In: Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Teilbd. 1 und 2, S. 68-69
In: Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen: Verhandlungen des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Göttingen 2018, S. 1-8
In: Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen: Verhandlungen des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Göttingen 2018, S. 1-8
In dem Beitrag wird die Frage diskutiert, inwieweit Esoterik als Ideologie im Sinne von notwendig falschem Bewusstsein begriffen werden kann. Im ersten Teil wird die esoterische Subjektivität gesellschaftstheoretisch und psychoanalytisch bestimmt und die Bedürfnisse analysiert, die durch Esoterik befriedigt werden, sowie die Funktion untersucht, die diese Ideologie erfüllt. Im zweiten Teil werden dann diese Resultate mit Theodor W. Adornos Bestimmungen des Ideologiebegriffs in seinem Beitrag zur Ideologienlehre von 1954 konfrontiert. Adorno behauptet dort, dass die Ideologie nach dem Ende des liberalen Unternehmerkapitalismus nicht mehr als notwendig falsches Bewusstsein begriffen werden könne. Im Gegensatz dazu wird die These aufgestellt, dass Ideologien der Massenkultur wie die Esoterik trotz ihres Mangels an Kohärenz notwendig falsches Bewusstsein darstellen, insofern sie sich blind und anonym aus dem gesellschaftlichen Prozess kristallisieren und in ihnen der gesellschaftliche Geist zum Ausdruck kommt.
Citizen Science beschreibt die aktive Einbeziehung von "Laien" in die wissenschaftliche Wissensproduktion, d.h. eine Zusammenarbeit zwischen freiwilligen Bürger*innen und Wissenschaftler*innen, die in wissenschaftlichen Einrichtungen arbeiten. Die Ziele von Citizen Science sind oft vielfältig und umfassen bspw. die Förderung der Wissenschaften durch die Einbeziehung des Wissens und der Fähigkeiten von Nicht-Wissenchaftler*innen und die Förderung der wissenschaftlichen Kompetenz einer breiteren Öffentlichkeit in Bezug auf wissenschaftliche Standards und Praktiken. Angesichts der Vorteile, die Citizen Science verspricht, ist es überraschend, dass dieser Ansatz in den Sozialwissenschaften und insbesondere der Soziologie nicht weiterverbreitet ist. In der Tat stellt Social Citizen Science bzw. Citizen Social Science ein relativ neues Feld dar. In diesem Beitrag werden daher zunächst unterschiedliche Formen von Citizen Science erörtert, die sich entlang der beiden Dimensionen (1) Grad der Integration von Nicht-Wissenschaftler*innen und (2) an den allgemeinen Schritten und Aufgaben im Forschungsprozess einordnen lassen. Anschließend wird das Verhältnis von Citizen Science und soziologischer Forschung erörtert, wobei die Besonderheiten der Sozialforschung in ihren verschiedenen Formen dargestellt und mit den bestehenden Citizen Science-Ansätzen verglichen werden. Darüber hinaus werden die Potenziale und möglichen Hindernisse für die Übernahme von Citizen Science-Ansätzen in den Sozialwissenschaften bzw. der Soziologie erörtert.
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 2768-2780
"In der Medizin zeigt sich nach Foucault eine Verknüpfung zweier Machtpraktiken, wobei die eine auf den individuellen, die andere auf den kollektiven Körper gerichtet ist. Während die erste disziplinierend, den individuellen Körper zu einem produktiven Körper umformt, richtet sich die Biomacht auf die bevölkerungspolitische Regulierung. Beide Formen der Macht (Disziplinar- und Biomacht) stehen dabei in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis. Dieses Wechselverhältnis soll am Fallbeispiel des epileptischen Körpers im 20. Jahrhundert genauer untersucht, dargestellt und erläutert werden. Das Beispiel Epilepsie ist dabei als Fall insofern besonders interessant, als dass sich hier grundlegende Formen und Effekte der Disziplinar- und Biomacht zeigen. So erscheint Anfang des 20. Jahrhunderts im medizinischen Diskurs der epileptische Körper als Widerstandsform gegen die Disziplinierung des Körpers, bei der die 'Seele' als der zentrale Schlüssel zum Gefängnis des Körpers, insbesondere im Akt des Anfalls nicht ansprechbar ist (z.B. im psychoanalytischen Diskurs). Darüber hinaus versagen die medizinischen Praktiken bei der Kontrolle des Anfallsgeschehens und leisten bei der weiteren Generierung von Abweichung durch psychopharmakologische Nebenwirkungen einen ähnlichen Dienst wie das Gefängnis bei der Vernetzung des Verbrechens (s. Foucault: Überwachen und Strafen). Die biopolitische Folge ist ein weitgehender Ausschluss des Epileptikers aus zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens (z.B. der Arbeitswelt). Im Nationalsozialismus mit seiner besonderen Form der biopolitischen Regulierung zeigt sich die extremste Variante der Biomacht in Form des - wie Foucault es nennt - modernen Rassismus, der auf die Vernichtung der Abweichenden abzielt. Mit der Entwicklung neuerer therapeutischer Eingriffsmöglichkeiten insbesondere ab Mitte des 20. Jahrhunderts beginnt dann schrittweise eine Normalisierung des Phänomens mit einer Zurückdrängung bzw. Individualisierung biopolitischer Regulationen. Als eine besondere Form des disziplinären Zugriffs auf den epileptischen Körper muss dabei die so genannte Methode der Selbstkontrolle gesehen werden, bei der mittels einer Biofeedback-Methode es zur Konditionierung bestimmter Hirnareale mit dem Ziel der Unterbindung epilepsiespezifischer Wellenpotentiale kommt. Im Rahmen des Wechselverhältnisses zwischen Biomacht und Disziplinarmacht lassen sich zwei große Linien am Fallbeispiel verdeutlichen. Erstens: Eine erfolglose medizinische oder soziale Disziplinierung, d.h. ein Misserfolg bei der Herstellung eines gesunden und normalen Körpers, setzt bestimmte biopolitische Regulationsmechanismen in Gang. So kommt es bei den als deviant markierten Subjekten zu spezifischen Naturalisierungszuschreibungen, die aus dem als diskursiv widerständig konnotierten Körper abgeleitet werden und zu spezifischen biopolitischen Regulationsformen, deren extremste Variante der Rassismus ist, führen. Zweitens beinhaltet eine erfolgreiche Disziplinierung des Körpers zwar wiederum biopolitische Effekte, jedoch erscheinen diese als summative Serienphänomene und rufen insofern keine explizite sozialtechnologisch-biopolitische Regulierung auf den Plan." (Autorenreferat)
"Die in der Soziologie bestetablierte Verknüpfung der Begriffe 'Wissen' und 'Körper' besteht darin, den Körper als Gegenstand von Wissensbeständen zu betrachten - ein Wissen vom Körper in Medizin und Biologie und in diversen Alltagswissensbeständen. Zusammen genommen bilden sie unsere 'Ethnobiologie' - ein Konvolut, das u.a. ethnosemantische Kategorien, Deutungsmuster und medizintechnische Visualisierungen umfasst. Diese Konzeption erlaubt interessante diskursanalytische Untersuchungen, sie verharrt aber in einer eher defensiven Haltung gegenüber dem Körper. Sie konzipiert die Soziologie als eine Geisteswissenschaft, die ihre Domäne in sprachlicher Kommunikation und im kognitiven Wissen hat. Die Naturwissenschaften (und ihr Körper) werden dabei implizit als 'Opponent' entworfen, dessen Themen und Relevanzen kontaktscheu zu meiden sind. Der Vortrag versteht die Soziologie des Körpers dagegen als einen auch konzeptuell folgenreichen Versuch, den Körper soziologisch zu besetzen. Er fragt, was es konzeptuell bedeutet und methodisch erfordert, den Körper als Teil materieller Kultur ernst zu nehmen. Der Wissensbegriff und seine stärkere Somatisierung spielen dabei eine wichtige Rolle. Wichtige Schritte dazu sind in der Phänomenologie des Leibes getan worden, die den Körper und seine Sinne als vorrangige Quelle des Wissenserwerbs würdigen. Der Vortrag wird sich mit zwei weiteren (ebenso traditionsreichen) Verbindungen von Wissen und Körper befassen. Die erste ist das Wissen am Körper, das den Körper nicht als Thema, sondern als Medium von Kommunikation betrifft. So wie man in Texten Wissen speichert, ist auch der Körper ein Ort der Niederlegung von (vor allem visuellen) Zeichen. Soziale Wirklichkeit ist exhibitionistisch, sie stellt sich aus und zwar insbesondere in den Themen, über die man nicht spricht. Und in eben dieser Offensichtlichkeit wird ein Wissen präsent gehalten. Dieses Wissen ist ein explizites, aber nicht-propositionales Wissen. Es sorgt für eine laufende Selbstveranschaulichung des Sozialen. Der zweite Aspekt betrifft das Wissen im Körper, den Körper als Träger von Praktiken. Auch bei diesem 'embodied knowledge' kann die Soziologie des Körpers auf eine reiche Tradition zurückgreifen, die von Marcel Mauss über Alfred Schütz und Michel Foucault bis zu Pierre Bourdieu reicht. Der Vortrag will deutlich machen, welche Chance in einer körpersoziologischen Auffächerung des Wissensbegriffs liegt. In Bezug auf das Verhältnis von Soziologie und Naturwissenschaft ergibt sich: Die Habitualisierung von Wissen stiftet eine viel wirksamere und tiefere 'Naturalisierung' als die Autorität naturwissenschaftlicher Diskurse." (Autorenreferat)
Der Autor erläutert in seinem Vortrag folgende These, aus welcher er eine Reihe von Prognosen und Spekulationen zur "medikalisierten" Gesellschaft ableitet: Der europäische Homo faber wird heute zusehends in eine Situation getrieben, in der es ihm nicht mehr erlaubt sein wird, von seiner natürlichen Konstitution wie von seiner Persönlichkeit so wenig zu wissen, wie es ihm gestern noch möglich war. Er wird zu einer kaum geahnten und doch gefürchteten Kenntnis von sich und zu Erwartungen gezwungen sein, weil solche Kenntnis durch die moderne Biotechnologie nunmehr möglich ist. Andernfalls würde der europäische Homo faber, der allzu ausschweifend von seiner Lizenz des Nichtwissens und der Eigenignoranz Gebrauch macht, umkommen und keine organisierte Gesellschaftlichkeit könnte ihm vom Sturz abhalten. Der Autor verdeutlicht diesen unbedingten Zwang zur Selbstkenntnis und damit zur Selbstverfügung anhand der raschen Entwicklung der Gentechnologie, insbesondere der In-vitro-Fertilisation. Er beschreibt ferner einige Elemente, die die unaufhaltsame Tendenz zur Selbstkenntnis des Individuums und zur Transparenz seiner biologischen Konstitution belegen und einen "neuen Menschen" sichtbar machen. (ICI2)
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 5080-5088
"Der medizinethische Diskurs im Krankenhaus etabliert eine Form der Aktivierung autonomer Sprecher, die sich vorwiegend nicht über vernünftige Gründe sondern über die authentische Rede von der Dominanz des Medizinischen emanzipieren. Während der medizinische Kontext die ärztliche Expertise als maßgebliche für den Alltag auf Station etabliert, an der sich alles praktische Handeln auszurichten hat, erzeugt der ethische Diskurs zunächst Offenheit. Der empirische Blick auf die Diskussion in klinischen Ethik-Komitees stößt auf unterschiedliche Publika, die über authentische Erfahrung Kompetenzen etablieren, die der medizinischen Praxis auf Station in dieser Form nicht zur Verfügung stehen: Über den Verweis auf gesunden Menschenverstand, richtiges Einfühlungsvermögen (Bauchgefühl) und die Fähigkeit, Patienten nicht nur als kranke Körper sondern auch als Träger von Biografien wahrzunehmen, wird im interdisziplinären Diskurs unter Theologen, Pflegekräften, Patientenfürsprechern und auch Medizinern genau das entwertet, was die Praxis einer kurativen Medizin ausmacht: zeitknapp Entscheidungen für die Zukunft kranker Körper zu treffen. Entgegen der Annahme einer vernunfttheoretischen Konzeption angewandter Ethik zeigt der empirische Blick am Beispiel Klinischer Ethik-Komitees (DFG-Projekt 'Ethik und Organisation', Leitung: Prof.Dr. Nassehi), dass der Effekt solch einer Debatte eher nicht der einer Entmachtung medizinisch asymmetrischer Entscheidungsfindung ist. Die medizinethische Diskussion zielt auf eine Neubeschreibung medizinischer Expertise ab: Über die medizinethische Debatte lernen Klinikmitarbeiter unterschiedliche authentische Publika aufeinander zu beziehen und als kontingente Erfahrungszusammenhänge zur Kenntnis zu nehmen. Während Pflegekräfte über den medizinethischen Diskurs lernen, ihre moralische Entrüstung über den als unmenschlich kritisierten Blick des Arztes auf den Patienten vor einem Publikum plausibel versprachlichen zu müssen, erleben Ärzte, dass es neben der medizinischen Expertise andere Positionen in einem Krankenhaus gibt, die berücksichtigt werden wollen." (Autorenreferat)
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 4158-4170
"Aktuelle Arbeiten der gender und science studies attackieren die 'moderne' dualistische Unterscheidung zwischen Natur und Kultur. Ihr Hauptkritikpunkt richtet sich gegen die Konzipierung der Moderne als ein Projekt wissenschaftlich-technische Rationalität, das zwischen politischer und epistemologischer Repräsentation, zwischen Kultur und Natur strikt trennt, gemäß der Vorstellung von Kultur als Ergebnis immanenter zeitlich und räumlich gebundener Verhandlungen und Konstruktionsleistungen und Natur als transzendenter Bereich von Universalität, Fakten und Wahrheit. Stattdessen wird auf die 'Bruchstellen' und 'unbeabsichtigten Nebenfolgen' dieser Unterscheidung verwiesen, mit dem Ziel, die vielfältigen Phänomene und Verschränkungen zwischen Natur und Kultur aufzuzeigen und sie gleichzeitig theoretisch wie theoriewissenschaftlich neu zu rahmen. Ausgehend von Bruno Latours und Michel Callons Actor-Network Theory und Donna Haraways 'Cyborg-Mythos' fokussiert der Beitrag die (Neu-)Konzeption von Natur und Kultur im Kontext poststrukturalistischer Theorien. Während im ersten Teil theoretische Überlegungen im Vordergrund stehen, sollen daran anschließend auch Beispiele von Natur-Kultur-Konstruktionen aus der Forschungspraxis und daraus resultierende Probleme diskutiert werden. Als Grundlage dienen hierbei erste Ergebnisse eines Forschungsprojekts zu Körper- und Geschlechtsrollenerfahrungen brustkrebserkrankter Frauen, das die Problematik einer rigiden Natur-Kultur-Unterscheidung im Kontext der Medizin aus Sicht der Betroffenen thematisiert und Ansätze einer personalen wie gesellschaftspolitischen Neuordnung aufzeigt." (Autorenreferat)
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 3091-3102
"Musik macht Sinn. Die Frage ist nur: welchen? In der Geschichte der Menschheit sind auf diese Fragen sehr unterschiedliche Antworten gegeben worden. Das Charakteristische der europäischen Antwort zeigt sich im kontrastiven Vergleich mit der indischen Musikauffassung. Hier gleichtemperierte Stimmung, Notenschrift, Komposition und Mehrstimmigkeit, dort mikrotonal strukturierte Melodietypen, mündliche Wissensvermittlung und grundtonorientierte Improvisation. Diese Merkmale kodieren nicht nur Klang-, sondern auch Kulturunterschiede. Dementsprechend manifestiert sich in Indien und Europa der Sinn musikalischen Handelns in unterschiedlichen Arten der Produktion, Performanz und Rezeption von Musik. Im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts galt der Komponist als Inbegriff souveräner Subjektivität: aus dem toten Material der Töne schuf er lebendige Werke, mit denen er seine Subjektivität für sich und für andere zum objektiven Ausdruck brachte. Die Wirkkraft dieser Idee ist auch der gegenwärtigen Pop- und Jazzmusik noch anzuhören. In der klassischen indischen Musik steht das Verhältnis zwischen dem Musiker und der von ihm hervorgebrachten Musik unter anderen Vorzeichen. Hier dienen die Töne nicht als Medium zur Objektivierung von Subjektivität, sondern hier dient umgekehrt der Musiker den Tönen als Medium. Das Ziel des Musizierens besteht demgemäß in der subjektlosen Verkörperung von objektivem musikalischem Sinn. Vor diesem Hintergrund stellt sich das Problem der Handlungsträgerschaft in den Musikkulturen Indiens und Europas sehr verschieden dar. Die Handlungsträgerschaft ist der Punkt, den europäische Musiker auf ihr Selbst und indische Musiker auf ihre Selbstlosigkeit verweisen. Die Entstehung dieser unterschiedlichen Auffassungen von musikalischem Handeln wird in Kulturvergleichender Perspektive anhand der Geschichte der Notenschrift und der Bedeutung der Improvisation rekonstruiert. Zur Darstellung der Differenz zwischen der europäischen und indischen Musikkultur werden darüber hinaus Videobeispiele gezeigt." (Autorenreferat)
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 3061-3069
"Technik ist, soziologisch betrachtet, ein Grundtatbestand des menschlichen Lebens, ein 'phénomène social total' (Mauss). Man kann die Menschheitsentwicklung seit ihrem Anbeginn an als eine Geschichte der Technik und Technikentwicklung lesen - von den ersten Steinwerkzeugen bis hin zu 'intelligenten' Objekten oder computer- bzw. roboterassistierten Instrumenten. Bereits Gehlen (1986) verwies darauf, dass Technologieentwicklung und -einsatz immer zum Ziel habe, menschliche Organe zu ersetzen, zu erweitern, zu entlasten oder zu überbieten. Betrachten wir computerassistierte Technik im Medizinbereich, so haben wir es mit einem deutlichen Beispiel der Organüberbietung zu tun: Computergesteuerte Prozesse sollen bei medizinischen Eingriffen im menschlichen Körper dem Mediziner assistieren und die Fähigkeiten des Operateurs überbieten (Darstellung visueller Daten sowie deren Zoom; höhere Genauigkeit beim Eingriff durch Herausfiltern des Tremors usw.). Technik ist jedoch mehr als lediglich ein Artefakt, welches bestimmte Funktionen erfüllen kann - Technik ist immer auch eine figurative Sozialbeziehung, indem die Artefakte in soziale Handlungsvollzüge einbezogen werden und die Akteure mittels dieser sowie mit ihnen interagieren. Technik beeinflusst somit nachhaltig soziale Handlungsstrukturen und Beziehungen und ist elementarer Bestandteil menschlicher Kultur (Sombart 1911); Handlungstechniken bilden spezifische kulturelle Muster ab (Mauss 1934) und in Anlehnung daran kann geschlossen werden, dass technisch unterstützte Handlungsmuster zu Zeichen kultureller Praktiken werden durch ihren doppelten Grad der Kulturation: durch ihren technischen artifiziellen Charakter sowie ihren durch ihre figurative Einbindung und Habitusformierung. Der Vortrag setzt sich mit dem Einsatz computerassistierter Systeme (CAS) in der Chirurgie und deren soziologischen Folgen auseinander. Es wird am Beispiel des Da-Vinci-Systems, einem computerassistierten Telemanipulationssystem für minimal invasive Eingriffe, aufgezeigt, dass der Einsatz computerisierter Anwendungen aus soziologischer Perspektive u.a. zu einer Hybridisierung von Handlungsstrukturen führt. Die Folgen dieser Grenzverschiebung werden im Vortrag diskutiert." (Autorenreferat)
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 2241-2251
Der Autor zeigt in seinem Vortrag, dass die Dichotomie von Natur/Geschichte auch im Hinblick auf die Definition von sozialen Gemeinschaften von Bedeutung ist. Ein analoger Gegensatz zwischen Natur und Geschichte kann zum Beispiel aus der politischen Mythologie serbischer Kulturträger abgeleitet werden. In diesen symbolischen Beschreibungen erscheint der Naturzustand als derjenige, in welchem die Bewohner ihre authentischen, von Gott gegebenen Lebensformen bewahrt haben. Im Gegensatz dazu stehen die urbanen, multi-ethnischen Ballungszentren. Folglich ließen sich die Wurzeln der nationalen Identität nicht im politisch-kulturellen Zentrum der Hauptstadt, sondern in der ländlichen Peripherie auffinden. Der Autor konzentriert sich bei seinen Ausführungen auf eine besondere, von Ernst Cassirer ausführlich untersuchte Welterschließungsfunktion: den Mythos. Denn diese Wahrnehmungsform wird häufig mit einem engen Verhältnis zum natürlichen Ursprung der sozialen Vorstellungswelten in Verbindung gebracht. Der Autor wendet Cassirers Beobachtungen über die Wirkungsweisen und politischen Mobilisierungsfunktionen des mythischen Bewusstseins exemplarisch auf das Verhältnis von Mythos und Krieg der Serben seit Ende der 1980er Jahre an, um einige soziokulturellen Dynamiken, die mit einer mythologischen Wahrnehmung in Verbindung stehen, zu verdeutlichen. (ICI2)
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 5884-5896
"Ausgangspunkt ist der zeitdiagnostische Befund einer ausdrücklichen Erfahrungszentriertheit unserer Gesellschaft. Gemeint sind damit freilich nicht die alltagstypischen, sondern die massenhafte Kultivierung solcher den Rahmen des Alltäglichen übersteigenden Erfahrungen, die in der Gegenwart zu einem breiten kulturellem Thema avanciert sind. Die Mundanphänomenologie bietet mit der Theorie mannigfacher Wirklichkeiten einen Ansatz, der es erlaubt, die Formen allgemein menschlicher Erfahrungen zu beschreiben - der alltäglichen ebenso wie die jener, die den Rahmen der geschlossenen Sinnprovinz der intersubjektiven Wirkwelt des Alltags transzendieren. Offen bleibt allerdings, inwiefern diese anderen Sinnprovinzen selbst Teil der universellen Matrix der Strukturen der Lebenswelt sind oder aber das Ergebnis kultureller Konstruktion darstellen. Daran anknüpfend ist am Beispiel der außeralltäglichen Erfahrungen zu fragen, wie mithin das Verhältnis von Kultur und Natur, von Bewusstseinsprozessen und leiblichen Vorgängen einerseits und deren Deutungen andererseits gefasst werden kann. Die Beantwortung dieser Frage soll unter Berücksichtigung empirischer Materialien erfolgen, die ethnophänomenologische Beschreibungen enthalten. Der Begriff der Ethnophänomenologie bezeichnet die von Betroffenen selbst produzierten Beschreibungen der Formen ihres nichtalltäglichen Erlebens. Denn die Phänomenologie ist als egologische Methode eine Art der philosophischen Reflexion über die Formen des eigenen Erlebens. Doch obwohl sie das Resultat größerer reflexiver Anstrengungen darstellt, ist die Zuwendung auf das eigene Erleben alles andere als ein exklusives philosophisches Privileg. Zugang zu den Formen des eigenen Erlebens haben immer die Subjekte selbst, wenngleich deren Darstellung mit den Schwierigkeiten der sprachlichen Artikulation behaftet ist. Weil also die Vergemeinschaftung subjektiver Transzendenzerfahrungen kommunikative Formen erfordert, setzen an dieser Stelle gattungstheoretische Überlegungen an. Insgesamt zielt der Beitrag damit auf die Entfaltung einer Soziologie der Erfahrung als empirisch wissenssoziologischer Anknüpfung an die Schütz-Luckmannsche Theorie mannigfacher Wirklichkeiten." (Autorenreferat)
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 4875-4883
"Musik scheint in der menschlichen Natur begründet zu sein. Im anthropologischen Sinne ist sie eine existentiale Möglichkeit, im biologischen Sinne ist sie mit dem menschlichen Körper verwoben. Ferner scheint sie kulturübergreifend zu sein, da alle Menschen Musik machen und verstehen können. Ein konkreter interkultureller Vergleich zeigt jedoch, dass Musikstücke sehr unterschiedlich interpretiert werden. Auch wenn einige Aspekte von Musik eine Art universale Sprache zu bilden scheinen, kann man sich in dieser Sprache nicht universal verständigen, weil die jeweiligen kulturellen Muster stark voneinander abweichen. Bei Grundstimmungen (im Sinne Bollnows) ist die Variation geringer. Werden Trauer und Glück musikalisch ausgedrückt, schränkt sich die Bandbreite musikalischer Möglichkeiten offenbar ein, zumindest insofern sie gesellschaftlich sanktioniert sind. Vor dem Hintergrund biographischer Erfahrungen beschäftigte sich Gustav Mahler in seinem Spätwerk mit Alter, Krankheit und Tod. Die Phänomene sind anthropologische Konstanten und veranlassten den Buddha dazu, seine metaphysisch-religiöse Lehre zu entwickeln. Ähnlich wie die buddhistische Metaphysik lässt sich auch Mahlers 9. Symphonie deuten: eine zugleich heitere, entschuldigende und melancholische Absage ans Diesseits. Ist diese Deutung interkulturell verständlich und annehmbar? Was ist das Besondere an Mahlers Interpretation der Phänomene Alter, Krankheit und Tod? Ist die Interpretation unabhängig von Natur zum einen und von einer bestimmten sozialen Perspektive zum anderen denkbar?" (Autorenreferat)