Wahlen und Wahlsystem
In: Politische Theorie und Regierungslehre: eine Einführung in die politikwissenschaftliche Institutionenforschung, S. 219-238
Wahlsysteme und Wahlverhalten werden im Artikel getrennt voneinander behandelt. Diese Trennung reflektiert die Tatsache, dass die Wahlsystemforschung und die Wahlsoziologie bislang nur lose miteinander verkoppelt waren. Die Wahlsystemforschung beschäftigte sich schwerpunktmäßig mit den mechanischen Effekten des Wahlsystems auf die Struktur des Parteiensystems. Bei den in ihrem Rahmen durchgeführten empirischen Analysen handelte es sich demzufolge in der Regel um reine Aggregatanalysen ohne Berücksichtigung der Mikroebene des einzelnen Wählers. Die Wahlsoziologie hingegen unterstellt das Wahlsystem häufig als exogen gegebene Variable, die dem individuellen Wahlverhalten Restriktionen auferlegt, ohne aber systematisch den psychologischen Effekten des Wahlsystems auf das individuelle Wählerverhalten nachzugehen. Im Rahmen von wahlsoziologischen Analysen, die sich auf ein einziges Land beschränken, ist dies auch gar nicht möglich, da in diesem Fall auf der Makroebene keine Varianz der Institutionenordnung existiert. Bei den im Rahmen der Wahlsoziologie vorgenommenen Analysen handelt es sich folglich in der Regel um reine Individualanalysen ohne adäquate Berücksichtigung der Makroebene des Wahlsystems. Eines der wichtigsten Desiderata der Wahlforschung besteht vor diesem Hintergrund darin, die wechselseitige Abschottung der beiden in diesem Aufsatz beschriebenen Forschungsfelder zu überwinden. Wenn die Wirkung von Wahlsystemen in hohem Maße kontextabhängig ist und einer der wichtigsten der hierbei relevanten Kontextfaktoren das Wählerverhalten ist, dann kann die Wirkung von Wahlsystemen nur angemessen unter Berücksichtigung des individuellen Wahlverhaltens untersucht werden. Umgekehrt legt das Wahlsystem dem individuellen Wahlverhalten Restriktionen auf, die in der Wahlforschung bisher nur unsystematisch und kasuistisch untersucht wurden. Hier wäre eine sowohl theoretisch als auch methodisch-statistisch angemessene Berücksichtigung der psychologischen Effekte von Wahlsystemen notwendig. Die stärkere Verschränkung der auf die Makroebene bezogenen Wahlsystemforschung und der auf der Mikroebene des einzelnen Wählers operierenden Wahlsoziologie ist in forschungspraktischer Hinsicht allerdings nicht voraussetzungsfrei. Sie erfordert zum einen die Existenz einer Vielzahl international standardisierter Wahlstudien, da ansonsten auf der Makroebene keine hinreichende institutionelle Variation zur Verfugung steht, die mit dem individuellen Wählerverhalten in Beziehung gesetzt werden kann. Darüber hinaus müssen komplexe statistische Analyseverfahren existieren, die Variablen unterschiedlicher Aggregationsstufen sinnvoll miteinander in Beziehung setzen können. Beide Bedingungen können mittlerweile aber als gegeben betrachtet werden: Mit der "Comparative Study of Electoral Systems (CSES)" stehen die erforderlichen international vergleichenden Daten zur Verfügung und mit dem Verfahren der Mehrebenenanalyse seit längerem auch das notwendige statistische Instrumentarium für deren adäquate Auswertung. Der wissenschaftliche Fortschritt innerhalb der Wahlforschung, die methodologisch sicherlich eine der am weitesten entwickelten Teildisziplinen der Politikwissenschaft darstellt, erweist sich damit einmal mehr als abhängig von der Verfügbarkeit angemessener Daten und komplexer Analyseverfahren. (ICG)