Die Wirklichkeit der Erfahrung: Erfahrung der Wirklichkeit: Über den österreichischen Autor Gernot Wolfgruber
In: Frankfurter Hefte: Zeitschrift für Kultur und Politik, Band 33, Heft 8, S. 52-61
ISSN: 0015-9999
Gernot Wolfgruber lebt, mit Frau und einer zehnjährigen Tochter, in Wien, als sogenannter "freier" Schriftsteller. Das Haus mit der prächtigen Fassade der Gründerzeit ist eine Mietskaserne, "bourgeois verkleidet, ohne Heizung, eine kleine Wohnung neben der anderen": die glatte Lüge hinter der glänzenden Oberfläche. Ist das beispielhaft für Wien, für Österreich? Und gibt es eine österreichische Literatur? Der Autor möchte Zweifel anmelden an der Vorstellung, die österreichische Literatur sei ein eingegrenzter Bereich der deutschen Sprache, denn der Österreicher hat ein gebrochenes, distanziertes Verhältnis zur Schriftsprache, der Sprache der Literatur. Es wird anders gedacht als gesprochen. Die Reduktion von Unmittelbarkeit und Sinnlichkeit schafft Problematik. Die "verbindliche Unverbindlichkeit" schafft Sprachmuster, die für die österreichische Literatur ein doppelt gebrochenes Verhältnis zu ihrer Sprache bedeuten. Wo liegen die Ursachen? "Wien" läßt sich als Inbegriff einer Verkehrsform deuten, deren ökonomische Voraussetzungen geschwunden sind. In marxistischer Theorie ließe sich diese Ungleichzeitigkeit - Österreich als Provinz - mit der widersprüchlichen Entwicklungslogik des Kapitalverwertungsprozesses erklären, die in Sprache und Erfahrung sich niederschlägt. Die quantitativ und qualitativ beachtliche Literatur mit Autoren wie Handke, Bauer, Frischmuth, Scharang thematisiert literarisch den Zusammenhang von gesellschaftlicher Sprachform, Denkform und Handlungsform, den Wittgenstein mit seinem Begriff des "Sprachspiels" als Lebensform hergestellt hat. Die "Grazer" reflektierten auf Sprachmuster und -strategien als Erscheinungsform der gesellschaftlichen Beherrschung und Indoktrinierung, auf Sprache als Herrschaftsform, in der Gefahr, Sprache und Wirklichkeit gleichzusetzen. Gewissermaßen als Korrektiv läßt sich eine Art von neuem österreichischem Realismus ausmachen. Prototyp dieses Realismus ist Wolfgruber. Für W. ist Selbsterfahrung die Realitätserfahrung des Arbeiters, der seine Identität durchhält und für Arbeiter schreibt, in sinnlicher Unmittelbarkeit. Seine autobiographischen Romane, exakt nach dem Muster des bürgerlichen Bildungsromans konstruiert, sind Antiromane und lassen die Widersprüchlichkeit der Alltagserfahrung der österreichischen Provinz erkennen. Indem seine Sprache die sinnliche Erfahrung der Wirklichkeit nachzeichnet macht sie deutlich, daß die Differenz zwischen deutscher und österreichischer Literatur auf der Ungleichzeitigkeit von Wahrnehmung beruht. (RR)