Religiöses Leben im heutigen Russland: Ideal und Wirklichkeit
In: Ost-West: europäische Perspektiven, Band 11, Heft 1, S. 54-63
ISSN: 1439-2089
Anhand zahlreicher Bezüge auf Ergebnisse empirischer Forschungsergebnisse zeigen die Verfasser, dass eine äußerst unbedeutende Zahl von Menschen zur Kommunion geht. Hier liegt es nicht nur am Unwillen oder an den Schwierigkeiten, die die Vorbereitung auf die Kommunion für normale Menschen mit sich bringt. In Russland wird eine häufige Kommunion (d. h. während jeder Liturgie) nur in einzelnen Moskauer und St. Petersburger Kirchen praktiziert. Die absolute Mehrheit der Priester betrachtet dagegen die Idee einer häufigen Kommunion nur als "Neuerertum" und lehnt sie kategorisch ab, um "die Gefahr der Gewöhnung" auszuschließen. Der Kampf gegen die Religion in der Sowjetunion, der sich in der Einführung einer atheistischen, marxistisch-leninistischen Ideologie äußerte, offenbarte sich insgesamt als Misserfolg. Die Sowjetmacht kam aber in einer anderen Sphäre voran: Die Menschen begannen, die Religion vorwiegend als eine spezifische Form der Ideologie oder Kultur wahrzunehmen, nicht aber als lebendigen, persönlichen Bund mit Gott. Die während der Sowjetzeit gewaltsam eingeführte Säkularisierung hat auch in der postsowjetischen Gesellschaft noch nicht aufgehört, und die "Wiedergeburt der Religion", die als "Restauration" deklariert wird, d. h. als eine Rückkehr zu alten, traditionellen Formen, entwickelte sich in der Praxis zu einem Konstruieren neuer religiöser Bewusstseinsformen, die im Einklang mit den Erfordernissen der postsowjetischen Gesellschaft stehen. (ICF2)