Bildungspolitik in der Schweiz
In: Bildungspolitik in Föderalstaaten und der Europäischen Union: Does federalism matter? Tagungsband zum Jahrbuch-Autorenworkshop in Tübingen vom 13. bis 15. Oktober 2011., S. 63-77
Der Blick der Autorin auf die schweizerische Bildungspolitik zeigt, dass dieses Politikfeld "zutiefst föderalistisch" ist bzw. dass bildungspolitische Fragen föderalistisch aufgeladen werden können. Die Schweiz ist ein gutes Beispiel für eine stark ausgeprägte Föderalismuskultur und zudem ein Exempel für den komplexen Zusammenhang von Föderalismus und Referendumsdemokratie. Sowohl der Bund als auch die Wahlbevölkerung in den Kantonen sind zentrale politische Akteure, die die gesamtstaatliche wie die kantonale Bildungspolitik bestimmen. Die Totalrevision der Bundesverfassung von 1999 sparte den Bereich Bildung bewusst aus; erst die Reform von 2006 brachte wichtige Neuerungen in der föderalen Arbeitsteilung zwischen Bund und Kantonen. Vor dem Hintergrund der deutschen Debatte um das sogenannte Kooperationsverbot ist der Bildungsartikel 61 a der Schweizerischen Bundesverfassung (BV) von besonderem Interesse: Hier wird eine Kooperationspflicht zwischen Bund und Kantonen festgeschrieben. Die Besonderheit und, wie die Autorin betont, in seinen langfristigen Auswirkungen noch gar nicht abzusehen, ist nicht die allgemeine Verpflichtung der Zusammenarbeit, sondern die Bestimmung, dass diese Kooperation durch "gemeinsame Organe" geleistet werden soll; eine solche Festschreibung in der Verfassung ist neu und existiert in dieser ausdrücklichen Form bislang nur in der Bildungspolitik. Dass Föderalstaaten zu innovativen Lösungen fähig sind, die auf den ersten Blick wenig föderalistisch anmuten, zeigt ein anderer, neu gefasster Verfassungsartikel - der Art. 62 Abs. 4 BV. Hier wird dem Bund in bildungspolitischen Angelegenheiten eine "bedingte Gesetzgebungskompetenz" zugewiesen. Die konditionierte Bundeskompetenz kommt dann zum Tragen, wenn auf dem Wege der Koordination keine Einigung oder Harmonisierung bei den Themen Schuleintrittsalter, Schulpflicht, Dauer und Ziele der Bildungsstufen sowie Anerkennung von Abschlüssen möglich ist; dann tritt Bern auf den Plan und erlässt, wie es im entsprechenden Verfassungsartikel heißt, die "notwendigen Vorschriften". Dadurch erhöht sich der Druck auf die "harmonisierungsunwilligen Kantone" (Autorin); die Verhandlungen werden gewissermaßen im "Schatten der Hierarchie" (Scharpf) geführt. Was auf den ersten Blick wie ein Ausweg aus der Scharpf'schen "Politikverflechtungs-Falle" aussieht, wirft jedoch, wie die Autorin zeigt, eine Reihe von politischen und rechtlichen Problemen auf. Auch im Bereich der Hochschulpolitik ist in der Schweiz in den vergangenen Jahren durch die Bildungsreform von 2006 einiges in Bewegung geraten. Bund und Kantone übernehmen auf dem Feld der Koordination und Qualitätssicherung in Schweizer Hochschulen gemeinsam die politische Verantwortung. Auch hier gilt, dass Bern eingreifen kann, wenn die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen zu keinen Ergebnissen führt. Diese weit reichenden Möglichkeiten der Bundesebene, in entsprechenden Fällen hierarchisch einzugreifen, werden Beobachter der deutschen Hochschulpolitik und Befürworter der Abschaffung des Kooperationsverbots mit Interesse zur Kenntnis nehmen. (DIPF/Orig.).