Robert K. Merton begründete in den 1930 und 40er Jahren die Wissenschaftssoziologie mit seinen Untersuchungen über die Entwicklung der Wissenschaft im England des 17. Jahrhunderts und ihren wechselseitigen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen, speziell dem Puritanismus. Wissenschaft wird durch diesen Forschungsansatz als Institution bzw. als Organisation erstmals Untersuchungen durch die Sozialwissenschaften zugänglich. Aus diesem Verständnis von Wissenschaft heraus entwickelt Merton seine Imperative des wissenschaftlichen Ethos: Universalität, Kommunismus, Uneigennützigkeit und organisierter Skeptizismus. Die Wissenschaftssoziologie der Nachkriegszeit wird vor allen Dingen von immer neuen Angriffen auf diesen Ethos und Vereinnahmungsversuchen der Wissenschaft durch politische und wirtschaftliche Interessen geprägt. Die Technokratiedebatte und der Positivismusstreit in Deutschland, und die Untersuchungen und Streitschriften für wissenschaftliche Unabhängigkeit eines Michael Polanyi oder Jerry Ravetz in der anglo-amerikanischen Soziologie, sind so immer Ausdruck einer grundlegenden und hart geführten Debatte über Erkenntnismöglichkeiten in konkreten sozialen Institutionen. Nicht gestellt wird die Frage nach den Auswirkungen von institutionellem Wandel auf Wissen selbst. Dies ist das entscheidende Forschungsdesiderat, dessen sich die Science and Technology Studies in den 1970er Jahren annehmen: sie überführen die Wissenschaftssoziologie und ihre Untersuchungen von Wissenschaft als Institution in eine Soziologie wissenschaftlichen Wissens und machen damit Wissen selbst zum Untersuchungsgegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung.
Das Verhältnis der Wissenschaft zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt beschäftigt nicht nur die Wissenschaftssoziologie seit geraumer Zeit. Während sich die öffentliche Debatte um das Bild einer im Elfenbeinturm isolierten Wissenschaft dreht, reichen die wissenschaftlichen Kontroversen von der klassischen Gegenüberstellung externalistischer oder internalistischer Perspektiven bis zu den jüngsten Kontroversen um die Frage, ob man heute von fortgesetzter Differenzierung oder nicht viel mehr von Entdifferenzierung sprechen müsste. Der offensichtlichen 'Einbettung' der Wissenschaft in die Gesellschaft stehen Annahmen über ihre 'Entfremdung' von der Gesellschaft gegenüber. Das vorliegende Working Paper skizziert ein Forschungsprogramm, welches sich diesem Grundproblem der Wissenschaftsforschung über den Begriff der Responsivität bzw. über die Idee einer responsiven Wissenschaft nähert. Ausgehend von gesellschaftlichen Großproblemen, die in der heutigen Wissenschaftspolitik eine zunehmend wichtige Rolle spielen, werden neue Möglichkeiten empirischer Forschung aufgezeigt, um die Frage der gesellschaftlichen Einbettung der Wissenschaft präziser zu formulieren und letztlich beantworten zu können. Aufschlussreich ist diese Perspektive, weil die sogenannten 'Grand Challenges' quer stehen sowohl zu konkreten gesellschaftlichen Teilbereichen (wie Politik, Wirtschaft, Recht oder Wissenschaft) als auch zu den (im Folgenden noch zu spezifizierenden) Konstellationen, in denen Wissenschaft und Gesellschaft aufeinandertreffen. Eine wissenschaftssoziologische Perspektive, die gesellschaftlichen Problemen folgt, bekommt insofern die vielfältigen und heterogenen Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft in ihrer Gesamtheit in den Blick.
Tomasz Zarycki ist Direktor des Instituts für Sozialwissenschaftlichen Studien an der Universität Warschau. Seine Publikationstätigkeit fokussiert sich u.a. auf Wissenschaftssoziologie, politische Geografie und Geopolitik. Seinem neusten Buch Ideologies of Eastness in Central and Eastern Europe kommt zugute, dass er in Westeuropa (in den Niederlanden, USA, England, Schweden) und auch in Russland (an der MGIMO) geforscht hat. So geht Zarycki von einer vielschichtigen, in sich widersprüchlichen Situation Zentral- und Osteuropas aus, und er geht multiperspektivisch heran. Diese Studie ist mutig. Das betreffende Gebiet sei ein Opfer der Orientalisierung – im Sinne Edward Saids – von außen, insbesondere seitens Westeuropas. Es produziere aber auch selbst aktiv orientalisierende Diskurse, vor allem gegenüber der Ukraine und Russland. Dadurch sei Polen sowohl in der Opfer- als auch in der Täterrolle zu sehen. Leidenswettbewerbe, kultureller Reduktionismus und kompensatorisches Verhalten treten dabei in all ihrer Paradoxie bis Absurdität hervor. Die Selbstdefinition mittels Verneinung des eigenen ,Ostseins' und die grundsätzliche Ablehnung ,des Ostens' nebenan können nach dieser Lektüre nicht anders als fantasmatische, aber politisch sehr wirksame Denkkonstrukte erscheinen.
Kontroversen um die Biomedizin sind durch normative Unsicherheit geprägt und werden als Wertkonflikte verhandelt. Dies stellt für die Politik eine erhebliche Herausforderung dar. Denn es besteht kein gesellschaftlicher Konsens darüber, was wir (nicht) wissen und tun sollten. Als politische Reaktion können wir eine Institutionalisierung von ethischer Expertise beobachten. In diesem Beitrag wird aus wissenschaftssoziologischer Perspektive Politikberatung durch Ethikkommissionen am Beispiel Österreichs analysiert. Die These lautet, dass die politische Verwertung von Ethik-Expertise deren Subsumtion unter die eigensinnigen Handlungslogiken des Politik-Systems bedeutet („Politisierung von Expertise“). In der politischen Rezeption wird Expertise neu konfiguriert, um eine Übereinstimmung zwischen (divergierenden) ExpertInnenmeinungen und politischen Zielvorstellungen herzustellen. Politisches Lernen lässt sich vor diesem Hintergrund allenfalls als ein strategischer Umgang mit dem ExpertInnendissens beschreiben. Abschließend wird dargestellt, dass die Politisierung von Expertise mit einer Entpolitisierung bioethischer Fragen zusammenhängt.
Forschen und Gestalten sind experimentelle Vorgehensweisen, die darauf ausgerichtet sind, etwas Neues, noch nicht Existierendes hervorzubringen. Sie haben beide Projektcharakter, denn sie führen an einen Nullpunkt des Wissens. Doch welche Strategien und Verfahren sind es, die aus diesem Nichtwissen, diesen Vermutungen und Ideen zu konkreten Ergebnissen führen? ForscherInnen aus 23 Wissenschafts- und Gestaltungsdisziplinen berichten in diesem Band über ihr Experimentieren und geben Einblicke in ihre Praktiken und Versuchsaufbauten. Er bietet damit eine Bestandsaufnahme zeitgenössischer Experimentalkulturen im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Gestaltung und skizziert eine Praxeologie des Experiments. ; Séverine Marguin et al.: Einleitung Hans-Jörg Rheinberger: Etwas über Kulturen des Experimentierens Elke Bippus: Experimentieren im Feld der Kunst als Praxis im Offenen Christiane Sauer: Upscaling Textiles. Experimenteller Materialentwurf im räumlichen Kontext Ignacio Farías, Thomás Sánchez Criado: Experimente mit technischer Demokratie in Entwurfskursen Gunhild Berg: Experimentelle Praktiken in Wissenschaften, Technik und Literatur Einav Katan-Schmid: Playing with Virtual Realities. A Practice-based-Research Experiment in Dancing with Technology Séverine Marguin et al.: Die Experimentalzone. Raumforschung an der Schnittstelle zwischen Gestaltung und Sozialwissenschaft Regine Hengge: Durch den Datendschungel auf der Suche nach Erkenntnis. Experimentieren in der molekularen Mikrobiologie Juliane Haus: Laborexperimente in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungspraxis Norbert Koch et al.: Ein Bericht aus der Physikforschung John A. Nyakatura, Oliver E. Demuth: Virtuelle Experimente zur funktionellen Morphologie der Wirbeltiere Peter Danholt et al.: The experiment assemblage. Transforming healthcare through three versions of the experiment Christian Kassung, Susanne Muth: (Re-)Konstruktion als Experiment. Sehen und Hören in antiker Architektur Lea Moro et al.: Ein Bericht aus der choreografischen Praxis Claudia Müller-Birn, Jesse Josua Benjamin: Zwischen Mensch und Technik. Das Experiment in der Informatik Jörg Petruschat: Von Grund auf. Einige Bemerkungen zum Experimentieren im Design Carolin Höfler: Unwiederholbare Experimente. Entwerfen zwischen Grenzziehung und Überschreitung Kerstin Germer et al.: Ein Bericht aus der interdisziplinären Wissensvermittlung Matthias Staudacher: Mathematische Physik von Raum, Zeit und Materie Kerstin Sailer: Experimente in der Büroraumgestaltung. Konzepte, Herausforderungen und praktische Beispiele aus Sicht der Architektur Reinhard Wendler: The Seductive Trap of Linear Thinking. Skalierungseffekte im Experiment Robert M. Erdbeer: Ludische Intervention. Experiment und Gameplay Claudia Mareis: Entwerfen um 1960. Methodische Objektivität zwischen Kalkül und Intuition Robert Gaschler: Die Psychologie des Experimentierens und das Experiment in der Psychologie
Ziel der Arbeit ist es, Vorstellungen zur Bewertung von Forschungsleistungen am Beispiel der Gesundheitswissenschaften/Public Health zu analysieren, um als weiterführendes Handlungswissen Zusammenhänge und Diskrepanzen aufzuzeigen. Es wird angenommen, daß die Personen, die sich mit der Thematik befassen, ihren Wert- und Wissenskontext voraussetzen, jedoch spätestens bei interdisziplinärer Kommunikation damit auf Irritation, Unverständnis und Widerspruch stoßen. Deshalb ist davon auszugehen, daß diesbezügliche Handlungsnormen und Wertmaßstäbe innerhalb der jeweiligen Bewertungskontexte den Beteiligten sinnvoll erscheinen müssen, Überschneidungen unterschiedlicher Bewertungskontexte jedoch Diskrepanzen aufwerfen können. Die Ausbildung internationaler Scientific Communities, deren Handlungsfelder jedoch gleichermaßen in nationalen Zusammenhängen verankert sind, wirft somit die Frage auf, in welchem Zusammenhang Wertvorstellungen in welcher Form gelten. Wertmaßstäbe können sowohl im politisch-ökonomischen Zusammenhang verankert sein, also im Rahmen nationaler Grenzen, z.B. in Deutschland, als auch im strukturellen Zusammenhang, also im gesellschaftlichen Teilbereich 'Wissenschaft' bzw. 'Scientific Community'. Von diesem Problem sind alle Forschungsleistungen betroffen. Das für die vorliegende Arbeit gewählte Beispiel der Gesundheitswissenschaften/Public Health ist aufgrund der multidisziplinären Konzeption zudem zur Analyse von Diskrepanzen der Wertvorstellungen über Forschungsleistungen innerhalb der Wissenschaft geeignet: Die von den Gesundheitswissenschaften/Public Health betroffenen Kontexte finden sich in Wissenschaft und Gesellschaft, integrieren mehrere Kultur- und Sprachräume, sind auch innerhalb der Wissenschaft nicht disziplinär abgrenzbar und stehen/standen in Deutschland unter relativ hohem Evaluationsdruck.
The changes in the central objects of investigation of communication science pose great challenges for democracy and society. In order to solve these challenges, communication science as an academic research and study discipline must in future be understood and orient itself as a publicly visible communication science if it does not want to disappear into insignificance. This article critically discusses the danger of marginalization of the communication science in the light of developments and challenges in the subject and in the networked and digitalized information society and makes a clear plea to act louder in the public sphere. ; Die Veränderungen der zentralen Untersuchungsgegenstände der Kommunikationswissenschaft stellen Demokratie und Gesellschaft vor große Herausforderungen. Um diese zu lösen, muss sich die Kommunikationswissenschaft als akademische Forschungs- und Studiendisziplin zukünftig als öffentlich sichtbare Kommunikationswissenschaft verstehen und ausrichten, will sie nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Im Lichte aktueller Entwicklungen und vor dem Hintergrund einer vernetzten und digitalisierten Informationsgesellschaftdiskutiert der Beitrag kritisch die Gefahr einer Marginalisierung desFachs und plädiert dafür, als Disziplin 'lauter' zu werden. ; Refereed/Peer-reviewed ; (VLID)5204486
In einer wissenschaftlichen Disziplin, die als angewandte Wissenschaft im kalten Krieg die Überlegenheit des jeweiligen Blocks symbolisch auf dem Felde des Sports ermöglichen und stützen sollte, war es von jeher schwierig, den Grundsätzen des Ethos der Forschung uneinge-schränkt und bedingungslos zu folgen. Diese Erwartungen der sogenannten Praxis an die universitäre Sportwissenschaft erhöhen im Konzert mit den zunehmenden Außensteuerungen der Universität die Chance, dass affirmative Befunde geliefert werden. In diesem Spannungsgeflecht reduziert eine strenge Orientierung an den CUDOS-Normen Mertons (1985) die Chancen auf affirmative Befunde, gleichzeitig aber ist auch die Chance auf innerwissenschaftliche Anerkennung im Verhältnis zu vielen anderen universitären Wissenschaftsdisziplinen reduziert. So existiert Sportwissenschaft in der Deutschen Forschungsgemeinschaft als eigene zu fördernde Disziplin gar nicht. Insofern ist eher die Verwendung der Zeit für den Konsum medialer Anerkennung bzw. der Anerkennung der sportlichen Praxis zu erwarten als vergleichsweise der Konsum von Zeit für die Produktion wissenschaftsinterner Anerkennung. Zwei Gründe begünstigen diesen Sachverhalt. Erstens entwickelt sich die universitäre Wissenschaft so, dass der Konsum externer Anerkennung zunehmend bedeutsamer wird, und zweitens haben Sportwissenschaftler häufig eine gewisse Nähe zum Gegenstand Sport, geraten also in der Balancierung von Nähe und Distanz tendenziell in Richtung Nähe, was wiederum durch die in der Disziplin als angewandter Wissenschaft angelegte Orientierung an der Praxis verstärkt wird.
In einer wissenschaftlichen Disziplin, die als angewandte Wissenschaft im kalten Krieg die Überlegenheit des jeweiligen Blocks symbolisch auf dem Felde des Sports ermöglichen und stützen sollte, war es von jeher schwierig, den Grundsätzen des Ethos der Forschung uneinge-schränkt und bedingungslos zu folgen. Diese Erwartungen der sogenannten Praxis an die universitäre Sportwissenschaft erhöhen im Konzert mit den zunehmenden Außensteuerungen der Universität die Chance, dass affirmative Befunde geliefert werden. In diesem Spannungsgeflecht reduziert eine strenge Orientierung an den CUDOS-Normen Mertons (1985) die Chancen auf affirmative Befunde, gleichzeitig aber ist auch die Chance auf innerwissenschaftliche Anerkennung im Verhältnis zu vielen anderen universitären Wissenschaftsdisziplinen reduziert. So existiert Sportwissenschaft in der Deutschen Forschungsgemeinschaft als eigene zu fördernde Disziplin gar nicht. Insofern ist eher die Verwendung der Zeit für den Konsum medialer Anerkennung bzw. der Anerkennung der sportlichen Praxis zu erwarten als vergleichsweise der Konsum von Zeit für die Produktion wissenschaftsinterner Anerkennung. Zwei Gründe begünstigen diesen Sachverhalt. Erstens entwickelt sich die universitäre Wissenschaft so, dass der Konsum externer Anerkennung zunehmend bedeutsamer wird, und zweitens haben Sportwissenschaftler häufig eine gewisse Nähe zum Gegenstand Sport, geraten also in der Balancierung von Nähe und Distanz tendenziell in Richtung Nähe, was wiederum durch die in der Disziplin als angewandter Wissenschaft angelegte Orientierung an der Praxis verstärkt wird.
Das Verhältnis von soziologischer Theorie und Wissenschaftsforschung erscheint im Rahmen der gängigen Sortierungslogiken der Soziologie zunächst als eines zwischen allgemeiner und spezieller Soziologie. Diskussionen um den Beitrag der Science Studies in der oder für die Soziologie beziehen sich demzufolge auf das generelle Problem, wie die Erforschung eines Teilbereichs für die Erkenntnis von Gesellschaft insgesamt fruchtbar gemacht werden kann. Unterlegt sind dieser Beschreibung in der Regel differenzierungstheoretische Annahmen, mit denen schließlich davor gewarnt werden kann, einen Teilbereich von Gesellschaft absolut zu setzen (vgl. ex. Luhmann 1987: 554, 2009: 98ff.). Mit Rücksicht auf dieses Problem ist es daher sinnvoll, die Fragerichtung ein Stück weit zu verschieben und zunächst nach Einfluss- und Überschneidungspunkten oder Wirkungen der Wissenschaftsforschung auf die soziologische Theorie im Allgemeinen zu fragen. Hiervon ausgehend geht es mir im Folgenden darum, die Frage des Verhältnisses von Wissenschaftsforschung und soziologischer Theorie, die im Zentrum dieser Ad-hoc-Gruppe steht, am Fall zu diskutieren, nämlich an Bruno Latour. Von allen Protagonisten der Science Studies eignet er sich hierfür am besten, weil er die weitreichendsten Konsequenzen aus der Beschäftigung mit den Wissenschaften gezogen hat. In einem ersten Schritt werde ich kurz auf die Entwicklung der Wissenschaftssoziologie seit den 1960er Jahren zu sprechen kommen, um Latours Position hierin situieren und von anderen Positionen abgrenzen zu können. Dadurch wird es möglich sein zentrales Argument zu skizzieren: nämlich dass die soziologische Forschung im Labor selbst zum Problem wird und gezwungen ist, ihre sozialtheoretischen Prämissen zu überdenken. Um den Beitrag Latours im Detail diskutieren zu können und mehrfach formulierten Einwänden zu begegnen, beziehe ich seine Arbeiten anschließend auf die in der soziologischen Theorie verbreitete Unterscheidung von Sozial- und Gesellschaftstheorie. Da die Annahme des Scheiterns der Soziologie im Labor, die sich als Startpunkt seines gesamten Werkes begreifen lässt, auch noch das neue und umfangreiche Projekt der Erforschung von Existenzweisen motiviert, schließe ich mit einer kurzen Schilderung der dortigen Begründung einer Sonderstellung der Wissenschaften in der Moderne, bevor diese Diskussion abschließend mit der Ausgangsfrage zusammengeführt wird. Dabei geht es auch darum, auf eine Kritik an Latour zu antworten, die genau an diesem Fall der Beziehung zwischen Wissenschaftsforschung und soziologischer Theorie ansetzt und behauptet, dass Latour (letztlich in all seinen Arbeiten nach seiner frühen Laborstudie (Latour/Woolgar 1986) aus den 1970er Jahren) zentrale Kategorienfehler begeht, die auf der Ebene der Theorie in Unterkomplexität und auf der Ebene der Politik in eine fatale Expertokratie münden (vgl. Lindemann 2008, 2009a, 2011b). Beide Behauptungen gehen gleichermaßen an Latours Werk vorbei, sind aber nur hinreichend zu adressieren, wenn man die zentralen Argumente in der Beziehung zwischen Wissenschaftsforschung und soziologischer Theorie rekonstruiert.
In dieser Arbeit wird untersucht, ob Wettbewerb in den Wirtschaftswissenschaften existiert. Es besteht ein Monopol der heutigen neoklassischen Modellökonomik, was zu einer geringen Pluralität der wissenschaftlichen Ansätze und Perspektiven führt. Der wissenschaftliche Fortschritt wird behindert und das hat negative Folgen für die Wirtschaft und die Politik. Dies wird an Beispiele aus der Finanzkrise, bibliometrischen Ergebnisse und Fallbeispiele aus bundesdeutschen Hochschulen verdeutlicht. Als Fazit wird eine wissenschaftspolitische Intervention in die Volkswirtschaftslehre für mehr Pluralität gefordert: ein Code of Conduct für ÖkonomInnen, eine Quote für heterodoxe Lehrmeinungen und die Gründung eines Instituts für plurale Ökonomik in der Bundesrepublik.
(…) Weite Teile von Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung folgen gegenwärtig einer kulturell nahezu alternativlosen allgemeinen Evaluationslogik, deren Prämissen, Kontexte und Nebenfolgen weitgehend unhinterfragt bleiben. Wir haben es also nicht nur mit neuen, nämlich hypertechnokratischen Formen einer Politisierung von Wissenschaft zu tun, sondern mit einer gleichzeitigen Entpolitisierung von Wissenschaft, die die politischen Funktionszusammenhänge ihrer Evidenzproduktion nur unzureichend durchschaut. Im Folgenden sollen ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Symptome der gegenwärtigen Entpolitisierung der Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung beleuchtet werden. Dabei beschränke ich mich auf solche Symptome, die sich im Kontext einer "datengetriebenen Steuerung" des Schulsystems beobachten lassen. (DIPF/Orig.)
,Was können Soziolog_innen Nützliches für die Gesellschaft tun?' Es gibt verschiedene Möglichkeiten und Perspektiven auf diese Frage zu antworten. Ich wähle eine gesellschafttheoretische und setzte an bei der Systemtheorie von Niklas Luhmann. ,Etwas Nützliches tun?', dies können Soziolog_innen nicht nur, und vielleicht auch nicht in erster Linie, indem Sie sich als Expert_innen für bestimmte Themenbereiche zu Wort melden und fest strukturiertes Fachwissen zur konkreten Problemlösung anbieten. Folgt man der systemtheoretischen Perspektive von Niklas Luhmann, so erhält man zunächst eher einen ,Überblick' über die ,Gesellschaft' als Ganzes und ihrer Ausdifferenzierung in verschiedene funktionale Teilsysteme (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Kunst, Erziehung, u.a.), sowie deren Autonomie und dann deren dennoch wechselseitiger aufeinander bezogene Angewiesenheit, im Sinne des füreinander Zur – Verfügung- Stellens von Möglichkeitsbedingungen des je eigenen Operierens. Ein derartig abstrakter Blick, lässt die Frage nach der ,Nützlichkeit' soziologischer Reflektion schnell in den Hintergrund treten und man richtet es sich bequem ein im Elfenbeinturm faszinierender akademischer Begriffsspiele. Was man dabei schnell übersehen kann, ist, dass gerade der begrifflichen Abstraktion ein Potential inhärent ist, einen Beitrag für die Bearbeitung konkreter komplexer gesellschaftlicher Probleme zu liefern. In der vorliegenden Dissertation versuche ich, für diese Möglichkeit der Systemtheorie durch Arbeit an den Grundbegriffen quasi eine Vorarbeit zu leisten und mit Hilfe einer Integration pragmatistischer Modelle eine Perspektive zu entwickeln, die in der Lage ist, brückenbildende Kommunikationsprozesse zwischen den (relativ) autonomen Funktionssystemen zunächst theoretisch- begrifflich zu beschreiben. Die Arbeit ist so konzipiert, dass in einem weiteren Schritt im Anschluss an die durchgeführte Theoriearbeit ein Konzept ,soziologischer Gesellschaftsberatung' entwickelt werden kann, das sich der Aufgabe widmet, komplexe, langfristige Problemkonstellationen soziologisch zu beobachten und zu bearbeiten.
In der deutschen Fleischbranche wurde nur sechs Wochen nach Ausbruch der Corona-Pandemie deutlich, welch problematische und konzentrierte Strukturen hier bestehen angezeigt durch die Schlachthöfe des Unternehmers Tönnies, die sich zu Corona-Hotspots entwickelten. Für Konzentrations- und Intensivierungsdynamiken solcher Strukturen werden üblicherweise sowohl ökonomische (wettbewerbliche Konzentrationstendenzen durch Größenvorteile) als auch wirtschaftspolitische (Arbeitsmarktpolitik, umweltpolitische Vorgaben usw.) Gründe angegeben. Kaum thematisiert wird dabei jedoch die aktive Rolle wissenschaftlicher Expertise im Prozess der fortschreitenden Intensivierung der Tierproduktion und hier insbesondere im Bereich Schlachtung und Verarbeitung. Dies steht in Diskrepanz zu der Tatsache, dass in Deutschland ab den 1970er-Jahren von Agrarökonomen Strukturpläne erstellt wurden, die dann als Sektorpläne politisch umgesetzt worden sind, wodurch die Strukturkonzentrationen maßgeblich forciert wurden. Daher soll im nachstehenden Beitrag diese performative Rolle der deutschen Agrarökonomik im Prozess der bewusst herbeigeführten Konzentrationen im Bereich der Schlachthofstrukturen thematisiert und aus soziologischer Perspektive hinterfragt werden. Dazu wird in einem ersten Schritt die Fleischbranche als Forschungsgebiet skizziert und aus wissenschaftssoziologischer Sicht auf Entwicklungen eingegangen, entlang derer die derzeitige Forschungsstruktur erklärbar wird. In einem zweiten Schritt werden die Planungsvorgänge und ihre Folgen thematisiert und hier insbesondere am Beispiel des sogenannten Böckenhoff-Planes, auf dessen Grundlage nach 1989 die Schlachthöfe in den Neuen Bundesländern stark dezimiert wurden. In einem dritten Schritt wird abschließend die aktive performative Rolle der Agrarökonomik vor dem Hintergrund der aktuellen Problemlage reflektiert. Dazu wird mit einem strukturationstheoretischen Zugang auf die Differenz zwischen marktfokussierter ökonomischer Sphäre und den Bewirtschaftungsvorgängen und ihren Folgen insgesamt insistiert. Hier zeigen sich auch die Grenzen der derzeit geltenden Ökonomik, da weder die eigene performative Rolle bei der Ausgestaltung der ökonomischen Sphäre nach marktwirtschaftlichen Vorstellungen noch die Folgewirkungen dieses Herangehens problematisiert werden. ; In the German meat industry, only six weeks after the outbreak of the corona pandemic, it became clear what problematic and concentrated structures exist hereparticularly indicated by the slaughterhouses of the Tönnies Group, which developed into corona hotspots. Economic reasons (competitive concentration tendencies due to economies of scale) and politico-economic factors (labor market policy, environmental policy requirements, etc.) are mentioned in order to explain the dynamics of concentration and intensification on the production side. However, the active role of scientific expertise to accelerate the progressive intensification of animal production is discussed very rarely, especially in the slaughtering and meat packing industry. This also shows the limits of the currently dominant economic approaches, which not only fail to reflect their own performative role in the shaping of the economic sphere but also ignore the consequences of their market-centered perspective. Therefore, in the following article, this performative role of German agricultural economics in the process of deliberately induced concentrations in the slaughterhouse industry will be addressed and questioned from a sociological perspective. In a first step, the meat sector as a field of research is outlined from the perspective of sociology of science. This helps explain the current research structure. In a second step, the planning processes and their consequences are discussed, in particular using the example of the so-called Böckenhoff plan, on the basis of which the slaughterhouses in the new German states were heavily decimated after 1989. Finally, in a third step, the active performative role of agricultural economics is reflected against the background of the current situation. For this purpose, a structural theoretical approach is used to highlight the difference between the market-focused economic sphere and the economic activities and their consequences as a whole. This also shows the limits of the currently dominant economic approaches, which not only fail to reflect their own performative role in the shaping of the economic sphere but also ignore the consequences of their market-centered perspective. ; (VLID)6189088 ; Version of record
Seit 1994 unterhält die Europäische Union (EU) mehrjährige Forschungsprogramme mit dezidierten sozial- und geisteswissenschaftlichen Themenschwerpunkten. Die Dissertation zeigt, wie sich die Reichweite, Finanzierung und Förderungsinstrumente weiterentwickelt haben und wie diese Entwicklungen in einem Zusammenhang mit den Veränderungen der Rolle von Forschungspolitik in der EU stehen. Die unterschiedlichen AkteurInnen ? Institutionen der EU, Stakeholder und Öffentlichkeit ? werden hinsichtlich ihrer Rolle in der Prioritätensetzung untersucht. EU-Forschungspolitik hat sich von einem wirtschaftspolitisch dominierten zu einem eigenständigen Politikbereich entwickelt. In der Arbeit wird ein analytisches Konzept entworfen, welches eine Unterscheidung zwischen Elementen der Forschungspolitik, die auf andere (Politik-)Bereiche abzielen und solche Elementen, die auf die Institutionen der Wissenschaft an sich abzielen, ermöglicht. Zweitens, wird die Rolle der AkteurInnen anhand von Konzeptionen der Zivilgesellschaft aus Theorien der deliberativen Demokratie interpretiert. Drittens, nutzt die Arbeit Konzepte der Wissenschaftssoziologie ? wie sozial robustes Wissen und die Kontextualisierung von Wissen ? zur Interpretation der Themenschwerpunktprogramme aus Sicht der wissenschaftlichen Wissensproduktion. Die empirischen Untersuchungen und Beobachtungen zeigen, zum einen, dass die EU Forschungspolitik durch andere Politikbereiche dominiert bleibt. Zum anderen, dass die Einbeziehung der Öffentlichkeit in die Politik im Diskurs der EU, insbesondere im Rahmen der Forschungspolitik, hervorgehoben wird, jedoch diese diskursiven Äußerungen nur beschränkt in die Praxis umgesetzt werden. Aus der Analyse der Prozesse und Praktiken zeigt sich, dass der Kreis an involvierten AkteurInnen eng definiert bleibt und dass die Einführung neuer Themenschwerpunkte von Entwicklungen der EU Politik allgemein abhängen, so dass auch der Grad an Veränderung der Ausschreibungstexte eingeschränkt bleibt. ; Since 1994, the European Union?s (EU) multiannual research programmes contain dedicated thematic social sciences and humanities (SSH) priorities. This thesis shows how the scope, means for funding and the policy instruments used to fund SSH research in these programmes have broadened and developed hand in hand with the changing function of research policy in the EU. The role of different actors ? the institutions of the EU, stakeholders and the wider public ? in priority setting of EU research funding are studied. EU research policy has evolved from being primarily a means to support economic policies to constituting a policy in its own right. The conceptions used to investigate this change and the roles of different actors are based on: first, an analytical differentiation between elements of research policy with the aim of supporting other policies and elements of research policy aiming at the institutions of research per se. Second are conceptions of the actors participating that are connected with notions of civil society found in theories of deliberative democracy, and third are ideas relating to the sociology of knowledge such as socially robust knowledge and the social contextualization of knowledge-making to interpret targeted research programmes in the light of knowledge-making. The empirical findings and observations of this thesis suggest, first, that research policy remains dominated by other aims. Second, the discourse of the EU institutions proclaiming the need to include stakeholders in decisions that affect them is particularly emphasized in research policy documents. Third, the practices of research policy-making on different levels only include stakeholders up to a certain degree, while SSH research programmes remain closely tied to the introduction of new policy dimensions on the EU level. Thus, the malleability of research targets in specific calls for proposals remains restricted to the boundaries set by the overarching policy dimension. ; Rafael Yann Schögler ; Zsfassung in dt. und engl. Sprache ; Graz, Univ., Diss., 2014 ; OeBB ; (VLID)240278