Der Vortrag sucht durch eine Untersuchung der Ideen und Intentionen des liberalen Sozialreformers Hermann Schulze-Delitzsch und der tatsächlichen Entwicklung der deutschen Genossenschaften zu klären, warum in Deutschland die Ansätze zu einer liberalen Arbeiterbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts scheiterten. Schulze-D., der als Abgeordneter 1848 erstmals mit der sozialen Frage in Berührung gekommen war, wollte diese durch Bildung von Genossenschaften lösen. Diese sollten nicht nur Handwerker, sondern auch in Form von Produktivgenossenschaften Arbeiter in den Stand setzen, ihre ökonomische und soziale Position zu verbessern, und langfristig eine Gesellschaftsreform herbeiführen. Jedoch waren bald nicht die Produktivgenossenschaften, sondern die Konsum- und Kreditvereine die vorherrschende Form der Genossenschaften, die, beherrscht vom Bürgertum, in erster Linie die sozialpolitischen Belange des Mittelstandes unterstützten. Dies wiederum veranlaßte die Arbeiter, sich verstärkt der sozialdemokratischen Bewegung hinzuwenden. Das hauptsächliche Defizit in der Konzeption von Schulze-Delitzsch sieht die Autorin in der Orientierung an frühindustriellen Bedingungen, wodurch diese den Erfordernissen der hochindustrialisierten Gesellschaft nicht mehr gerecht werden konnten. (JF)