Städte mit einer differenzierten Berufs- und Sozialstruktur weisen in der Regel auch differenzierte Schulangebotsstrukturen auf, die über die amtliche Differenzierung nach Schulformen hinausgehen. Diese Beobachtung macht die Differenzierung von Schulen gleicher Schulformen zu einem Thema der regionalen Schulentwicklungsforschung. Die Erhebungen der statistischen Landesämter haben einen Differenzierungsgrad erreicht, der es erlaubt, auf der Grundlage amtlicher Daten diese Prozesse zu analysieren. In diesem Beitrag werden die Daten exemplarisch für die Hauptschulen in zwei Großstädten im Bundesland NRW ausgewertet. Innerhalb der Hauptschullandschaften sind jeweils stadtspezifische Differenzierungsprozesse zu beobachten, die sich durch eine inoffizielle Aufgabenteilung einzelner Hauptschulen äußern. (DIPF/Orig.) ; Cities with a differentiated vocational and social structure usually also feature differentiated structures of educational provisions which go beyond the official differentiation according to school type. This observation topicalizes the differentiation of schools of the same type as an issue of research on regional school development. The statistical surveys carried out by the regional authorities have reached a level of differentiation that allows to analyze these processes on the basis of official data. The author evaluates the data for "Hauptschulen" (lower secondary schools) in two of the larger cities of North Rhine-Westphalia in order to illustrate the process. Within the landscape of junior high schools, city-specific processes of differentiation may be observed which manifest themselves in an unofficial distribution of tasks among individual schools. (DIPF/Orig.)
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Der Bildungsforscher Olaf Köller sagt, warum er positiv überrascht ist vom Startchancen-Verhandlungsergebnis, wie die Wissenschaft zum Erfolg des Programms konkret beitragen und welche Rolle dabei die Ständige Wissenschaftliche Kommission spielen könnte.
Olaf Köller ist Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) in Kiel und Ko-Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK). Foto: IPN/Davids/Sven Darmer.
Herr Köller, die Verhandlungsführer von Bund und Ländern haben sich auf Eckpunkte zum Startchancen-Programm geeinigt. Hat der Bildungsföderalismus herausgeholt, was er aus sich herausholen kann?
Eine Milliarde Euro Bundesgeld pro Jahr ist nicht viel, da muss man sich nichts vormachen, das sind 250.000 Euro pro Schule. Trotzdem finde ich: Bund und Länder haben eine Menge herausgeholt. Ich war positiv überrascht, als ich das Papier gelesen habe. Alle Länder haben sich verpflichtet, Sozialkriterien für die Auswahl ihrer Schulen zu bestimmen. Auch diejenigen, die bislang keinen eigenen Sozialindex haben. Einigkeit herrscht über das wichtigste Ziel: Die Zahl derjenigen, die die Mindeststandards in den Kernfächern nicht erreichen, soll in zehn Jahren halbiert werden. Für schlau halte ich es, dass man nicht mit allen 4000 Schulen auf einmal beginnt, sondern mit 1000. Dadurch wird es wahrscheinlicher, dass der Einstieg überhaupt noch zum Schuljahr 2024/25 gelingt. Besonders erfreulich ist schließlich, dass Bund und Länder den Erfolg des Programms nicht nur behaupten, sondern messen lassen wollen.
"Es war absehbar, dass, wenn man den Königsteiner Schlüssel aufgibt, ein anderer Mechanismus sicherstellt, dass kein Land zu kurz kommt."
Stört Sie, dass das Bundesgeld zu großen Teilen weiter per Gießkanne auf die Länder verteilt wird? Und widerspricht das nicht dem immer wieder behaupteten Paradigmenwechsel?
Es war absehbar, dass alle Länder ordentlich etwas abhaben wollen und dass, wenn man schon den Königsteiner Schlüssel aufgibt, jetzt ein anderer Mechanismus sicherstellt, dass kein Land zu kurz kommt. Darum ist der eigentliche Paradigmenwechsel für mich ein anderer: dass Bund und Länder sich zu einer wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation des Programms verpflichtet haben, und zwar mit explizitem Bezug auf ein Impulspapier, das wir als Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) vergangenes Jahr vorgelegt haben. Wir haben viele große bildungspolitische Reformen erlebt in den Jahrzehnten nach Pisa 2000, von der Einführung der Ganztagsschulen über G8 bis zurück nach G9, doch hat es fast immer und in fast allen Ländern an der Bereitschaft gefehlt, mit harten Indikatoren die Wirkung dessen zu überprüfen, was man da beschlossen hat. Genau das passiert jetzt mit dem Startchancen-Programm, ausgestattet mit einem eigenen Evaluationsbudget. Das ist der Paradigmenwechsel. Wenn es denn so kommt und die Länder nicht vor ihrem eigenen Mut zur Empirie zurückschrecken.
Aber was genau kommt denn? Die Eckpunkte sprechen von einem "verbindlichen Berichtswesen", von "wissenschaftlicher Begleitung" und "Evaluation", die getrennt voneinander laufen sollen.
Ich habe mich auch gefragt, wie es genau gemeint ist. Persönlich würde ich wissenschaftliche Begleitung als formative Evaluation begreifen, bei der man schaut, für welche der ergriffenen pädagogischen Maßnahmen es Evidenz gibt und wie sie in den Schulen implementiert werden. Man kann dann auch die Schulen bei der Auswahl und Implementation wirksamer Programme unterstützen. Während das, was im Papier als Evaluation bezeichnet wird, vermutlich summativ verstanden wird: Man misst nach einer bestimmten Zeit, welche Kompetenzstände Schülerinnen und Schülern erreicht haben.
An der Stelle bleibt das Papier ziemlich vage. Was empfehlen Sie der Bildungspolitik?
So vage ist das gar nicht. Durch die Fokussierung auf die Basiskompetenzen, den Bezug zu den Bildungsstandards und die Halbierung der Risikogruppe in zehn Jahren haben Bund und Länder sich selbst den entscheidenden Benchmark gesetzt. Und zugleich das Instrument zu dessen Messung impliziert: den IQB-Bildungstrend, den das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen für die Klassenstufen vier und neun entwickelt hat. Wir müssen also das Rad an der Stelle nicht neu erfinden. Es eignet sich aber auch keine andere vorhandene Methodik, die vielleicht von einzelnen Bundesländern angewandt wird – weil nur der Testaufgabenpool des Bildungstrends so eng und valide auf die Erfüllung der Bildungsstandards abzielt. Ein Vorgehen könnte daher sein, dass das IQB im Frühjahr 2025 eine sogenannte Null-Messung an den dann ausgewählten ersten 1000 Startchancen-Schulen durchführt, in Deutsch, Mathe und vielleicht noch Englisch. Und zwar sowohl in Klasse vier als auch in den Klassenstufen neun und zehn, je nachdem, wann die Sekundarstufe I im jeweiligen Land und in der jeweiligen Schulart endet. Nach fünf Jahren wird die Messung in den gleichen Klassenstufen zum ersten Mal wiederholt, nach zehn Jahren zum zweiten Mal.
Diese Art der Messung würde bedeuten, dass sich keine Aussagen über einzelne Schülerkarrieren treffen ließen.
Ein Ansatz bei der Evaluation des Startchancen-Programms wäre tatsächlich eine Trenderfassung der Schulen mit Feststellung der Leistungsniveaus der Schülerinnen und Schüler als Ganzes. Für alles andere bräuchte man eine Längsschnittstudie, bei der dieselben Kinder bzw. Jugendlichen immer wieder getestet würden. Das halte ich in der Größenordnung, über die wir bei den Startchancen sprechen, nicht für realistisch. Sehr wohl wäre es aber ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn, kleinere Stichproben von Schülerinnen und Schüler so, wie Sie das sagen, über einen längeren Zeitraum zu begleiten.
"Es wird auf jeden Fall
recht uneinheitlich zugehen."
Apropos Größenordnung der Evaluation: Was passiert mit den 3000 Schulen, die später dazu kommen?
Ich würde davon abraten, alle 4000 Schulen gleichermaßen evaluieren zu wollen, das wäre zu aufwändig und wohl ebenfalls zu teuer. 1000 Schulen bieten einen großen Ausschnitt, sind für das IQB eine zusätzliche Herkulesaufgabe, aber vermutlich handelbar, und eine Vorbereitungszeit von anderthalb Jahren erscheint realistisch. Ein weiterer Vorteil der Nullmessung wäre, dass so geprüft würde, ob die Länder mit ihren eigenen Sozialkriterien jeweils die richtigen Schulen erwischt haben: nämlich diejenigen mit den besonders leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern – oder ob hier einzelne Länder noch einmal nachsteuern müssen. Es ist ja kein Naturgesetz, dass sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler grundsätzlich geringe Kompetenzniveaus aufweisen.
Erwarten Sie eine stark unterschiedliche Treffsicherheit – je nachdem, ob die Länder schon etablierte Sozialindizes haben?
Es wird auf jeden Fall recht uneinheitlich zugehen. Diejenigen Länder, die bereits Programme für benachteiligte Schüler und Schulen betreiben, werden versuchen, die Schulen aus ihren Programmen auch in die Startchancen zu bringen. Und Länder, die noch keinen Sozialindex haben, müssen erst einen Algorithmus entwickeln, von dem sie nicht wissen, wie er sich auswirkt. Schließlich wird es Unterschiede geben zwischen Ländern mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler und anderen, die eine geringere Armutsdichte aufweisen. All das könnte durch die Nullmessung ermittelt werden – unter der Voraussetzung, dass sie mit Fragebögen zum sozialen und familiären Hintergrund der Schülerinnen und Schüler begleitet werden, wie das IQB das beim Bildungstrend bereits tut.
Was aber bedeuten die Ergebnisse, die bei der wiederholten Messung nach fünf oder zehn Jahren herauskommen? Wer sagt, dass die festgestellte Verbesserung oder Verschlechterungen der Kompetenzen an einer Startchancen-Schule etwas mit dem Programm zu tun hat?
Eine berechtigte Frage – weshalb die wissenschaftliche Begleitung im Sinne formativen Assessments so wichtig ist. Wir brauchen regelmäßig erhobene Daten, wie an jeder untersuchten Schule die drei Säulen des Programms konkret umgesetzt werden, wobei mir die Baumaßnahmen noch am wenigsten ausschlaggebend erscheinen. Aber wie genau wird die Interaktion zwischen Lehrkräften, Förderkräften, Sozialarbeitern und Schülerinnen/Schülern gestaltet? Werden nur Maßnahmen etabliert, für deren Qualität es empirische Evidenz gibt? Werden zwar Förderkräfte eingestellt, müssen diese aber Vertretungs- statt Förderstunden geben? Dann, das wissen wir, würde ihre Wirkung verpuffen.
Gehen wir also davon aus, dass sich bei der richtigen Kombination von wissenschaftlicher Begleitung und Evaluation nach fünf oder zehn Jahren ein Zusammenhang herstellen lässt zwischen den ergriffenen Maßnahmen und der Entwicklung der Schülerkompetenzen, was folgt daraus?
Das ist doch klar: Nach fünf Jahren muss die Politik bei einigen Schulen nachsteuern, und das konsequent. Vermutlich werden viele Schulen nach fünf Jahren noch weit von dem Ziel der Halbierung entfernt sein. Hoffentlich wird es auch Standorte geben, an denen man positive Effekte sieht – die sich dank der Kopplung von formativer und summativer Evaluation auf die Maßnahmen des Programms zurückführen lassen. Die Politik wird sich Gedanken machen müssen, wie sie mit denjenigen Schulen verfahren will, die über Jahre Geld bekommen haben, ohne dass es vorangeht. Sicherlich wird man dann verstärkt über neue Zielvereinbarungen sprechen müssen, mit einer verstärkten Kooperation zwischen Schulen und Schulaufsicht, damit auch diese Schulen die Früchte des Programms ernten. Das wäre zumindest meine Empfehlung.
"Es wäre furchtbar, wenn das Geld nicht bei den Richtigen ankäme und nicht die gewünschten Effekte hätte."
Die sie als wer aussprechen? Als Chef des IPN Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik – oder als einer der Vorsitzenden der SWK?
Ich vermute, vieles von dem, was ich hier im Interview gesagt habe, wird von den meisten Bildungsforscherinnen und Bildungsforschern in Deutschland geteilt werden. Aber nichts davon ist abgestimmt mit den übrigen 15 Mitgliedern der SWK. Letzteres auch deshalb nicht, weil wir als Ständige Wissenschaftliche Kommission bislang gar nicht explizit nach unseren konkreten Ideen zur Evaluation des Startchancen-Programms gefragt oder beauftragt worden sind.
Würden Sie gern beauftragt werden?
Natürlich würde ich mir wünschen, dass die Bildungsforschung eingebunden und um Rat gefragt wird. Nicht, weil wir auf irgendwelche zusätzlichen Forschungsgelder aus sind, sondern weil wir ein genuines Interesse daran haben, den Bund und die Länder in ihrem Vorhaben zu unterstützen. Der Bund will insgesamt zehn Milliarden Euro einsetzen, die Länder, in welcher Form auch immer, zehn weitere Milliarden dazu geben. Es wäre furchtbar, wenn das Geld nicht bei den Richtigen ankäme und nicht die gewünschten Effekte hätte. Die SWK ist allerdings eine Kommission der Kultusministerkonferenz, sie stimmt dementsprechend auch ihr Programm mit der KMK ab. Gleichwohl könnten KMK und BMBF sich zusammentun und uns in die Diskussion um eine wissenschaftliche Begleitung beziehungsweise Evaluation einbinden. Ich kann mir vorstellen, dass die SWK dann eine Stellungnahme erarbeiten und darin ausbuchstabieren würde, wie eine wissenschaftliche Begleitung, eine Evaluation und ein Monitoring des Startchancen-Programms aussehen könnte. Um das mit Leben zu erfüllen, was das Eckpunktepapier als ambitioniertes Ziel ausgegeben hat.
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"Der Artikel beschäftigt sich mit ethnographischer Methodologie als Beitrag zu einer praxeologisch orientierten Unterrichtsforschung am Beispiel der Verteilung des Rederechtes. Der Beitrag soll erstens eine weitere Auseinandersetzung über die Frage nach dem Erkenntnispotential von Ethnographie anregen. Ausgangspunkt ist dabei die Frage, wie aus ethnographischen Beobachtungen Erkenntnisse generiert werden können, die generalisierbare Aussagen über Ordnungsstrukturen von Unterricht zulassen. Dies geschieht, indem zweitens ethnographisches Material zur Handhabung des Rederechtes im Schulunterricht analysiert wird. Die Interaktionssequenz Fragen-Melden-Aufrufen realisiert sich innerhalb einer erheblichen Variationsbreite. Der Beitrag unterscheidet exemplarisch anhand der Verteilung des Rederechtes mit Routine und Bruch zwei unterschiedliche Modi, in denen sich auf je spezifische Weise Praktiken realisieren und Ordnungen sichtbar werden." (Autorenreferat)
'When dealing with the question of Algerian 'elites' - a term which, by the way, is never used locally - a basic contradiction will become apparent. 'National' they were indeed, those new social categories (doctors, engineers, teachers, lawyers, and so on) that the Colonial presence created, either directly or indirectly, among the French or the Arab population. But they became 'nationalistic', meaning that they sought to break completely with the Colonial power, only much later, when the guerilla warfare began in 1954. Focusing on the period between 1920 and 1954, and using archives and interviews, I will try to show today the essential role played by education, particularly by the 'Colonial system of education'. That system was a 'structuring machine' which irresistibly and lastingly contributed to reshaping society from top to bottom as well as the relationship between the two languages. And though the 1954 Revolution denied it, that structure is still alive and functioning today.' (author's abstract)|
Auf der Grundlage längsschnittlicher Daten der LifE-Studie mit einer Spanne von rund 20 Jahren (1981 bis 2002) werden mögliche Einflüsse des von Schülerinnen und Schülern wahrgenommenen sozialen Schulklimas auf die Entwicklung von politischem Interesse und von Toleranz gegenüber Ausländern als Indikatoren politischer Sozialisation untersucht. Bezogen auf die Entwicklung toleranter Haltungen zeigten sich auch unter Kontrolle relevanter Hintergrundvariablen signifikante Wirkungen kurz- und langfristiger Art. Deren geringe Effektstärken und die nicht statistisch absicherbaren Effekte auf das Politikinteresse relativieren allerdings überhöhte Erwartungen hinsichtlich der Bedeutung schulklimatischer Einflüsse für Prozesse der politischen Sozialisation. (DIPF/Orig.) ; Drawing on longitudinal data of the German LifE-Study spanning more than two decades (1981 to 2002) this analysis investigates the effects of student-perceived school climate on interest in politics and acceptance of minorities as indicators of political socialization. With respect to acceptance of minorities short- and long-term effects were significant. However, the small effect sizes and the non-effects on the interest in politics do not support overly optimistic expectations regarding the importance of the school climate for the political socialization process. (DIPF/Orig.)
Dieser Aufsatz beginnt mit einer Bezugnahme auf moderne Zeittheorien und stellt im Weiteren alternative Sichtweisen in den Werken von FOUCAULT, DELEUZE, LATOUR und anderen vor. Die Studie konzentriert sich auf den konkreten Kontext einer Versuchsschule, die sich um die Integration ausgegrenzter Schüler und Schülerinnen in die Gesellschaft bemüht. Auf Grundlage einer Synthese aus Diskursanalyse und Actor-Network-Theorie werden zwei Fragen aufgeworfen: 1. ob und inwiefern die "Verfertigung von Zeiten" mit den Mikroformationen von Diskursen zusammenhängt, und 2. wie die Mikroformationen von Diskursen im konkreten Setting einer Schule hinsichtlich ihrer temporalen und anderen Aspekte als Prozesse entstehen. Um diese Fragen zu beantworten, verknüpfe ich kritische ethnographische Forschung mit einer Methodologie der Actor-Network-Theorie – ein Ansatz, den man als "rhizomatische Analyse" bezeichnen könnte (DELEUZE & GUTTARI 1980). Bei der Untersuchung diskursiven und nichtdiskursiven Handelns unter besonderer Berücksichtigung von Materialitäten (Orte, Schülerdokumentationen, Berichte, Lebensläufe und Akten) führe ich das Konzept "zeitlicher Kontrollmittel" ein und stelle zwei von ihnen näher vor: Synchronität und Konvergenz. Auf diese Weise schlage ich eine neue Sicht auf Zeit vor und setze sie zur Diskursformation in Beziehung. So wiederum wird ein neues Potenzial für die kritische Reflexion über Theorien von Zeit sowie aller Handlungen in der Schule erschlossen.
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Mit Nachdruck plädiert die Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK für den Einsatz generativer KI-Sprachmodelle im Schulunterricht – allerdings nur für ältere Schüler. Die Bildungsforscherin Ulrike Cress über das Lernen mit ChatGPT, die Auswirkungen auf Prüfungskultur und Chancengerechtigkeit – und die Bedeutung guten Promptens.
Ulrike Cress ist Psychologin, Bildungsforscherin und Direktorin des Leibniz-Instituts für Wissensmedien (IWM). Seit Mai 2021 gehört sie der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusminsterkonferenz an. Foto: IWM.
Frau Cress, jetzt also auch die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK): "Large Language Models und ihre Potenziale im Bildungssystem" heißt das Impulspapier mit Empfehlungen, das Sie heute veröffentlichen. Können Sie den vielen Stellungnahmen zu LLM, ChatGPT & Co überhaupt noch Substanzielles hinzufügen?
ChatGPT war ein Einschnitt und markierte den enormen Fortschritt, den die generative Künstliche Intelligenz (KI) gemacht hat. Sie ist erstmals in der Breite der Gesellschaft angekommen, auch in der Breite des Bildungswesens, und damit ergeben sich viele Fragen für die Schule und für
das Prüfungswesen. Darauf wollten wir als SWK reagieren und bewusst einen Impuls der Versachlichung setzen gegen die Aufregung der vergangenen Monate. Vielen ist erst durch ChatGPT auf einen Schlag klar geworden, was sich schon lange abzeichnete: dass KI und digitale Medien Schule dramatisch verändern. Doch darauf mit einem Verbot von LLM reagieren zu wollen, halten wir als Ständige Wissenschaftliche Kommission weder für angemessen noch realistisch. Mit unseren Empfehlungen wollen wir Orientierung geben.
"Gerade Kinder und Jugendliche haben sehr schnell gemerkt, was sie mit LLM alles machen können.
Die Lehrkräfte waren etwas langsamer."
Als jemand, die sich seit vielen Jahren mit digitalen Medien auseinandersetzt, haben Sie selbst mit einer so rasanten Entwicklung generativer KI-Sprachmodelle gerechnet?
Wir haben an unserem Institut bereits vor Jahren zu LLM geforscht; damals GPT2, das noch viel schwieriger zu bedienen war. Trotzdem waren wir bereits beeindruckt, wie gut das Tool zum Beispiel bei der Erstellung von Gedichten war. Dass der Fortschritt hin zu einer derart vereinfachten Nutzung dann so schnell gehen würde, haben wir uns damals aber nicht vorstellen können. Doch erst dies ermöglichte den weitreichenden Einsatz, wie wir ihn jetzt erleben. Die Dialogfähigkeiten heutiger Systeme verführen dazu, sie spielerisch auszuprobieren. Gerade Kinder und Jugendliche haben sehr schnell gemerkt, was sie damit alles machen können. Die Lehrkräfte waren etwas langsamer.
Und kritischer?
Sicherlich stand am Anfang die Sorge im Vordergrund: Was passiert jetzt mit den Hausaufgaben, die wir stellen, was machen LLM mit der Schule, wie wir sie kennen? Der zweite Schritt kam aber nur wenig später. Dass viele Lehrkräfte sich gefragt haben: Wie können wir so ein System sinnvoll nutzen für den Unterricht? Womit wir sofort bei der systemischen Frage sind: Was braucht es, damit LLM, die ja nicht für die Schule entwickelt wurden, dort eine positive Wirkung entfalten können?
Die systemische Frage?
Ja, welche Unterstützung benötigen Lehrkräfte, um sich individuell mit diesem Tool auseinanderzusetzen, und durch wen? Welche Fortbildungsangebote erfordert das? Hier braucht unser Bildungssystem einen systematischen Ansatz, eine gemeinsame Vorstellung, was sich zum Positiven verändert, was zum Negativen, wie wir den Nutzen maximieren und den Schaden geringhalten.
In ihren Empfehlungen fordert die SWK eine Übergangsphase, eine Zeit der Erprobung zwischen Praxis und Wissenschaft. Was genau meinen Sie damit?
Es gibt noch keine umfassenden Studien zu den Effekten, wie sich LLM auf den Bildungserfolg auswirken. Trotzdem können wir nicht warten, bis empirische Evidenz vorliegt, die Schulen brauchen jetzt eine Einordnung. Immerhin haben wir Evidenz zu anderen Tools. Etwa als in den Schulen Taschenrechner eingeführt wurden, gab es dieselben Diskussionen, ob am Ende keiner mehr das Kopfrechnen lernt. Seitdem wissen wir aus der Lernforschung, wie sich neue Hilfsmittel so in der Schule einsetzen lassen, dass sie für den Lernerfolg förderlich sind und ihn nicht behindern. Doch was davon lässt sich auf LLM übertragen? Das gilt es in der Übergangsphase herauszufinden, und dabei wollen wir als Wissenschaft die Lehrkräfte nicht allein lassen.
"Es ist Aufgabe der Politik, die nötige Rechtssicherheit zu schaffen."
Was bedeutet das praktisch?
Das bedeutet, dass wir in dieser Übergangsphase gemeinsam mit den Lehrkräften und den Landesinstituten für Lehrkräftebildung neue Unterrichtskonzepte entwickeln, evidenzbasiert. Und bis es die gibt, ist eine offene Fehlerkultur, eine Kultur des Ausprobierens, entscheidend. Fest steht: Nicht alles wird funktionieren, wie wir uns das wünschen.
Wie lange sollte die Übergangsphase dauern?
In unserem Impulspapier nennen wir keinen Zeitraum. Für mich aber dauert die Übergangsphase, bis es ausreichend Materialien und Konzepte zum Einsatz von LLM in Schulen gibt, die geprüft sind und von denen wir wissen, was sie wirklich bewirken.
Erneut müssen sich das deutsche Bildungssystem und die deutsche Bildungspolitik auf die Regeln und Bedingungen einer Technologie einlassen, die in den USA entwickelt wurde.
Zumal sich in den Schulen besondere Anforderungen an den Datenschutz stellen, an die rechtlichen Rahmenbedingungen, an die Transparenz. Als Kommission sagen wir: Es ist Aufgabe der Politik, hier die nötige Rechtssicherheit zu schaffen. Lehrkräfte brauchen Bedingungen, unter denen sie genau wissen, was sie dürfen und was sie nicht dürfen. Wir brauchen Tools, die nicht einfach Daten sammeln und an die Firmen zurückspielen. Die starke Abhängigkeit von US-Konzernen erfordert eine umso stärkere und eindeutige Reaktion der Politik. Eine zentrale Voraussetzung ist, dass die Bundesländer sich auf ein weitgehend gemeinsames Vorgehen einigen, wenn sie LLM in ihre Lernplattformen integrieren. Dass sie, wo möglich, Tools verwenden, die speziell fürs Lernen entwickelt wurden und frei beforscht werden können. Wir reden ja nicht nur über LLM, wir reden über die Möglichkeiten neuer intelligenter tutorieller Systeme insgesamt.
Von denen wir in Deutschland schon ziemlich lange reden. Wer soll das denn konkret leisten, die Entwicklung digitaler Tools und die Anpassung von LLM an die Bedürfnisse der Schulen in Deutschland?
Dafür braucht es genau jene dauerhafte Einrichtung länderübergreifender Zentren für digitale Bildung, die wir als SWK in unserem allerersten Gutachten überhaupt gefordert haben. In denen Experten aus Schulpraxis, Lehrerbildung, Wissenschaft und Unternehmen gemeinsam digitale Materialien und didaktische Konzepte für den Unterricht entwickeln und verteilen. Die Kompetenzzenten für digitales und digital gestütztes Lernen, die das BMBF befristet finanziert, sind ein erster Schritt, um zu zeigen, welches vielfältige Potenzial in digitalen Medien steckt. Wir müssen aber weg von der drittmittelfinanzierten, oft kleinteiligen Projektförderung. Wir müssen hin zum großen Ganzen, zum systematischen Blick auf einzelne Schulfächer, und dafür bräuchten wir größere Zentren ohne Befristung. Unser Vorschlag wäre, mit Zentren für zwei Fächer anzufangen, eine Naturwissenschaft, eine Sprache.
"Erst wenn ein Kind die eigenständige
Produktion von Texten wirklich beherrscht,
ergibt es Sinn, Tools wie ChatGPT einzusetzen."
Die SWK will ChatGPT & Co aus den Grundschulen möglichst heraushalten, warum?
Wir wollen nichts verbieten. Wir sind aber der Auffassung, dass das eigenständige Schreiben von Texten als Grundkompetenz und Kulturtechnik unbedingt erhalten bleiben muss. Schreiben ist das Werkzeug zum strukturierten Denken, zum Vernetzen der eigenen Gedanken und Argumente, das dürfen wir nicht preisgeben. Das Erlernen und Ausbauen dieser Kompetenz geschieht in der Grundschule und dauert bis in die Sekundarstufe hinein. Erst wenn ein Kind die eigenständige Produktion von Texten wirklich beherrscht, ergibt es Sinn, Tools wie ChatGPT einzusetzen. Aber immer in Form einer versierten Koaktivität – mit LLM als Hilfsmittel, um die eigenen Gedanken zu ordnen und weiterzuentwickeln.
Wie wollen Sie die Nutzung von ChatGPT durch Grundschüler verhindern? Spätestens am Nachmittag, wenn die Kinder zu Hause sind, ist der Zugriff möglich. Ist es dann nicht gefährlich, wenn die Grundschule das Tool tabuisieren würde?
Wir wollen nichts tabuisieren! Es ist sinnvoll, LLM und deren Nutzung in der Grundschule zu thematisieren. Aber wir müssen zugleich sicherstellen, dass der Erwerb von Schreibkompetenz nicht gefährdet wird. Deshalb werden Hausaufgaben künftig anders aussehen. Das klassische Textschreiben als Hausaufgabe wird es nicht mehr lange geben. Diesen Teil des Lernens müssen wir in den Unterricht verlagern, wo die Lehrkräfte einen Blick darauf haben.
Und wie wird sich die Prüfungskultur in den Schulen ändern? Ergibt das Schreiben von Klassenarbeiten ohne Hilfsmittel überhaupt noch Sinn, wenn das so gar nichts mehr mit dem späteren Leben zu tun hat?
Bildung wird auch künftig bedeuten, dass Wissen in den Köpfen entsteht und nicht einfach ausgelagert wird. Denn das ist die Voraussetzung, um die Welt begreifen zu können. Insofern wird es weiter hilfsmittelfreie Prüfungen geben, und das ist gut so. Aber je älter die Schüler werden, desto stärker kommt etwas Zweites dazu. Bin ich in der Lage, mein Wissen so einzusetzen, dass ich digitale Tools effizient prompten kann? Denn nur dann werden ich Texte erhalten, die mir wirklich etwas bringen.
"Ein Chatbot hat kein Verstehen, der liefert mir nur die statistisch wahrscheinlichste Antwort."
Prompten als neue Kulturtechnik?
Prompten als sprachliche Eingabe an den Chatbot, um ihn zu einer Antwort herauszufordern. Wie sinnhaft diese Antwort ist, ob sie einfach nur gut klingt oder tatsächlich stichhaltig ist, hängt entscheidend von meiner Eingabe ab, von meinem Inhaltswissen. Je mehr ich weiß, desto konkreter kann ich fragen und hinterfragen und anschließend prüfen, ob überhaupt richtig ist, was mir da geliefert wird, oder ob es sich um sogenannte Halluzinationen handelt, erfundene Sachverhalte, Zitate oder Fehler. Das erfordert eine hohe Kompetenz, die Schule künftig vermitteln muss und die Lehrkräfte, genauso wie die Schüler, erst erwerben müssen. Ein Chatbot hat kein Verstehen, der liefert mir nur die statistisch wahrscheinlichste Antwort.
Die Lehrkräfte können es auch nicht?
Die meisten sind in Sachen LLM und deren Einsatz genauso blutige Anfänger wie die Schüler, wobei die Schüler oft noch experimentierfreudiger sind. Darum plädieren wir als SWK für diese Übergangsphase und appellieren an alle Lehrkräfte: Setzt euch in dieser Zeit mit den Tools auseinander, macht eure Erfahrungen, übt damit, erstellt Unterrichtsmaterialien mit Hilfe von LLM. Dann merkt ihr schon, was funktioniert und was nicht. Natürlich kommt bei der Qualitätssicherung auch den Landesinstituten eine entscheidende Aufgabe zu, sie müssen zum praktischen Ausprobieren der Lehrkräfte die notwendigen reflektierenden Fortbildungen anbieten.
Wir wissen aus der Forschung zum Einsatz digitaler Medien, dass sie die Bildungsungleichheit eher noch erhöhen können. Man spricht dann vom sogenanntem Matthäus-Effekt: Wer schon hat, dem wird noch mehr gegeben. Vergrößert sich dieser Effekt durch LLM noch?
Wenn Sie die Kinder sich selbst überlassen bei der Nutzung von ChatGPT, ist das sicher so. Kinder, die von ihren Eltern die nötige Unterstützung und Bildung mitbekommen, werden dem Tool dann gute Fragen stellen, effektiv prompten, und gute Antworten bekommen. Sie werden auch eher in der Lage sein, die Qualität der Texte, die sie erhalten, einzuschätzen. Weniger privilegierte Kinder dagegen werden LLM unter Umständen so nutzen, dass sie eben nicht mehr das eigenständige Schreiben von Texten erlernen. Genau deshalb ist es ja so wichtig, dass Schule und Unterricht sich verändern und dass Lehrkräfte lernen, hier gezielt zu instruieren. Dann nämlich könnte es sogar zur gegenteiligen Wirkung kommen: wenn eine Lehrkraft LLM einsetzt, um Lernmaterialien zu erstellen, die auf die Leistungsniveaus der einzelnen Kinder angepasst sind. Oder auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Indem zum Beispiel Erklärtexte in einfache Sprache übersetzt werden, damit Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, einen besseren Zugang erhalten. In dem Sinne sollten LLM übrigens auch in den Grundschulen eine große Rolle spielen, in ihrer Nutzung durch die Lehrkräfte.
Insgesamt werden LLM viele interessante Unterrichtsmöglichkeiten eröffnen, die wir bisher nicht hatten. Etwa, wenn ein Kind durch LLM mit einer literarischen Figur reden kann, die ihm den Zugang zum Lesen eröffnet. Das sind didaktische Möglichkeiten einer interaktiven Bildung, die sich vor kurzem keiner hätte vorstellen können.
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Lehrkräfte sollen kompetenzorientiert unterrichten und ihre förderdiagnostischen Fähigkeiten entwickeln - dies sind auch wichtige bildungspolitische Forderungen nach PISA. Wenn die neu eingeführten Bildungsstandards verwirklicht werden sollen, ist eine Stärkung der förderdiagnostischen Kompetenzen von Lehrkräften unabdingbar. Der vorliegende Band enthält Beiträge zu zwei Themenbereichen: 1) Welche neuen Erkenntnisse bieten uns Wissenschaft und empirische Forschung für die Erfassung und Modellierung von Rechtschreibkompetenz und die Diagnose orthographischer Kompetenzen? 2) Was leisten Kompetenzmodelle der Orthographie für die individuelle Förderung in Schule und Berufskollegs? Da in einer IGLU-Zusatzstudie die Rechtschreibleistung von Kindern in jeweils drei verschiedenen Tests erhoben wurde, bot sich die außergewöhnliche Möglichkeit, die Leistung eines Kindes in verschiedenen Tests aus unterschiedlicher Perspektive förderdiagnostisch auszuwerten, und zwar anhand des linguistischen Kompetenzmodells (Löffler/Meyer-Schepers), des Strategiediagnosekonzepts (May), der Sprachsystematischen Rechtschreibdiagnose (Blatt) sowie der Silbenanalytischen Auswertung (Roeber), so dass sich Leserin oder Leser ein eigenes Bild über die Reichweite und Aussagekraft unterschiedlicher diagnostischer Verfahren bilden kann. Der Band enthält ferner Berichte zu erfolgreichen Praxisprojekten, in denen Kompetenzmodelle der Orthographie für die individuelle Förderung erprobt wurden. (Herausgeberin)
Gegenstand der hier präsentierten explorativen Studie ist die Makroebene der Lehrerausbildung. Ziel ist, mithilfe eines internationalen Vergleichs grundlegende Strukturmerkmale der Ausbildung zu identifizieren, eine Typologie dieser Merkmale zu entwickeln und sie auf mögliche Zusammenhänge zum sozio-kulturellen Kontext zu untersuchen. Dafür wird auf vorliegende Daten und ein eigens durchgeführtes zweitägiges Focus-Gruppen-Interview mit Experten für Fragen der Lehrerausbildung aus acht Ländern zurückgegriffen. Ergebnis ist die Identifizierung von 12 Strukturmerkmalen, auf deren Basis sich vier Typen an Ausbildungssystemen herausarbeiten lassen. Die Ausprägungen der Typen hängen eng mit dem jeweiligen soziokulturellen Kontext zusammen. (DIPF/Orig.) ; The present explorative study focusses on the macro level of teacher training. By means of an international comparison, the author identifies fundamental structural characteristics of teacher training, develops a typology of these characteristics, and examines possible links with the socio-cultural context. This is done on the basis of data already available and of a two-day focusgroup-interview carried out specifically for this study with experts in teacher training from eight different countries. As a result, twelve strutural characteristics are identified, on the basis of which four types of training systems can be shown to exist. The moulding of the types is closely connected with the respective socio-cultural context. (DIPF/Orig.)
Sammelrezension von: 1. Wolfgang Einsiedler / Margarete Götz / Christian Ritzi / Ulrich Wiegmann (Hrsg.), Grundschule im historischen Prozess. Zur Entwicklung von Bildungsprogramm, Institution und Disziplin in Deutschland. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012 (310 S.; ISBN 978-3-7815-1837-7). 2. Johannes Jung / Bettina König / Katharina Krenig / Katrin Stöcker / Verena Stürmer / Michaela Vogt (Hrsg.), Die zweigeteilte Geschichte der Grundschule 1945 bis 1990. Ausgewählte und kommentierte Quellentexte zur Entwicklung in Ost- und Westdeutschland. Berlin: LIT 2011 (262 S.; ISBN 978-3-643-11087-9). 3. Johannes Jung, Der Heimatkundeunterricht in der DDR. Die Entwicklung des Faches in den unteren vier Jahrgangsstufen der Polytechnischen Oberschule zwischen 1945 und 1989. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011 (163 S.; ISBN 978-3-7815-1817-9)
Die (Re-)Präsentation des Wissens ist in einzelnen fachdidaktischen und bildungswissenschaftlichen Disziplinen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung mittlerweile gut erforscht. Der Austausch der Ansätze, Methoden und Ergebnisse dieser Forschung zwischen den Disziplinen erfolgt jedoch nach wie vor nur zögerlich. Der Sammelband präsentiert Vorträge einer interdisziplinären Tagung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, die im Rahmen des Kieler Projekts "Lehramt mit Perspektive – LeaP@CAU" der Qualitätsoffensive Lehrerbildung gefördert wurde. Als Leitfragen dienten der Tagung u.a. die folgenden: Welche Erkenntnisse über Formate und Formatierungen sowie Enkodierungen (genrespezifisch, gegenstandsspezifisch, aktional, ikonisch, sprachlich-symbolisch usw.) des Wissens liegen in den Fachdidaktiken und Bildungswissenschaften vor? Welche theoretisch fundierten Ansätze (duale Kodierung, mentale Modelle, Chunks u.v.a.) und Methoden der Wissens(re)präsentation liegen der Forschung und Lehre in den einzelnen Fachdidaktiken und Bildungswissenschaften zugrunde? Welche empirischen Befunde und Praxiserfahrungen sind dazu bekannt? (DIPF/Orig.)
Pädagogische Fachkräfte aus den unterschiedlichsten Arbeitsfeldern nutzen heute Social Media und speziell Soziale Onlinenetzwerke in ihrer pädagogischen Arbeit. Als Reaktion auf datenschutzrechtliche Bedenken und fehlende Umgangsregeln wurden 2013 in einigen Bundesländern Vorgaben zur Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken im Kontext Schule erlassen. Diese inhaltlich sehr unterschiedlichen Erlasse führen in Arbeitsfeldern und Bundesländern, wo keine Vorgaben vorliegen, zu Unsicherheiten. Dieser Beitrag soll einerseits Orientierung bieten, indem er die Perspektive der jungen Menschen in den Fokus stellt. Es wird die Frage beantwortet, wie die jungen Menschen dazu stehen, dass sich ihre Jugendarbeiter/innen und Lehrer/innen in Sozialen Onlinenetzwerken aufhalten, und welches Interaktionsverhalten sie dort als (un-)angemessen empfinden. Dazu werden die Erkenntnisse verschiedener Studien aufbereitet und zusammengefasst sowie abschliessend auf das Arbeitsfeld der ausserschulischen Kinder- und Jugendarbeit übertragen. Dies soll auch andererseits die Leser/innen dazu anregen, gemeinsam mit den jungen Menschen Umgangsregeln zu entwickeln. Nicht zuletzt kann der Beitrag auch als Argumentationshilfe für eine pädagogische Nutzung herangezogen werden. 1 Nutzung in Jugendarbeit verbreiteter als in Schule Die folgenden Ergebnisse basieren auf zwei praxisnahen Studien in pädagogischen Arbeitsfeldern und müssen zum aktuellen Zeitpunkt als punktuelle Erhebungen sowohl einen wissenschaftlich fundierten als auch deutschlandweiten Gesamtüberblick zur Nutzungssituation der ausserschulischen Kinder- und Jugendarbeit ersetzen. Bitkom, der Verband der digitalen Wirtschaftsunternehmen, befragte 500 Lehrkräfte der Sekundarstufe I zur beruflichen Nutzung von Social Media (Bitkom 2014). «Am häufigsten werden Soziale Netzwerke von Lehrern bis 40 Jahre genutzt, hier ist jeder Fünfte (20%) mit seinen Schülern vernetzt. Bei den Ü̈ber-40-Jährigen sind es lediglich 8%» (Bitkom 2014, o.S.). Innerhalb der Sozialen Onlinenetzwerke werden Links zu interessanten Online-Artikeln verbreitet (76%), individuelle Fragen zum Unterricht beantwortet (61%) oder Schulinfos (56%) und Hausaufgaben (47%) gepostet. Zur Nutzung von Alternativen geben Dreiviertel der befragten Lehrkräfte an, E-Mail zu nutzen, 9% verwenden Messenger. 21% der Befragten tauschen sich gar nicht elektronisch mit ihren Schülerinnen und Schülern aus (Bitkom 2014). Für die ausserschulische Kinder- und Jugendarbeit liegt lediglich eine auf Berlin begrenzte Studie aus dem Jahr 2011 vor. Sie zeigt, dass rund 60% der 140 befragten Berliner Jugendarbeiter/innen zum Erhebungszeitpunkt Soziale Onlinenetzwerke in ihrer Arbeit nutzten (Korfmacher 2011, 10). Facebook sowie mit Abstand Jappy und MySpace waren die beliebtesten Sozialen Onlinenetzwerke (Korfmacher 2011, 9f.). Andere Social Media (YouTube, Wikipedia und Google Maps) wurden ebenfalls noch von einer grossen Gruppe (40%) verwendet. Instant Messenger, Mikroblogging und Weblogs wurden 2011 dagegen nur vereinzelt in der pädagogischen Arbeit eingesetzt (Korfmacher 2011, 10f.). Social Media dienten hauptsächlich der Informationsweitergabe sowie dem Informationserhalt. Ausserdem geben 44% der Einrichtungen an, direkt Kontakt zu jungen Menschen aufzunehmen. Ein Fünftel der Befragten nutzen Social Media, um Hilfs- und Beratungsangebote anzubieten (Korfmacher 2011, 11f.). Die Ergebnisse zeigen, dass bereits vor drei Jahren die Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken in der ausserschulischen Kinder- und Jugendarbeit verbreiteter war als heute in der Schule. Diese Erkenntnis und die insgesamt gewachsenen Nutzerzahlen (Statista 2014) legen nahe, dass die ausserschulische pädagogische Nutzung seit dem Zeitpunkt der Umfragen noch zugenommen hat. Auffällig ist, dass sowohl im schulischen als auch im ausserschulischen Kontext die allgemeine Weitergabe von Informationen quantitativ häufiger stattfindet als die individuelle Interaktionen mit jungen Menschen. 2 Vorgaben bieten nur unzureichend Orientierung Diese pädagogische Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken wird jedoch mehr oder weniger stark und mehr oder weniger transparent auf verschiedenen Ebenen (administrativ bzw. bildungspolitisch) eingeschränkt. Die bereits erwähnte Studie von Bitkom konnte aufzeigen, dass an vier von zehn Schulen die dienstliche Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken und die Vernetzung mit Schüler(inne)n verboten ist. 36% der befragten Lehrkräfte geben an, dass die Nutzung der Netzwerke an ihrer Schule erlaubt sei oder dass es keine Regeln gebe und sie toleriert werde. «Jeder fünfte Lehrer (20%) darf Soziale Netzwerke zwar nicht für schulische Belange nutzen, sich aber dort privat mit Schülern vernetzen» (Bitkom 2014, o.S.). Die Verbote von Seiten der Schulleitungen finden ihre Entsprechung auf höherer Ebene in den im vergangenen Jahr in einigen Bundesländern erlassenen Vorgaben zum Umgang mit Facebook in der Schule. Beispielsweise haben Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein Vorgaben zur (Nicht-)Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken erlassen. Da diese Vorgaben sehr divergieren (siehe Tabelle), führt dies in den pädagogischen Arbeitsfeldern und Bundesländern, in denen keine eindeutigen Regelungen vorliegen, zu Unsicherheiten. Für die ausserschulische Kinder- und Jugendarbeit gibt es bislang keine derartig umfassenden ministeriellen Vorgaben. Einige kommunale Träger haben für ihre Angestellten im Öffentlichen Dienst Vorgaben zur Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken erlassen. Inwiefern diese einzelnen kommunalen und freien Träger der Kinder- und Jugendarbeit ihren Mitarbeiter(inne)n diesbezüglich eher Orientierung bieten oder ihnen Restriktionen auferlegen, ist nicht bekannt. Auf Grund einer eigenen – bislang unveröffentlichten – Untersuchung kann darauf geschlossen werden, dass nur in vereinzelten Einrichtungen der Jugendarbeit Leitlinien von Trägerseite vorliegen. Die Aussagen der pädagogischen Fachkräfte der ausserschulischen Kinder- und Jugendarbeit sowie der Lehrkräfte in der Bitkom-Studie lassen vermuten, dass diese Vorgaben top down – von den Ministerien, Schulleitungen und Trägern – festgelegt wurden. Es scheint, dass weder die Pädagog(inn)en noch die jungen Menschen oder deren Eltern2 an den Prozessen beteiligt wurden3. Wie insbesondere an den ministeriellen Vorgaben deutlich wird, sind die Begründungen einerseits datenschutzrechtlicher Natur, andererseits wird mit Aspekten des Umgangs (Gleichbehandlungsgrundsatz sowie Obhuts- und ausserdienstliche Wohlverhaltenspflicht) argumentiert. Bezüglich des Umgangs hätte eine Berücksichtigung der Interessen aller betroffenen Akteure möglicherweise zu konstruktiveren Lösungen als den jetzigen Verboten geführt. Tabelle: Übersicht der Ländervorgaben zum Umgang mit Sozialen Onlinenetzwerken 3 Junge Menschen sehen die pädagogische Nutzung kritisch Im folgenden Abschnitt werden Erkenntnisse verschiedener Studien, die die Perspektive von jungen Menschen auf die pädagogische Facebook-Nutzung untersuchten, zusammengefasst. Da Facebook zuerst im US-amerikanischen Hochschulkontext genutzt wurde, liegen von dort mehrere Studien vor, die sich mit der Frage auseinandergesetzt haben, ob Soziale Onlinenetzwerke ein «student-based territory» (Mazer et al. 2007) oder eine «professor free zone» (Malesky und Peters 2011) sind. Im Fokus der vornehmlich quantitativen Untersuchungen stand ausserdem die Frage nach der Angemessenheit der Interaktion von Dozenten und Studierenden (z.B. Hewitt und Forte 2006; Teclehaimanot und Hickman 2011). Das Thema der pädagogischen Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken beschäftigt seit dem Facebook-Boom im Jahr 2010 auch in Deutschland zunehmend die Menschen. Sowohl die JIM-Studie 2013 des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest (mpfs 2013) als auch der Medienkonvergenz Monitoring Report 2010 der Universität Leipzig (Schorb et al. 2010) gehen in ihren Untersuchungen auf das Thema ein. Als ungefilterter Blick auf die Perspektive der jungen Menschen wird zusätzlich eine Online-Abstimmung der Teenager-Zeitschrift Mädchen, die seit 2013 läuft, herangezogen. Die Mädchen werden dort gebeten, «Pro & Contra: Facebook-Freundschaften mit Lehrern?» abzustimmen, und sie konnten freiwillig ihre Argumente posten (Mädchen.de 2014). Diese wurden für die vorliegende Synthese ergänzend ausgewertet. Die knappe Mehrheit der befragten Studierenden billigen die grundsätzliche Präsenz von Universitätsangehörigen in Facebook (Hewitt und Forte 2006, 2 sowie Malesky und Peters 2011, 143). Eine Interaktion zwischen Dozenten und Studierenden finden lediglich drei Viertel der befragten Männer und sogar nur ein Drittel der Frauen akzeptabel (Hewitt und Forte 2006, 2 ebenso Mazer et al. 2007). Im schulischen Kontext finden sogar gerade mal rund 25% der befragten Schülerinnen eine Facebook-Freundschaft zu einer Lehrkraft akzeptabel (Mädchen.de, 18.7.2014, 15:15 Uhr). Neben dem Geschlecht ist das Alter ein ausschlaggebender Faktor für die Akzeptanz einer Facebook-Freundschaft zu Lehrkräften. Mit zunehmendem Alter steigt die Bereitschaft, sich mit Lehrkräften zu befreunden. Die Altersschwelle hierfür liegt zwischen 15 und 16 Jahren (mpfs 2013, 40). Hinsichtlich der Ausbildungsstufe konnten keine bedeutenden Unterschiede gefunden werden (Teclehaimanot und Hickman 2011). Junge Menschen empfinden die Anwesenheit von Dozenten in Sozialen Onlinenetzwerken dann als persönlich vorteilhaft, wenn diese die Sozialen Onlinenetzwerke zur Unterstützung nutzen, um beispielsweise die Namen zu lernen (Malesky und Peters 2011, 144). Für Schüler/innen ist auch die Ansprechbarkeit zum Beispiel im Fall von Rückfragen zu den Hausaufgaben hilfreich (Mädchen.de). Offensichtlich erhöht sich auch die Bereitschaft, mit Lehrkräften über Soziale Onlinenetzwerke zu interagieren, wenn deren Persönlichkeit als «cool» und «entspannt» charakterisiert wird (Mädchen.de 2014). Ein bedeutsamer Faktor für die Nicht-Akzeptanz von Lehrkräften in Sozialen Onlinenetzwerken sind dagegen die Faktoren Kontrolle und Macht. Aus Sicht der jungen Menschen ist es vollkommen unangemessen, Soziale Onlinenetzwerke als Kontrollinstrument zu nutzen. Für sie ist es beispielsweise nicht akzeptabel, mit ihrer Hilfe eine Abwesenheitsentschuldigung auf Richtigkeit zu überprüfen (Malesky und Peters 2011, 144). Soziale Onlinenetzwerke werden von den jungen Menschen als ein Raum wahrgenommen, in dem sie sich unkontrolliert von Eltern, Professor(inn)en oder Chefs auslassen können (Malesky und Peters 2011, 144). Dementsprechend schränkten die jungen Menschen die Sichtbarkeit ihrer Profile zunehmend ein, wenn bekannt geworden ist, dass sich auch Lehrkräfte in SchülerVZ aufhielten (Schorb et al. 2010, 62, Mädchen.de 2014). «Besonders fürchten sie die Einzelpersonen, denen sie keinen Einblick in ihren Intimbereich geben wollen, den sie nur mit ihren Freunden zu teilen bereit sind. Das sind in erster Linie die Autoritäten, die Macht über ihr Leben haben, die Eltern sowie die Lehrerinnen und Lehrer» (Schorb et al. 2010, 72f.). Mit Macht und Kontrolle in enger Verbindung ist auch das bereits angeklungene Thema der Privatsphäre. Die jungen Menschen, die Pädagog(inn)en in Sozialen Onlinenetzwerken ablehnen, sehen diese als private Räume und bevorzugen anderweitige Kontaktaufnahmemöglichkeiten wie Telefon, E-Mail oder Moodle (Hewitt und Forte 2006, 2; Mädchen.de 2014). Interessanterweise thematisieren diese Gegnerinnen ebenso einen Schutz der Privatsphäre der Lehrkräfte (Mädchen.de 2014). In einzelnen – durch die Medien bekannt gewordenen – Fällen von Lehrermobbing mag dies zutreffen, jedoch können Mazer et al. (2007) sogar positive Auswirkungen auf das Lernklima belegen. Wenn Studierende die Dozenten besser kennen und mehr von ihnen wissen, nehmen sie sie positiver wahr und können sie besser antizipieren. Daten über den tatsächlichen Umfang der Kontakte zwischen jungen Menschen und ihren Lehrkräften bzw. Dozierenden finden sich nur vereinzelt: 2009 gaben 15% der befragten Studierenden an, bereits Kontakt mit Dozenten über Facebook gehabt zu haben (Ophus und Abbitt 2009, 643). 2013 bestätigen 37% der jungen Menschen eine Freundschaft mit ihren Lehrkräften (mpfs 2013, 40). Zum Vergleich: 12% der Lehrkräfte gaben an, über Soziale Onlinenetzwerke mit den jungen Menschen in Kontakt zu stehen (Bitkom 2014). Die gelingende Interaktion mit Lehrkräften in Sozialen Onlinenetzwerken ist auch von der Wahrung einer professionellen Distanz abhängig. Die jungen Menschen bevorzugen ein beiderseitig professionelles und eher passives Verhalten (Teclehaimanot und Hickman 2011, 25). Beispielsweise würden sich nur 58% der befragten Studierenden an einer Online-Diskussionsgruppe beteiligen, wenn die/der Dozent ebenfalls teilnähme; gegenüber 79% bei einer rein studentischen Diskussionsgruppe (Ophus und Abbitt 2009, 643). Den Studierenden ist es insgesamt wichtig, dass Dozenten stets in einer professionellen Rolle bleiben und nicht auf privater Ebene versuchen zu «socializen» (Hewitt und Forte 2006, 2). So führen Freundschaftsanfragen von Dozenten zu Unsicherheit und Angst vor negativen Konsequenzen (Karl und Peluchette 2011, 220). Insbesondere das «poking» – bei uns als Gruscheln (VZ-Netzwerke) oder Anstupsen (Facebook) bekannt – wird als unangemessenes Verhalten bewertet (Hewitt und Forte 2006, 2 sowie Teclehaimanot und Hickman 2011, 25). Da für die obige Synthese auf Ergebnisse des (hoch-)schulischen Kontextes zurückgegriffen werden musste, stellt sich nun die Frage, ob und inwieweit diese Erkenntnisse auf die ausserschulische Kinder- und Jugendarbeit übertragbar sind. 4 Die Strukturen der Jugendarbeit sprechen für eine pädagogische Nutzung Aus den bisherigen Ausführungen ergeben sich an verschiedenen Stellen Parallelen zu den Strukturmerkmalen der ausserschulischen Kinder- und Jugendarbeit im Allgemeinen und zur Offenen Kinder- und Jugendarbeit im Speziellen. Dies sind Merkmale wie: Lebensweltorientierung, Partizipation, Freiwilligkeit, Offenheit und Niedrigschwelligkeit sowie Machtarmut und Diskursivität. Die einzelnen Parallelen werden im Folgenden aufgezeigt. Hierbei handelt es sich um eine idealisierte, aus Gründen der Übersichtlichkeit vorgenommene Trennung der Merkmale. Lebensweltorientierung bedeutet, dass die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit an den alltäglichen und jugendtypischen Themen von jungen Menschen orientiert sind. Indem die Pädagog(inn)en der o.g. Studien die Sozialen Onlinenetzwerke in ihrer Arbeit nutzen, lassen sie sich auf die lebensweltlichen Themen der jungen Menschen ein und setzen sich aktiv damit auseinander. Für die pädagogischen Fachkräfte der Kinder- und Jugendarbeit ist die Nutzung also bereits in dieser Hinsicht erstrebenswert. Zusätzlich ergeben sich aus der Nutzung weitere Möglichkeiten. Wenn die Jugendarbeiter/innen mit den jungen Menschen interagieren oder deren Interaktion als Follower oder Freund verfolgen, wissen sie, welche Themen und Trends bei der Zielgruppe aktuell sind. Sie können daraufhin gezielt relevante oder vermeintlich interessante Informationen an die jungen Menschen weiterleiten und sogar an die Themen anknüpfend Bildungsgelegenheiten schaffen. Ausserdem führt der regelmässige Gebrauch zu Routinen im Umgang mit Privatsphäreeinstellungen, so dass die pädagogischen Fachkräfte den jungen Menschen bei Problemen beratend zur Seite stehen können. Unter Partizipation ist die aktive Beteiligung der jungen Menschen bei der Planung und Durchführung von Jugendarbeitsangeboten und -aktivitäten gemeint. Ausserdem sollte sich Kinder- und Jugendarbeit für eine wirksame Partizipation von jungen Menschen einsetzen. Der Partizipationsgedanke ist leider in den oben aufgeführten Erlassen vergeblich zu suchen. Die Vorgaben wurden von bildungspolitischer bzw. -administrativer Seite erlassen. Argumentiert wurde vordergründig mit datenschutzrechtlichen Bedenken, aber auch Argumenten des Umgangs. Die Einrichtungen und Gruppen der Kinder- und Jugendarbeit könnten an diesem Punkt ansetzen und gemeinsam mit den jungen Menschen einen goldenen Weg des Miteinanders in Sozialen Onlinenetzwerken entwickeln, der sowohl ggf. vorhandene Vorgaben berücksichtigt als auch den jungen Menschen eine Stimme gibt. Die Teilnahme an Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit ist grundsätzlich freiwillig. Wie oben deutlich wurde, führen die Freundschaftsanfragen einiger Lehrkräfte die jungen Menschen in ein Dilemma. Es besteht Druck, die Freundschaftsanfragen anzunehmen, um negative Konsequenzen durch die Ablehnung zu vermeiden. Dies ist insbesondere bei Personen, die auf Grund der institutionellen Rollenbeziehung als Autoritäten eingeschätzt werden, der Fall (Schorb et al. 2010). Die Jugendarbeit hat diesbezüglich einen Vorteil: Die jungen Menschen kommen aus Interesse. Beziehungen zu Jugendarbeiter(inne)n werden aus Sympathie eingegangen. Dementsprechend unterliegen mögliche Freundschaftsanfragen einem geringeren autoritären Druck. Kinder- und Jugendarbeit ist durch die Freiwilligkeit gezwungen, attraktive Angebote und partizipative Methoden zu entwickeln und den jungen Menschen dann den Freiraum zu gewähren, diese freiwillig anzunehmen. Dieses Prinzip könnte auch gut auf die Arbeit in Sozialen Onlinenetzwerken übertragen werden, die Grundlagen für eine «gute» Beziehung schaffen, aber Freundschaftsanfragen nur annehmen, nicht versenden. Dass dabei der Gleichheitsgrundsatz berücksichtigt werden muss, d.h. Nicht-Freunde dürfen nicht benachteiligt werden, sollte selbstverständlich sein. Mit den obigen Strukturmerkmalen eng verbunden sind die Offenheit und Niedrigschwelligkeit: Jugendarbeit steht grundsätzlich allen daran interessierten jungen Menschen offen. Die Angebote sind in ihrer Erreichbarkeit niedrigschwellig anzulegen und sollen Raum für eigene Themenfindungen und Gestaltungen lassen sowie die Selbstorganisation unterstützen. Durch die Präsenz in Sozialen Onlinenetzwerken entsteht ein weiterer – niedrigschwelliger – Kontaktpunkt für junge Menschen. Sie können sich bei Rückfragen und Problemen direkt über die Sozialen Onlinenetzwerke an die verfügbaren Ansprechpartner/innen wenden. Bedingt durch die obigen Strukturmerkmale wie Freiwilligkeit, Partizipation und Offenheit ergibt sich die Diskursivität als weiteres Prinzip für die Kinder- und Jugendarbeit. Durch das Fehlen starrer Regelungen und bürokratischer Vorgaben ist es notwendig, die alltäglichen konkreten Bedingungen stets neu auszuhandeln. Dazu zählen auch die Beziehungen zwischen den jungen Menschen und den Jugendarbeiter(inne)n. Denn im Gegensatz zum (hoch-)schulischem Setting fehlen in der Kinder- und Jugendarbeit feste Rollenbeschreibungen für diese Beziehungen. Die Forderung der in den obigen Studien Befragten nach Einhaltung einer professionellen Distanz fällt in der Kinder- und Jugendarbeit auf fruchtbaren Boden. Die offenen Strukturen bieten Gelegenheit, die Grenze von Nähe und Distanz auf beiden Seiten – für die jungen Menschen und für die Jugendarbeiter/innen – auszuhandeln. Der augenfälligste Punkt für die Nicht-Akzeptanz von pädagogischen Fachkräften in Sozialen Onlinenetzwerken ist die Furcht vor Machtmissbrauch. Lediglich wohlwollende, unterstützende Eingriffe werden akzeptiert. Die Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken zu Kontrollzwecken, insbesondere durch Personen, zu denen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, wird als Missbrauch empfunden. Das führt zu der Frage, ob junge Menschen Jugendarbeiter(inne)n eine ähnlich autoritäre Rolle zuschreiben wie Eltern und Lehrkräften. Die obigen Strukturmerkmale weisen darauf hin, dass die ausserschulische Kinder- und Jugendarbeit geprägt ist von flachen Hierarchien und Machtarmut. Entspricht dies auch der Wahrnehmung durch die jungen Menschen? Wie Kruse in ihrer Dissertation zu mädchengerechten Konzepten der Offenen Jugendarbeit herausgefunden hat, sehen die befragten Mädchen (elf bis 20 Jahre) in den Jugendarbeiterinnen weniger eine Mutter als eine erwachsenen Freundin. «Im Grunde suchen sie die Vertrautheit, die sie mit ihren Freundinnen erleben, auch mit der Pädagogin. Sie möchten eine erwachsene Freundin, die sie aufgrund ihrer Lebenserfahrung beraten kann» (Kruse 2002, 288). Die Abgrenzung zur Mutterrolle wird in dem Zitat eines Mädchens deutlich: «Sie ist ja nicht unsere Mutter, sie kann irgendwie nicht mit uns schimpfen, ja» (Kruse 2002, 289). Die Sanktionen der Jugendarbeiterinnen werden von den Mädchen nicht als mit elterlichen und schulischen Sanktionen gleichwertig bewertet. Es zeigt sich, dass die Faktoren, die im (hoch-)schulischen Kontext eher zu Ablehnung führen, in der ausserschulischen Kinder- und Jugendarbeit weniger ausgeprägt sind, so dass im Umkehrschluss die positiven Faktoren stärker ins Gewicht fallen. 5 Soziale Onlinenetzwerke sind keine Jugendräume - aber ausgehandelte Regeln sind wichtig Soziale Onlinenetzwerke und vor allem Facebook sind im Gegensatz zu den VZ-Netzwerken keine Jugendräume mehr. Die pädagogische Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken wird aber kritisch gesehen. Nicht nur von administrativer Seite, auch die jungen Menschen finden Regeln für die Interaktion mit pädagogischen Fachkräften zum beiderseitigen Schutz wichtig. Durch die besondere Struktur der Kinder- und Jugendarbeit bietet sich für diese die Gelegenheit, gemeinsam mit den jungen Menschen Richtlinien für die gemeinsame Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken zu entwickeln. Dies gilt – unter anderen strukturellen Bedingungen – in gewissem Masse auch für den schulischen Kontext. Den Auftrag der Kinder- und Jugendarbeit, sich parteiisch für die Interessen der jungen Menschen einzusetzen, könnte man in diesem Fall folgendermassen verstehen: Die Stimme der jungen Menschen stark machen und sich für die Aufhebung von generellen Verboten zugunsten gemeinsam mit allen Akteuren entwickelter Leitlinien einsetzen. 2Die Perspektive der Eltern ist vor allem vor dem Hintergrund einer Studie von HRInfo und der TU Darmstadt ein wichtiger zu berücksichtigender Faktor. Die Studie zeigt, dass 53% der Eltern gegen die Nutzung von Facebook für schulische Zwecke sind (hrOnline.de 2014). 3Dies führt auch zu der Frage nach der Verbindlichkeit der Vorgaben für die jeweiligen Akteure. Aus den ministeriellen Vorgaben ist nicht direkt zu erkennen, welche Sanktionen die Nichteinhaltung der Vorgaben, die sowohl Soll-Zustände beschreiben als auch klare Verbote aussprechen, nach sich ziehen. ; Today, pedagogues from a wide variety of fields use social media and especially social network sites in their daily work. As a reaction to data protection concerns and a lack of rules on how to use the network, some German states issued guidelines on the use of social network sites in schools in 2013. These decrees, which differ widely in content, lead to uncertainty in fields and in federal states where no specifications exist. On the one hand, this article is intended to provide orientation by focusing on the perspective of young people. It answers the question of what young people think about their youth workers and teachers being on social network sites and what interaction behaviour is perceived as (in)appropriate. To this end, the findings of various studies will be processed and summarised and finally transferred to the field of youth work. This also should encourage readers to develop rules of conduct together with the young people. Last but not least, thie paper can also be used as a pedagogical argumentation for use of social network sites in pedagogical fields.
Der Band enthält Reden, Referate und Arbeitsberichte des 11. Kongresses der Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (Saarbrücken, 1988). Andernorts veröffentlichte Kongressbeiträge werden am Ende der Publikation nachgewiesen. Die Beiträge sind thematisch in drei Blöcke gegliedert: - Institutionsübergreifende Fragestellungen - Schule und Lehrerbildung - Außerschulische Erziehung und Bildung. (IAB)
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Der IQB-Bildungstrend zeigt: Innerhalb von sieben Jahren ist die Deutschkompetenz von Neuntklässlern auf den Stand abgerutscht, den 2015 Siebt- und Achtklässler hatten. Dafür gibt es viel mehr Jugendliche, die richtig gut Englisch können – trotz der Corona-Schulschließungen. IQB-Direktorin Petra Stanat über die Suche nach den Ursachen – und die Gestaltungsaufgaben der Bildungspolitik.
Petra Stanat ist Psychologin, Bildungsforscherin und seit 2010 Direktorin des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). Foto: IQB Berlin.
Frau Stanat, nach 2009 und 2015 hat das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) zum dritten Mal im Auftrag der Kultusminister die sprachlichen Kompetenzen der Neuntklässler in Deutschland überprüft. Jetzt liegen sie vor, die Ergebnisse des "IQB-Bildungstrends 2022". Sind irgendwelche Überraschungen dabei?
Für mich persönlich zum Teil schon. Ich hatte zwar erwartet, dass es wie im vergangenen Jahr im IQB-Bildungstrend für die Grundschulen auch in der neunten Jahrgangsstufe einen Rückgang in den erreichten Kompetenzen geben würde, allein schon wegen des Ausfalls von Präsenzunterricht und anderen Einschränkungen während der Corona-Zeit. In Deutsch mussten wir diesen
Rückgang jetzt tatsächlich auch feststellen, und zwar in allen drei untersuchten Kompetenzbereichen Lesen, Orthografie und Zuhören. Womit ich aber nicht gerechnet hatte: dass er in Deutsch derart heftig ausfällt. Und was mich noch mehr überrascht hat: dass die Schülerinnen und Schüler fast spiegelbildlich in Englisch so stark zulegen würden, sogar ebenso stark wie zwischen 2009 und 2015, als wir keine Pandemie hatten. Das ist ein bemerkenswerter Befund.
"Ein Lernrückstand zwischen einem und zwei Schuljahren im Vergleich zu 2015."
Wie heftig ging es denn runter in Deutsch und wie kräftig nach oben in Englisch?
In Deutsch beträgt der Rückgang zwischen den Jahren 2015 und 2022 im Lesen 25 Kompetenzpunkte, in der Orthografie 31 Punkte und im Zuhören sogar 44 Punkte. Wenn man das in Unterrichtzeit umrechnet, was allerdings in der Sekundarstufe schwierig ist, entspricht das je nach Kompetenzbereich einem Lernrückstand zwischen einem und zwei Schuljahren im Vergleich zu 2015.
Nur zur Klärung: Das heißt, heutige Neuntklässler sind in Deutsch auf dem Stand, den 2015 Siebt- oder Achtklässler hatten?
Wie gesagt: Diese Umrechnung ist aus verschiedenen Gründen nicht exakt, deshalb sollte man sie nicht allzu wörtlich nehmen, aber richtig ist in jedem Fall: Wir sprechen von einer massiven Verschlechterung der Ergebnisse in Deutsch. Umgekehrt erreichten die Schülerinnen und Schüler in Englisch im Leseverstehen im Schnitt 22 Punkte und im Hörverstehen 23 Punkte mehr, was wiederum etwa der Lernzeit von einem halben Schuljahr gleichkommt. Auch das ist erstaunlich viel. >>>
Stichproben, Risikogruppen und Länder-Unterschiede: die IQB-Ergebnisse in der Zusammenfassung
Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends basieren auf repräsentativen Stichproben in allen 16 Bundesländern, die insgesamt mehr als 35.000 Neuntklässler umfassten. Untersucht wurden 2022 die Kompetenzen in Deutsch, Englisch und (in einzelnen Bundesländern) Französisch, die Testaufgaben orientierten sich an den KMK-Bildungsstandards.
In Deutsch verfehlten im Kompetenzbereich Lesen fast 33 Prozent aller Schüler den Mindeststandard, der als Untergrenze für den Mittleren Schulabschluss (MSA) angesetzt wird, im Zuhören 34 Prozent und in der Rechtschreibung 22 Prozent, jeweils ein massiver Anstieg gegenüber der letzten Messung von 2015. Auch die durchschnittlichen Kompetenzen aller Neuntklässler rutschten ab, je nach Bereich um 25 bis 44 Punkte, was laut IQB-Direktorin Stanat grob dem Stoff von ein bis zwei Schuljahren entspricht. Der Rückgang betraf in unterschiedlicher Stärke fast durchgängig alle Bundesländer.
Genau umgekehrt verlief die Entwicklung in Englisch. Im Leseverstehen ging es im Vergleich zu 2015 um 22, im Hörverstehen um 23 Kompetenzpunkte hoch, wobei fast alle Länder einen positiven Trend verzeichneten. Damit setzt sich die seit 2009 beobachtete Aufwärtsbewegung fort.
Allerdings wurde die Risikogruppe derjenigen Schüler, die die Mindeststandards verfehlen, nicht in gleichem Maß kleiner, was laut IQB darauf hinweist, dass die Kompetenzsteigerung besonders bei den mittelguten und den leistungsstarken Schülern stattgefunden hat. Immer noch liegen 24 Prozent der Neuntklässler unterhalb der MSA-Mindestanforderungen für Englisch im Leseverstehen und 14 Prozent im
Hörverstehen. Immerhin: Legt man die geringeren Mindeststandards für den Ersten Schulabschluss (ESA, früher Hauptschulabschluss) an, verfehlen diese beim Lesen weniger als neun und beim Hörverstehen weniger als zwei Prozent aller Schüler.
Am besten fielen die Deutsch-Ergebnisse erneut in Bayern und Sachsen aus, die Risikogruppen waren auch in Sachsen-Anhalt sowie teilweise in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen vergleichsweise klein. Besonders schwach schnitten laut IQB nahezu durchgängig Berlin, Bremen und Nordrhein-Westfalen ab. Erfreulich: In Englisch gelingt es den meisten Ländern, den Anteil der Schüler unterhalb der ESA-Mindeststandards auf dem deutschen Durchschnittsniveau zu halten. Im Schnitt besonders gute Ergebnisse erreichen die Neuntklässler in Bayern und Hamburg sowie in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein. Auffällig ist, dass in Englisch wie schon 2015 die ostdeutschen Bundesländer gegenüber dem Westen schlechter da stehen als der Westen.
In der Gesamtbetrachtung beider Fächer liegen neben Bayern die Länder Baden-Württemberg und Hamburg jeweils in mehreren Kompetenzbereichen statistisch signifikant über dem Bundesdurchschnitt.
Eine gute Nachricht noch am Ende: Angesichts der aktuell sehr negativ geprägten Diskussion über den Lehrerberuf, sagt IQB-Direktorin Stanat, "hat mich der Befund erfreut, dass mehr als 70 Prozent der Lehrkräfte sagen, dass sie sehr zufrieden mit ihrer Berufswahl sind." Politik, Gesellschaft und gerade auch die Lehrerverbände müssten aufpassen, dass sie den Beruf nicht systematisch schlecht redeten, warnt Stanat.
>>> Sie geben beim Bildungstrend zusätzlich den Anteil der Schülerinnen und Schüler an, die die Mindeststandards verfehlen. Was genau bedeutet das?
Die Kultusministerkonferenz hat auf Grundlage der Bildungsstandards auch festgelegt, was Kinder und Jugendliche in bestimmten Klassenstufen mindestens können sollten in Deutsch, Englisch und anderen Fächern. Also im Sinne einer Untergrenze, die von allen erreicht werden sollte, um erfolgreiches Weiterlernen und Teilhabe zu ermöglichen. Dabei wird nach dem angestrebten Schulabschluss unterschieden. Das absolute Minimum ist der Mindeststandard für den früheren Hauptschulabschluss, der heute als Erster Schulabschluss bezeichnet wird. Den sollten wirklich alle erreichen.
Wer diesen Mindeststandard nicht beherrscht, kann nicht richtig lesen, rechnen oder schreiben?
Vereinfacht kann man das so sagen. Zumindest wird ohne das Beherrschen der Mindeststandards ein erfolgreicher Übergang in eine Berufsausbildung und gesellschaftliche Teilhabe deutlich erschwert sein. Und wir sehen, dass je nach Kompetenzbereich in Deutsch acht bis 18 Prozent der Jugendlichen dieses Minimum nicht mehr erreichen. Legen wir die höheren, aber immer noch sehr moderaten Mindeststandards für den Mittleren Schulabschluss an, verfehlen diese im Lesen und Zuhören inzwischen ein Drittel der Neuntklässler in Deutschland. In der Orthografie ist es gut ein Fünftel. Da inzwischen sehr viele Berufe den mittleren Schulabschluss erfordern, ist auch diese Gruppe zu groß und im Vergleich zu 2015 stark gewachsen: je nach Kompetenzbereich und Abschlussart um vier bis 16 Prozentpunkte – wobei die Leistungen im Zuhören besonders kräftig abgefallen sind, das war schon im Bildungstrend für die Grundschule der Fall.
"Deutlich mehr Jugendliche,
die richtig gut Englisch können."
Geben Sie bitte ein konkretes Beispiel für eine Aufgabe, die ich richtig beantworten muss, um den Mindeststandard für den Ersten Schulabschluss zu erfüllen.
Zum Beispiel lesen die Jugendlichen einen 70 Wörter umfassenden Text über die Seidenstraße, in dem wörtlich steht, dass es sich um die wichtigste Handelsroute zwischen Asien und Europa handelte. Dennoch wird zur Frage, "Was war die Seidenstraße laut Text?" nicht mit hoher Sicherheit die Antwortalternative "ein Handelsweg zwischen Asien und Europa" angekreuzt. Oder bei einer Korrekturaufgabe zur Orthografie wird in dem Satz "Das rote Auto hate das Kennzeichen MM-NB 612" nicht mit hoher Sicherheit das Wort "hate" korrigiert.
Sehen wir wenigstens umgekehrt, dass die Risikogruppen in Englisch kleiner geworden sind?
Sie sind zumindest nicht größer geworden. Die Kompetenzverbesserungen, die wir insgesamt beobachten, sind vor allem im mittleren und oberen Leistungsbereich festzustellen. Diejenigen Jugendlichen, die den Mittleren Abschluss anstreben, erreichen zu deutlich höheren Anteilen die Regelstandards und sogar die sogenannten Optimalstandards, hier sehen wir einen Anstieg in den Prozentwerten um zehn bis 14 Prozentpunkte. Anders formuliert: Im Vergleich zu 2015 gibt es heute deutlich mehr Jugendliche, die richtig gut Englisch können.
"Der Trend in Deutsch zeigt auch bei den nicht zugewanderten Jugendlichen nach unten. Es ist in der aktuellen Debatte sehr wichtig, das festzuhalten."
So erfreulich die Entwicklung in Englisch ist: Die Bildungsdebatte der nächsten Tage wird sich vermutlich um die dramatisch schlechteren Ergebnisse in Deutsch drehen. Die Kultusminister könnten sagen, schuld sei nicht die Bildungspolitik, sondern verantwortlich seien die Corona-Schulschließungen und die Flüchtlingsströme seit 2015.
Da ist ja bestimmt auch etwas dran, nur wissen wir nicht, welchen Einfluss genau Corona hatte, das können wir nicht messen. Dafür, dass die Pandemie eine erhebliche Rolle gespielt hat, spricht jedoch, dass wir in praktisch allen Bundesländern unabhängig von ihrer Ausgangslage eine deutlich negative Entwicklung beobachten. Gleichzeitig erzielten neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler erneut signifikant schwächere Ergebnisse als der Durchschnitt, und der Anteil dieser Schülerinnen an der Gesamtschülerschaft in Deutschland ist seit 2015 um fünf Prozentpunkte auf insgesamt neun Prozent gestiegen. Wahr ist aber auch: Selbst wenn wir statistisch so tun, als hätte sich die Zusammensetzung der Schülerschaft seit damals nicht verändert, zeigt der Trend trotzdem eindeutig nach unten. Und auch bei den Jugendlichen ohne Zuwanderungshintergrund sehen wir in Deutsch einen Kompetenzrückgang, wenn auch weniger stark. Es ist in der aktuellen Debatte sehr wichtig, das festzuhalten.
Wirkt sich hier der vielerorts extreme Lehrkräftemangel aus?
Das können wir anhand unserer Daten nicht untersuchen. Eigentlich wollten wir uns ansehen, ob Schülerinnen und Schüler, die von nicht traditionell ausgebildeten Lehrkräften unterrichtet werden, weniger gute Ergebnisse erzielen. Aber diese Auswertung ist daran gescheitert, dass die Gruppe der Quer- und Seiteneinsteigenden in den sprachlichen Fächern immer noch vergleichsweise klein ist: Von den etwa 1250 befragten Lehrkräften in unserer Studie betrifft das nur 40 Deutsch- und 59 Englischlehrkräfte. Der Anteil der Berufsanfänger, die ohne reguläres Lehramtsstudium unterrichten, steigt zwar, aber auf die Ergebnisse des Bildungstrends 2022 dürfte sich das kaum ausgewirkt haben.
Eben sagten Sie, die durchschnittlichen Kompetenzen seien in praktisch allen Bundesländern gesunken, aber es gibt schon noch deutliche Unterschiede, oder?
In der Tat kann man einige Länder herausheben. Hamburg zum Beispiel, das sich in den vergangenen 13 Jahren sukzessive hochgearbeitet hat, 2009 noch zu den Schlusslichtern zählte und jetzt in Deutsch im Mittelfeld liegt, in Englisch teilweise mit an der Spitze. Und das bei einem sehr hohen Anteil an Einwandererkindern wohlgemerkt. Erstaunlich finde ich auch, dass in Baden-Württemberg in mehreren Kompetenzbereichen wieder etwas bessere Ergebnisse erzielt werden als in Deutschland insgesamt. Auf die enttäuschenden Ergebnisse früherer Bildungstrends hat dieses Land strategisch reagiert, und vielleicht zeichnet sich hier schon eine Trendwende ab. Das lässt sich jetzt aber noch nicht mit Sicherheit sagen.
"Die Dynamik in Baden-Württemberg hat mich beeindruckt. Sogar der Ministerpräsident hat sich intensiv mit den Ergebnissen beschäftigt."
Baden-Württembergs damalige Kultusministerin Susanne Eisenmann hatte die Losung ausgegeben, von Hamburg lernen zu wollen.
Eine genaue Ursache-Wirkungs-Analyse kann ich Ihnen leider nicht bieten, nur einen Eindruck: Nach Veröffentlichung des Bildungstrends 2015 bin ich sehr oft nach Baden-Württemberg eingeladen worden, und es fanden dort viele bildungspolitische Diskussionen statt, unter Beteiligung von Politik, Administration, Schulpraxis, Bildungsforschung und Verbänden. Sogar der Ministerpräsident hat sich intensiv mit den Ergebnissen beschäftigt. Man war sich einig, dass etwas passieren muss. Diese Dynamik, die unter anderem in der Gründung von zwei Instituten mündete, die Bildungsprozesse wissenschaftlich fundiert unterstützen sollen und sehr überzeugende Arbeit leisten, hat mich beeindruckt.
Beeindruckend ist allerdings auch, wie sich Länder wie Bayern oder Sachsen von Mal zu Mal weit vorn halten. Wie ist das zu erklären?
Diese Frage stellt sich bei jedem Bildungstrend, und ehrlich gestanden habe ich darauf immer noch keine guten Antworten. Ein Faktor ist sicher, dass der Anteil zugewanderter Schülerinnen und Schüler in diesen Ländern geringer ist als in vielen der anderen Länder, vor allem in Sachsen. Das sieht man ansatzweise in Analysen, in denen wir statistisch so tun als wäre die Schülerschaft in allen Ländern so zusammengesetzt wie in Deutschland insgesamt, bezogen auf den sozioökonomischen und den zuwanderungsbezogenen Hintergrund. Dann schrumpft der Vorsprung in den erreichten Kompetenzen für Sachsen und Bayern etwas, er verschwindet aber keineswegs. Es müssen also weitere Faktoren eine Rolle spielen. Vielleicht ein besonders ausgeprägter Konsens darüber, dass Lernerfolg in grundlegenden Kompetenzbereichen wirklich zentral ist und auf sich abzeichnende Probleme reagiert werden muss. Und in Bayern hatte ich immer wieder den Eindruck, dass einmal getroffene bildungspolitische Entscheidungen von einer gut funktionierenden Bildungsverwaltung umgesetzt werden und in der Praxis auch ankommen. Wenn die bildungspolitischen Entscheidungen fundiert und zielführend sind, ist das natürlich von Vorteil. Aber das sind wirklich nur Spekulationen, die auf subjektiven Eindrücken und Gesprächen basieren.
Sie haben den Einfluss der Corona-Pandemie auf den Schulbetrieb erwähnt, den teilweise viele Wochen langen Distanzunterricht zum Beispiel. Wie kann es sein, dass der in Deutsch offenbar zum Absturz beigetragen hat – in Englisch die Leistungen aber hochgegangen sind, als sei nichts passiert?
Der Anstieg der Kompetenzen war im Zeitraum von 2015 bis 2022, in dem die Corona-Pandemie lag, sogar genauso groß wie von 2009 bis 2015. Auch hier kann ich im Moment nur spekulieren, weil wir uns in Ruhe anschauen müssen, wie sich die Sprachnutzung bei außerschulischen Aktivitäten verändert hat. Denn die Annahme liegt ja nahe, dass die Schülerinnen und Schüler auf Englisch Videos und Serien anschauen, Computerspiele spielen und im Internet unterwegs sind. Und genau diese Aktivitäten dürften während der Pandemie zugenommen haben. Das könnte mit dazu beigetragen haben, dass die Schülerinnen und Schüler in diesem Zeitraum ihre englischsprachigen Kompetenzen weiter gesteigert haben.
"Guter Englischunterricht schafft die Voraussetzungen, dass die Schülerinnen und Schüler von ihrer Internetnutzung profitieren können."
Das klingt so, als sei die Zeit mit Videogucken oder Daddeln besser angelegt gewesen als mit Schulunterricht?
Das wäre sicher übertrieben. Denn natürlich braucht man einen guten Englischunterricht, der die Grundlagen dafür schafft, dass Schülerinnen und Schüler von der Internetnutzung und anderen Aktivitäten auf Englisch profitieren können. Der Englischunterricht ist heute viel kompetenzorientierter als früher. Übrigens zeigt sich in einer unserer Analysen, dass Unterricht, der fachfremd, also nicht von einer Englischlehrkraft erteilt wird, mit einem niedrigeren Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler einhergeht. Ein weiteres Indiz dafür, dass guter Englischunterricht wichtig ist.
Aber auch nach Ihrer Ehrenrettung des schulischen Englischunterrichts bleibt festzuhalten: Die Behauptung, viel Zeit online wirke sich automatisch negativ auf die Schulnoten aus, ist vermutlich falsch.
Eine Fremdsprache lernt man durch ihre Nutzung – so, wie man Lesen durch Lesen lernt. Und weil die Schülerinnen und Schüler unter anderem online erleben, wie wichtig gute Englischkenntnisse sind, wie viele neue Inhalte sie sich mit Englisch erschließen können, dürfte das ihre Motivation gewaltig steigern. Hierin liegt ein weiterer großer Unterschied zum Deutschunterricht, für den wir eine vergleichsweise niedrige Lernmotivation bei den Neuntklässlern finden – das Fach kann offenbar nur wenige Jugendliche für sich begeistern. Das Interesse am Englischunterricht ist viel höher ausgeprägt.
Vorhin haben Sie darauf hingewiesen, dass eingewanderte Kinder deutlich schwächere Kompetenzen erreichen als der Durchschnitt. Deutschland gilt insgesamt als ein Land, in dem die soziale Herkunft stark über den Bildungserfolg entscheidet. Spiegelt sich das auch im IQB-Bildungstrend 2022 wider?
Leider ja. Die Disparitäten haben weiter zugenommen. Die negative Entwicklung im Fach Deutsch ist bei sozioökonomisch benachteiligten Jugendlichen im Schnitt stärker ausgefallen, auch der Rückstand der neu eingewanderten Schülerinnen und Schüler hat sich vergrößert. In Englisch wiederum haben Jugendliche aus sozioökonomisch besser gestellten Elternhäusern besonders stark zugelegt, die soziale Schere geht also auch hier weiter auf. Aber ein erfreuliches Ergebnis möchte ich noch erwähnen: Jugendliche, die zu Hause nicht immer Deutsch sprechen, haben zwar Nachteile in Deutsch, aber Vorteile in Englisch. Dies bestätigt, dass sich Mehrsprachigkeit auf den Erwerb weiterer Sprachen positiv auswirken kann – der Zusammenhang hat sich auch schon in früheren Studien gezeigt.
Insgesamt aber gilt: Deutschland entfernt sich weiter vom Ziel, mehr Bildungsgerechtigkeit zu schaffen – obwohl die Bildungspolitik seit vielen Jahren das Gegenteil beschwört?
So ist es.
"Besteht tatsächlich bei allen Akteuren
Einigkeit darüber, dass es brennt?"
Bildungspolitik und Öffentlichkeit werden angesichts der Ergebnisse natürlich wissen wollen, was zu tun ist. Wie lautet Ihre Antwort?
Zunächst müssen sich alle Akteure im Bildungssystem darüber einig sein, dass diese grundlegenden Kompetenzen wirklich grundlegend sind und dass wir alles dafür tun müssen, damit die Mindeststandards erreicht und gesichert werden.
Haben wir den Konsens nicht längst?
Einen gesellschaftlichen Konsens darüber, dass Lesen, Schreiben, Mathematik wichtig sind, haben wir schon, denke ich. Auch die alten Debatten, in denen die Förderung dieser Kompetenzen und die Entwicklung sozialer Kompetenzen als Gegensatz darstellt wurden, haben wir zum Glück weitgehend hinter uns gelassen. Genauso wie die Stimmen, die Kompetenzmessungen und Sicherung von Standards als überzogenen Leistungsdruck betrachtet haben. Aber besteht tatsächlich bei allen Akteuren Einigkeit darüber, dass es brennt und wir trotz schwieriger Rahmenbedingungen dringend dafür sorgen müssen, dass wirklich alle Kinder und Jugendlichen die grundlegenden Kompetenzen erwerben, die sie benötigen, um sich gut weiterentwickeln zu können? Da bin ich mir nicht sicher.
Wie erreichen wir diese Einigkeit?
Dazu ist es unter anderem erforderlich, dass regelmäßig geschaut wird, wie sich die Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen entwickeln, inwieweit sie besondere Förderung benötigen und ob die Förderung gegriffen hat. Stichwort "Kultur des Hinschauens" durch datengestützte Unterrichtsentwicklung, die selbstverständlicher Bestandteil von Professionalität werden muss. Das hat ein Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK jüngst für die Grundschule beschrieben. Oder nehmen Sie die frühkindliche Sprachförderung, die schon so lange Thema ist. Hier hat sich zwar schon einiges getan, aber von einer systematischen Umsetzung in der Fläche sind wir noch weit entfernt. Und wir müssen uns dringend mit der Frage beschäftigen, wie die Sprachförderung für Kinder und Jugendliche zu gestalten ist, die mit geringen Deutschkenntnissen ins System kommen. Hier ist in den vergangenen Jahren nach den großen Fluchtbewegungen ad hoc viel geleistet worden, aber wir werden ja weiter Zuwanderung haben und müssen diese Förderung jetzt systematischer aufsetzen und begleiten. Alles anspruchsvolle Entwicklungen, die natürlich Zeit brauchen. Aber die Ergebnisse des Bildungstrends zeigen erneut, dass wir dringend vorankommen müssen.
Bund und Länder werden auf das geplante "Startchancen"-Programm verweisen als ihren Beitrag zur Lösung der Probleme.
Das "Startchancen"-Programm ist dann eine Chance, wenn es wirklich fokussiert wird auf die evidenzbasierte Förderung grundlegender Kompetenzen in Deutsch und Mathematik. Dafür müssen Bund und Länder bei ihrer Ankündigung bleiben, die "Startchancen" wissenschaftlich begleiten und evaluieren zu lassen. Denn eines darf nicht passieren: dass das Programm in Maßnahmen zerfasert, für die es keinen soliden Grund zur Annahme gibt, dass sie wirken.
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