Aktionskunst jenseits des Eisernen Vorhangs: künstlerische Kritik in Zeiten politischer Repression
In: Cultural Studies Band 52
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In: Cultural Studies Band 52
Der Theaterwissenschaftler Wolfgang Kröplin setzt sich in seiner umfangreichen Studie mit der Geschichte des Theaters in "Europas Osten" auseinander, und zwar in dem breiten Zeitraum von dessen Entstehungsgeschichte bis zum Fall des Eisernen Vorhangs. Das programmatische Ziel dieses Unternehmens besteht darin, die gesellschaftlichen und kulturellen Gefüge des Theaters in Ländern wie "Bulgarien, Moldawien, Rumänien, Russland, Slowakei, Ukraine, Ungarn, Polen, Tschechien und Weißrussland" (S. 15) – so Kröplins Kartografie von "Europas Osten" – historisch und vor allem komparatistisch zu beschreiben. Neben der Abgrenzung von den pejorativen Attributen, die bisher zur Bezeichnung des Theaters im Osten gedient haben sollen – "diffus[] [.], unklar[], dubios[]" (S. 12), "unzivilisiert" (S. 8) und "[r]ückständig[]" (S. 9) – begründet Kröplin die Relevanz seiner Monografie mit dem Argument, dass es vor allem an einer Gesamtdarstellung der osteuropäischen Theaterkulturen fehle. Kröplin gelingt es, die theatralen Gefüge in Europas Osten differenziert zu kontextualisieren und vor dem Hintergrund jahrhundertelanger Migrations- und Assimilationsgeschichten, fremdherrschaftlicher Interventionen, einer Pluralisierung von Ethnien, Konfessionen und Kulturen sowie nationalistischer Bestrebungen zu betrachten. In einem überzeugenden Analyseschritt wird herausgearbeitet, welche nationalitätsbildende Themen und Dramaturgien im Zentrum des dramatischen Theaters osteuropäischer Provenienz stehen. Anschließend bringt Kröplin die spannende These in Anschlag, dass es durchaus verkehrt ist, das Theater dieser Region als 'verspätet' und unzeitgemäß zu etikettieren, insofern es ausschließlich im Vergleich zum westlichen Theater der Aufklärung im Verzug ist, d.h. zu einer durch und durch ideologisierten, didaktischen Bühnenpraxis, die die Tradition des Komödiantischen, Spielerischen, Unentscheidbar-Ironischen, Satirischen und vor allem Kritischen von der Bühne zu verbannen sucht. Die 'Verspätung' des dramatischen Paradigmas in Osteuropa geht also mit einer länger andauernden Pluralität theatraler Formen und Spielweisen einher, die man ausschließlich – wenn überhaupt – vor dem Wertehorizont des Literaturtheaters als rückständig verstehen kann. Interessant ist außerdem die Beobachtung, auf welch paradoxale Weise sich die Nationaltheatergründungen und die Entstehung von Heroendramen in vielen osteuropäischen Ländern mit den ersten Avantgardebewegungen überschneiden. Wohlgemerkt, die Schilderung der osteuropäischen Avantgarde erfolgt nicht aus dem künstlerischen Material heraus, sondern auf eine induktive Weise: Zunächst werden – vornehmlich ohne Referenz – allgemeine, teilweise sogar klischeehafte Charaktereigenschaften der Theateravantgarde zusammengefasst, um danach – wie in einem Lexikon – die einschlägigen Vertreter*innen aus den einzelnen Ländern aufzuzählen. Dieses Kapitel spiegelt die generelle Problematik des Bandes wider, die darin besteht, dass Kröplin theatrale Phänomene immer als Illustrationen eines geschichtlichen Zusammenhangs interpretiert, anstatt die ästhetischen und politischen Facetten der Kunst aus dem künstlerischen Material heraus zu entfalten und zu reflektieren. Diese methodische Vorgehensweise führt dazu, dass der Verfasser auf analytische Tiefen verzichten muss und seine Untersuchungen jenseits theaterwissenschaftlicher Analysestandards entwickelt: Die Betrachtung von Aufführungen, Theatersituationen, Zuschauer*innenreaktionen und damit die Inblicknahme des Theaters jenseits seiner lexikalischen Datensammlungen und seiner Oberflächenphänomene bleibt in dieser Geschichtsschreibung immer aus. Die Trennung zwischen Geschichte und Theatergeschichte wiederholt sich bei der Betrachtung der realsozialistischen Epoche auf eine kunstgeschichtlich problematische Weise, wenn Kröplin die linientreuen Positionen eines propagandistischen "verordneten Theaters" vollkommen unabhängig von den neoavantgardistisch und kritisch orientierten Alternativen behandelt und dabei außer Acht lässt, wie Kultur und Gegenkultur, erste und zweite Öffentlichkeit aufeinander bezogen waren. Mit Blick auf das Theater schlug sich diese Verwobenheit in einer Spielpraxis nieder, die weniger textuell als performativ verankerte Anspielungen auf politische Verhältnisse etablierte, ja das 'Reden mit zwei Zungen' propagierte, das trotz des stark überwachten Stückrepertoires eine Spaltung von Sagen und Zeigen, ja textueller Referenz und szenischer Bedeutung ermöglichte. Diese Darstellungstaktik zählte zu den geduldeten Modalitäten der Kritik, die Regisseur*innen in die Lage versetzte, die Regeln des Leitdiskurses quasi zu unterlaufen, ohne die Zensur direkt herauszufordern. Ausgerechnet die kreativen, spielerischen Momente und Phänomene des osteuropäischen neoavantgardistischen Theaters fallen aus den allzu strikten Trennungsrastern Kröplins, die ausschließen, dass das Theater als eine kulturelle Praxis begriffen wird, als eine Praxis, die nicht nur politisch verankert, sondern politisch wirksam ist. Der Verfasser vertritt eine explizit kulturhistorische Perspektive und arbeitet mit vielfältigen, geografisch ausgewogenen – vornehmlich in deutscher Sprache zugänglichen – Referenzen bzw. mit kulturwissenschaftlichen, teilweise auch philosophischen Exkursen, die die theatergeschichtlichen Erörterungen stets in ideologische und mentalitätsgeschichtliche Koordinaten einbetten. Die kultur- und theaterhistorischen Darstellungen werden allerdings strikt voneinander getrennt und an keiner Stelle miteinander in Beziehung gesetzt. Die Entwicklungen des Theaters erscheinen auf diese Weise ausschließlich als Konsequenzen historischer Wandlungen und keineswegs als Teile dieser. Die positivistische Denkweise, die die vorliegende Monografie prägt, wird auch in der Kapitelstruktur manifest: Zwischen dem "Vorspiel" und dem "Nachspiel" des Buches finden wir insgesamt zehn Kapitel mit ausschließlich kulturhistorischen Überblicksdarstellungen, die vollkommen ohne theatergeschichtliche Bezugnahmen auskommen: Abschnitte zur Geschichte Sarmatiens (Kapitel 2) und der Völkerwanderungen, die bereits vor unserer Zeitrechnung ansetzen (Kapitel 3), zur "Geburt des europäischen Ostens" (S. 51, Kapitel 4), zu staatlichen Neuordnungen in der Neuzeit (Kapitel 5) und zu mehrsprachigen Kulturgefügen (Kapitel 6) in diesem Gebiet, zu den Wurzeln ostjüdischer Kulturgeschichte (Kapitel 7) und zu den historischen Konstellationen vor den Nationaltheatergründungen (Kapitel 8) sowie zur Geschichte des Sozialismus (Kapitel 11-13). Theaterhistorische Erörterungen gelangen in insgesamt vier Kapiteln zum Ausdruck, in denen die verspätete Herausbildung von Nationaltheatern, die "universalen [sic!] Avantgarde[n]" (S. 180), die linientreuen und die alternativen Theaterformen im Realsozialismus vorgestellt werden. Die disproportionale Ausrichtung der Kapitel ruft die Frage wach, welche Leser*innen der Verfasser im Auge hatte, wenn Zweidrittel seiner theaterhistorischen Monografie quasi einer in Geschwindschritt erzählten Geschichte Osteuropas gewidmet ist, einer Geschichte allerdings, die wir ohne narrative Schwerpunkte, methodische Reflexionen und thematische Perspektivierungen erzählt bekommen. Die scheinbar ungefilterte Informationsflut, mit der hier einzig dem Anspruch einer 'Gesamtdarstellung' gehorcht wird, liest sich aus zwei Gründen umständlich: Einerseits fehlt es häufig an einem narrativen Element, das die Daten und Fakten in eine über einzelne Beobachtungen hinausgehende Sinnstruktur fügt bzw. die Perspektivenwechsel zwischen den betrachteten historischen Episoden und europäischen Regionen erklären würde. Es ist grundsätzlich unvorhersehbar, worauf der Fokus im nächsten Absatz gelenkt wird. Andererseits findet man in den ausführlichen Kapiteln, die in sich nicht weiter gegliedert sind, ja deren Struktur an keiner Stelle erläutert oder begründet wird, nie den gesuchten Zusammenhang. Außerdem sind die einzelnen Abschnitte in sich hermetisch geschlossen und dadurch unübersichtlich; sie ähneln eher an Handbucheinträge, die sich zu keiner Monografie zusammenfügen. Ein Problem, das schon beim Lesen des Buchtitels aufkommt, besteht ferner nicht nur in der historiografischen Unrealisierbarkeit einer vollständigen Erfassung von Osteuropas Theatergeschichte in einem einzigen Band, sondern vor allem in der Annahme, dass das Beheben eines klar umrissenen Desiderats an sich ausreichen würde, um eine wissenschaftliche Untersuchung zu legitimieren. Diese Annahme stellt sich als ein Irrtum heraus, denn es fehlt der vorliegenden Monografie an Fragestellungen, Vergleichsaspekten und vor allem an fundierten Thesen, an vertieften Auseinandersetzungen mit dem herangezogenen Material und an einer strukturierten, gut nachvollziehbaren Argumentation. Es taucht die Frage auf, ob es gerechtfertigt ist, um diesen Preis eine Forschungslücke zu 'schließen'. Vor diesem Hintergrund erweist sich Kröplins Monografie vor allem als eine Darstellung von historischen Gefügen und kulturellen Produktionsbedingungen des Theaters im östlichen Europa. Theaterwissenschaftliche Ausführungen bleiben daher eher marginal bzw. stets auf die Aufzählung von Autor*innen, Stücktiteln und Spielorten beschränkt. Wie das Theater im jeweiligen historischen Kontext seinen Status, seine Möglichkeitsbedingungen, seine politischen Potenziale durch die Art und Weise seiner Aufführungspraxis offenlegt und reflektiert, ja wie das Theater von seiner Zeit erzählt und vor allem welche Rezeptionszusammenhänge es adressiert, bleibt daher auf Osteuropa bezogen ein noch zu schreibendes Kapitel. Dieses kann nur entstehen, wenn man bereit ist, den – unmöglichen und a-politischen – Anspruch auf Gesamtdarstellungen aufzugeben und damit beginnt, die Praxis des Theaters zu befragen. Bis dahin bleibt das osteuropäische Theater in seinen Darstellungen weiterhin "diffus", "unklar" und "dubios".
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Die Relation von Theater und Denken, die im vorliegenden Sammelband in ihren historischen und zeitgenössischen Manifestationen tiefgreifend analysiert wird, fällt, wie die Herausgeber Leon Gabriel und Nikolaus Müller-Schöll in der Einleitung betonen, weitaus komplexer aus als das Verhältnis der Illustration (S. 13), ja der Abbildbarkeit des Szenischen in der Theorie oder – umgekehrt – die Veranschaulichung theoretischen Denkens auf der Bühne: "Der Praxis des Theaters wird vielmehr bei aller Unterschiedlichkeit der hier versammelten Beiträge in jedem Fall eine Form der inhärenten Theorie zugeschrieben, die nicht in Begriffen formuliert, gleichwohl in Begriffe übersetzt werden kann" (ebd.). Welche Formen des Denkens im szenischen Raum des Theaters erst aufscheinen bzw. inwieweit das Nachdenken über Theater die Weichen für eine noch kommende szenische Praxis stellt, sind die Ausgangsfragestellungen der vorliegenden Beiträge, die einerseits von der szenischen Verfasstheit jedweden theoretischen Denkens ausgehen und andererseits einem dem Theater innewohnenden szenischen Denken auf die Spur zu kommen suchen. Dass die Dynamiken des Denkens und des theatralen Zeigens keineswegs miteinander überblendet werden können, vielmehr ineinander übersetzt werden müssen, dafür liefern bereits Platons sokratische Dialoge und die ihnen eigentümlichen Paradoxien ein eklatantes Beispiel: Bekanntlich wird aus ihnen jene theaterfeindliche Einstellung Platons ersichtlich, die häufig auf das biografische Moment zurückgeführt wird, er habe seine eigens geschriebenen Tragödien unter dem Einfluss seines Lehrers Sokrates verbrennen müssen. Doch Platons Vorbehalte gegenüber dem Theater sind gerade vor dem Hintergrund überraschend, dass seine philosophischen Schriften, ja die sokratischen Dialoge, an Dramatisierung und Theatralisierung kaum zu übertreffen sind. Interessant ist an diesem Punkt das Platon'sche Argument, mit dem das Theater von dem (philosophischen) Denken zugleich getrennt und mit ihm aufs Engste verbunden wird: Denn das Argument, warum das Theater die bestehende Ordnung Platon zufolge gefährde, ist in dem Umstand zu suchen, dass in der Tragödie ausgerechnet die kommentatorische, für eine philosophische Wahrheit bürgende Instanz ausgeschaltet werde, jene Erzählstimme, die dem Epos noch inhärent ist und die den Rezeptionsvorgang zu steuern vermöchte bzw. die Übermittlung einer Botschaft sichern könnte. Wenn Platon also in der Wechselrede der Politeia, die im philosophischen Register verankert ist, den Kampf gegen die Wechselrede verkündet, die das Terrain der Philosophie verlässt und die Bühne erobert, wird letztlich nur, quasi in den philosophischen Texten Platons, ein anderes Register für das Denken und Realisieren des Theaters eröffnet. Weniger die Frage nach der Philosophie des Theaters – im Sinne einer Ästhetik des Theaters – steht somit im Vordergrund des Sammelbandes und schon gar nicht die allzu schlüssigen Erklärungsmodelle theatralen Handelns, die aus der Anthropologie, Sozialwissenschaft oder Genderforschung stammen und komplexe theoretische bzw. gesellschaftliche Problemstellungen mit einfachen Theatermetaphern zu erhellen versuchen. Stattdessen lockt uns Leser*innen das breit gefächerte Panorama eines 'Denkens der Bühne' in mehrfachem Sinn – in jene Richtung, wo sich "Denk und Undenkbares ebenso wie Zeigen und Entzug, Sicht- und Unsichtbares verschränken" (S. 16). Dieses vielversprechende Programm wird in drei Themenkomplexen bzw. in exzellenten Beiträgen ausdifferenziert und vertieft. Im ersten größeren Abschnitt sind Aufsätze versammelt, die an Walter Benjamins Reflexion von Bertolt Brechts Arbeit anknüpfen. Die Autor*innen, die bereits einschlägige Monographien zu diesem Thema vorgelegt haben, greifen Denkfiguren von Benjamin und Brecht auf und übertragen sie in unterschiedliche Kontexte theatralen Denkens. Nikolaus Müller-Schöll kartographiert – mit Bezug auf Benjamins Sprachaufsatz bzw. seine Idee der Sprache "überhaupt" – ein Denken des Theaters als Mitteilbarkeit, als Dispositiv, d. h. als eine "nicht länger vom Mittelpunkt des 'Menschen' geprägte Bühnenpraxis" (S. 60), ein Geflecht von Verhältnissen statt Handlungen und Performanzen. Müller-Schöll mobilisiert ein komplexes Netzwerk von Referenzen, die neben Benjamin und Brecht von philosophischen (Derrida, Heidegger) bis hin zu künstlerischen Positionen (Le Roy) reichen. Dass zum Denken des 'Theaters überhaupt' nicht nur die Auftritte von Akteur*innen in Erwägung gezogen werden müssen, sondern auch der gesamte Apparat als Möglichkeitsbedingung szenischer Evokation, werden – wie Lydia J. Whites Close Readings zeigen – im 20. Jahrhundert in zwei theaterbezogenen Texten u. a. durch die Exponierung von Bühnenarbeitern reflektiert. Die Rede ist von Luigi Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor und Bertolt Brechts Der Messingkauf, die – so argumentiert White – "ein Denken über das und mit dem Theater am Schauplatz des Theaters selbst [inszenieren]" (S. 81). Freddie Rokem erschließt auf – mindestens – drei Ebenen eine Affizierungskraft theatralen Denkens, wenn er auf die Premiere des Habima Studios von S. An-Skis Der Dibbuk 1922 in Moskau verweist und die Figur des Dibbuk, die in der Regel "den Körper einer Person (meist einer Frau) einnimmt und durch ihren Mund spricht" (S. 97) als metatheatrale Figur der Schauspielerei, ja des Soufflierens in Augenschein nimmt. Ferner fördert Rokem – mit Benjamin – auch die geschichtlichen Koordinaten zutage, die dazu beigetragen haben, dass die Inszenierung des Ha Bima (Die Bühne), die über 1000 Mal aufgeführt wurde, zur am häufigsten besprochenen und untersuchten Produktion des hebräischen/israelischen Theaters avancierte und – im Sinne einer Dibbuk-Gestalt – "eine Kultur ohne existierendes Theater-Erbe buchstäblich vom Theater besessen" (ebd.) machte. Ebenfalls für die historischen Dimensionen des Theater-Denkens interessiert sich der norwegische Regisseur Tore Vagn Lid, der Brechts kritische Auseinandersetzung mit den Ideologemen naturalistischen Theaters aufgreift und nach deren aktuellen Resonanzen zur Zeit eines "neuen Realismus" (S. 128) fragt. Die zweite, mit der Überschrift "Szenische Konstellationen" betitelte Sektion widmet sich dem Denken des Theaters im Register der Philosophie. Die zentrale Stoßrichtung der hier versammelten Beiträge ließe sich daran anknüpfen, was Nikolaus Müller-Schöll in seiner Lektüre von Brechts "Die Straßenszene" als ein "Theater im Text der Theorie" (Müller-Schöll 1999) bezeichnet und als Möglichkeitsraum für das Denken eines zukünftigen Theaters angedeutet hat. Vor diesem Hintergrund ist auch Jörn Etzolds aufschlussreiche Analyse von Benjamins "untragischen Helden" und Hölderlins Empedokles zu betrachten, die nicht mehr auf der klassischen Bühne der Repräsentation in Erscheinung treten. Etzold fragt nach der möglichen Beschaffenheit einer anderen, künftigen Bühne, die er unter dem Konzept der Gegend beschreibt. Einer anti-illusionistischen und -repräsentativen Bühnengestaltung hat sich auch der französische Theateravantgardist Antonin Artaud verschrieben, dessen Theater der Grausamkeit von Timo Ogrzal gleichermaßen als eine Konstellation ins Auge gefasst wird, welche "eher ein Kommen des Anderen und eben nicht seine Präsentation [verspricht]" (S.165). Und Marten Weise versucht in seiner beeindruckend feinfühligen Heidegger-Lektüre trotz des Schweigens des Philosophen zu seiner Idee des Theaters die Konturen eines ebenfalls noch nicht existierenden Theaters aufzuspüren, die man als "Theater der Lichtung oder der passiv verfassten Ek-sistenz" (S. 179) bezeichnen könnte. Im abschließenden Teil des Kapitels öffnet sich die Sicht auf das Denken von Konstellationen jenseits jeglicher herkömmlicher Theatervorstellungen, auf "Kon-Figurationen" (S. 198) aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die nichts anderes als "eine Niederlage des erkennenden, urteilenden Subjekts" (S. 183) bezeugen. Ulrike Haß verschränkt in ihrem Beitrag epistemologische, historische und ästhetische Krisenmomente, die zur Entstehung der Phänomenologie, zur ethnographischen Entdeckung von Mythen als subjektlose Wissensordnungen, zu neuen 'Konstellationen des Mit' in den Künsten oder zu Adolphe Appias 'rhythmischen Räumen' geführt haben und auch in konkreten Kompositionen – wie in Jean-Luc Godards Montageverfahren oder dessen Übersetzung in den Bühnenraum durch Mark Lammert – beobachtbar wurden. All die Positionen der Sektion erschließen Denkbewegungen, die den*die Leser*in aus dem Universum althergebrachter Vorstellungen des Theaters befreien und das Szenische an den Schnittstellen der Philosophie-, Kultur- und Technikgeschichte neu zu entwerfen suchen. Im dritten Kapitel kommen schließlich künstlerische Praktiken von William Kentridge, Laurent Chétouane und Walid Raad zum Tragen, die ein anderes Denken der Zeit, des Raumes bzw. des Sehens im Theater ermöglichen. Julia Schade bettet ihre aufschlussreiche und politische Lesart von Kentridges Rauminstallation The Refusal of Time in eine facettenreiche Recherche zu Zeitvorstellungen ein und mobilisiert abweichende Ideen von Zeitlichkeit, die von Scholem und Benjamin über Derrida und Hamacher bis hin zu Kentridge und Peter Galison reichen bzw. uns gestatten, Zeit jenseits der bekannten Muster vom Zyklischen und Linearem zu denken. Leonie Ottos Beitrag schließt an die Frage der Neuperspektivierbarkeit von Zeitlichkeit mit der überzeugenden Fundierung eines neuen räumlichen Denkens auf der Bühne an. In Rekurs auf Laurent Chétouanes Choreografie Hommage an das Zaudern gelingt es Otto, das Denken von seinen herkömmlichen Konnotationen (ergebnisorientiert, theoretisch, nahezu körperlos) zu befreien und es als ein räumliches, bewegtes, immer schon in seinem "Bezogen-sein" (S. 226) sich ereignendes, "geteilte[s], zerteilte[s] und verteilte[s] Denken" (S. 228) auf der Bühne zu fundieren. Zum Schluss lädt Leon Gabriel uns zum Denken eines 'Theaters der Affizierbarkeit' ein, wenn er kraft seiner tiefgreifenden Analyse von Walid Raads Scratching on Things I Could Disavow dafür plädiert, die bekannte Sehordnung der Live-Art außer Gefecht zu setzen und Modalitäten des 'Nicht-Sehens' aufzuwerten: "Nichts-Sehen heißt dann, aufnahmefähig für etwas zu werden, das nicht dem Raster des 'Sehens', d. h. nicht der gängigen Wahrnehmung entspricht, darin auch keinen Platz und keine Welt hat." (S. 241) Will man die hier nur skizzierten Schlaglichter auf 'Das Denken der Bühne' in einen größeren Zusammenhang stellen, dann könnte man bei den vorliegenden Beiträgen von äußerst anregenden Impulsen für das Neu-Denken des Verhältnisses von Theorie und Praxis, Philosophie und Kunst, Rhetorik und Performanz des Theaters sprechen und damit verbunden von einem Plädoyer für ein neues Verständnis des Szenischen, das in den beiden außerordentlich bereichernden und die Publikation rahmenden Aufsätzen Jacques Derridas und Samuel Webers zum Ausdruck kommt und darin besteht, es jenseits seiner ontologischen Bestimmbarkeit und der Stillstellung seiner (Denk-)Bewegungen zu verstehen. Literatur: Müller-Schöll, Nikolaus: "Theater im Text der Theorie. Zur rhetorischen Subversion der 'Lehre' in Brechts theoretischen Schriften". In: Brecht 100 2000. The Brecht Yearbook 24. Hg. v. Maarten van Dijk, Ontario: University of Wisconsin Press 1999, S. 265-276.
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Das 'Theater der Anderen' wird heute, so die einleitende Diagnose von Mayte Zimmermann, vermehrt als ein Inklusionsapparat verstanden, der das vermeintlich 'Wirkliche', 'Tatsächliche' und 'Ausgeschlossene' bzw. die eine Normalität unterlaufenden 'Anderen' zu integrieren sucht. Zu ertappen ist diese politische Inklusionslogik in einer Reihe von Theaterproduktionen, die Abweichungen vom bürgerlichen Menschenbild zu zeigen und etwa "Schwarze, Migrant*innen, Kranke, Über- und Untergewichtige, Kinder, alle, die in die Gender-Gaps gehören, Behinderte usw." (S. 10) zu einem Auftritt zu verhelfen suchen. Was im 'Theater der Anderen' im Zeichen eines liberalen Anerkennungsimperativs zu stehen und als politisches Programm der Solidarisierung bzw. der Verantwortung für ein Zusammen-Leben zu funktionieren scheint, läuft Mayte Zimmermann zufolge jedoch notgedrungen Gefahr, 'dendiedas Andere' als etwas bereits Bekanntes festzuschreiben, zu neutralisieren und zu beherrschen. Ob und inwieweit es möglich ist, theatrale (Re-)Präsentation ohne das Risiko der Verdinglichung bzw. die Auslöschung der Singularität des 'Anderen' zu denken, wird in Zimmermanns Monografie Von der Darstellbarkeit des Anderen in fünf Inszenierungsanalysen und in vielschichtigen Überlegungen zu einem 'Theater der Spur' sondiert. Gleich zu Beginn entfaltet Zimmermann eine kritische Lesart von Jérôme Bels Disabled Theatre, einer Produktion, die zu den meist besprochenen unserer Gegenwart gehört und mittlerweile zum Sinnbild jenes 'Theaters der Anderen' geworden ist, eines Theaters, dem – sowohl im Inszenierungstitel wie auch in der Szenendramaturgie – eine Reduktion der auftretenden Akteur_innen auf ihr Anderssein (hier auf ihre Behinderung) vorgeworfen wird. Problematisch ist in dieser Reduktion jedoch nicht nur, so Zimmermann, dass Disabled Theatre zu einem Spektakel werde, in dem die Zuschauer_innen ihre Toleranz selbst beklatschten, sondern vor allem deshalb, weil hier "'das Andere' als bereits bekanntes oder zumindest identifizierbares Gegenüber in eine Szenerie" eingelassen wird. Kurzum: Gerade das Auftreten eines (prä-)figurierten Anderen stabilisiert Zimmermann zufolge die "Ordnungen und epistemologische[n] Voraussetzungen" von Zuschreibungen (S. 259). Vor dem Hintergrund der repräsentationspolitischen Problematik, dass die Anerkennung des Anderen stets mit dessen Festschreibung und Beherrschung Hand in Hand geht, fragen die vorliegenden theoretischen Ausführungen und Fallbeispiele explizit nach den Möglichkeiten einer Darstellung des Anderen jenseits des Erkennenbaren und Verstehbaren, ja nach einer 'Darstellbarkeit des Anderen'. Es ist durchaus folgerichtig, dass die Arbeit damit ansetzt, gängige theaterwissenschaftliche Terminologien zu präzisieren, philosophisch und historisch exakt herzuleiten und neu zu fundieren. Auf erhellende Weise werden – mit Rekurs auf Martin Heidegger, Jacques Derrida und Ulrike Haß – Begriffe wie 'Szene', 'Vorstellung' oder 'Ereignis' als Beziehungsgewebe der Offenheit, der Potenzialität und der Singularität konzeptualisiert, mehr noch: als Bezugsgrößen etabliert, die nicht mehr ausschließlich im Dienst der störungsfreien Darstellung stehen oder die machtvollen Voraussetzungen einer Darstellung kaschieren, sondern eine Verdinglichung (in) der Repräsentation auch unterlaufen können. Es fällt in den Argumentationsgeflechten des Buches immer wieder ins Auge, dass Mayte Zimmermann stets 'Differenz-treu' argumentiert, d. h. selbst die theoretischen Gegenpositionen und ideologischen Antipoden ihrer Beweislogik produktiv einbringt und die Vielstimmigkeit der einzelnen philosophischen, kultur- und theaterwissenschaftlichen Positionen nie in einer täuschenden Harmonie aufzulösen sucht, sondern diese vielmehr im Modus eines gegenseitigen Kommentierens miteinander in Dialog treten lässt. Im Herzen des Theorieteils steht eine facettenreiche und dennoch problemorientierte Auseinandersetzung mit Emmanuel Levinas' Denken des Anderen. Dieser Andere, "an den ich mich wende, [kann] nicht gleichgültig sein" (S. 64), schreibt Zimmermann, und seine Gegenwart verleite das Subjekt dazu, ihm zu antworten, ihn zu verantworten, und zwar diesseits der Logik des Verstehens und des Kalküls. Diese Denkrichtung weist über einen phänomenologischen Ansatz hinaus und mündet in der Begründung eines Theaters der Spur: Erfahrbar wird es 'im Angesicht von Anderem und Anderen' bzw. in jenem singulären Moment, "das sich dem erkenntnistheoretischen Zugriff entzieht", aber "den Grund unserer ethischen Verfasstheit bildet" (S. 72). Das Theater der Spur changiert zwischen An- und Abwesenheit des Anderen und suspendiert die Logik von Binarismen oder Ausschlüssen. Es legt einen paradoxalen Ort der Bezüglichkeit offen, gerade weil es auf der Logik der Spur basiert und somit der Intentionalität, der symbolischen Kodierung und der Zuordnung widersteht. Attraktiv ist die Spur als Denkfigur in diesem Zusammenhang vor allem deshalb, weil sie weder "das Andere im Sinne einer Bezeichnung dar[stellt], noch [.] dem Erkenntnisinstrumentarium des Ich [entspringt]" (S. 71). Dementsprechend ist es überaus plausibel, in den einzelnen Analysekapiteln – mit Walter Benjamin und Nikolaus Müller-Schöll gesprochen – nach der Darstellbarkeit des Anderen zu fragen, und zwar nach einer Darstellbarkeit vor jedwedem Akt der Darstellung, vor jedweder Figuration einer Botschaft. Man könnte in Anbetracht dieses theoretischen Programms – in Bezug auf Gayatri Spivak und Jacques Derrida – einwenden, dass im Ansatz von Levinas gerade jene politische Dimension der Repräsentation unbeachtet bleibt, die in der Vertretung von Subalternen und in der Reflexion ihres Unvermögens auf Selbst-Organisation und Selbst-Artikulation besteht. Folgt man Spivaks Unterscheidung zwischen der 'Repräsentation als Darstellung' und 'Repräsentation als Vertretung', dann wird, so könnte man folgern, ein 'Theater des Anderen' erst dort politisch, wo es diese doppelte Valenz der Repräsentation ausstellt und reflektiert. Denn mag die Darstellung von Subalternen durchaus die Gefahr der Festschreibung bergen, es kommt, so könnte man mit Spivak argumentieren, stets auf der Repräsentation als Vertretung an, die in der Verantwortung all derjenigen steht, die zum Sprechen im politischen Sinne in der Lage sind. Was allerdings in Mayte Zimmermanns Beweisführung immer wieder als negativer Bezugspunkt auftaucht, ist ausgerechnet der gegenwärtige Boom von Theaterarbeiten, in denen nicht ausgebildete Schauspieler_innen mit dem Ziel exponiert werden, bestimmte, auf der Bühne unterrepräsentierte Gruppen zu vertreten bzw. in die Ordnungen der Sichtbarkeit einzuschließen. Erwecken diese Theaterproduktionen zwar den Eindruck, sie würden gerade – mit den Worten von Spivak – die Unterdrückten "auf dem Weg zu einer durch Allianzpolitik geschaffenen Solidarität"[1] zum Sprechen bringen, stehen sie eigentlich im Interesse einer spektakulären Darstellung durch Theatermachende, die die Inszeniertheit der scheinbaren Selbst-Artikulationen häufig zu kaschieren suchen. Das Dilemma besteht also darin, wie man die politische Forderung nach einer sensibilisierten Erkennung von Minorisierten – im Sinne Spivaks – zusammen denken kann mit der ethischen Auffassung des 'Anderen' als etwas sich der Erkennbarkeit Entziehendes – im Sinne Levinas'. Beleuchtet wird dieses Dilemma gleich im ersten Analysekapitel, in dessen Zentrum Ulf Aminedes Videoinstallation Frontalunterricht steht. Man sieht sich als Zuschauer_in mit Improvisationen von laienhaft anmutenden jungen Schauspieler_innen konfrontiert, die uns – trotz der medialen Übertragung ihrer Auftritte – aus einer frontalen Stellung anblicken und uns mit kurzen, scheinbar nichtssagenden, offensichtlich aus zweiter Hand stammenden Monologen adressieren. Scharfsinnig weist Zimmermann auf die dramaturgische Differenziertheit und Politizität dieser Arbeit hin. Zwar wird weder das angekündigte Thema der Installation – die Dauerarbeitslosigkeit von Jugendlichen – angesprochen, noch die Biografie der Figuren thematisiert, dennoch oder gerade deshalb kommt dieser Arbeit ein kritisches Potenzial zu: Sie zieht die Autorität der Sprache in Zweifel und eröffnet Möglichkeitsräume für ein anderes Sprechen, 'ein Sagen im Gesagten'. Mit den Worten von Zimmermann wird hier "keineswegs die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit minoritären Sprecherpositionen [negiert], wohl aber [jene] Darstellungspolitiken, die auf der Behauptung ihrer Authentizität und ihrer Präsentierbarkeit gründen" (S. 135). Aufschlussreich ist die ästhetische Vielfalt der anschließend analysierten Theaterbeispiele: Herangezogen werden neben Antonia Baehrs For Faces und Rabih Mroués The Inhabitants of Images, Einar Schleefs (post)dramatischer Text Die Schauspieler und Swoosh Lieus Recherchen zum Verhältnis von Szene und Bühnenmaschinerie in Everything but Solo. Was das Kommentieren eines Theaters der Spur angeht, ist es überaus konsequent, dass Mayte Zimmermann von der Darstellbarkeit des Anderen genau das fordert, was sie auch der Schreibpraxis über Theateraufführungen abverlangt; sie argumentiert als Wissenschaftlerin zweifellos im Einklang mit dem von ihr formulierten Postulat und weigert sich jedweder terminologischen Kategorisierung. Wohlgemerkt, es hätte zahlreiche und allzu naheliegende Anlässe in der Beweisführung gegeben, die behandelten ethischen und politischen Dilemmata auf theaterwissenschaftliche Begrifflichkeiten zu bringen, doch hält sich die Autorin stets vor definitorischen Festschreibungen zurück. Die Derrida'sche "Abrüstung der [.] Herrschaftsrede" (S. 20) wird somit zur Devise eines Denkens über Theater und Theaterwissenschaft, eines Denkens also, das seinen Gegenstand keineswegs "zu besitzen, zu erkennen und zu begreifen, also schlussendlich vergegenständlichen zu können glaubt" (ebd.). [1] Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2008, S. 17–118, hier S. 47.
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Dass das 'Reifen' künstlerischer Kreativität bei Tänzer_innen mit dem Altern des Körpers Hand in Hand geht und somit einen ambivalenten Prozess darstellt, deutet Yvonne Rainer, Choreografin und eine der Autor_innen des Sammelbandes The Aging Body in Dance, mit einer lakonischen, aber beredten Gegenüberstellung an: "Graphic artists, musicians, photographers, composers and writers don't age; they mature." (S. 18) Wohlgemerkt: Der als Schöpfer und Medium des Tanzes zugleich zu verstehende Körper verliert mit der Zeit an Bewegungsvirtuosität und physischer Kapazität und auch das Interesse des Publikums – so die Beobachtung der vorliegenden Aufsatzsammlung – lässt mit den Jahren nach. Das gilt zumindest für Nordamerika und Europa. Der prekäre Status alternder Tänzer_innen wird in den vorliegenden, facettenreichen Beiträgen jedoch nicht nur aus ökonomischer, kultureller, medizinischer und institutioneller Perspektive beleuchtet, sondern auch auf differenzierte Weise um- bzw. aufgewertet: Statt 'disability' führen die Herausgeberinnen Nanako Nakajima und Gabriele Brandstetter eine "different ability" (S. 2) ins Feld, um eine Qualität 'reifender' Tänzer_innen jenseits der Konstruktionen von Inklusion und Exklusion stark zu machen. Damit wird natürlich das Verständnis von Tanz, ja seine genuine Ontologie angesprochen und zugleich in Frage gestellt; dieses politische Programm verbindet die einzelnen Beiträge. The Aging Body in Dance adressiert keineswegs nur ein akademisches Publikum. Die Verflechtung von theoretischen Auseinandersetzungen und vielen praxisbasierten, von Tänzer_innen, Choreograf_innen und Trainer_innen aus 'erster Hand' beschriebenen Erfahrungen führt dazu, dass das Thema der Zur-Schau-Stellung alternder Körper aus produktions- und rezeptionsästhetischer sowie aus analytischer bzw. aus sehr persönlich-reflektierender Sicht gleichermaßen beleuchtet wird. Besonders an diesem Buch ist ferner jene dezidiert transnationale Komparatistik, die den Horizont der US-amerikanischen und (west)europäischen Tanzforschung mit ausführlichen Beiträgen zu asiatischen – insbesondere japanischen – Körperpraktiken und -diskursen erweitert. Den einzelnen Kapiteln ist ein biopolitischer und kulturhistorischer Überblick von Nanako Nakajima vorangestellt. Ausgesprochen aufschlussreich erscheint hier das Widerstreben der Autorin gegen eine konzise Definition des Alterns, insofern diese altersabhängig und kulturspezifisch sei bzw. disziplinären Rahmungen unterliege. Entsprechend offen und anschlussfähig ist Nakajimas Einführung gestaltet, leitet sie doch Beiträge ein, die allesamt von einer Sensibilität für polyphone, einer intakten Theoretisierbarkeit widerstehende, teilweise auch für sehr persönliche Stimmerhebungen zeugen. Sie sind in vier Abschnitte unterteilt, die zwar einzelne Schwerpunkte ('aging body in postmodern dance', 'alternative danceability', 'contemporary dance' und 'perspectives of interweaving') umkreisen, doch die praxisnahe und komparatistische Vergleichsperspektive jeweils konsequent beibehalten. Gleich der Auftakt des ersten Abschnitts lädt dazu ein, Yvonne Rainers späte Auftritte aus einer doppelten Sicht nachzuvollziehen, werden sie doch von der Künstlerin selbst und vom Tanzhistoriker Ramsay Burt einer je eigenen Reflexion unterzogen. Was Rainer mit "existence" als ihre "preferred mode of presentation" (S. 43) etikettiert, bringt Burt mit der philosophischen Denkfigur der Singularität in Zusammenhang. Das zunehmende ästhetische Interesse für 'reife' Tänzer_innenkörper sei, so Burt, ein unvorhersehbarer, aber konsequenter "side effect" (S. 35) der minimalistischen Experimente des Judson Dance Theater gewesen. Rainer, die als Mitglied des Kollektivs in ihrem No Manifesto die Absage an die Virtuosität erklärt hat, nahm die Legitimation von 'different abilities' im Tanz gewissermaßen schon vorweg: Ihr Repertoire alltäglicher Bewegungen wie Gehen, Rennen, Stillstehen oder Sitzen, die jeweils die Ästhetik der graziösen Virtuosität unterlaufen, erweitert sie nun um die Exponierung des alternden Körpers. Johannes Odenthal ergänzt diesen historischen Rückblick auf den US-amerikanischen postmodernen Tanz mit zahlreichen Pendants aus Deutschland, Japan und Benin: Mit Gerhard Bohner, Ōno Kazuo und Koffi Kôkô führt er Beispiele an, in denen der Tanz nicht mehr als energetische Kommunikation, sondern als Archiv, ja als jene "library" (S. 49) zum Ausdruck kommt, die allererst im alternden Körper manifest werden kann. Mit dieser Sicht korrespondiert, so Tamotsu Watanabe in seiner Analyse des Nō-Theaters, auch das japanische Konzept von "Hana" (S. 51), jene Qualität nämlich, die nur erfahrene, weise und mental starke Tänzer_innen besitzen. Vor diesem Hintergrund bietet und verschränkt der Band eine Reihe theoretischer Begrifflichkeiten internationaler Provenienz: 'Singularität' (Burt), 'utopian body' (Odenthal), 'zoê' (Nakajima in Rückgriff auf Giorgio Agamben) und 'Hana' (Watanabe) sind Konzepte, die die Phänomenologie und das Körperwissen alternder Tänzer_innen zu beschreiben helfen. Der zweite Abschnitt versammelt europäische und US-amerikanische Fallstudien zu einer "alternative danceability" (S. 61). Die fehlende Stringenz akademischer Argumentationen wird in den ersten drei Beiträgen durch erfreulich persönliche, offene und auf diese Weise politische Stellungnahmen kompensiert: Ann Cooper Albright, Jess Curtis und Katie O'Reilly weiten den Analysehorizont auf das Altern insofern aus, als sie "different abilities" – von körperlich behinderten, blinden oder gehörlosen Akteur_innen – weniger als Erfahrungen des Verlusts, sondern vielmehr als Entdeckungen neuer Kapazitäten und Kreativitäten beschreiben. Die plastischen und wissensreichen Essays verbindet der Anspruch, im Fallen, Schweigen und Tasten eine Poetik, eine "alternative dramaturgy" (S. 88) jenseits semantischer Bedeutsamkeit aufzuspüren. Die Sektion schließt mit Susanne Foellmers kritischer Studie über das Altern in Theater, Tanz und Performance. Scharfsinnig weist Foellmer eingangs darauf hin, dass die Involvierung älterer Akteur_innen in zeitgenössische Produktionen häufig als problematisch zu betrachten sei, insofern diese Menschen, in komische Charaktere gedrängt, zum Spektakel zu werden drohten. Mit dem Begriff des Grotesken plädiert sie für eine ästhetische Kategorie, die den alternden Körper – am Beispiel von Romeo Castelluccis Inszenierung Sul concetto di volto nel Figlio di Dio (2011) – innerhalb seines (verfremdeten) Milieus zu perspektivieren und somit Fremdheit bzw. Alterität als Bezugspunkte zu dynamisieren erlaubt. Der dritte Abschnitt widmet sich körperpolitischen Fragen des zeitgenössischen Tanzes und versammelt Fallbeispiele, die sich durch eine existenzielle Liminalität – zwischen Leben und Tod – auszeichnen: Petra Kuppers berichtet von ihrer (choreografischen) Arbeit in einem neuseeländischen Hospiz, die auf die Entfaltung partizipatorischer, kollektiv-somatischer Praktiken zielt. Kikuko Toyama hebt das Lehrpotenzial hervor, das jüngere Tänzer_innen aus der Begegnung mit Menschen im besonders hohen Alter beziehen können, mit Menschen also, die nicht mehr in einem Universum der Effizienz und Funktionalität leben und – aufgrund ihrer buchstäblichen Marginalisierung in den neoliberalen Gesellschaften dieser Welt – in Hospizen, Klöstern oder anderen Institutionen des Rückzugs allererst aufgesucht werden müssen. Auch Anna Halprins Tanzpraxis, die bis in ihre neunte Lebensdekade hinein reichte, und deren Wirkung werden in Janice Ross' Abhandlung als eine Kunst des Sterbens gewertet, die das Subjekt und dessen Verluste durchaus zu akzeptieren und zu transformieren sucht(e). Die zwei abschließenden Beiträge ergänzen den Band aus einer kulturhistorisch-komparatistischen Perspektive. Sie fragen nach ähnlichen künstlerischen Motiven bei Choreograf_innen, die das Altern auf die Bühne brachten, und kartografieren diese Korrespondenzen über kulturelle, mediale und epochale Grenzen hinweg. Augenfällig ist an diesen Kapiteln, dass es ein wiedererwachtes Interesse für die menschliche Hand gibt: Mark Franco wird auf sie in den späten Auftritten von Martha Graham und Merce Cunningham als einen Körperteil aufmerksam, der trotz des Alterns mobil bleibt, eine eigene Sprache 'spricht' und dessen Gestik als "the shorthand of dance" (S. 155) zu betrachten ist. Nanako Nakajima nimmt Yoshito Ohnos Lecture Performance Figures of Life zum Anlass, um uns mit Ōno Kazuos Butoh, seinen Gesten und sogar mit seinem Handschütteln in Berührung zu bringen. Der Band, seine Vielstimmigkeit und plastischen Zugriffe zeugen neben den Herausforderungen alternder Tänzer_innen auch davon, dass vor allem die Zuschauer_innen und Kritiker_innen des Alterns auf der Bühne in eine schwierige Situation versetzt werden: Sie müssen das konsensuelle Verständnis darüber, was Tanz sein kann, verabschieden und nach neuen Maßstäben, ästhetischen Kategorien und Körperkonzepten suchen. Das vorliegende Buch ist ein erster und wichtiger Schritt in diese Richtung.
BASE
In: Paragrana: internationale Zeitschrift für historische Anthropologie, Band 26, Heft 2, S. 80-96
ISSN: 2196-6885
Abstract
Der Aufsatz öffnet den Blick auf die globale Landkarte der Performancekunst und zeichnet Korrespondenzen zwischen Künstlerinnen und Künstlern, die in unterschiedlichen diktatorischen oder ideologisch unterdrückenden Regimen des 20. Jahrhunderts die Medialität der Performance in der Logik einer notorischen Repetition gedacht und als tagtägliches Geschäft praktiziert haben, um ihre soziale Gegenwart zu einer alternativen Zeit- und Seinsdimension auszuweiten. Mit Hilfe ihrer Persistenz auf das Wiederholen des Vergänglichen haben Song Dong aus Peking, Ana Mendieta aus Kuba und Endre Tót aus Ungarn nicht nur ungewöhnliche Tagebuchformate entworfen, sondern durch die langjährigen Reminiszenzen einer künstlerischen Beschäftigung (in Schrift, in ephemerem Bild und in Zahl) ihren Alltag auch radikal verändert.
In: Routledge advances in theatre and performance studies
In: Schriftenreihe des DFG-Graduiertenkollegs "Das Wissen der Künste"
For quite some time the concept of reenactment has enjoyed popularity as an artistic practice used to visualize and contemporize the past. More recently the term preenactment has started to receive a great deal of attention. Preenactment as a performative practice does not deal with the revision or replication of a historic event, instead it sets out to experiment with fictitious time(s) and space(s). How can one conceptualize the temporality of preenactment when its vectors, intensities, and affects go beyond an allegedly fleeting moment? Similar to the way in which reenactment always provides a prospective dimension, preenactment always includes a retrospective dimension which is why the conference conceives of it as (P)reenactment. It thereby encourages the establishment of a new perspective on the notion of reenactment, whereby reoccurrence, repetition, or duration do not stand at the forefront, but rather as a beginning, as a means of relief, reorientation, and a process of transition. The interdisciplinary conference aims at examining Pre-, Re-, as well as En-actments that are not just based on artistic practices, but include social, medial, political, and activist phenomena. To what extent can artistic (P)reenactments influence – especially in terms of anticipation – political relationships and vice versa? To what extent is the theory of (P)reenactment capable of redefining the relationship between art and politics? Which role do cultural-historic preconditions play in particular courses of action and habits of perception? Moreover, the conference aims at conceptualizing (P)reenactments beyond their definition as live performances by drawing on the discourses of media studies. (P)reenactments are to be understood as phenomena not only within artistic frameworks but are encountered in other social contexts as well. Along with the temporal and spatial dynamics of (P)reenactments, their different affective potential has to be addressed also: In (P)reenactments, the capacity to move and be moved takes place ...
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