Zum einen lässt sich da das Verhalten der Regierungspartei ÖVP nennen. Angefangen mit der Ukraine-Krieg kommt es immer mehr zu öffentlicher Kritik an der Regierungspartei aufgrund der explodierenden Preise und der vermeintlichen österreichischen "Neutralität". Als dann auch noch Kanzler Sebastian Kurz nach monatelangen Ermittlungen wegen Korruption zurücktrat, fanden viele frühere Anhänger den Weg zurück zur FPÖ. Zudem macht sich auch die stärkste Oppsitionspartei, die SPÖ, das Leben immer wieder selbst schwer. Interne Diskussionen um die Parteispitze sowie innere Streitigkeiten schwächen sie seit Jahren.Außerdem spielt das typisch rechtspopulistische Thema der Migration weiterhin eine entscheidende Rolle. Österreich, das an der Balkanroute liegt, verzeichnet jährlich eine hohe Zahl an Asylanträgen, weswegen Migration und Asyl ein präsentes Thema der österreichischen Politik darstellen. Die FPÖ sieht die steigenden Zahlen der Migration als große Bedrohung und wirbt teils mit fragwürdigen und rassistischen Kampagnen. Auch eine gewisse Neigung zum Rechtsextremismus wird der Partei immer wieder vorgeworfen. Gerade innerhalb der FPÖ-Jugend zeichnet sich ein deutlicher Rechtsruck ab.Trotzdem hat es die FPÖ in den letzten Jahren geschafft, ihre Beliebtheit zu stärken und ihre Wählerbasis zu erweitern. Das Vertrauen in die Regierung ist bei vielen Bürgerinnen und Bürgern am Tiefpunkt angelangt. Dies führt dazu, dass auch immer mehr Menschen der Mittelschicht die FPÖ wählen. Sie ist immer weniger eine "männerdominierte Partei der Globalisierungsverlierer" (Mackinger 2023), sondern eine Partei, deren Anhängerschaft immer "weiblicher, städtischer und wohlhabender" (Mackinger 2023) wird.Bis zur Wahl 2024 sind es zwar noch einige Monate und es ist unklar, ob die FPÖ ihre Popularität bis dahin halten kann. Doch die anhaltenden Krisen und inneren Streitigkeiten der anderen Parteien lassen darauf schließen. Die Landtagswahlen im größten Bundesland, Niederösterreich, und im wohlhabenden Salzburg haben gezeigt, dass die FPÖ nicht zu unterschätzen ist. Niederösterreich, wo die FPÖ die ÖVP zu einer Koalition gezwungen hat, obwohl Spitzenkandidatin Johanna Mikl-Leitner einen äußerst emotionalen Wahlkampf gegen die Zusammenarbeit geführt hat, zeigt die aktuelle Macht der österreichischen Rechtspopulisten.Und dann kam es überaschenderweise bereits zwei Monate später zur nächsten Koalition auf Landesebene. Auch in Salzburg hatte man sich von Seiten der ÖVP im Vorfeld kritisch gegenüber der FPÖ geäußert, im Endeffekt stellt diese schwarz-blaue Landesregierung nun die dritte ihrer Art dar. Auch deswegen ist die FPÖ-Regierungsbeteiligung auf Bundesebene in Österreich nicht unwahrscheinlich. In Brüssel wird man im nächsten Herbst jedenfalls gespannt nach Wien schauen, um zu sehen, ob ein weiterer europäischer Dominostein in Richtung Rechtspopulismus fallen könnte.Literatur:Harper, Daniel (2023): A year away from national elections, Austria's far-right is more popular than ever (euronews.com vom 06.10.2023). [Online verfügbar unter: https://www.euronews.com/my-europe/2023/10/06/a-year-away-from-national-elections-austrias-far-right-is-more-popular-than-ever], (zuletzt geprüft am 22.11.2023).INSA Austria (2023): Wahlumfrage 30.10 – 02.11.2023 (express.at vom 03.10.2023). [Online verfügbar unter: https://exxpress.at/was-macht-die-regierung-falsch-schwarz-gruen-nur-noch-bei-30-prozent/], (zuletzt geprüft am 22.11.2023).Kahlweit, Cathrin (2023): Österreich: Beziehung ja, Liebe nein (sueddeutsche.de vom 25.07.2023). [Online verfügbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/oesterreich-fpoe-oevp-rechtspopulismus-1.6061474], (zuletzt geprüft am 22.11.2023).Mackinger, Christof (2023): FPÖ in Österreich: Mit Antielitenkurs in die Regierung? (zeit.de vom 08.09.2023). [Online verfügbar unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-09/fpoe-oesterreich-rechtspopulismus-skandale], (zuletzt geprüft am 22.11.2023).
Blog: DPI-Blog
[Aktualisierungen sind fett markiert; letzte Aktualisierung: 12.10.2023]Der Wahlkampf hat das politische Polen bereits fest im Griff und ist geprägt von der starken Polarisierung zwischen Anhängern des Regierungslagers und Unterstützern der Oppositionsparteien. Auch unter den Polen im Ausland, der Polonia, werden die für Herbst dieses Jahres anstehenden Wahlen zum Sejm und zum Senat heiß diskutiert. Doch neben der politischen Polarisierung sind es vor allem die Änderungen der Anfang 2023 Wahlrechtsreform, die die Polonia umtreiben und Fragen nach der Fairness der Wahlen aufkommen lassen.Wer ist wahlberechtigt und welchen Einfluss haben die Stimmen der Polonia auf das Endergebnis?Jeder polnische Staatsbürger ab 18 Jahren besitzt bei den polnischen Parlamentswahlen, ebenso wie bei den Präsidentschafts- und Europawahlen, das aktive Wahlrecht. Neben den rund 30 Millionen Wahlberechtigten im Inland leben Schätzungen zufolge gut 20 Millionen Polen weltweit jenseits der Grenzen der Republik Polen. Gleichwohl handelt sich hierbei nicht um 20 Millionen potenzielle Wahlberechtigte. Nur Personen mit polnischer Staatsbürgerschaft sind bei den Wahlen zum polnischen Parlament (ebenso zu den Präsidentschaftswahlen) zur Stimmabgabe berechtigt. Dies trifft auf die rund 2,2 Millionen Auslandspolen zu, die im Besitz der polnischen Staatsbürgerschaft und damit potenziell wahlberechtigt sind. Voraussetzung für die tatsächliche Stimmabgabe ist die Eintragung ins Wählerverzeichnis beim jeweils zuständigen polnischen Konsul.Bei den Sejm-Wahlen, die nach Verhältniswahlrecht stattfinden, werden die Stimmen der Auslandspolen dem Wahlbezirk Nr. 19 Warszawa I, dem größten der 41 polnischen Inlandswahlbezirke, zugerechnet, in dem derzeit 20 Abgeordnete[1] gewählt werden. In der Praxis bedeutet dies, dass die Stimme bei den Parlamentswahlen für Kandidaten dieses speziellen Wahlkreises abgegeben wird. [2] Dieses Verfahren wird seit Beginn der Dritten Republik 1989 angewendet. Während anfangs die geringe Wahlbeteiligung seitens der Polonia (bei den Parlamentswahlen 1991 und 1993 wurden jeweils rund 40.000 Stimmen im Ausland abgegeben) diese Regelung als unproblematisch erscheinen ließ, stellt sich mittlerweile die Frage der Wahlgerechtigkeit. Die Anzahl der Mandate pro Wahlkreis berechnet sich nach Anzahl der im jeweiligen Wahlkreis lebenden Einwohner. So entfallen nach dem Wahlgesetz aus dem Jahr 2011 auf die rund 600.000 Einwohner des kleinsten Wahlkreises Częstochowa (Nr. 28) 7 Mandate, während beim größten polnischen Wahlkreis Warszawa I (Nr. 19) auf gut 1,6 Millionen Einwohner 20 Mandate entfallen. Problematisch ist, dass die wahlberechtigten Auslandspolen hierbei nicht mitgezählt werden, also keinerlei Einfluss auf die Anzahl der zu vergebenden Mandate haben. Dabei wurden etwa bei den Parlamentswahlen 2019 ganze 314.261 Stimmen im Ausland abgegeben. Diese Zahl liegt höher als die Zahl der jeweils abgegebenen Stimmen in den Wahlkreisen Elbląg, Koszalin, Wałbrzych und Częstochowa, in denen jeweils 7 bis 8 Mandate vergeben werden. Das Problem dürfte sich dieses Jahr noch weiter verschärfen, da sich eine Rekordzahl von über 600.000 Wählerinnen und Wählern für den Urnengang registriert hat. Erfahrungsgemäß werden gut 550.000 der Registrierten dann auch tatsächlich an der Abstimmung teilnehmen.Bei den Wahlen zum Senat, bei denen das Mehrheitswahlrecht gilt, werden die Stimmen der im Ausland wählenden polnsichen Staatsbürger dem Wahlbezirk Nr. 44 zugerechnet, der die Warschauer Bezirke Białołeka, Bielany, Śródmieście und Żoliborz umfasst, und wo, wie in allen anderen Wahlbezirken, genau ein Senator gewählt wird. Auch hier wird die Anzahl der wahlberechtigten Auslandspolen bei der Einteilung der Wahlkreise nicht miteinbezogen.2011 wurde die Möglichkeit der Briefwahl für im Ausland lebende und dort wählende polnische Staatsbürger eingeführt. Anfang 2018 wurde diese Möglichkeit per Gesetz auf Personen mit Behinderung beschränkt. Dies schließt wahlberechtigte Polen in Flächenstaaten wie etwa Kanada effektiv von der Stimmabgabe aus, wenn das nächstgelegene Wahllokal mehr als 1000 km vom Wohnort entfernt liegt. Bereits 2018 erhob der polnische Ombudsmann Adam Bodnar Bedenken gegen diese Neuerung, da sie die Allgemeinheit der Wahl in Frage stelle.Für die Wahlen am bedeutendsten sind die polnischen Wähler in Großbritannien (88.700 Wähler im Jahr 2019), Deutschland (46.000), den Niederlanden (13.800), Irland (13.100), Belgien (13.100) und Frankreich (11.700). Allein in diesen sechs Staaten wurden 2019 rund 60 Prozent aller Stimmen im Ausland abgegeben. 2019 gab es 320 Wahllokale im Ausland. Bei den anstehenden Parlamentswahlen im Herbst dieses Jahres werden es weltweit genau 410 Bezirkswahlkommissionen sein, bei denen die Auslandspolen am Wahltag ihre Stimme abgeben können. In Polen geht man von einer höheren Wahlbeteiligung im Ausland aus als dies noch bei den Wahlen zuvor der Fall war.Insgesamt ist ein signifikanter Anstieg der Anzahl der Wahlberechtigten im Ausland (d.h. der registrierten Wähler) bei den Wahlen zu Sejm und Senat nach 1989 in der Dritten Polnischen Republik festzustellen. Sie reichen von 41.817 registrierten Wählern bei 26.749 abgegebenen Stimmen im Jahr 2001 (dies entsprach 0,19 Prozent aller abgegebenen Stimmen) bis zu 199.451 registrierten Wählern bei 174.805 abgegebenen Stimmen im Jahr 2015 (dies entsprach 1,12 Prozent aller abgegebenen Stimmen).[3] Im Jahr 2019 stimmten 314.000 polnische Staatsbürger im Ausland bei den Wahlen zu Sejm und Senat ab, davon 46.000 in Deutschland. Anders als im Inland, wo die Regierungspartei PiS mit 43,6 Prozent der Stimmen vor der Bürgerplattform mit 27,4 Prozent lag, hatte im Ausland die Bürgerplattform mit 38,95 Prozent die Nase vorn. Die PiS kam lediglich auf 24,85 Prozent.Die Auswirkungen der Wahlrechtsreform auf die PoloniaEnde Januar dieses Jahres verabschiedete das polnische Parlament eine Gesetzesnovelle zur Reform des Wahlgesetzes, die sich tendenziell auch auf die Stimmabgabe im Ausland auswirken wird. Abgegebene Stimmen müssen laut Wahlordnung binnen einer Frist von 24 Stunden nach Schließung der Wahllokale ausgezählt worden sein, andernfalls werden die in dem betreffenden Wahllokal abgegebenen Stimmen in ihrer Gesamtheit nicht mitgezählt. Diese Regelung bleibt auch nach der Gesetzesnovelle weiterhin bestehen. Was die Gesetzesänderung hingegen vorsieht, ist eine Änderung des Modus der Stimmauszählung. Fortan muss jedes Mitglied der Bezirkswahlkommission jeden Stimmzettel bei der Auszählung in Augenschein nehmen. Diese Regelung soll der Transparenz der Auszählung dienen, verlängert aber auch den Auszählungsprozess. Diese Neuerung droht vor allem für diejenigen Wahlkommissionen zum Problem zu werden, die eine besonders große Anzahl von Stimmen auszuzählen haben. In einer in London durchgeführten simulierten Auszählung kam man auf etwa 1600 Wahlzettel, die innerhalb der gesetzlichen Frist ausgezählt werden konnten. Gleichzeitig gibt es in London Bezirkswahlkommissionen, die bis zu 5.500 Stimmen auszuzählen haben. In einem solchen Szenario würden die in dieser Wahlkommission abgegebenen Stimmen in ihrer Gesamtheit verfallen. Zusätzliche erschärft wird dieses Problem durch das geplante Referendum, das parallel zu den Parlamentswahlen durchgeführt werden soll. Die Auszählung des Referendums wird die Wahlkommissionen vor eine weitere zeitliche Herausforderung stellen, die gerade in Städten mit hohem Polonia-Anteil kaum zu bewältigen sein wird.Ob die zuvor erwähnte Erhöhung der Anzahl der Wahllokale, die auch von Polonia-Organisationen im Ausland gefordert wurde, geeignet ist, um diesem Missstand Abhilfe zu schaffen, ist noch nicht abzusehen. Allein in Berlin sind für dieses Jahr sieben Wahlkommissionen geplant. Deutschlandweit können polnische Wahlberechtigte an insgesamt 47 Orten ihre Stimme abgeben. Der polnische Generalkonsul Marcin Król schätzt im Gespräch mit der Deutschen Welle die Gesamtzahl der in Berlin wahlberechtigten Polinnen und Polen auf über 100.000. Hiervon würden schätzungsweise bis zu 18.000 Personen im Herbst den Gang zur Wahlurne antreten. Nicht zutreffend ist die bisweilen in den Medien zu vernehmende Behauptung, dass polnische Staatsbürger im Ausland sich nach der Gesetzesnovelle nur noch auf der Basis eines gültigen polnischen Personalausweises für die Wahlen registrieren können, und zu diesem Zweck zunächst nach Polen fahren müssten, um den Ausweis zu beantragen.FazitGemessen an der Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen bei den vergangenen Parlamentswahlen macht der Anteil der Stimmen Polonia gerade einmal 1 Prozent aus. Die Stimmen der Polonia sind damit aller Voraussicht nach nicht wahlentscheidend. Allerdings haben die Stimmen potenziell Gewicht, wenn es um die Mandatszuteilung im Wahlbezirk Nr. 19 in Warschau geht, dem die Stimmen der Auslandspolen zugerechnet werden. Hier beträgt ihr Anteil bisweilen über 15 Prozent, 2019 waren es sogar 23 Prozent. Größeren Einfluss haben die Stimmen der Auslandspolen damit auf das Abschneiden einzelner Abgeordneter in diesem Wahlbezirk. So entfielen etwa 2015 ganze 24.700 Stimmen aus dem Ausland auf Paweł Kukiz, was 48 Prozent der für ihn abgegebenen Stimmen entsprach – ohne diese Stimmen wäre er möglicherweise nicht in den Sejm eingezogen. Noch größeres Gewicht haben die Stimmen der Auslandspolen bei den Wahlen zum Senat, bei denen sie dem Wahlbezirk Nr. 44 zugerechnet werden. Hier machten die Stimmen der Auslandspolen bei den Wahlen im Jahr 2015 ganze 44 Prozent der Gesamtstimmenanzahl aus (2011: 39 Prozent). Würde, wie bisweilen gefordert, der Polonia ein eigener Wahlkreis zugeteilt, dessen Mandatszahl mit der Zahl der registrierten Wähler korrespondiert, dann würden bei den diesjährigen Wahlen in einem Wahlkreis dieser Größe etwa 7 bis 8 Mandate vergeben werden und die Stimmen der Polonia wären das berühmte Zünglein an der Waage.
[1] In den Jahren 1991 bis 1997 waren es 17, 2001 bis 2007 ganze 19, ab 2011 dann 20 Mandate.
[2] Magdalena Lesińska: Niełatwe związki. Relacje polityczne między państwem pochodzenia a diasporą: Polska i polska diaspora w okresie przełomu 1989 roku i później. Warszawa: 2019. S. 254.
[3] Lesińska: Niełatwe związki. S. 266.
Blog: DPI-Blog
Seitdem im Herbst 2015 die Partei Solidarisches Polen (Solidarna Polska, SP) auf der Liste der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) in den Sejm einzog, spielt sie als kleiner Koalitionspartner der PiS die Rolle des Züngleins an der Waage: Ohne ihre Handvoll Abgeordneter hätte die PiS im polnischen Parlament keine Regierungsmehrheit. Mit Parteichef Zbigniew Ziobro besetzt sie das für die Reformvorhaben der Rechts-Regierung zentrale Justizressort und prägt den EU-skeptischen Kurs der Regierung entscheidend mit. Bei den Parlamentswahlen 2023 wird sie aller Vorausicht nach – unter dem kürzlich geänderten Namen Souveränes Polen (Suwerenna Polska, SP) – wieder auf der PiS-Liste antreten, obwohl sie laut Umfragen, würde sie alleine antreten, weniger als 1 Prozent der Stimmen erhalten würde. Woraus rührt die Bedeutung dieser Partei und welche Rolle wird sie im Wahlkampf spielen?Eine Partei der PiS-VerstoßenenGegründet wurde die Partei 2012 unter dem Namen Solidarisches Polen durch einige von der PiS ausgeschlossene bzw. aus der PiS ausgetretene Politiker, die bereits nach den Parlamentswahlen 2011 eine eigene Fraktion gegründet hatten. Treibende Kraft war Zbigniew Ziobro , der bereits in der bürgerlichen Koalitionsregierung[1] im Jahre 2000 kurzzeitig für den damaligen Justizminister Lech Kaczyński arbeitete, 2001 zu den Mitgründern der PiS zählte und nach dem PiS-Wahlsieg 2005 selbst zum Justizminister und in Personalunion zum Generalstaatsanwalt wurde, was er bis zur Abwahl der PiS 2007 blieb. Anschließend war er einer der stellvertretenden Vorsitzenden der PiS. Mehrere Versuche, ihn in den acht folgenden Jahren liberaler Koalitionsregierungen unter Führung der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO) wegen – wie es hieß – eklatanten Gesetzesverstößen vor den Staatsgerichtshof zu stellen oder anderweitig juristisch zu belangen, verliefen im Sande oder scheiterten an den notwendigen parlamentarischen Mehrheiten.Da Ziobro und einige seiner Mitstreiter die Position der PiS-Führung und insbesondere von Parteichef Jarosław Kaczyński infrage stellten und mehr Einfluss in der Partei gewinnen wollten, ließ ihn Kaczyński 2011 aus der Partei werfen. Dieser Konflikt wirkt bis heute nach. Ziobro werden immer wieder Ambitionen auf den Parteivorsitz der PiS nachgesagt, weshalb er bis heute – im Gegensatz zu anderen SP-Politikern – nicht zur PiS zurückkehren darf. Zu seinen größten Gegnern im Regierungslager gehört vor allem das verhältnismäßig pragmatische Milieu um Ministerpräsident Mateusz Morawiecki. Zbigniew Ziobro 2013. Quelle: Wikimedia CommonsJustizumbau und Law and OrderZiobros Kernthema ist der seiner Meinung nach schlechte Zustand des Justizsystems und der Kampf um eine bessere Durchsetzung der Gesetze. Seine Forderung nach einer Reform des aus dieser Sicht ineffektiven und von linksliberalen bzw. postkommunistischen Eliten beherrschten Justizwesens stimmte mit den Absichten der PiS überein. Und so zog die PiS 2015 mit diesem Thema in den Wahlkampf, ermöglichte einigen SP-Kandidaten den Start auf ihren Listen und erlangte eine regierungsbildende Mehrheit. Ziobro, der 2015 von den Wählern vom letzten Listenplatz der PiS im Wahlberzirk Kielce in den Sejm gewählt wurde, wurde erneut Justizminister und Generalstaatsanwalt und leitete mit seinem Ressort sowie mehreren der SP angehörigen Staatssekretären die entscheidenden Schritte des Umbaus des Justizsystems ein: Die schrittweise "Übernahme" des Verfassungsgerichts durch PiS-nahe Richter, die Neuordnung der Richterernennung und -beförderung durch die Umgestaltung des Landesjustizrates, die Bemühungen, durch "Maulkorbgesetze" nicht im Sinne der Regierung agierende Richter und Staatsanwälte zu schurigeln, sind nur einige der wichtigen Themen in diesem Bereich. Außerdem wollte sich die SP als "Law and Order"-Partei profilieren und setzte sich etwa für eine Verschärfung des Strafrechts ein sowie für die Schließung von Lücken im Steuerrecht, aber auch für eine radikale "Entkommunisierung" der Behörden und des öffentlichen Lebens. Trotz aller als "Reformen" etikettierten Aktivitäten stieg die durchschnittliche Verfahrensdauer vor den polnischen Gerichten erster Instanz zwischen 2015 und 2021 deutlich (von 4,1 auf 7,1 Monate).Europa, Deutschland und der Wald Zu einem wichtigen Betätigungsfeld wurde die Europapolitik (im Europäischen Parlament gehört die SP wie die PiS der Fraktion Europäische Konservative und Reformer an): Hier nahmen SP-Politiker immer wieder heftig Stellung und kritisierten die – wie sie es formulierten – Beschränkung der polnischen Souveränität durch die Europäische Union. Politiker wie Patrik Jaki, der seit 2019 für die SP im Europaparlament sitzt, oder der Sejm-Abgeordnete Janusz Kowalski, seit 2022 Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium, zeichnen sich hierbei durch eine besonders aggressive Rhetorik aus.Für die polnische Europapolitik hatte die Politik der SP gravierende Auswirkungen. Die vielen Gesetzesinitiativen zum Umbau des Justizwesens, die teils vom Sejm beschlossen wurden, teils aber von Staatspräsident Duda oder unter Druck der europäischen Institutionen zurückgenommen oder "verwässert" wurden, haben zu einem immensen Durcheinander im Bereich der Judikative geführt. Ein Gutteil der Auseinandersetzungen Polens mit der Europäischen Kommission und die vor dem Europäischen Gerichtshof verhandelten Problemfelder sind auf das Wirken des Justizressorts unter Zbigniew Ziobro zurückzuführen.In diesem Zusammenhang fallen regelmäßig auch deutschlandskeptische Äußerungen, und der "Abgeordnete Kowalski", wie der Politiker ironisch genannt wird, spielt eine führende Rolle dabei, der liberalen Opposition und insbesondere Donald Tusk bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit vorzuwerfen, nach Deutschlands Pfeife zu tanzen. Auch der Staatssekretär im Außenministerium, Arkadiusz Mularczyk, gehörte 2012 zu den Mitbegründern der SP. Er durfte 2017 aber zur PiS wechseln und wurde von Jarosław Kaczyński dann sogleich damit betraut, die Reparationsforderungen gegenüber Deutschland voranzutreiben.Im Bereich der staatlich kontrollierten Bereiche der Wirtschaft ist der SP als Pfründe vor allem der Bereich Forstwirtschaft zugefallen – das staatliche Forstunternehmen "Lasy Państwowe" subventioniert teilweise die Partei bzw. parteinahe Aktivitäten. Ziobro und seine Kreise unterstützen wiederum zahlreiche Initiativen im euroskeptischen bzw. nationalen und nationalistischen Milieu durch Mittel aus dem vom Justizminister verwalteten "Gerechtigkeitsfonds", der eigentlich Verbrechensopfern helfen, der Verbrechensprävention dienen und Freiwillige Feuerwehren unterstützen soll. Rückendeckung erhielt die SP durch das staatliche Fernsehen, das von 2016 bis 2022 (mit einer kurzen Unterbrechung) von dem als mediale "Bulldogge" der Rechten bekannte SP-Politiker Jacek Kurski geleitet wurde, der so wie Ziobro 2011 wegen Insubordination aus der PiS geworfen worden war. Enge Beziehungen bestehen auch zu weiteren rechten Medien, etwa dem katholischen Radiosender Radio Maryja.Zwischen Einbindung und Ausgrenzung Die SP wiederholte ihren Wahlerfolg als "Blockpartei" der Regierungskoalition "Vereinigte Rechte" (Zjednoczona Prawica) 2019 und stellt derzeit 19 Sejm-Abgeordnete sowie ein Mitglied des Senats. Wieder waren Angehörige der verschiedenen Kleinparteien auf der PiS-Liste in den Sejm gewählt worden, weshalb sie keine Prozenthürden (5 Prozent für Parteien, 8 Prozent für Listenverbindungen) überwinden mussten. Neben PiS und SP gehören der Vereinigten Rechten insbesondere die "Republikanische Partei" (Partia Republikańska, derzeit 9 Sejm-Abgeordnete) an sowie die "Erneuerung der Republik Polen" (OdNowa Rzeczypospolitej Polski, derzeit 5 Sejm- und 1 Senatsabgeordneter). Die parlamentarische Existenz dieser Parteien hängt letztlich von der Gnade Jarosław Kaczyńskis ab, obschon in der Vergangenheit in der Presse spekuliert wurde, ob Ziobro und seine Leute im Justizressort nicht vielleicht auch etwas in der Schublade hätten, was führende PiS-Politiker belasten könnte.Letztlich ist die Existenz von Ziobros Partei für Kaczyński aber eine gute Möglichkeit, auf der einen Seite den ihm inhaltlich und mit seinem ausgeprägten Misstrauen in vielen Dingen nahestehenden, zugleich aber auch machtbewussten und konsequent agierenden Ziobro in das Regierungslager einzubinden, gleichzeitig aber auch dafür zu sorgen, dass er ihm und seinen (wechselnden) Protegés in der Regierung nicht zu gefährlich wird und die Macht- und Nachfolgefrage im rechten Lager offen bleibt.Von der Solidarität zur SouveränitätHatte der ursprüngliche Parteiname "Solidarisches Polen" auf die vor zehn Jahren verbreitete Unzufriedenheit vieler Polen mit der wirtschaftsliberalen und wenig auf soziale Themen setzenden Politik der PO unter Donald Tusk zu tun, so erklärt die SP nun diese Etappe für vorerst abgeschlossen. Mit ihrem Namenswechsel zu "Souveränes Polen" reagiert sie offensichtlich auf eine Umfrage, nach der 45 Prozent aller Polen in der EU-Mitgliedschaft ihres Landes eine Gefährdung seiner Souveränität sehen. In einem programmatischen Text auf ihrer Homepage erklärt die SP nun also den Kampf um die Souveränität Polens zu ihrem neuen Hauptziel:"Souveränität ist die Fähigkeit, eigenständig und frei über sich entscheiden zu können. (…) Souveränität ist das Recht, auch über seine Heimat entscheiden zu können. Heute werden die polnischen Selbstverwaltungen von der EU erpresst und bestochen. Sie müssen auf Beschlüsse zur Verteidigung der Familie verzichten. Denn anders bekommen sie keine EU-Gelder. Wir sind gegen ein solches Diktat.Souveränität ist die Freiheit, ein eigenes Gerichtswesen zu gestalten. (…) Wir sind nicht damit einverstanden, dass die EU unrechtmäßig unser Gerichtswesen beeinflusst und entscheidet, wer in Polen regieren soll." Im Bereich der Energieversorgung solle Polen weiter auf die einheimische Kohle setzen, es müsse die heimische Landwirtschaft gegen Brüssel verteidigen, die polnische Jugend vor "Sexualisierung" und Homosexualität schützen, das Erbe von Johannes Paul II. verteidigen. Es müsse auch verhindert werden, dass weitere polnische Wälder als Naturschutzgebiete ausgewiesen werden. Neue Gesetze, die "Brüssel als Vermittler für Deutschland" umsetzen wolle, müssten verhindert werden, da sie die polnische Souveränität untergrüben: "Nur ein souveräner Staat, kein aus fremden Hauptstädten verwalteter Staat sichert den Polen eine stabile Entwicklung." Mit diesem dezidiert rechtspopulistischen Programm spricht die SP somit eine besonders national und EU-skeptisch gesinnte Wählerschaft an. Ihre Rolle innerhalb der "Vereinigten Rechten" ist es, der rechtsradikalen und PiS-kritischen Partei "Konföderation" (Konfederacja) Wähler abzuluchsen. Allerdings ist die SP in Umfragen, in denen sie als eigenständige politische Kraft auftaucht, mit weniger als 1 Prozent Wählerstimmen deutlich weniger erfolgreich als die derzeit zwischen 10 und 14 Prozent liegende Konföderation, deren Vorteil unter anderem darin begründet ist, dass sie noch nie in Regierungsverantwortung gestanden hat. Und auch die Abneigung gegen Parteichef Ziobro ist sehr ausgeprägt: Es gibt keinen polnischen Spitzenpolitiker, der bei den Wählern so unbeliebt wäre (in einer kürzlich veröffentlichten Umfrage meinen 65,1% der Befragten, sie würden ihm nicht vertrauen, nur 20,5% vertrauen ihm).Fazit: Vorbereitung auf alle EventualitätenAlles deutet darauf hin, dass die SP auch bei den Wahlen im Herbst ihre Kandidaten wieder über die PiS-Liste in den Sejm bringen wird. Es wird an Jarosław Kaczyński liegen, wie viele aussichtsreiche Listenplätze er schließlich dem Koalitionspartner zubilligen wird, wobei viele SP-Politiker aufgrund ihrer meinungsstarken Äußerungen keine geringe mediale Bekanntheit erreicht haben und möglicherweise auch auf schlechteren Plätzen Erfolg haben könnten. Eine SP in der bisherigen Stärke würde im Falle eines Wahlsiegs der "Vereinigten Rechten" jede Annäherung an die Europäische Kommission erschweren, ja zuweilen wird ihr auch eine Schlüsselrolle bei einem möglichen schleichenden Polexit zugetraut. Im Falle einer Wahlniederlage könnte Zbigniew Ziobro im Zuge der dann unausweichlich einsetzenden Personalrochaden in der PiS um den Führungsanspruch im rechten Lager kämpfen (Jarosław Kaczyński ist immerhin schon 74 Jahre alt). Aber auch eine komplette Neuordnung der politischen Landschaft rechts von der Mitte ist denkbar. Sollte die "Vereinigte Rechte" die Wahlen verlieren und die "demokratische Opposition" die Regierung bilden, wäre allerdings auch abzuwarten, ob das von führenden politischen Akteuren der Opposition angekündigte konsequente Vorgehen gegen die mannigfachen Verstöße der PiS-Regierung gegen die Verfassung und die Rechtstaatlichkeit, anders als nach 2007, diesmal auch Zbigniew Ziobro gefährlich werden können. Zbigniew Ziobro im Kreise seiner Anhänger. Quelle: https://suwerennapolska.pl
[1] 1997 hatte die konservative Wahlaktion Solidarität (Akcja Wyborcza Solidarność, AWS) die Wahlen gewonnen und mit der liberalen Freiheitsunion (Unia Wolności, UW) eine Regierungskoalition geschlossen; Jerzy Buzek wurde zum Ministerpräsidenten gewählt. Mitte 2000 trat die UW aus der Regierung aus; in die bis 2001 amtierende AWS-Minderheitsregierung trat u.a. Lech Kaczyński ein.
Blog: Rechtspopulismus
Das Konzept des demokratischen Rechtsstaates, bisher einigendes Fundament und Leitprinzip der europäischen Einigung, steht heute im Zentrum einer kritischen Debatte, die die Grundlagen des europäischen Friedensprojektes zu gefährden droht. Weltweit und insbesondere in Europa wächst die Sorge um den Erhalt der freiheitlich-demokratischen Werte. Populistische Bewegungen gewinnen an Einfluss, indem sie einfache Antworten auf die komplexen Herausforderungen unserer Zeit anbieten. Diese Bewegungen finden vor allem bei denjenigen Anklang, die sich inmitten des raschen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels nach Sicherheit und Beständigkeit sehnen. Sie neigen dazu, sich Lösungen wie nationaler Abschottung und der Etablierung autoritärer Regime zuzuwenden, um ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln (vgl. Möllers 2018, S. 7).Seit der Flüchtlingskrise 2015 haben populistische Strömungen in verschiedenen europäischen Ländern an Zulauf gewonnen. Ungarn und Polen sind prominente Beispiele, in denen rechtsnationale bis rechtsradikale Parteien an die Macht gekommen sind. Diese Regierungen stehen im Widerspruch zu den Grundprinzipien der Europäischen Union, einschließlich der Achtung der Menschenwürde, der Demokratie, der Freiheit, der Gleichheit und der Rechtsstaatlichkeit. Der Umbau des Staatswesens in diesen Ländern zeigt sich insbesondere in der Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz, der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Medien (Bundeszentrale für politische Bildung 2022).Besonders in Ungarn, wo seit Viktor Orbáns zweiter Amtszeit im Jahr 2010 ein schleichender Prozess des Demokratieabbaus zu beobachten ist, wird die Bedeutung der Medienregulierung für die demokratischen Strukturen und die politische Landschaft offensichtlich. Die vorliegende Arbeit widmet sich dieser Problematik und beleuchtet, wie die Regulierung der Medien in Ungarn demokratische Prozesse und die politische Szenerie des Landes beeinflusst.Die Arbeit beginnt mit einer grundlegenden Definition des Begriffs "Medien" und einer Erörterung ihrer primären, sekundären und tertiären Funktionen im politischen Raum. Anschließend wird die Nutzung der Medien als Instrument der Regierungskommunikation und als Mittel der Machtsicherung untersucht. Eine Analyse der aktuellen Medienlandschaft in Ungarn, einschließlich der Einschränkungen der Pressefreiheit, der Meinungsvielfalt sowie der Kontrolle und Einflussnahme der Regierung auf die Medienorgane, bildet den Kern der Arbeit.Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Medienregulierung in Ungarn gelegt. Die Auswirkungen dieser Medienregulierung auf die Demokratie in Ungarn werden untersucht, um zu verstehen, wie Veränderungen in der Medienlandschaft die Grundpfeiler der Demokratie beeinflussen - die Bedeutung der Medien für eine demokratische Gesellschaft, die Einschränkungen der Demokratie durch Regulierungen in der Medienlandschaft und die politischen Auswirkungen auf das demokratische System. Abschließend wird in einem Fazit reflektiert, inwiefern die Medienregulierung in Ungarn als symptomatisch für eine Verschiebung weg von demokratischen Idealen gesehen werden kann.Ziel der Arbeit ist es, ein Verständnis der komplexen Wechselwirkungen zwischen Medienregulierung und demokratischen Prozessen in Ungarn zu erlangen und damit einen Beitrag zur aktuellen Debatte über die Bedeutung liberaler demokratischer Werte in Europa zu leisten.Die Rolle der Medien in der PolitikDer folgende Abschnitt befasst sich mit der Rolle der Medien in der Politik. Im Mittelpunkt steht dabei die differenzierte Betrachtung der primären, sekundären und tertiären Funktionen der Medien. Mit Hilfe dieser Unterscheidung ist es möglich, ein tieferes Verständnis dafür zu entwickeln, wie Medien die politische Landschaft gestalten und beeinflussen. Durch die Analyse dieser Funktionen wird untersucht, wie Medien Öffentlichkeit herstellen, Informationen verbreiten, politische Akteure kontrollieren und zur politischen Sozialisation und Bildung beitragen. Dies ist von entscheidender Bedeutung, um die komplexen Wechselwirkungen zwischen Medien und Politik vollständig zu erfassen. Primär-, Tertiär- und SekundärfunktionDie Macht der Massenmedien, bestehende Machtstrukturen herauszufordern, darf nicht unterschätzt werden. Durch die Sammlung, Aufbereitung und Verbreitung von Informationen, Wissen und politischen Ansichten wird die öffentliche Meinung wesentlich beeinflusst (Wittkämper, S. 37). Bereits in der Frühen Neuzeit erkannten der Adel und die Kirche als damalige Machthaber die potenzielle Bedrohung, die von den Medien ausging. Sie reagierten schnell und führten nach der Entdeckung des Buchdrucks Zensurmaßnahmen ein, um die zu druckenden Inhalte vorzuprüfen und ihre Herrschaft zu sichern (Strohmeier 2004, S. 69).In der heutigen Zeit spielen die Medien eine zentrale Rolle bei der Gestaltung der politischen Realitäten, da sie in der Lage sind, die politische Macht entweder zu stärken oder zu untergraben (Strohmeier 2004, S. 69). Ziel der folgenden Ausführungen ist die Veranschaulichung des Einflusspotenzials der Massenmedien durch die Darstellung ihrer grundlegenden Funktionen.Gerd Strohmeier weist auf die Bedeutung der primären, der sekundären und der tertiären Funktion der Massenmedien hin. Die Primärfunktion besteht darin, Öffentlichkeit herzustellen, die entsteht, wenn direkte Kommunikationsformen bevölkerungsbedingt nicht ausreichen. Massenmedien ermöglichen eine schnelle und einfache Verbreitung von Nachrichten und füllen so diese kommunikative Lücke (Strohmeier 2004, S. 72).Die Kontrolle der politischen Akteure und die Verbreitung von Informationen gehören zu der Sekundärfunktion. Ziel ist die umfassende und verständliche Vermittlung von Inhalten und damit die Beeinflussung der Meinungsbildung. Zugleich haben Massenmedien die Aufgabe, das Verhalten der politischen Institutionen zu überwachen, Missstände aufzudecken und Kritik zu üben (Strohmeier 2004, S. 72f.).Die Tertiärfunktion der Medien umfasst drei wesentliche Aspekte. Erstens die Förderung der politischen Meinungs- und Willensbildung, zweitens die Integration und politische Sozialisation und drittens die Vermittlung politischer Bildung. Diese Aspekte unterstützen die Entwicklung der Persönlichkeit des Einzelnen und seine Integration in die Gesellschaft, fördern das Verständnis für das politische System und regen zur aktiven Teilnahme am politischen Leben an. Darüber hinaus haben die Massenmedien einen entscheidenden Einfluss auf die Art und Weise, wie über bestimmte Themen nachgedacht und gesprochen wird, oft ohne dass sich die Menschen der Beeinflussung ihrer Meinungen durch die Medien bewusst sind (Strohmeier 2004, S. 73f.).Medien als InstrumentIm nächsten Schritt unserer Analyse konzentrieren wir uns auf die Rolle der Medien als politisches Werkzeug. Dabei unterteilt sich unsere Betrachtung in zwei Schlüsselaspekte. Einerseits die Nutzung der Medien für Regierungskommunikation, durch die Regierungen ihre Botschaften vermitteln, und andererseits die Anwendung der Medien als Mittel zur Machtsicherung, wodurch Einfluss auf die öffentliche Meinung genommen und politische Macht gefestigt wird.Medien als Instrument für RegierungskommunikationDie strategische Nutzung der Medien durch die Regierung wird vor allem in Bezug auf den Einfluss der Mediengesetzgebung auf die Demokratisierungsprozesse und die Politikgestaltung in Ungarn untersucht. Durch die gezielte Verbreitung politischer Botschaften und Entscheidungen interagieren Regierungen direkt mit der Bevölkerung, was nicht nur die Verbreitung von Informationen fördert, sondern auch die öffentliche Meinung prägt und politische Unterstützung generiert.Um den Rechtspopulismus zu verstehen, ist es notwendig, sich mit Cas Muddes Definition des Populismus auseinanderzusetzen, der Populismus als eine Ideologie betrachtet, die die Gesellschaft in zwei homogene und antagonistische Gruppen teilt: "das reine Volk" gegenüber "der korrupten Elite", wobei Politik als Ausdruck des allgemeinen Volkswillens verstanden wird (Mudde 2004, S. 543). Die Tendenz, dass rechtspopulistische Parteien seit den 1980er Jahren Wahlerfolge erzielen und sich etablieren, zeigt sich nicht nur in westeuropäischen, sondern auch in jungen Demokratien Osteuropas, einschließlich Ungarns (Geden 2006, S. 17f.).Rechtspopulisten positionieren sich als Vertreter der "schweigenden Mehrheit" in direktem Gegensatz zu den politischen und kulturellen Eliten und privilegierten Minderheiten, denen sie die Verfolgung partikularer Interessen vorwerfen (Geden 2006, S. 20f.). Ihre politische Rhetorik ist durch Vereinfachung und Komplexitätsreduktion gekennzeichnet, wobei sie sich organisatorisch von den etablierten Parteien abgrenzen, etwa durch die Zusammenarbeit mit außerparlamentarischen Gruppen, die Initiierung von Volksentscheiden oder die Präsenz charismatischer Führungspersönlichkeiten (Geden 2006, S. 22).Ein zentrales Element rechtspopulistischen Denkens ist der "Ethnopluralismus", der besagt, dass sich ethnisch und kulturell homogene Völker nicht vermischen sollten, was eine inhärente Ungleichheit der Völker suggeriert und kulturelle Begegnungen als konfliktträchtig ansieht (Bruns et al. 2015, S. 12f.).Im spezifischen Kontext Ungarns unter der Führung von Viktor Orbán zeigt sich die kritische Rolle dieser Medienstrategien. Die Regierung Orbán hat Medienregulierung bewusst eingesetzt, um ein medienfreundliches Umfeld für regierungsnahe Nachrichtenquellen zu schaffen und gleichzeitig den Raum für kritische Stimmen einzuschränken (Mudde 2004, S. 543). Dies schränkt nicht nur die Vielfalt und Freiheit der Medien ein, sondern hat auch tiefgreifende Auswirkungen auf demokratische Prozesse, indem es die Möglichkeiten für eine offene politische Debatte einschränkt.Diese strategische Nutzung der Medien für die Regierungskommunikation verdeutlicht die Doppelnatur der Medien in der Politik. Einerseits als Kanäle für die transparente Kommunikation politischer Inhalte und andererseits als Instrumente der Machtkonsolidierung, die die demokratischen Grundlagen untergraben können. Diese Dynamik ist entscheidend für das Verständnis der politischen Situation in Ungarn und der Rolle, die die Medienregulierung dabei spielt (Geden 2006, S. 17f.).Detlef Grieswelle betont in "Politische Rhetorik: Macht der Rede, öffentliche Legitimation, Stiftung von Konsens" die bedeutende Rolle der Rhetorik in der Politik. Rhetorik dient nicht nur der Durchsetzung und Legitimation von Macht, sondern auch der Kontrolle und Repräsentation von Interessen, was ihre Bedeutung als Instrument politischer Führung und Einflussnahme unterstreicht (Grieswelle 2000, S. 33). In diesem Zusammenhang ist die rhetorische Strategie des ungarischen Ministerpräsidenten von besonderer Relevanz, da mit ihr versucht wird, politische Legitimität für diese Vision zu schaffen und die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen (Bruns et al. 2015, S. 12f.).Medien als Werkzeug zur Sicherung von MachtUm zu verstehen, wie die Medien zum Machterhalt beitragen, ist die Rhetorik von rechtspopulistischen Figuren wie Viktor Orbán besonders aufschlussreich. Orbán nutzt plakative und skandalträchtige Kommunikationswege, um mediale Aufmerksamkeit zu generieren die nicht nur seine Präsenz in der Öffentlichkeit stärkt, sondern auch eine Mobilisierung seiner Anhängerschaft bewirkt (Schnepf 2020, S. 5). In seinen politischen Reden kehren bestimmte rhetorische Muster immer wieder, darunter die Verwendung von Antagonismen, die eine Konfliktsituation erzeugen, insbesondere durch die Gegenüberstellung von "Elite" und "Volk". Dabei wird das "Volk" als unterdrückt dargestellt, während die rechtspopulistische Partei als volksnah inszeniert wird (Mudde 2004, S. 543). Eine charakteristische Einfachheit in den Botschaften rechter Parteien wird von Bischof und Senninger hervorgehoben. Je weiter rechts eine Partei steht, desto einfacher ist ihr Programm (Bischof/Senninger 2018, S. 484). Solche Diskurse verwenden prägnante und leicht verständliche Formulierungen für ansonsten komplexe politische Sachverhalte, suggerieren einfache Lösungen und nutzen Dramatisierungen und Metaphern. Insbesondere werden Migrant*innen durch metaphorische Vergleiche abgewertet (Hogan/Haltinner 2015, S. 533) und es wird auf die Bedrohung der nationalen Identität durch ethnische Minderheiten und Migrant*innen angespielt, ein Vorgehen, das Ruth Wodak als "politics of fear" beschreibt (Wodak 2015, S. 2).Diese Elemente rechtspopulistischer Rhetorik finden sich in Orbáns Äußerungen deutlich wieder, wie einige seiner Reden und Interviews exemplarisch zeigen. Besonders deutlich wird dies in seiner Darstellung von Migration als Bedrohung für das ungarische Volk, wobei er einen alarmistischen Ton anschlägt, um die migrationskritische Haltung der Regierung zu untermauern und ein Klima der Angst zu erzeugen: "Europa wird von einer beispiellosen Masseneinwanderung bedroht. (...) Wir sprechen heute von Hunderttausenden, nächstes Jahr werden es Millionen sein, ein Ende ist nicht in Sicht" (Orbán, zitiert nach Mendelski 2019, S. 8). Orbáns Wortwahl, in der er von der "Wahrheit" spricht, verdeutlicht seine Überzeugung von der Legitimität seiner Politik, wobei er durch Übertreibungen wie "Millionen", "massive Integration" oder "unerwartetes Ausmaß" eine Atmosphäre der Panik schafft.In einer Rede anlässlich seiner Vereidigung als Ministerpräsident präsentierte Orbán seine Vision einer Demokratie, die er als "christdemokratisch im 21. Jahrhundert" bezeichnete und damit ein stark von christlichen Werten geprägtes Bild nationaler Identität entwarf, das traditionelle Familienbilder bevorzugt und Homosexualität ausgrenzt. Diese Ausführungen zeigen, wie Orbán die Medien nutzt, um seine politische Botschaft zu verstärken und wie er die Medien als Instrument zur Sicherung seiner Macht einsetzt, indem er sich einer Rhetorik bedient, die sowohl mobilisiert als auch polarisiert, um seine Position zu festigen und Herausforderungen zu kontrollieren.Analyse der aktuellen Medienlandschaft in UngarnDer folgende Teil der Arbeit befasst sich mit der aktuellen Medienlandschaft in Ungarn. In der ersten Amtszeit Orbáns zwischen 1998 und 2002 gab es kaum Eingriffe in die Pressefreiheit, was auf mehrere Faktoren zurückzuführen ist. Da Ungarn in dieser Zeit noch auf den EU-Beitritt hinarbeitete, vermied Orbán bewusst Auseinandersetzungen mit der Europäischen Union über Fragen der Pressefreiheit. Dies änderte sich jedoch in der darauffolgenden Amtszeit ab 2010 drastisch: Ein neues Gesetz wurde eingeführt, das staatlichen Stellen die Einflussnahme auf die Medien ermöglichte und deren Regulierung legitimierte. Fortan nutzte die Regierung Orbán die Medien gezielt für ihre politischen Ziele.Einschränkungen der Pressefreiheit und Meinungsvielfalt in UngarnDas Beispiel Ungarns zeigt den Übergang von einem Demokratisierungsprozess zu einem schleichenden Verlust demokratischer Strukturen. Ursprünglich galt Ungarn aufgrund seiner politischen Fortschritte und wirtschaftlichen Stabilität in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren als Vorbild unter den EU-Beitrittskandidaten. Nach dem Fall der kommunistischen Einparteienherrschaft (1949-1989) und der Etablierung einer parlamentarischen Demokratie (ab 1990) unternahm das Land erhebliche Anstrengungen, um eine demokratische Staatsform zu etablieren. Wichtige Reformen dieser Zeit schufen unter anderem eine klare Trennung der Staatsgewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) und die neue Verfassung verankerte Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz (Ismayr 2002, S. 310ff.).Seit 2010 hat Viktor Orbán mit seiner Fidesz-Partei jedoch einen politischen Kurs eingeschlagen der den zuvor eingeleiteten Demokratisierungsprozess nicht nur gestoppt, sondern in einigen Bereichen sogar rückgängig gemacht hat. Ein 2010 verabschiedetes Mediengesetz, das es staatlichen Stellen erlaubt, die Medien zu überwachen und bei Verstößen zu sanktionieren, markiert einen Wendepunkt in der Einschränkung der Pressefreiheit und ist ein zentraler Faktor im Demokratieabbau des Landes (Bajomi-Lazar 2018, S. 273ff.). Freedom House hebt hervor, dass von allen Kriterien zur Bewertung des Zustands von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gerade die Pressefreiheit in Ungarn die dramatischsten Einbußen zu verzeichnen hat (Bajomi-Lazar 2018, S. 273).Die ungarische Medienlandschaft hat sich seit der Regierungsübernahme durch Orbán und Fidesz sukzessive verändert. Die Regierung kontrolliert den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die staatliche Nachrichtenagentur Magyar Tavirati Iroda sowie einen erheblichen Teil der privaten Medien, die sich im Besitz von Orbán nahestehenden Personen befinden. Im Rahmen einer umfassenden Umstrukturierung wurden 570 leitende Angestellte der Rundfunkanstalten durch der Fidesz-Partei loyale Mitarbeiter ersetzt (Bajomi-Lazar 2018, S. 275f.).Für die regionale Berichterstattung sind seit Sommer 2017 ausschließlich unternehmerfreundliche Medien zuständig. Mit der Schließung einiger kritischer Zeitungen, darunter die überregionalen Blätter Nepszabadsag und Magyar Nemzet, ist die kritische Berichterstattung landesweit nahezu zum Erliegen gekommen. Zudem werden Journalisten, die sich kritisch über Orbán und seine Regierung äußern, nicht selten auf "schwarze Listen" gesetzt, eine Praxis, die offensichtlich darauf abzielt, Kritiker einzuschüchtern (Bajomi-Lazar 2018, S. 280).Kontrolle und Einflussnahme der Regierung auf MedienorganeEin neues Medienpaket mit Änderungen des Medien- und Pressegesetzes trat am 01.01.2011 durch die Regierung Orban in Kraft. Dieses sorgte damals europaweit für Schlagzeilen. Die Rechtsstaatlichkeit des Gesetzes wurde von der EU-Kommission angezweifelt. Auf einige Aspekte soll im Folgenden kurz eingegangen werden.Die Unabhängigkeit der Medien wurde durch das Mediengesetz erheblich geschwächt. Das Mediengesetz sah unter anderem ein Verbot bestimmter Äußerungen vor und legte eine Registrierungspflicht für alle Medien fest. Es drohte die Löschung und der Entzug der rechtlichen Möglichkeit, in Ungarn zu publizieren, wenn der Registrierungspflicht nicht nachgekommen wurde. Dies galt auch für Medienunternehmen, die außerhalb Ungarns in anderen Staaten der Europäischen Union (EU) tätig waren.Die Aufsicht über die Medien wurde nicht mehr von verschiedenen Behörden, sondern von einem einzigen Medienkontrollgremium ausgeübt. Das Medienkontrollgremium war für die Verhängung von Geldstrafen bei "politisch unausgewogener Berichterstattung" (Möllers 2018, S. 47) zuständig. Hinzu kam, dass viele Journalistinnen und Journalisten, die für den staatlichen Rundfunk arbeiteten, entlassen wurden und beispielsweise privaten, regierungskritischen Medien erschwert wurde, eine Rundfunklizenz zu erhalten. Die EU konnte durch die Androhung eines Vertragsverletzungsverfahrens zumindest eine Änderung der "EU-Ausländer betreffenden Aspekte" (Möllers 2018, S. 47) erreichen.MediengesetzgebungNoch bevor Ungarn seine neue Verfassung verankerte, stand die Regierung aufgrund der Verabschiedung eines restriktiven Mediengesetzes unter Beschuss. Das Gesetz, welches im Januar 2011 in Kraft trat, beschränkt deutlich die Freiheit der Medien und Presse (Salzborn 2015, S. 76). Das Hauptziel dieser Maßnahme ist die Dominanz der Regierung Orbáns über das Mediengefüge. Zu diesem Zweck wurde die Nationale Kommunikations- und Medienbehörde ("KESMA") ins Leben gerufen. Diese Behörde und der Medienrat erhielten erweiterte Befugnisse zur Überwachung und Lizenzierung von Medienangeboten. Unter anderem ist die Nationale Kommunikations- und Medienbehörde verantwortlich für die Vergabe von Sendelizenzen und übernimmt Aufgaben im Bereich des Verbraucher- und Wettbewerbsschutzes. Eine der Hauptaufgaben des Medienrates ist die Gewährleistung einer Berichterstattung (Bos 2021, S. 38). Neben der Neustrukturierung des Medienwesens führte die Regierung ein Fördermodell ein, das regierungsnahe Medien durch staatliche Werbeverträge finanziell unterstützt.Nach den Wahlen im Jahr 2014 erwarben Unternehmer, die der Regierung nahestehen, zunehmend Medien der Opposition, die anschließend in die neu geschaffene "Mitteleuropäische Presse- und Medienstiftung" eingebracht wurden (Bos 2021, S. 38). So schaffte es die Regierung Orbán, einflussreiche Medien der Opposition zu marginalisieren oder vollständig vom Markt zu nehmen. Ebenso wurden Online-Nachrichtenplattformen in das System eingegliedert (Bos 2021, S. 39).Samuel Salzborn kritisiert insbesondere den rechtlichen Charakter des neuen Mediengesetzes, das vage Generalklauseln beinhaltet, welche sich auf unbestimmte Konzepte wie "gute Sitten" berufen. Diese Klauseln sind offen für Interpretationen und ermöglichen damit eine gewisse Willkür. Die Definition dessen was als "gute Sitte" gilt kann staatlich bestimmt und gegen kritische Berichterstattung eingesetzt werden, was deren Sanktionierung zur Folge haben kann (Salzborn 2015, S. 77).Auswirkungen der Medienregulierung auf die Demokratie in UngarnNachdem im vorangegangenen Kapitel die aktuelle Medienlandschaft in Ungarn dargestellt wurde, widmet sich der folgende Abschnitt den Auswirkungen der Medienregulierung auf die demokratische Verfasstheit Ungarns. Anhand konkreter politischer Maßnahmen der ungarischen Regierung wird untersucht, wie die Visionen Orbáns umgesetzt wurden. Darüber hinaus wird analysiert, inwiefern die rechtspopulistische Politik die Qualität der ungarischen Demokratie beeinflusst und verändert hat.Bedeutung der Medien für die demokratische GesellschaftIm Zentrum der Debatte um die Rolle der Medien in der demokratischen Gesellschaft Ungarns steht die Transformationspolitik Viktor Orbáns und seiner Fidesz-Partei, die seit ihrem Regierungsantritt eine umfassende Kontrolle über die Medienlandschaft ausüben. Die Regierung nutzt diese Kontrolle strategisch als Instrument der Regierungskommunikation, um eine fast ausschließlich positive Berichterstattung über ihre Handlungen und Entscheidungen sicherzustellen. Regierungskritische Stimmen finden kaum Gehör, stattdessen wird Kritik systematisch unterdrückt und negative Nachrichten werden in einem für die Regierung vorteilhaften Licht dargestellt. Die gezielte Durchführung von Desinformationskampagnen, die Bajomi-Lazar als "Propaganda" bezeichnet, ist ein weiterer Baustein dieser Medienpolitik (Bajomi-Lazar 2018, S. 280f.).Die Verpflichtung von Arthur J. Finkelstein, einem erfahrenen Kampagnenstrategen aus den USA, durch Viktor Orbán unterstreicht den gezielten Einsatz der Medien zur Meinungsbildung. Das Phänomen der Verbreitung von teilweise oder vollständig gefälschten Nachrichten ist zwar kein Alleinstellungsmerkmal der ungarischen Medienlandschaft, die offene Zurschaustellung dieser Praktiken durch die ungarische Regierung ohne den Versuch, ihre Aktivitäten zu verschleiern, stellt jedoch einen klaren Bruch mit demokratischen Normen dar (Bajomi-Lazar 2018, S. 281).Diese Entwicklung wirft grundsätzliche Fragen nach den Auswirkungen der Medienregulierung auf die Demokratie in Ungarn auf. Die Einflussnahme auf die Medien und die damit einhergehende Unterdrückung pluralistischer Diskurse hat unmittelbare Folgen für die demokratische Gesellschaft. Indem die Medien als verlängerter Arm der Regierungskommunikation fungieren und kritische Berichterstattung marginalisiert wird, werden demokratische Grundwerte wie Meinungsvielfalt und Pressefreiheit massiv untergraben. Die strategische Manipulation der Medienlandschaft durch die Regierung Orbán verdeutlicht die Herausforderungen vor denen die Demokratie in Ungarn steht und unterstreicht die zentrale Rolle der Medienfreiheit als Grundpfeiler einer lebendigen und funktionierenden demokratischen Gesellschaft. Einschränkung der Demokratie durch Regulierungen in der MedienlandschaftDie Regulierung der Medienlandschaft in Ungarn durch Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei hat weitreichende Folgen für die Demokratie im Land. Durch die systematische Übernahme und Anpassung der Medien an ihre Vorstellungen, insbesondere durch die Besetzung der Führungspositionen in den wichtigsten Medienorganisationen mit Verbündeten der Regierung, haben sie die Medien zu einem Instrument der Machtsicherung gemacht. Die Aufhebung der Unabhängigkeit der Medien ermöglicht es der Orbán-Regierung, die Berichterstattung vollständig für ihre politischen Ziele zu instrumentalisieren. Es dominiert eine einseitige Berichterstattung, die den Bürgern vor allem in den ländlichen Regionen wenig Spielraum lässt die Authentizität und Richtigkeit der präsentierten Nachrichten zu überprüfen. Die Bürger Ungarns stehen vor der Herausforderung, dass sie kaum Zugang zu alternativen Perspektiven oder kritischen Stimmen haben, was sie quasi dazu zwingt, den regierungsgesteuerten Nachrichten Glauben zu schenken (Bajomi-Lazar 2018, S. 281/282).Diese Einschränkung der Medienfreiheit und die Manipulation der Informationslandschaft durch die Regierung Orbán untergraben grundlegende demokratische Prinzipien, indem sie den freien Zugang zu Informationen einschränken und eine fundierte öffentliche Meinungsbildung verhindern. Durch die gezielte Meinungsmache und die Abschottung gegenüber kritischen Debatten werden die natürlichen demokratischen Kontrollmechanismen geschwächt und die Bevölkerung als Kontrollinstanz der Regierung faktisch entmachtet. Die Strategie, die Macht über die Medien zu festigen und dafür zu sorgen, dass keine Gegenmeinungen an die Öffentlichkeit gelangen oder Widerstand gegen politische Entscheidungen leisten können, ist ein deutliches Zeichen für den Missbrauch von Medienmacht zur Festigung autoritärer Strukturen.Diese Entwicklungen in Ungarn verdeutlichen die zentrale Bedeutung einer unabhängigen und pluralistischen Medienlandschaft für den Erhalt einer gesunden Demokratie. Die Einschränkung der Pressefreiheit und die gezielte Manipulation der Medien durch die Regierung stellen eine ernsthafte Bedrohung für die demokratischen Prozesse und die politische Freiheit im Land dar. Politische Auswirkungen auf das demokratische System UngarnsDie politischen Auswirkungen der Regulierung der Medien auf das demokratische System in Ungarn sind tiefgreifend und haben zu einer Verschlechterung der Qualität der Demokratie im Land geführt. Diese Veränderungen spiegeln sich in verschiedenen internationalen Indizes wider, die die demokratische Stabilität Ungarns bewerten. Der "Freedom in the World Index" von Freedom House stuft Ungarn als "teilweise frei" ein, da die Fidesz-Partei die Kontrolle über unabhängige Institutionen erlangt hat, was zu einer Schwächung der Aktivitäten von Oppositionellen, Journalisten, Universitäten und NGOs geführt hat (Freedom House 2021). Der "Nations in Transit Index" bezeichnet Ungarn sogar als "Transitional or Hybrid Regime" mit einem Wert von 49 von 100 Punkten, wobei 100 Punkte für eine funktionierende Demokratie stehen (Freedom House 2021b). Der Bertelsmann Transformationsindex beschreibt Ungarn als "defekte Demokratie", in den demokratischen Institutionen zwar existieren, aber eingeschränkt und ineffektiv sind (Bertelsmann Stiftung 2020, S. 13).Deutlich verschlechtert hat sich zudem die Platzierung Ungarns in der Rangliste der Pressefreiheit von "Reporter ohne Grenzen", wo das Land nur noch auf Platz 92 von 180 Ländern rangiert und die Situation der Pressefreiheit als problematisch eingestuft wird (Reporter ohne Grenzen 2021). Der "Rule of Law Index" des World Justice Project weist Ungarn den niedrigsten Wert in Osteuropa zu, weltweit liegt es auf Platz 60 von 128 (World Justice Project 2020).Diese Indizes und Bewertungen zeigen, dass die von Viktor Orbán vorangetriebene politische Transformation direkte negative Auswirkungen auf die Qualität der Demokratie in Ungarn haben. Einige Autoren wie Attila Ágh sprechen von der "ungarischen Krankheit" als antidemokratischer Herausforderung für die EU und beschreiben das Land als "worst case scenario" einer "elected autocracy" (Ágh 2015, S. 4, S. 16). János Kornai sieht in der Entwicklung seit Orbáns Amtsantritt eine Abkehr von Demokratie und Errungenschaften des Systemwechsels Ende der 1980er, einen "U-Turn" (Kornai 2015, S. 1). Samuel Salzborn identifiziert eine transformatorische Entwicklung hin zu einer Diktatur, bedingt durch rechtliche Veränderungen und eine zunehmende Ethnisierung der Innenpolitik (Salzborn 2015, S. 81).Andere Forscher sprechen von einem "hybriden Regime" und positionieren Ungarn in einer Grauzone zwischen Demokratie und Autokratie. András Bozóki und Dániel Hegedüs betonen, dass hybride Regime eine eigenständige Kategorie darstellen, die weder als Unterform der Demokratie noch der Diktatur zu verstehen ist (Bozóki/Hegedüs 2018, S. 1183). Attila Antal betont, dass das Orbán-Regime seine politische Anhängerschaft gezielt repolitisiert und den Rest der politischen Gemeinschaft depolitisiert hat (Antal 2017, S. 18).SchlussfolgerungDas Phänomen des Demokratieabbaus, beobachtet nicht nur in Ungarn, sondern weltweit und innerhalb Europas, unterstreicht eine kritische Herausforderung für die demokratische Ordnung vieler Staaten. Die systematische Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit in Ungarn seit Viktor Orbáns zweiter Amtszeit im Jahr 2010 zeichnet ein beunruhigendes Bild der Degradierung demokratischer Werte, das weit über die Grenzen Ungarns hinausreicht und die europäische Gemeinschaft insgesamt betrifft (Möllers 2018, S. 7; Ismayr 2002, S. 309ff.).Die zentrale Rolle der Medien in einer Demokratie, hervorgehoben durch ihre vielfältigen Funktionen wie die Schaffung von Öffentlichkeit, Informationsvermittlung, Kontrolle der Macht, soziale Integration und Bildung, unterstreicht die Bedeutung der Medienfreiheit für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft (Strohmeier 2004, S. 69ff.). Die Kontrolle über die Massenmedien zu haben bedeutet, einen entscheidenden Einfluss darauf zu besitzen, welche Informationen die Bevölkerung erhält und wie sie die politische Realität wahrnimmt.Ungarns Entwicklung seit 2010 unter der Fidesz-Regierung ist besonders alarmierend, da sie zeigt, wie gezielt Propaganda eingesetzt wird, um die Regierungsperspektive zu stärken und oppositionelle Stimmen effektiv zum Schweigen zu bringen. Die offene Ausführung dieser Maßnahmen und das scheinbare Desinteresse der Regierung, ihre Aktionen zu verbergen, verdeutlichen eine besorgniserregende Gleichgültigkeit gegenüber demokratischen Standards (Bajomi-Lazar 2018, S. 281f.). Trotz der Transparenz dieser Aktivitäten hat die Europäische Union bisher wenig Einfluss auf eine positive Veränderung nehmen können, was den Demokratieabbau in Ungarn weiter vorantreibt.Die Situation in Ungarn ist nicht isoliert zu betrachten, sondern stellt ein ernstes Problem für die EU dar, da es die konstitutionellen und demokratischen Grundlagen der Gemeinschaft untergräbt. Die aktuellen Entwicklungen in Ungarn sind ein Warnsignal und erfordern eine dringende und koordinierte Reaktion auf europäischer Ebene, um die Demokratie zu schützen und zu fördern. Die Frage, wie die Medienregulierung in Ungarn die demokratischen Prozesse und die politische Landschaft des Landes beeinflusst, lässt sich klar beantworten: Sie führt zu einer erheblichen Einschränkung der Demokratiequalität, indem sie die freie Meinungsäußerung untergräbt, die politische Pluralität einschränkt und die Kontrollfunktion der Medien schwächt.Die Hoffnung liegt nun darauf, dass die internationale Gemeinschaft und europäische Institutionen wirksame Maßnahmen ergreifen, um die demokratischen Prinzipien in Ungarn zu stärken und einen weiteren Demokratieabbau zu verhindern. Die Bewahrung der Medienfreiheit und die Sicherstellung einer pluralistischen und unabhängigen Medienlandschaft sind essenziell für die Aufrechterhaltung einer lebendigen und gesunden Demokratie, nicht nur in Ungarn, sondern in allen demokratischen Staaten. LiteraturverzeichnisÁgh, Attila. 2015. 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Blog: Schnabeltier EU
Quo vadis, EU? Das Projekt, das zu Anfang für Frieden sorgen sollte, hat inzwischen so manches umgesetzt, was in der Gründungszeit, im Mai 1951, für visionär gehalten wurde. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die zu Beginn aus sechs Staaten (Frankreich, Deutschland, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Italien) bestand, entwickelte sich schnell weiter: Von einem Gemeinsamen Markt über weitere Mitgliedsländer bis hin zu einer gemeinsamen Währung transformierte sich die einstige Gemeinschaft zur heutigen Europäischen Union."Spill over"-Effekte sorgten dafür, dass ausgehend vom Gemeinsamen Markt auch gemeinsame Arbeitsbereiche außerhalb der Ökonomie entstanden: Das Wirtschaftsprojekt wurde zunehmend politisch und steht heute zwischen Supranationalismus und Intergouvernementalismus. Die EU, so wird gerne gesagt, ist ein System sui generis, weder ganz internationale Organisation noch ganz Staat. Doch gerade weil die EU in machen Belangen staatliche Züge angenommen hat, stellt sich die Frage, ob ihre demokratische Legitimation ausreicht. Angela Merkel drückte das in einer Regierungserklärung von 2006 folgendermaßen aus:"Kurz gesagt muss man feststellen: Europa steht bei den Europäerinnen und Europäern nicht so hoch im Kurs […]. Wir müssen […] den Stand des Projekts Europa kritisch überprüfen. Wir müssen den Bürger in den Mittelpunkt stellen" (Bundesregierung 2006, S. 3f.).Doch worunter leidet die demokratische Legitimation der EU? Und wie könnte man der Union zu mehr Demokratie verhelfen? Diesen Fragen geht der folgende Beitrag nach. Ausgehend vom Aufbau der EU wird das sogenannte Demokratiedefizit in institutioneller und struktureller Hinsicht erläutert. Abschließend werden mögliche Lösungsvorschläge vorgestellt und Kritikpunkte geäußert.Aufbau der EU und DemokratiedefizitDie Aufbau der Union wird häufig als abstrakt und kompliziert erachtet. Auch die ZDF-Satiresendung Die Anstalt greift den komplexen Aufbau der EU zusammen mit dem Demokratiedefizit in der Sendung vom 06.09.2015 auf. Um auf das Demokratiedefizit aufmerksam zu machen, beginnen die Satiriker Claus von Wagner und Max Uthoff so: Claus von Wagner (C.v.W.): "Die meisten Nutzer [gemeint sind hier die Bürger*innen der Europäischen Union] beschweren sich, dass unser Haus [gemeint ist die Europäische Union] nicht den demokratischen Anforderungen entspricht."Max Uthoff (M.U.): "Diese Leute sind doch gar nicht in der Lage, ein so komplexes Haus wie unseres zu verstehen."C. v. W.: "Aber sie sollen drin wohnen ... wie soll denn das gehen?! Vielleicht können Sie's mir erklären, schau'n Sie mal, wir haben da hinten doch den Grundriss von unserem Hotel [gemeint ist hier abermals die Europäische Union]."M. U.: "Ja ... ja, was suchen Sie denn?"C. v. W.: "Na, die Demokratie!"M. U.: "Ach Demokratie ... Demokratie ... was heißt schon Demokratie?"C. v. W.: "Na, das Regieren des Volkes durch das Volk für das Volk." (von Wagner/Uthoff 2016, 00:00:00 – 00:01:00). Wie Markus Preiß, Leiter des ARD-Studios in Brüssel, in seinem #kurzerklärt-Video erläutert, ist die Europäische Union "demokratisch mit Schönheitsfehlern" (Preiß 2019, 00:02:07-00:02:10) und sicherlich weit weg davon, undemokratisch zu sein. Doch über ihr Demokratiedefizit lässt sich schlecht hinwegsehen. Es fußt im Wesentlichen auf zwei Gründen: "zu wenig Bürgerbeteiligung infolge mangelnder Transparenz und eine[r] unzureichende[n] Legitimation der Institutionen der Europäischen Union" (Bollmohr 2018, S. 73). Doch politische Systeme sind auf Legitimation angewiesen, "um Herrschaft dauerhaft zu sichern" (Abels 2019, S. 2). Um dieses Demokratiedefizit besser verstehen zu können, ist eine Beschreibung des Aufbaus der Europäischen Union und ihrer Institutionen unerlässlich. Autor*innen, die die Europäische Union für demokratisierbar halten, begreifen die EU als als ein politisches System, das durch institutionelle und strukturelle Reformen verändert werden kann (vgl. Schäfer 2006, S. 354). Sie gehen hierbei von einem Demokratieverständnis gemäß der Übersetzung des Wortes Demokratie (= Volksherrschaft) aus. Wie in der Inszenierung der Anstalt angeklungen, wird von einer Auslegung des Wortes ausgegangen, das das Regieren des Volkes durch das Volk für das Volk als Grundlage nimmt und auf eine Aussage von Abraham Lincoln zurückgeht ("government of the people, by the people, for the people"). Die EU hat sieben Organe (vgl. Weidenfeld 2013, S. 116). Den Kern bildet dabei das "institutionelle Dreieck" bzw. nach der Inklusion des Europäischen Rates durch den Vertrag von Lissabon das "institutionelle Viereck", bestehend aus dem Europäischen Rat, der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union. Zu den Organen gehört darüber hinaus der Gerichtshof der Europäischen Union, die Europäische Zentralbank und der Rechnungshof. Beginnend mit dem Europäischen Parlament werden nachfolgend alle Institutionen nach der Reihenfolge aufgelistet, wie sie im Vertrag von Lissabon stehen, und ihr Demokratie- bzw. Legitimationsdefizit erläutert. Europäisches Parlament In das Bewusstsein der europäischen Bevölkerung kam das Europäische Parlament (EP) erst mit der ersten Direktwahl im Jahr 1979 (vgl.: ebd.). Damit war "[d]er Schritt hin zu einem von den Bürgern legitimierten europäischen Einigungswerk […] getan" (ebd.). Seither gewann das EP an Befugnissen. So wurde beispielsweise mit dem Vertrag von Maastricht (1992) das Mitentscheidungsverfahren eingeführt, "welches das Parlament dem Rat im Gesetzgebungsprozess gleichstellt" (ebd.). Wahlen für das Europäische Parlament finden alle fünf Jahre statt (vgl.: Weidenfeld 2006, S. 65). Insbesondere hinsichtlich des Demokratiedefizits ist es wichtig festzuhalten, dass das EP die einzig direkt gewählte Institution der Europäischen Union darstellt. Als solche stellt sie "die unmittelbare Vertretung der Unionsbürger auf der europäischen Ebene dar" (Weidenfeld 2013, S. 116). Dabei werden die Sitze "degressiv-proportional" verteilt (ebd., S. 117). Dies führt allerdings dazu, dass "ein deutscher Abgeordneter mehr als 13 Mal so viele Bürger vertritt wie ein Parlamentsmitglied aus Luxemburg oder Malta" (ebd.). Von einer gleichen Wahl, wie es das Grundgesetz in der Bundesrepublik Deutschland für die Bundestagswahlen vorgibt, kann nicht gesprochen werden. Die Funktionen und Aufgaben des EP sind vielfältig. Es "fungiert zusammen mit dem Ministerrat der Union als Gesetzgeber" (ebd.) und stellt mit ihm die Haushaltsbehörde dar (vgl. ebd.). Gleichzeitig "kontrolliert [es] die Arbeit der Kommission" (ebd.). Generell kann von fünf Funktionen des EP gesprochen werden: Systemgestaltungsfunktion, Politikgestaltungsfunktion, Wahlfunktion, Kontrollfunktion und Repräsentations- bzw. Artikulationsfunktion (vgl.: ebd., S. 121ff.). Mit der Systemgestaltungsfunktion hat das Europäische Parlament einen, wenn auch geringen, Spielraum zur "konstitutionellen Weiterentwicklung des EU-Systems" (ebd., S. 121). Beispielsweise darf das Parlament "Entwürfe zur Änderung der Verträge [vorlegen]" (ebd.). Außerdem kann eine Erweiterung der Europäischen Union nur mit Zustimmung der Parlaments durchgeführt werden. Die Politikgestaltungsfunktion bezeichnet die Möglichkeit des EP, die Kommission auffordern zu können, eine Gesetzesinitiative zu starten (= indirektes Initiativrecht). Die Kommission muss dieser Bitte innerhalb von drei Monaten nachkommen oder andernfalls ihr Verhalten wohlbegründet erläutern. Das indirekte Initiativrecht teilt sich das EP mit dem Rat. Ebenso teilen sich beide Organe das Haushaltsrecht, wobei das EP in diesem Belang, zumindest auf Ausgabenseite, das letzte Wort behält (vgl.: ebd., S. 122). Die Wahlfunktion wird durch die Wahl des Kommissionpräsidenten erfüllt, der vom Europäischen Rat vorgeschlagen wird. Das EP ist auch an der Bestellung der Kommission beteiligt und muss der Zusammensetzung zustimmen. Die Repräsentations- und Artikulationsfunktion des Europäischen Parlaments wird kritisch gesehen. Aufgrund einer fehlenden europäischen Öffentlichkeit kann eine Repräsentation der europäischen Bürger*innen nicht in dem Maße stattfinden, wie es in nationalstaatlichen Parlamenten der Fall ist. Das Europäische Parlament arbeitet in Fraktionen, die sich nach der politischen Ausrichtung organisieren und sich aus den Mitgliedern des EP aus den verschiedenen Mitgliedsstaaten zusammensetzen. Im Gegensatz zu nationalen Parlamenten gibt es kein "Regierungs-Oppositions-Schema" (vgl.: ebd., S. 124) und es wird mit Ad-hoc-Mehrheiten gearbeitet. Wie Weidenfeld (2013) klarstellt, bietet diese Herangehensweise "immer wieder neue Möglichkeiten zur persönlichen Einflussnahme […]; [allerdings wird es] für die Öffentlichkeit […] dadurch schwierig, politische Verantwortung zuzuordnen" (ebd.). Auch wenn sich das EP durch verschiedene Vertragsreformen immer weiter an die "Rolle nationaler Parlamente angenähert" (ebd., S. 121) hat, besitzt es nicht alle Funktionen der Parlamente der Mitgliedsstaaten. Bezogen auf das EP werden "drei wesentliche Legitimationsmängel" (Bollmohr 2018, S. 99) aufgezeigt. Einer der Mängel ist der Wahlmodus, denn statt eines "kodifizierten Wahlrechts […] gelten nationale Wahlgesetze mit zum Teil erheblichen Unterschieden" (ebd., S. 86). Die Sitzverteilung im Europäischen Parlament nach der degressiven Proportionalität verstärkt die Ungleichheit der Wähler*innenstimmen bei der Europawahl. Zu erwähnen ist hierbei auch, dass es zur Europawahl, anders als bei nationalen Wahlen, kaum einen erkennbaren Wahlkampf gibt. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass es keine europäischen Parteien und deshalb kein parteienspezifisches Wahl- bzw. Parteiprogramm und kaum europäische Themen gibt (vgl.: ebd., S. 86f.). Auswirkungen hat das auf die Arbeitsweise des Europäischen Parlaments. Ohne Parteiprogramm können Mitglieder der Fraktionen lediglich fallbezogen "über Vorgänge beraten und abstimmen, die von der Europäischen Kommission vorgegeben werden", was den Prozess "unvorhersehbar" macht (ebd., S: 87). Ein weiterer Mangel ist die eingeschränkte Gesetzgebungsfunktion. Die Rechtsetzungsverfahren werden, trotz Aufwertung des EP, von den Räten dominiert (vgl.: ebd.). Wie Bollmohr (2018) auf Seite 99 feststellt, ist die Beteiligung an der Gesetzgebung mit unter zehn Prozent noch "zu gering". Zusätzlich wird der fehlende Austausch zwischen Unionsbürger*innen und den Abgeordneten des EP als Mangel gesehen. Das einzige von den Unionsbürgern direkt gewählte Organ hat zwar in den letzten Jahrzehnten an Kompetenzen gewonnen, ist aber in wichtigen Bereichen (Außenpolitik, Steuerpolitik) nach wie vor nicht gleichberechtigt mit den nationalen Regierungen im Rat. Europäischer Rat Der Europäische Rat besteht aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten der EU und entscheidet im Konsens. Er nimmt formal nicht am Gesetzgebungsprozess teil, sondern hat eine gewichtige Rolle bei der "Systemgestaltung und bei der Besetzung von Schlüsselpositionen" (Weidenfeld 2013, S. 127). Der Europäische Rat hat drei zentrale Funktionen: Lenkungsfunktion, Wahlfunktion und Systemgestaltungsfunktion. Die Lenkungsfunktion erlaubt es dem Europäischen Rat, allgemeine Leitlinien für die Politik der EU, vornehmlich für die Außenpolitik, zu erlassen. Er wählt mit dem Präsidenten des Europäischen Rats und dem Hohen Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik die zwei wichtigsten "Vertreter der EU-Außenpolitik" (ebd.). Darüber hinaus nimmt er eine "Schlüsselstellung" in der Systemgestaltung ein (ebd.). Schließlich sind die Mitgliedsstaaten die Herren der Verträge und sie entscheiden, welche Kompetenzen sie an die europäische Ebene abgeben. Rat der EU/Ministerrat"Der Rat [der EU] besteht aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaats auf Ministerebene, der befugt ist, verbindlich für die Regierung zu handeln" (ebd., S. 129). Er ist nach Fachgebiet in Fachministerräte unterteilt. Zunehmend entscheidet der Rat mit Mehrheit. Halbjährlich wechselt die Präsidentschaft des Rates (vom 01.01.2023-30.06.2023 hat beispielsweise Schweden die Ratspräsidentschaft inne). Der Rat besitzt zentrale Befugnisse in der EU-Außen- und Sicherheitspolitik. Daneben ist seine Legislativ- und Exekutivfunktion entscheidend. Inzwischen teilt sich der Rat die Legislativfunktion, genauso wie das Haushaltsrecht, mit dem Europäischen Parlament. Beide Organe besitzen überdies das Recht, auf die Kommission zuzugehen und einen Gesetzentwurf vorzuschlagen. Die Exekutivfunktion nimmt der Rat wahr, "indem er Vorschriften zur Durchführung von Rechtsakten erlässt, die Durchführung selbst ausführt oder sie an die Kommission delegiert" (ebd., S. 132). Der Rat übernimmt gegenüber der Kommission darüber hinaus eine Kontrollfunktion.Die Räte, also der Europäische Rat und der Rat der Europäischen Union, beziehen ihre Legitimation durch die Nationalstaaten. Daraus entsteht dennoch ein Legitimationsmangel bzw. ein Demokratiedefizit, weil der Ministerrat maßgeblich am Gesetzgebungsverfahren in der EU beteiligt, aber nicht auf EU-Ebene legitimiert ist (vgl.: Bollmohr 2018, S. 99). Zusätzlich hält Bollmohr (2018) fest, dass der Rat (der EU) "zwar von den nationalen Parlamenten beeinflusst wird, aber da die qualitative Mehrheit im Rat auch Abstimmungsniederlagen für einzelne Länder nach sich ziehen kann, sind die Möglichkeiten der Parlamente begrenzt" (ebd.). KommissionWie Weidenfeld (2013) auf Seite 135 schreibt, ist die Kommission "vertragsrechtlich auf das allgemeine EU-Interesse verpflichtet und soll unabhängig von den nationalen Regierungen handeln". Während der Europäische Rat das prototypische intergouvernementale Organ darstellt, ist die Kommission die klassische supranationale Institution in der Europäischen Union. Das Kollegium, aus dem sich die Kommission zusammensetzt, besteht aus einem Kommissar pro Mitgliedsland. Es wird "in einem Zusammenspiel zwischen den Staats- und Regierungschefs und dem EP [bestimmt]" (ebd., S. 137). Der/die Kommissionspräsident*in und der Verwaltungsapparat ergänzen die Kommission. Der Europäische Rat schlägt ein*e Kandidat*in für das Amt der/des Kommissionpräsident*in vor, welche*r sich dann einer Wahl im EP unterziehen muss. Bei Ablehnung unterbreitet der Rat einen neuen Vorschlag, bei Annahme schlagen die Staats- und Regierungschefs mit dem/der Präsident*in die weiteren Kommissionsmitglieder vor, die ebenso der Zustimmung des Parlaments bedürfen. Eine Amtsperiode der/des Präsident*in dauert fünf Jahre. Außerdem hat das EP die Befugnis, die Kommission durch ein Misstrauensvotum ihres Amtes zu entheben. Hierfür ist eine Zweidrittelmehrheit notwendig. Die Kommission hat vier wichtige Funktionen: Sie fungiert sowohl als Exekutive als auch als Außenvertretung und hat die Legislativ- und Kontrollfunktion inne. Als Exekutive ist die Kommission für die Durchführung von Rechtsakten und die "Umsetzung und Verwaltung der Unionspolitiken verantwortlich, die vom Parlament und vom Rat verabschiedet wurden" (ebd., S. 138). Die Ausführung des vom Europäischen Parlament beschlossenen Haushalts gehört ebenso zu den exekutiven Aufgaben der Kommission. Die Legislativfunktion umfasst das Initiativmonopol. Die Kommission darf als einzige EU-Institution Gesetzesvorschläge einbringen. Sie ist "agenda-setter" (ebd., S. 139) und kann die EU-Integration vorantreiben. Als Hüterin der Verträge ist die Kommission für die Einhaltung des Unionsrechts verantwortlich und kann, bei Verletzung des Unionsrechts, ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnen. Sie vertritt überdies die vergemeinschaftete Handels- und Entwicklungspolitik nach außen und nimmt "im Namen der EU an den Verhandlungen im Rahmen der WTO teil" (vgl.: ebd., S. 140). Die Mängel der Legitimation der Europäischen Kommission zeigen sich bei der Wahl der Mitglieder und der/des Präsident*in. Kandidat*innen werden von den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union vorgeschlagen und vom Europäischen Parlament bestätigt. Dies ist in den Verträgen zwar so festgehalten, "aber der Legitimationsglaube in die wichtigste Institution der EU ist gering" (Bollmohr 2018, S. 99). Schließlich ist "das EP durch das bestehende Wahlverfahren nur bedingt als legitimiert [anzusehen] […] und der Europäische Rat durch die Nationalparlamente nicht im Eigentlichen für EU-Fragen legitimiert" (ebd., S. 80). Zudem stellt die Kommission eine Art Exekutive, also Regierung dar. Diese ist momentan weder wähl- noch abwählbar. Doch genau das, eine wähl- und abwählbare Regierung, zeichnet eine Demokratie aus, weswegen das Demokratiedefizit der EU an dieser Stelle besonders zum Vorschein kommt. EuGH, Europäische Zentralbank und RechnungshofDer Europäische Gerichtshof mit Sitz in Luxemburg ist verantwortlich für die Wahrung und die Einheitlichkeit des Unionsrechts. Er wird dann aktiv, wenn eine Klage oder eine Anfrage vorliegt und agiert deshalb reaktiv. Gleichzeitig stellt er – wie die Kommission – ein supranationales Organ dar. Der Gerichtshof besteht aus einem Richter je Mitgliedsstaat, die von "den nationalen Regierungen im gegenseitigen Einvernehmen für eine Amtszeit von sechs Jahren ernannt [werden]" (Weidenfeld 2013, S. 143). Das Europäische Parlament spielt bei der Ernennung der Richter keine Rolle, was den Gerichtshof von anderen obersten Gerichten, wie dem Supreme Court oder dem Bundesverfassungsgericht, unterscheidet. Zusätzlich unterscheidet ihn vom höchsten Gericht der Bundesrepublik Deutschland, dass eine Wiederwahl der Richter möglich ist. Der Europäische Gerichtshof hat die Befugnis, gegenüber den Mitgliedsstaaten "bindende Urteile [zu] sprechen" (ebd., S. 143). Das hat zur Folge, dass seine Entscheidungen die Bevölkerung der EU direkt betreffen. Mit dem Vertrag von Lissabon wurden seine Kompetenzen von der supranationalen Säule zudem auf die Innen- und Justizpolitik erweitert (vgl.: ebd.). Entscheidungen fallen meist einvernehmlich oder per einfacher Mehrheit. Der Gerichtshof hat "in der Geschichte der Integration immer wieder eine Motorrolle übernommen" (ebd., S. 145). Seine Urteile fallen überwiegend integrationsfreundlich aus (in dubio pro communitate – (ugf.) im Zweifel für die Europäische Union). Die Europäische Zentralbank (EZB) mit Sitz in Frankfurt am Main wurde 1998 mit der Einführung der gemeinsamen Währung eingerichtet. Sie ist für die Geldpolitik der EU verantwortlich und hat als Organ einen supranationalen Charakter. In ihrer Arbeitsweise ist sie von anderen EU-Organen und von den Mitgliedsstaaten unabhängig. Bei der Währungspolitik arbeitet die EZB mit nationalen Zentralbanken zusammen. Ihr vorrangiges Ziel ist es, Preisstabilität zu sichern. Darüber hinaus unterstützt sie die Wirtschaftspolitik der Europäischen Union. Der Vertrag von Maastricht (1992) hob den Rechnungshof zu einem Organ an. Seine Aufgabe ist die Rechnungsprüfung der EU, was alle Einnahmen und Ausgaben betrifft. Er besteht aus einem Staatsangehörigen je Mitgliedsstaat, welche vom Rat ernannt werden. Hierbei verfügt das Europäische Parlament über ein Anhörungsrecht. Alle drei Organe, der EuGH, die Zentralbank und der Rechnungshof, werden nicht gewählt, sind aber dennoch in besonderem Maße am Integrationsprozess beteiligt. Dieser Umstand ist keine Besonderheit der EU, sondern auch in Nationalstaaten üblich. Dennoch gibt es Kritik und Reformvorschläge. Die Wiederwahl der Richter am EuGH gilt als besonders problematisch. Ebenso gibt es Forderungen nach mehr Transparenz in allen drei Organen.Die bisher genannten Defizite beziehen sich auf die Institutionen der Europäischen Union und werden deswegen institutionelle Defizite genannt. Daneben gibt es das strukturelle Demokratiedefizit, das die nach wie vor fehlende Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft beschreibt, in der sich eine kollektive Identität herausbildet, etabliert und tradiert (vgl. Graf Kielmannsegg 2003, S. 57ff.). Oder einfacher ausgedrückt: Es mangelt an einer "Wir-Identität", denn es fehlt eine gemeinsame Sprache, es gibt kein gemeinsames Politikverständnis und kein einheitliches Rechtssystem (vgl. Bollmohr 2018, S. 74). Schließlich schafft ein auf Effizienz ausgelegter Gemeinsamer Markt noch keine Demokratie, geschweige denn einen gemeinsamen Demos. Darauf ist der Markt auch gar nicht angewiesen. Das strukturelle Demokratiedefizit macht sich beispielsweise bei den Europawahlen durch eine geringe Wahlbeteiligung bemerkbar (im Jahr 2009 lag die Wahlbeteiligung bei gerade mal 43%, vgl.: Decker 2017, S. 166). Diese Defizite sind nicht neu und seit der zunehmenden Politisierung der Europäischen Union bekannt. Seit Ende der 1980er Jahre ist man auf EU-Ebene bemüht, sie zu beheben (vgl.: Bollmohr 2018, S. 71). Doch wie könnten weitere Schritte in Richtung weniger Demokratiedefizit in einem "Mehrebenensystem ohne einheitlichen Demos […], ohne einheitliche Regierung […] und ohne nennenswerte intermediäre Strukturen" (ebd., S. 73) aussehen? Nachfolgend werden exemplarisch Lösungsvorschläge für das institutionelle und strukturelle Demokratiedefizit vorgestellt. Sie erheben nicht den Anspruch, die Gesamtheit aller Lösungsvorschläge abzudecken. Potenzielle Lösungsansätze für das institutionelle und strukturelle Demokratiedefizit der EUInstitutionelles DemokratiedefizitIn ihrem Beitrag "Neue Governance-Formen als Erweiterung der europäischen Demokratie" (2017) nennt Gesine Schwan eine bessere Zusammenarbeit von europäischen und nationalen Parlamentariern als Stellschraube für mehr demokratische Teilhabe. Die Überwindung des Gegensatzes zwischen "renationalisierender" und "supranationaler" europäischer Integration hätte einige Vorteile. Beispielsweise bewirke diese "verschränkte Parlamentarisierung" (S. 158), wie sie diese Form der Zusammenarbeit nennt, eine bessere Verständigung über die Perspektiven von nationalen und europäischen Abgeordneten. Außerdem führe der intensivere Austausch zu einer früheren Information der nationalen Parlamentarier über Debatten und Entscheidungen im Europäischen Parlament. Dies hat folgende, demokratiefördernde Konsequenzen: Einerseits gebe es dadurch eine breitere öffentliche Diskussion und eine daraus resultierende Legitimation. Andererseits eine verstärkte parlamentarische Kontrolle. Einen Einbezug von Wissenschaft und Medien hält Schwan für geboten. Zusätzlich fördere dies die grenzüberschreitende Kommunikation und Kooperation. Nach wie vor, bemängelt Schwan, existiere ein Mangel an intermediären Vermittlerstrukturen in der Europäischen Union, was beispielsweise Medien, Parteien und Verbände betrifft. Etwas konkreter wird Frank Decker in seinem Beitrag "Weniger Konsens, mehr Wettbewerb: Ansatzpunkte einer institutionellen Reform" (2017). Er benennt die seiner Meinung nach drei wichtigsten "demokratischen Stellschrauben" (S. 167), um das institutionelle Demokratiedefizit zu beheben. Er sieht im einheitlichen Wahlrecht, in der Wahl des Kommissionspräsidenten und der Bestellung der Gesamtkommission Potenziale, um die Europäische Union institutionell zu legitimieren.Decker moniert, dass gemäß dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV, Art. 223 Abs. 1) ein einheitliches Wahlrecht längst hätte erfüllt sein müssen (vgl. Decker 2017, S. 168). Nun gebe es die "paradoxe Situation" (ebd.), dass europäische Parteien zwar den Parlamentsbetrieb bestimmen, bei den Europawahlen aber nach wie vor nur die nationalen Parteien kandidieren (vgl.: ebd.). Eine Aufhebung dieser Tatsache sieht Decker in einer "Einführung eines europaweiten Verhältniswahlsystems mit moderater Sperrklausel" (ebd.). Diese wäre ein starker Anreiz dafür, sich als Parteien zusammenzuschließen, was einerseits der Fragmentierung im Europäischen Parlament entgegenwirken würde und andererseits förderlich für die Arbeitsfähigkeit des EP wäre. Diese Regelung würde zudem zu einer Vereinheitlichung des Wahlsystems innerhalb der Europäischen Union beitragen. Die Mitgliedsstaaten dürften weiterhin selbst entscheiden, wie das Wahlrecht genau geregelt ist und wie die Wahl durchgeführt wird. Unbedingt geboten sei hingegen eine Wahlpflicht oder alternativ eine Verteilung der Sitze nach der Wahlbeteiligung. So würde ein Anreiz für eine hohe Teilnahme geschaffen werden und die Wahlen für das EP könnten ihre Bewertung als Nebenwahl ein wenig verlieren. Jede*r EU-Bürger*in hätte nach wie vor eine Stimme, die er/sie bei der Verhältniswahl mit "starren Listen" vergeben darf (ebd., S. 170). Auf diese Weise, schlussfolgert Decker, könnte mit der heutigen Diskrepanz zwischen Parteiensystem auf der parlamentarischen und elektoralen Ebene gebrochen werden (vgl.: ebd.). Die Wahl der/des Kommissionspräsident*in ist eine weitere Stellschraube, mit der man Decker zufolge das institutionelle Demokratiedefizit der EU schmälern kann. Für zentral hält er die Frage nach dem Verhältnis zwischen Parlament und Regierung. Decker schlägt an dieser Stelle das präsidentielle System vor, mit der Begründung, dass die Bürger*innen selbst die Chance hätten, ihre*n Präsident*in direkt zu wählen. Ob der/die Kommissionspräsident*in mit relativer oder absoluter Mehrheit gewählt wird, müsste geklärt werden. Die Wahl des/der Kommissionspräsident*in auf diese Art zu verändern, würde zum einen dafür sorgen, dass "[d]ie europäische Politik […] endlich ein Gesicht [bekäme]" (ebd., S. 174). Zum anderen würde diese Änderung dazu führen, dass die EU eine wählbare Exekutive hätte, was einer Regierung im nationalstaatlichen Sinn gleichkäme. Ebenso sieht Decker die Bestellung der Kommissare kritisch. Momentan ist das Gremium durch den gleichberechtigten Vertretungsanspruch aller Mitgliedsstaaten zu groß, was negative Auswirkungen auf die Arbeitsweise hat (vgl.: ebd., S. 175). Daneben kann der/die Kommissionspräsident*in kaum Einfluss auf die Auswahl der Kommissare nehmen, was zur Folge hat, dass "[d]ie Zusammensetzung der Kommission […] insofern eher die nationalen Wahlergebnisse [reflektiert] als das Ergebnis der Europawahlen" (ebd.). Deswegen schlägt Decker vor, dem/der direkt gewählten Kommissionspräsident*in das Recht zu erteilen, die Kommissare selbst zu ernennen. Alternativ könnten die Wähler*innen befugt werden, neben dem/der Präsident*in noch die Kommissar*innen zu wählen (vgl.: ebd., S. 176). Dies, so Decker, würde die Kommission nicht nur weiter demokratisch aufwerten, sondern wäre auch ein Beitrag zur Europäisierung der Europawahlen. Antoine Vauchez geht in seinem Beitrag "Die Regierung der 'Unabhängigen': Überlegungen zur Demokratisierung der EU" (2017) auf die mangelnde Transparenz mancher Institutionen der Europäischen Union ein. Er merkt bezüglich der Demokratisierung an:"Um die Stellung dieser Institutionen [gemeint sind hier Kommission, Zentralbank und EuGH, Anm. A.B.] im politischen Prozess neu zu justieren, muss man an den drei Säulen rütteln, auf denen ihre Autorität in der europäischen Politik bislang beruhte: der vollständigen Souveränität in der Auslegung ihres Mandats, dem Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität in ihren Diagnosen und Urteilen und einem bestimmten Verständnis von Unabhängigkeit als Abgrenzung von den vorhandenen politischen und sozialen Interessen. Diese Trias bildet eine Blockade, die zu durchbrechen jede Demokratisierungsstrategie bemüht sein muss" (Vauchez 2017, S. 187f.). Vauchez prangert Kommission, EuGH und EZB als "Mysterien des Staates" (ebd., S. 188) an. Beispielsweise mische sich die EZB inzwischen in Bereiche wie "das Rentensystem, die Lohnpolitik, das Arbeitsrecht und die Organisation des Staatswesens" ein (ebd.). Ähnliches gilt für den Europäischen Gerichtshof. In diesen Institutionen liege damit auch Regierungsgewalt. Deren Mandate sollten politisch erweitert werden, um dem Demokratiedefizit entgegenzuwirken. Antoine Vauchez vertritt deswegen die Ansicht, dass Themen, die in diesen Institutionen behandelt werden, "das Produkt öffentlicher Debatten und Auseinandersetzungen […] in einer Vielzahl nationaler und transnationaler Arenen [sein sollten]" (ebd.). Er nennt als Beispiel das Europäische Parlament, schließt aber andere politische Mittel, um EuGH und EZB zu überprüfen, wie beispielsweise das Frühwarnsystem, das mit dem Lissabonner Vertrag eingeführt wurde, nicht aus. Hierbei können "[e]ine Mindestzahl von einem Drittel der nationalen Parlamente […] den Entwurf eines Gesetzgebungsaktes vor die Kommission bringen, wenn er die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit missachtet" (ebd., S. 189). Die Kommission sollte die Möglichkeit haben, Entscheidungen von EZB und EuGH für nichtig erklären zu können, sollten "diese den von der Union zu vertretenden 'Werten, Zielen und Interessen' [entgegenstehen]" (ebd.).Um der Intransparenz der Arbeitsweise dieser EU-Institutionen entgegenzuwirken, schlägt Vauchez zudem vor, der Öffentlichkeit Zugang zu Archiven, Daten, vorbereitenden Dokumenten und Beratungsprotokollen zu verschaffen. Auch hier hält er die Schaffung eines öffentlichen Forums für Dissens und Diskussion für notwendig (vgl.: ebd., S. 190). Abschließend hält es Vauchez für geboten, den repräsentativen Charakter der 'unabhängigen' Institutionen zu stärken. Damit meint er nicht nur die Repräsentanz aller Mitgliedsstaaten, sondern auch die Abbildung der Komplexität und Vielfalt der Bürger*innen der Europäischen Union in den Gremien und Ausschüssen der Institutionen. So, schlussfolgert Vauchez, stelle "man letztlich die Fähigkeit unter Beweis, ein europäisches Allgemeininteresse zu verkörpern" (ebd., S. 191). Institutionelle Reformen, wie sie hier gefordert werden, sind prinzipiell möglich. Doch kann mit ihnen allein das strukturelle Demokratiedefizit nicht behoben werden (vgl. Bartolini 2000, S. 156, zitiert nach: Schäfer 2006, S. 356). Strukturelles Demokratiedefizit Das strukturelle Demokratiedefizit beruht darauf, dass es kein europäisches Wir-Gefühl bzw. kein europäisches Volk im Sinne eines Staatsvolkes gibt. Dabei verfolgt die EU bereits seit geraumer Zeit eine Politik, die identitätsstiftend sein soll (vgl.: Thalmaier 2006, S. 4). Seit den 1970er Jahren haben Parlament und Kommission versucht, die EU-Bürgerschaft voranzutreiben und die europäischen Bürger*innen an europäische Themen heranzuführen (vgl.: Wiener 2006, S. 8). Diese Politik hat bisher jedoch nicht zu einem 'Wir-Gefühl' geführt (vgl.: ebd.). Doch möchte die EU ihr strukturelles Demokratiedefizit schmälern, ist sie auf ebenjenes 'Wir-Gefühl' angewiesen, denn eine Unterstützung wird von den Bürger*innen für die Europäische Union unbedingt gebraucht. Thalmaier (2006) unterscheidet hierbei zwischen spezifischer und diffuser Unterstützung. Während Bürger*innen ein politisches System spezifisch unterstützen, wenn es Ergebnisse hervorbringt, die den Interessen der Bürger*innen entsprechen, beschreibt die diffuse Unterstützung ein Vertrauen und eine Identifikation mit einem System, auch wenn die eigenen Interessen nicht immer durchgesetzt werden (vgl.: ebd., S. 6). Auf dieses grundsätzliche Vertrauen in das Handeln der Institutionen ist die Europäische Union als politisches System angewiesen. Eine kollektive Identität, die jedoch nicht mit einer nationalen Identität vergleichbar sein soll, ist dabei unerlässlich. Die Behebung des Öffentlichkeitsdefizit ist bei der Herausbildung einer kollektiven Identität erforderlich. Thalmaier schreibt deswegen, dass die "Ausbildung einer europäischen Identität […] entscheidend von der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit [abhängt]" (ebd., S. 10). Zu lange habe es eine mangelnde Dynamik in der europapolitischen Kommunikation gegeben. Eine "stärkere Politisierung europäischer Politik" ist geboten, um eine europäische Öffentlichkeit überhaupt herauszubilden (ebd., S. 12). Daneben soll die Identitätserweiterung für eine kollektive Identität sorgen. Sie soll nach Thalmaier über die Schließung von Wissensdefiziten und -lücken über die Europäische Union erreicht werden. Der Schule kommt hier eine tragende Rolle zu. Deren Lehrpläne sollen angepasst und europäisiert werden, sodass die Bildungsinhalte in Fremdsprachen oder auch in sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern die europäische Ebene beleuchten. Dadurch soll zusätzlich die Relevanz der Europäischen Union vermittelt werden. Das minimiere die Fremdheit der EU (vgl.: ebd., S. 10) und könne identitätsstiftend wirken. Schließlich, so Thalmaier, erreiche man eine Reduzierung des strukturellen Demokratiedefizits nicht ohne eine Schaffung von mehr Partizipationsmöglichkeiten für die Bürger*innen bei Themen, die die Politik der EU betreffen. Neben institutionellen Reformen, die in diesem Beitrag bereits thematisiert wurden, spricht sich Thalmaier für europaweite Referenden aus, beispielsweise bei Angelegenheiten, die das Primärrecht oder EU-Beitritte betreffen. Dazu gehöre ein intensiver Austausch mit den Bürger*innen der Europäischen Union. Bereits im Weißbuch der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2006 ist ein Austausch und Dialog in der Dienstleistungsrichtlinie festgeschrieben. Bisher wird sie jedoch wenig genutzt. Thalmaier schlägt deswegen vor, enger in den Austausch mit den EU-Bürger*innen zu gehen. Eine Begründung jedes Projekts in einem öffentlichen Interaktionsprozess sei geboten, genauso sollte um Zustimmung für jede politische Neuerung auf EU-Ebene gerungen werden. Neue Wege der Kommunikation und des Dialogs mit Bürger*innen seien dabei zentral. Mehr Interaktion und Kommunikation schlägt auch Antje Wiener in ihrem Artikel "Bürgerschaft jenseits des Staates" (2006) vor, um die EU-Identität zu stärken und das strukturelle Demokratiedefizit zu mindern. Insbesondere die "Kommunikation über europäische Rechte innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten sowie intra- oder transeuropäisch in den entsprechenden institutionellen beziehungsweise medialen Kontexten, kurz jede Art von öffentlicher Diskussion zum Thema Rechte" (ebd., S. 11), trage dazu bei und mobilisiere auch das "Interesse am europäischen Projekt" (ebd.). Interaktion mit Institutionen, (EU-)Politiker*innen und Mitbürger*innen hätten das Potenzial, zu mehr "Staats- und Gemeinschaftsbildung" (ebd.) zu führen und die Bürger*innen enger an die EU zu binden. Durch Teilhabe und Teilnahme "im öffentlichen Diskurs soll eine zivile republikanische Identität geschaffen werden" (ebd.).Ähnliches fordert Ulrike Guérot, wenn es um die "Ausgestaltung einer europäischen Demokratie geht" (2018, S. 71). Damit "Europa" (ebd., S. 76) entstehe, brauche es Gemeinsames in der Europäischen Union über einheitliche bürgerliche und soziale Rechte. Sie argumentiert: "Es ist die Konvergenz von Recht, die Gemeinsamkeit entstehen lässt. In diesem Fall von Wahlrecht, Steuerrecht und sozialen Anspruchsrechten" (ebd.). Einigkeit und Einheitlichkeit seien auf dem europäischen Markt gegeben, bei den Bürger*innen sei Europa ihrer Ansicht nach aber noch zu fragmentiert. Solle sich daran etwas ändern, müsse mehr Gleichheit geschaffen werden, was am ehesten durch gemeinsame Rechte und Gesetze passiere. Guérot spricht hierbei von einem "Paradigmenwechsel" (ebd., S. 75) hin zu mehr Demokratie. Denn sollte einheitliches europäisches Recht eingeführt werden, wende man sich hin zu einer "Europäischen Republik, bei der die Souveränität bei den Bürger*innen Europas liegt […]" (ebd.). Kritik an diesen Ansätzen einer Demokratisierung der EU Kritiker*innen dieser Vorschläge sehen in einer "politisierte[n] EU eine Lähmung" der Europäischen Union (Schäfer 2006, S. 357). Für sie stellt die EU einen starren Verwaltungsapparat dar, "[e]ine Bürokratie, die sachlich und zielgerichtet arbeitet [und die] vom politischen Tagesgeschäft abgeschottet werden [muss]" (ebd.; Føllesdal/Hix, 2006, S. 538). Kritiker*innen sehen das Problem nicht in einem fehlenden Demos oder mangelnder Beteiligung der Bürger*innen, sondern in "vielfältigen Blockaden" (Schäfer 2006, S. 357) bei der Entscheidungsfindung und -durchsetzung. Ihrer Ansicht nach müsse die Europäische Union effizienter sein, um an Legitimität zu gewinnen, was nicht durch eine Demokratisierung erreicht werden könne (vgl.: ebd.). Schließlich müsse das Gemeinwohl über den Partikularinteressen der aktuellen Regierungen stehen. Für diejenigen, die einer Demokratisierung skeptisch gegenüberstehen, ist die Europäische Union bereits jetzt eine "aufgeklärte Bürokratie, die im Interesse der Bevölkerung entscheidet" (ebd./vgl.: Føllesdal/Hix, 2006, S. 546). Eine Demokratisierung bzw. "Politisierung der Europäischen Union liefe ihrem Aufgabenprofil zuwider" (Schäfer 2006, S. 357). Ebenso merken Kritiker*innen an, dass Macht in der EU geteilt werde und Entscheidungen durch Verhandlungen und nicht durch "Hierarchie" zustande kämen (vgl.: ebd., S. 360). Würde Macht in einem so fragmentierten Raum wie Europa zentralisiert, müsse das "für Minderheiten bedrohlich wirken" (ebd.). Zudem gründe der Erfolg des Konkordanzsystems der EU auf dem "Verzicht auf partizipatorische Entscheidungsverfahren" (ebd.). Gerade das Demokratiedefizit, so die Kritiker*innen, sei deshalb der wesentliche Faktor für den Zusammenhalt der Europäischen Union. Fazit und Ausblick Das sogenannte Demokratiedefizit existiert in institutioneller und struktureller Form. Das Problem ist dabei nicht unbekannt und es wird auf EU-Ebene durchaus versucht, es zu beheben. Reformvorschläge, beispielsweise von führenden Politikwissenschaftler*innen, gibt es zuhauf. Institutionell wird vorgeschlagen, dass sich verschiedene Organe der EU durch demokratische Wahlen legitimieren. Bei den Lösungsvorschlägen wird hierbei häufig auf die Kommission und die Wahl der/des Präsident*in und die Bestimmung der Beamten eingegangen. Eine (direkte) Wahl der/des Präsident*in und gegebenenfalls der Beamten würde das Interesse an der Europäischen Union stärken und das Demokratiedefizit schmälern. Andere Organe, wie beispielsweise der EuGH und die EZB sollten in ihrer Arbeitsweise transparenter werden, indem sie ihre Vorhaben/Gesetzesinitiativen vorab bekanntgeben, sodass sie in öffentlichen Debatten diskutiert werden können. Ein weniger auf konkrete Organe zugeschnittener Vorschlag ist ein engerer Austausch zwischen nationalen Parlamenten und dem EP. Um das strukturelle Demokratiedefizit zu beheben, ist eine europäische Öffentlichkeit, bzw. deren Herausbildung, von besonderer Bedeutung. Stellschrauben sind hier ein intensiver Austausch mit den EU-Bürger*innen und europaweite Referenden. Eine andere wäre die Europäisierung des Schulcurriculums. Damit könnte die Bedeutung der EU vermittelt und Wissenslücken über sie geschlossen werden. Tiefgreifender sind Forderungen nach gleichen Rechten und Pflichten für EU-Bürger*innen in allen Mitgliedsstaaten. Dies würde sicherlich zu einer höheren Identifikation mit der EU und den Mitbürger*innen führen – und somit zu einem Abbau des strukturellen Demokratiedefizits –, bräuchte jedoch weitreichende institutionelle Veränderungen und somit die Zustimmung der Mitgliedsstaaten zu einer EU in supranationalem Gewand.Kritiker*innen einer Demokratisierung der EU stellen sich deswegen die Frage, ob die EU überhaupt einen Demokratisierungsprozess durchlaufen soll. Für sie ist die Union bereits jetzt eine demokratisch legitimierte Gemeinschaft, die effizient und zielgerichtet arbeitet. Eine Demokratisierung, so die Kritiker*innen, laufe dem Aufgabenprofil der "aufgeklärten Bürokratie" (Føllesdal/Hix, 2006, S. 546) zuwider und ist zwecks Effizienzmangel deshalb gar nicht wünschenswert. Die Europäische Union steht vor einem Dilemma: Einerseits fehlt ihr demokratische Legitimität, wie sie in Nationalstaaten vorhanden ist, beispielsweise durch eine wähl- und abwählbare Regierung, gleiche Wahlen mit bedeutendem, europäischem Wahlkampf und Transparenz. Andererseits ist sie, qua Ursprung, eine effiziente Bürokratie, die dem Ziel des Wohlstandserhalts verpflichtet ist. LiteraturverzeichnisAbels, Gabriele (2020): Legitimität, Legitimation und das Demokratiedefizit der Europäischen Union. In: Becker, Peter/Lippert, Barbara (Hrsg.): Handbuch Europäische Union, SpringerVS: Wiesbaden, S. 175-193.(AEUV) Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (2009): Sechster Teil: Institutionelle Bestimmungen und Finanzvorschriften, Titel I: Vorschriften über die Organe, Abschnitt 1: Das Europäische Parlament (Art. 223). Abrufbar unter: https://dejure.org/gesetze/AEUV/223.html [zuletzt abgerufen am 23.01.2023].Andersen, Uwe (Hrsg.) (2014): Das Europa der Bürger. 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