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In: Journal of Austrian studies, Band 55, Heft 4, S. 25-47
ISSN: 2327-1809
Als im Frühjahr 2020 die Covid-19-Pandemie zu Theaterschließungen führte, provozierte das im Kulturbereich eine paradoxe Geschäftigkeit im Stillstand: Wer es sich leisten konnte, hielt inne und kontemplierte über den Sinn der eigenen Tätigkeit oder die soziale Existenz. Parallel wurde die Starre des Lockdowns mit Streamings, Lesungen und Videokonferenzen gefüllt, in denen sich des Daseins versichert oder auf eine Zeit vor und nach der Pandemie referenziert wurde, die es zu bewahren oder umzukrempeln galt. Das Buch Why Theatre? ist ein vielschichtiges Produkt dieser ersten Phase der Pandemie. Initiiert vom künstlerischen Leitungsteam des Nationaltheaters Gent, versammelt es 106 kurze Statements von Theatermacher*innen zu der großen Frage: Why Theatre? Angesichts des Lockdowns, der auch die Theater betraf, unternahmen die eingeladenen Künstler*innen genau diese produktive Kontemplation. Entstanden sind kurze Mediationen auf Form und Funktion, Sinn und Unsinn, Vergangenheit und Zukunft von Theater als einer künstlerischen, aber auch als einer kulturellen und sozialen Praktik, die während der Pandemie ihres sozialen Sinns kurzfristig verlustig zu gehen schien. Die knappe Frage – warum Theater? – provozierte dabei eine Vielzahl unterschiedlicher Antworten. Sie kommen in großen Begriffen oder als poetische Erinnerung daher; sie sind als politisches Statement konzipiert oder versuchen die definitorische Bestimmung von Theater generell. Der Dramaturg und (Ex-)Intendant Matthias Lilienthal findet im Theater das Laboratorium einer künftigen Gesellschaft, die brasilianische Regisseurin Cibele Forjaz hingegen den "Molotov cocktail for the polis" (S. 89). Theater sei – so Florian Malzacher – "a place to come together", an "agonistic arena" (S. 70/172). Während andere die soziale Situation oder die Präsenz potenziell infektiöser Körper (Oliver Frljić) betonen. Theater ist, folgt man den Statements des Buchs lose weiter, a "promise to take you on my back" (Carole Umulinga Karemera, S. 321), "the modification of the real" (S. ...
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Von Krötenschluckern, Volkssängern und Zauberkünstlern: Die neue Monographie von Klaus Hödl rückt eindrücklich die Wiener Volkssängerszene um 1900 in den Fokus der Geschichtsschreibung. In kleinen Fallbeispielen erzählt sie vom Zwist unter Volkssängern, der sich zum "Krieg" auswächst, von Theatermanuskripten und der sozialen Lage von Künstlerinnen und Künstlern. Die Publikation zielt dabei auf die Beschreibung jüdischen Engagements in der populären Kultur und der so ermöglichten kulturellen Begegnung zwischen Juden und Nicht-Juden. In diesem Sinn erweist sich der Untertitel Juden in der Wiener populären Kultur um 1900 als programmatisch. Ausgehend von der Feststellung, dass "jüdische Zauberer und Krötenschlucker bislang kaum ein Thema für Untersuchungen dargestellt haben" (S.22), schließt Klaus Hödl – Historiker am Centrum für Jüdische Studien an der Universität Graz – mit dieser Monographie an eigene Arbeiten zu "jüdischer Differenz" und Populärkultur an. Er erprobt diese im Feld der Volkssänger- und Varietészene in Wien um 1900. In Form von kleinen Erzählungen und Episoden sowie kurzen Stück- und Institutionsgeschichten soll insbesondere eine übergreifende These untermauert werden: Wiener Populärkultur werde, laut Hödl, von Kontakten und Interaktionen zwischen Zugewanderten untereinander und der ansässigen Bevölkerung geprägt. Die Grenzen zwischen "jüdischer und nichtjüdischer Sphäre" (S.16) seien dabei eher durchlässig als solide und mit dichotomischen Annäherungen kaum zu fassen. Sie würden, ebenso wie das Verständnis vom Jüdisch-Sein, stetig ausgehandelt und müssten damit auch permanent neu kontextualisiert werden. Das von Hödl markierte Forschungsdesiderat jüdischen Engagements in der Wiener Populärkultur soll mit der Publikation historiographisch erschlossen werden und gängige Narrative über die Wiener Jahrhundertwende ergänzen. So macht der Autor ein unvollständiges Bild über die Wiener Judenschaft aus, das hauptsächlich über das "Akkulturationsnarrativ" oder die "Verbürgerlichung" (S.22) von Juden gezeichnet worden sei. Bisherige Arbeiten hätten mehr jüdisches Leben und antisemitische Anwürfe akzentuiert, dabei das Zusammenleben und -arbeiten von Juden und Nicht-Juden hintangestellt. Jenes gemeinsame Wirken in der Wiener Populärkultur perspektiviert die Publikation in fünf Kapiteln – beginnend mit einleitenden Überlegungen zu "Juden in der Wiener Populärkultur um 1900 als Forschungsdesiderat". Darin wendet Hödl das beklagte Desiderat produktiv, indem er nach den Gründen für die Forschungslücke fragt und vier davon anführt. Alle vier scheinen bedenkenswert, wenn auch nicht gleichermaßen tragfähig. So ist die "subversive Dimension der Populärkultur" (S.32) sicher ein wichtiger Faktor für historiographische Auslassungen, verweigert sie sich doch einem bürgerlichen Theaterverständnis und fügt sich damit auch schlecht ein in "Reformtheatergeschichtsschreibung" (Stefan Hulfeld). Dass die von Hödl so benannte "Akkulturationsgeschichtsschreibung" (S. 34) den Blick auf Populärkultur zugunsten einer stärker akzentuierten "Hochkultur" verstellt habe, die Geschichtsschreibung über Wiener Juden also bislang mehrheitlich auf bürgerliche Kultur fokussiert wurde, fügt sich ein in die Historiographie zur Wiener Moderne insgesamt, die zunächst das jüdische Engagement in der "Hochkultur" des seit den 1980er Jahren neu entdeckten Fin de Siècle betonte und so wichtige Impulse setzte. Dass der Blick gegenwärtig über diesen Kultur- und Epochenbegriff hinausgehen kann, ist auch Produkt von und Reaktion auf Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre. Die Engführung der Historiographien zu Wiener Juden im Kontext der Geschichtsnarrative über die Moderne könnte hier weiterführend erhellend sein. Zwei weitere von Hödl angeführte Gründe für das Desiderat zielen auf Rechercheschwierigkeiten. So seien erstens die erschwerte "Identifizierung jüdischer Kulturschaffender in der Populärkultur" (S. 28) und zweitens "Auslassungen in jüdischen Zeitungen" (S.41) für die Forschungslücke mit verantwortlich. Künstlernamen verdeckten das Jüdisch-Sein der betreffenden Personen und beeinträchtigten so die Forschungen zu Juden in der Populärkultur. Ein Grund, der berechtigt sein mag, aber dann gleichermaßen für andere, bereits gut erforschte Bereiche gelten müsste, bedenkt man die gängige Praxis der Namensänderung und -angleichung (Max Reinhardt als geborener Goldmann ist nur ein mittlerweile bekanntes Beispiel hierfür). Die vierte und letzte Erklärung für die Forschungslücke wirft die wichtige Frage nach der Quellenlage insgesamt auf: Da Historiker der jüdischen Geschichte, so Hödl, mehrheitlich jüdische Zeitungen rezipierten, dort Populärkultur aber nicht verhandelt werde, bleibe diese auch in der Geschichtsschreibung ein blinder Fleck. Dass Hödl selbst aber hauptsächlich auf eine beschränkte Auswahl an Quellen – auf Notizen im Illustrierten Wiener Extrablatt und in der Zeitschrift Variété – zurückgreifen muss, legt vielmehr die Frage nahe, ob Populärkultur nicht insgesamt weniger in Zeitungen und Schriftkultur stattfindet, allein deswegen schwerer zu erforschen und oft nur mit Hilfe interdisziplinärer Zugänge zu erhellen ist. So sind die Spuren populärkultureller Aktivitäten auch im von Hödl herangezogenen Extrablatt mehrheitlich rudimentär. Vom gut dokumentierten "Volkssängerkrieg" abgesehen, erlauben die Hinweise darin oft nur Rückschlüsse darauf, dass etwas, aber kaum wie es stattgefunden hat. Während Produktionen des Burgtheaters oder der Hofoper breit besprochen werden, scheinen jene populärkultureller Bühnen meist nur im Vergnügungs-Anzeiger in Form von Werbeanzeigen auf. Das zweite Kapitel thematisiert "Jüdische Volkssänger und Artisten in Wien um 1900", stellt etwa die Folies Comiques, die Lemberger Singspiel-Gesellschaft und die Gesellschaften Hirsch und Kassina samt deren wichtigsten Mitwirkenden, Stücktiteln und Inhalten im Modus eines grundlegenden Überblicks vor – um dann im Folgekapitel zu "Jüdisch-Sein unter den Wiener Volkssängern" die Perspektive auf den Volkssänger Albert Hirsch und den sich um ihn entzündenden "Volkssängerkrieg" zu verengen. Anhand dieses Konflikts, der sich im Wesentlichen um Fragen der Lizenzierung und Konkurrenz von zugereisten Gruppen drehte, skizziert Hödl nicht nur detail- und kenntnisreich alltagsweltliche Umstände der Szene, sondern gewährt auch einen Einblick in soziale und politische Problemlagen im Kontext der Moderne. Die im Wesentlichen anhand von Zeitungsnotizen aus dem Illustrierten Wiener Extrablatt rekonstruierten Streitpunkte, Ereignisse und Versammlungen, heben nicht nur einen bislang nicht erschlossenen Quellenschatz zur Wiener Volkssängerszene um 1900 auf anschauliche Weise, sondern machen auch das bislang kaum thematisierte Wirken des jüdischen Artisten Albert Hirsch zugänglich. Hirschs jüdisches Selbstverständnis wird dabei anlässlich des "Volkssängerkriegs" als fragmentiert und nichtreligiös dargelegt, das performativ – das heißt durch Handlungen – zum Ausdruck komme. Die Publikation erarbeitet damit eine "performative Differenz" (S. 93), nach der Jüdisch-Sein vor allem in Handlungen und deren Auswirkungen manifest werde und demnach nicht essentialistisch, sondern inklusiv und kontextabhängig argumentiert werden könne. Kapitel 4 soll diese handlungsabhängige Differenz von Juden zu Nicht-Juden um eine raumzeitliche Dimension erweitern, indem es nach "Jüdischen Fluchtorten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert" fragt. Es skizziert den Versuch der jüdischen Teilhabe am Topos "Alt-Wien" ebenso wie ein spezifisches Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit als Differenzmerkmal anhand von Stück- und Liedtexten, etwa dem titelgebenden Kleinen Kohn. Für die Argumentation einer "performativen Differenz" sowie eines spezifischen Zeit- und Raumverständnisses wäre es weiterführend dienlich – wie etwa durch den Einbezug der Gemälde Tina Blaus in diesem Kapitel geschehen – ikonographische Quellen und Methoden jenseits der Textexegese heranzuziehen. Insbesondere die inhaltliche Wiedergabe der Stücktexte im zweiten Kapitel erfordert, sollen diese Aussagekraft für jüdische Selbst- und Fremdzuschreibungen auch jenseits des Texts gewinnen, den Einbezug weiterer Dimensionen, die über textimmanente Handlungsbeschreibungen hinaus- und in Schauspielpraxis, Raum- und Bildtheorie sowie Rezeption hineinreichen. Die Feststellung beispielsweise, der Bezug auf die Nase sei in der Volkssängerszene nicht antisemitisch konnotiert, sondern entwerte das antisemitische Vorurteil, ist sicher durch Textanalysen Hödls gestützt, könnte aber zusätzlich durch Annäherungen an Spielpraktiken und Rezeptionsweisen untermauert werden. Auch die Schlüsse auf Publikumsstrukturen offenbaren neuerlich eine Forschungslücke, der nur mit vielschichtigem Quellenmaterial und gut argumentierten Hypothesen beizukommen ist. Die Behauptung etwa, das Publikum der Polnischen habe vor allem aus "galizischen und anderen osteuropäisch-jüdischen Zuwanderern" bestanden, weil die Gruppe selbst "zwischen den Broder Sängern […] und Wiener Volkssängern eingeordnet werden muss" (S.66), scheint als erste Arbeitshypothese möglich, aber kaum als Argumentation zureichend. Im Schlusskapitel "Von der Differenz zur Ähnlichkeit" legt Hödl nochmals Merkmale jüdischen Selbstverständnisses dar und sucht dieses methodisch zwischen Konzepten von Differenz und Ähnlichkeit zu verorten. Jüdisch-Sein artikuliere sich demnach in der Interaktion, es trete performativ zutage und sei gerade aufgrund dessen inklusiv (da jeder diese Handlungen ausführen könne) und weniger inhaltsbasiert. Diese so benannte inklusive Differenz sei demnach auch als "Ähnlichkeit" (S.189) zu bezeichnen; ein Konzept, das graduelle Verschiedenheit jenseits binärer Gegensätze zu beschreiben suche und so auch "Vorstellungen von der Fremdheit von Juden" (S.189) untergrabe. Hödl endet schließlich mit seiner Eingangsthese, die Volkssängerszene sei mehr von Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden denn von antijüdischen Feindseligkeiten geprägt gewesen, und mit einem Plädoyer für ein kontextabhängiges variables Verständnis von Jüdisch-Sein, das das Buch gleichsam durchzieht. Die Publikation ist hierfür folgerichtig in kleinere Erzählungen strukturiert, in denen Hödl umfassend historisches Wissen aufzeigt sowie mit Faktenreichtum und einem plastischen, präzis und klar formulierten Einblick in alltagsweltliche Belange der Wiener Moderne überzeugt. So eignet sich die Publikation auch als kurzweilige, ansprechende Lektüre, die nebenbei Wissen birgt, das bislang in Zeitungen und Archiven lagerte.
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Gesellschaften werden inszenatorisch hervorgebracht – so Matthias Warstat, der sich in seinem neusten Buch mit dieser These im Gepäck auf die Suche nach einem historisch informierten Konzept sozialer Theatralität für die Gegenwart begibt. Er befragt hierfür gleich zwei Begriffe in ihrem Zusammenhang, die für eine kulturwissenschaftlich orientierte Theaterwissenschaft zentral sind: Theatralität und Gesellschaft. Während Theatralität inzwischen wichtiger Bestandteil fachtheoretischer Überlegungen ist, diagnostiziert Warstat die Erosion des Gesellschaftsbegriffs ("society is long dead", Anthony Elliot/BryanS. Turner 2012). Dennoch werde Gesellschaft gerade in ihren theatralen Dimensionen stetig erfahr- und erfassbar, sie "zeige" sich – "auch dann, wenn man sich ihr nicht aktiv zuwendet" (S.12). So geht die Publikation Soziale Theatralität. Die Inszenierung der Gesellschaft von der Annahme aus, Gesellschaft komme "zum Erscheinen" (S.13) und fragt im Anschluss daran nach der Art und Weise dieses Erscheinens aus theaterwissenschaftlicher Perspektive: nach dem Theater im sozialen Leben und nach den Szenen, in denen Gesellschaft sich zeigt. Um diese theatralen Konstellationen von Gesellschaft analytisch beschreibbar zu machen, erarbeitet Warstat, Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, einen sozialtheoretisch ausdifferenzierten Theatralitätsbegriff. Diesem Ziel nähert sich die Publikation in einem Dreischritt: Werden zunächst historische Positionen der Sozialtheorie des 20.Jahrhunderts theoriegeschichtlich verortet und auf ihr implizites Wissen um theatrale Aspekte von Gesellschaften hin befragt, widmet sich der zweite Teil des Buchs zeitgenössischen Theorien, um dann im dritten und finalen Teil einen eigenen Begriff sozialer Theatralität vorzuschlagen. So lesen sich die beiden vorangestellten Komplexe als stichprobenhafte Suchen nach Ansätzen für ein neu zu bestimmendes Verständnis sozialer Theatralität. Ausgehend von der Gründungsphase der modernen Soziologie um 1900 spürt Warstat theatrale Denkfiguren in kanonischen Texten der Sozialtheorie auf (Teil I: Historische Grundlagen einer theatralen Sozialtheorie) – und gelangt so von Gabriel Tardes Hauptwerk La lois de l'imitation (1890) über Georg Simmel und Helmuth Plessner zu Milton Singers Konzept der Cultural Performances, das er ebenso einer historisierenden Kritik unterzieht wie Guy Debords These von der Spektakelgesellschaft (La Société du Spectacle, 1967), entstanden im Umfeld linker Theatralitätskritik um 1968. Der in der Nachfolge von Erving Goffman schreibende Anthony Giddens beschließt mit seiner "Theorie der Strukturierung", nach der "soziale Skripte" (S.30) Handlungen anleiten und Gesellschaft strukturieren können, die Exegese historischer Sozialtheorien. All diesen gesellschaftstheoretischen Positionen ist ein "eingeschriebenes Bewusstsein für Theatralität" (S.13) gemeinsam. Dieses Bewusstsein und die jeweils variierenden Begriffe gesellschaftlicher Theatralität arbeitet Warstat unter Einbezug historischer Kontexte kenntnisreich heraus, um daraus schließlich zu eigenen Begrifflichkeiten und Theoremen zu gelangen. Jenseits dieser größeren Zielsetzung erschließen sich die einzelnen Lektüren aber auch als kleine Theoriegeschichten, die gerade durch die gemeinsame Kontextualisierung von theatralen und gesellschaftlichen Dimensionen wechselseitig epistemisches Potential entfalten. Während Simmels Verständnis theatraler Prozesse zeitdiagnostisch an das Sozialgefüge der modernen Großstadt rückgebunden ist, verortet Warstat Plessners Schriften (Zur Anthropologie des Schauspielers, 1948; Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928; Grenzen der Gemeinschaft, 1924) als Resultate der Zwischenkriegszeit und stellt unter Einbezug der "kalten persona" (Helmuth Lethen) einen defensiven Theatralitätsbegriffs heraus. Dieser sei gleichsam mit einem Maskenverständnis verbunden, das hauptsächlich auf die Schutzfunktion von Maske ziele und in einer – auf Plessner rekurrierend – "Sehnsucht nach den Masken" (S.65) resultiere. Das Konzept der Cultural Performance, hervorgegangen aus den Indien-Expeditionen des Ethnologen Singer in den 1950er Jahren, zieht kulturelle Aufführungen als Erklärungsmodelle für ganze Gesellschaften heran und erlebte aufgrund dessen eine nachträgliche Konjunktur in der Theaterwissenschaft. Warstat beschreibt hingegen die Entstehungsumstände des Konzepts und nutzt die kritische Lektüre zugleich gekonnt als Folie für die eigene Theoriebildung: Gesellschaft sei von Kultur zu trennen, sie zeige sich demnach nicht unbedingt in kollektiven kulturellen Äußerungen und auch soziale Theatralität erschöpfe sich "nicht in jenen Festen, Ritualen und Veranstaltungen, in denen sich die Mitglieder der Gesellschaft ihrer kulturellen Orientierung versichern" (S.28). In diesem Modus der exegetischen Annäherung an und argumentierten Abgrenzung von Konzepten zugunsten eigener Begriffsbestimmungen verfährt die Publikation auch im zweiten Teil, in dem zeitgenössische Theorien auf den Prüfstand gestellt werden (Teil II: Studien zur Theatralitätstheorie der Gesellschaft). In vier Kapiteln bespricht Warstat Schriften von Ernesto Laclau, Bruno Latour, Manuel DeLanda, Sara Ahmed und Lauren Berlant. Den 'leeren Signifikanten', ein sinnentleertes Zeichen, das nach Laclau gerade aufgrund seiner Vagheit Gesellschaften in ihrer Totalität fassen könne, liest Warstat als theatrales Zeichen, fragt nach den 'leeren Szenen', in denen sich ein soziales Ganzes erkennen lasse – und verwirft die Theorie schließlich auf Basis von Slavoj Žižeks Kritik an der proto-faschistischen Ausdeutbarkeit von Laclaus Signifikanten. Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie scheint insbesondere dazu geeignet, dualistische Ordnungsmuster sowie subjektzentrierte Ideen von Existenz im Nachdenken über Theatralität zu vermeiden, seien doch auch "Apparaturen, materielle Ressourcen und technische Infrastrukturen" (S.28) integral für Gesellschaften. Manuel DeLandas komplexe Assemblagen zielen im Anschluss daran ebenso auf eine Überwindung des Anthropozentrismus sowie auf ein Mitdenken von "Objekten der Gesellschaft" (S.187) und ihrer Theatralität. Affekttheoretische Gesellschaftsanalysen mit Fokus auf den "Gefühlsinszenierungen des gegenwärtigen Kapitalismus" (S. 31) beschließen diesen Buchteil und führen mit Sara Ahmeds Schrift The Cultural Politics of Emotions und Lauren Berlants Begriff vom Cruel Optimism – ein Begriff, der die "affektive Fixierung" (S. 215) auf schädliche Vorstellungen, Objekte oder Personen zu fassen sucht – auch Gesellschaftstheoretikerinnen ins Feld. Mit diesen "Bausteinen" (S.31) gewappnet, kommt die Publikation schließlich zu einem eigenen "Begriff sozialer Theatralität" (Teil III), der wiederum in einem Dreischritt entwickelt wird: Warstat schlägt vor, Modi des Handelns sowie spezifische Haltungen und Ereignisse zu bedenken, wenn von sozialer Theatralität die Rede ist, also handlungs-, wahrnehmungs- und ereignistheoretische Zugänge zu verbinden, um theatrale Dimensionen gegenwärtiger Gesellschaft zu fassen. Theatralität bezeichne demnach eine Handlungsweise, die einerseits auf Gesellschaft reagiere, umgekehrt aber auch Möglichkeiten eröffne, Kollektive zu formen und zu gestalten. Theatrales Handeln sei stets bewusstes "Als-ob-Handeln" (S. 230), das mit spezifischen, historisch veränderlichen (theatralen) Haltungen einhergehe, welche Warstat an den Brecht'schen Gestus anlehnt. Die dritte – wahrnehmungstheoretische – Dimension von Theatralität berücksichtigt hingegen "Eindrücke des Theatralen" (S. 251), "Momente der Ostentation, des Sich-Zeigens, der Enthüllung" (S.262), die sich plötzlich und im Alltag einstellen können, ohne an konkrete theatrale Handlungen gebunden zu sein. Sie stellen sich stattdessen erst in der und durch die Wahrnehmung der Betrachtenden ein, die hierfür eine – wiederum an Brecht erinnernde – distanzierte Beobachtungsposition einnehmen müssten. Unter anderem durch diese Distanznahme – die dann gleichsam auch für die wissenschaftliche Analyse sozialer Theatralität gelten muss – werde, so Warstat, ein "Eindruck des Ganzen wirksam" (S.31); dies sei Gesellschaft. So erschließt sich die Publikation letztlich nicht nur als Suche nach einem neuen Theatralitätsbegriff, sondern auch als Plädoyer für die gegenseitige Bedingtheit von Theatralität und Gesellschaft – und damit von Theatertheorie und Gesellschaftstheorie. Matthias Warstat erarbeitet einige dieser Theorien detailreich, in zugänglicher aber nie vereinfachender Sprache und legt damit auch ein Studienbuch für einzelne Gesellschafstheorien aus theatralitätstheoretischer Perspektive vor, das darüber hinaus präzise im Feld metaphorisch aufgeladener und heterogen verwendeter Theater- und Gesellschaftsbegrifflichkeiten operiert. So können Warstats Hinweise zur Abgrenzung von Performativität und Theatralität sowie von theatralem und sozialem Rollenhandeln (am frühen Beispiel von Georg Simmels Unterscheidung veranschaulicht) auch jenseits des Erkenntnisinteresses der Publikation für die theaterwissenschaftliche Diskussion fruchtbar sein. Die Struktur des Buchs, das einen neuen Begriff sozialer Theatralität Kapitel für Kapitel und aus der Theoriegeschichte heraus entfaltet, hat hingegen für den Lesemodus und für das entwickelte Konzept selbst Konsequenzen: Dem Leser offenbart sich im Lauf der ersten beiden Teile erst langsam ein Verständnis von Theatralität wie von Gesellschaft, das Warstat selbst anlegt. Andererseits ermöglicht dieses Vorgehen ein Flanieren durch sozialtheoretische Diskurse des 20.Jahrhunderts, das den Theoretikern und ihren Gesellschafts- und Theaterverständnissen selbst genug Raum lässt, wobei es Warstat dennoch en passant gelingt, überzeugende Deutungsperspektiven auf die Lektüren anzubieten. Der theoriegeschichtliche Fokus hat notwendigerweise zur Folge, dass der Begriff sozialer Theatralität aus der theoretischen Reflexion heraus entwickelt wird, die Erprobung dieses neuen Begriffs, seiner Anwendbarkeit auf spezifisch gegenwärtige Phänomene und seine epistemische Tauglichkeit für theaterwissenschaftliche Gegenstände nun im Anschluss daran aber noch aussteht – auch wenn die Publikation zur Veranschaulichung hier und da auf kleinere Beispiele zurückgreift. Eines davon, eine persönliche Erinnerung Matthias Warstats, ist besonders einprägsam – nicht nur, weil darin das Teilen einer vorweihnachtlichen Bockwurst zur Reflektion über soziale Ungleichheit führt, sondern auch, weil sich das Beispiel aus der Erfahrung des Autors speist und so gerade die Reize und Fallstricke der analytischen Beschreibung von Theatralität und Gesellschaft aufzeigt: Wir sind alle darin verstrickt.
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Das Kaleidoskop, so verrät es die editorische Notiz zum Band Das verschüttete Schweigen, war das Lieblingsspielzeug von Helmar Schramm. Er habe eine Sammlung in seiner Kreuzberger Wohnung aufbewahrt und diese gelegentlich an Themenabenden Mitarbeitenden und Studierenden vorgeführt. Die vorangestellte Anekdote ist programmatisch für den nun vorliegenden Band, der erstmals wesentliche Texte des 2015 verstorbenen Theaterwissenschaftlers versammelt. Die Textauswahl – zusammengestellt und herausgegeben von Erhard Ertel, Joachim Fiebach, Michael Lorber und Anne Schramm – vermittelt das "kaleidoskophafte Denken" (S.11) Schramms, der in seinen Arbeiten über vier Jahrzehnte hinweg eine sich wandelnde Welt stets neu ins Verhältnis setzte. Die 29 Beiträge, entstanden zwischen 1980 und 2014, sind chronologisch abgedruckt und bis auf den ersten sowie letzten Beitrag bereits publiziert. Neben viel beachteten Grundlagentexten, etwa den Studien zur Theatralität und den theatralen Kulturen des 17.Jahrhunderts, umfasst der Band frühe Theaterkritiken genauso, wie ein recht persönliches, bislang unveröffentlichtes Fragment (Eine knallrote Kugel, undatiert) sowie die literarische Erinnerung Mit vollem Mund spricht man nicht (1983) und das unvollendet gebliebene Denkprotokoll Modell + Risiko (2014). Dem herausgebenden Team ist damit zweierlei gelungen: einerseits, die verstreuten Texte Schramms in einem Buch und in einheitlicher sowie ergänzter Zitation zugänglich zu machen und andererseits, dessen vielfältiges Schreiben und Forschen darzulegen. Zwei Jahre nach dem Tod von Helmar Schramm ist so, auf Initiative langjähriger Weggefährtinnen und Weggefährten, ein übersichtliches Studienbuch entstanden, das präsente wie vernachlässigte Texte des Theaterwissenschaftlers (seit 1995 Professor für Theaterwissenschaft, zunächst an der Universität Leipzig, ab 1998 an der Freien Universität Berlin) gleichermaßen in den Forschungsdiskurs zurückgibt. Eröffnet wird der Band von Joachim Fiebach, der in seinem Aufsatz Schramms Motiv vom "Wuchern des Theatralen im Gewebe der Gesellschaft" aufnimmt und damit gleichsam auf die Lektüre der Aufsätze einstimmt, beschäftigen sich diese doch mehrheitlich mit den "theatralen Dimensionen gesellschaftlicher Realitäten" (S.15). Ein 1987 veröffentlichter Text über Frank Castorf bildet das Scharnier zwischen den frühen publizistischen Arbeiten Schramms – neu ediert wurden etwa Theaterkritiken zu Arbusows Erwartung in Wittenberg (1980) und zur DDR-Erstaufführung von Die heilige Hure (1984) – und den folgenden wissenschaftlichen Analysen. Unter dem Titel Dem Zuschauer auf den Leib rücken legt Helmar Schramm Castorfs Inszenierungen als konzeptionelle Entwürfe dar und fokussiert jenseits vom "literaturfixierten Blick" (S.42) auf dessen Theater zwischen Musikalität, körperlichem Spiel, rhythmischer Organisation, absurder Komik und Tanz. Die Re-Lektüre des auf das "praktische Spiel als eigenständiges Mittel" (S.41) zielenden Textes hat nun, 30 Jahre später und im Rückblick auf Castorfs Volksbühnen-Intendanz, eine neue Aktualität. Mit Studien zu Robert Rauschenberg (Lichtraumcollagen, 1990), Hypochondrie (1992) oder zum Verhältnis von Technikgeschichte und Verhaltensökonomie (2005) präsentiert sich Schramm als Grenzgänger im Spannungsfeld zwischen Theater, Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft. Seine Texte zeugen vom Ringen um eine gesellschaftspolitisch engagierte Theaterwissenschaft jenseits dramenzentrierter und ästhetischer Kategorien. Sie eignen sich deshalb auch als Wegmarken der Fachgeschichte. Seine Aufsätze, etwa jener zur Theatralität und Öffentlichkeit (1990), sind gebettet in breitere Suchbewegungen der deutschsprachigen Theaterwissenschaft der 1990er Jahre, Theater als kulturelles Verhältnis zu fassen und theaterwissenschaftliche Methodik für kulturhistorische Phänomene zu schärfen. Stetig die Perspektive auf theatrale Aspekte jenseits des bürgerlichen Theatergebäudes öffnend, nimmt Schramm verschiedentlich Anläufe, das Verhältnis von Theatralität und Öffentlichkeit bzw. Theater und Öffentlichkeit zu bestimmen. Er befragt deren Interferenz, sowohl für die Theatergeschichte der Frühen Neuzeit, als auch – aus zweierlei Zeitgenossenschaft heraus – für die DDR und die BRD. In Theatralität und Öffentlichkeit skizziert Schramm ein semantisches Feld anhand dreier "archäologischer Suchfelder" (S.93), um eine Begriffsgeschichte von "Theater" zu umreißen und gleichsam das Verhältnis von Theatralität und Öffentlichkeit zu fassen: Theater als metaphorisches Modell, als rhetorisches Medium und als schöne Kunst. Er suchte damit dem "weltweiten Umbruch kultureller Praktiken" (S.95) gerecht zu werden und die "theatralischen Seiten des gesellschaftlichen Lebens" begriffsgeschichtlich zu fassen. So wendet er sich beispielsweise der Theatermetaphorik als "Bemühen, sich einen Begriff von der Welt zu machen" zu (S.101). Schramms eigenes theoretisches und methodisches Wandern an den Rändern einer Theaterbegrifflichkeit ist stets auch Jonglage zwischen präziser Ausweitung und "entfesselter Eigendynamik" (S.95) der Begriffe, mit und nach denen Theaterwissenschaft forscht. Immer wieder beharrt Schramm auf einer Neu- und Selbstverortung der Theaterwissenschaft. Es gelte, auch "ungewöhnliche Bezüge im theaterhistorischen Raum" (S.182) zu entdecken. Er selbst legt diese Bezüge dar, etwa, wenn er sich mit den theatralischen Dimensionen der Alchemie (Das offene Buch der Alchemie und die stumme Sprache des Theaters. Theatralität als Schlüssel gegenwärtiger Theaterforschung, 1995) oder mit dem Zeremoniell des Spalierstehens (1995) befasst. Auf das noch im 17.Jahrhundert geläufige Theatrum im Sinne von Schauplatz zurückgreifend, plädiert Schramm auch in seinem Aufsatz zur Vermessung der Hölle. Über den Zusammenhang von Theatralität und Denkstil (1995) für eine begriffliche Erweiterung und die Überschreitung "institutionalisierter Grenzen" (S.164): Theaterwissenschaft, ob als Kunst-, Kultur- oder Medienwissenschaft betrieben, müsse tradierte Grenzziehungen, beispielsweise jene entlang des institutionalisierten Theaters, in Frage stellen. Theaterforschung könne mit einem kulturwissenschaftlich angewendeten Theaterdispositiv einen "originären Beitrag zur Erschließung historischer Felder" (S.164) leisten. Neben der Verortung dieser verschiedenen Gegenstandsfelder spricht sich Schramm für einen "neuen Denkstil" (S.166) aus, der der von ihm immer wieder behaupteten Korrelation von Theater- und Wissenschaftsgeschichte gerecht werde. Sein grundsätzliches Interesse für die Zusammenhänge von Theater, Gesellschaft und Wissenschaft zieht sich, von diesen Aufsätzen ausgehend, durch weitere, im vorliegenden Band ebenfalls versammelte Arbeiten. So kristallisieren sich während der Lektüre größere Themengebiete heraus, die immer wieder aufgegriffen, neu verhandelt oder zueinander in Beziehung gesetzt werden. Neben dem Zusammendenken von Schrift, Philosophie und Theater als "Theatrum Philosophicum" – beispielsweise in den Überlegungen zu Brecht und Bacon (Das Haus der Täuschungen, 1987) oder zu Montaignes Inszenierungen von Text (1992) – spiegeln die edierten Beiträge eine verstärkte Wendung Schramms ab Mitte der 1990er Jahre zu theatralen Aspekten des 17.Jahrhunderts und den damit verbundenen "Bühnen des Wissens". Die Hinwendung zu diesen frühneuzeitlichen Bühnen kultureller Praktiken schlug sich auch in Schramms 1996 publizierter Habilitationsschrift Karneval des Denkens nieder und ist im vorliegenden Sammelband besonders überzeugend im Beitrag zu Feuerwerk und Raketentechnik um 1700 dargelegt. Unter Einbezug schlagender ikonographischer Quellen analysiert Schramm das Feuerwerk im 17. Jahrhundert als "pyrotechnisches Theater" (S.223), schließt hierüber auf Machtstrukturen sowie auf die Mechanisierung von Weltbildern und wirbt damit insbesondere für die methodischen Möglichkeiten einer als Kulturwissenschaft betriebenen Theaterwissenschaft, historische wie gegenwärtige Wirklichkeiten zu beschreiben. In der Beschreibung dieser von ihm wahrgenommenen Wirklichkeiten setzt Schramm, das legen die versammelten Texte verschiedentlich dar, unverkennbar eigene stilistische Akzente. Sein Schreiben und Nachdenken ist komplex ineinander geschachtelt, von plastischer Bildlichkeit durchdrungen und dies mehrheitlich nicht auf Kosten sondern zugunsten der analytischen Präzision. Sein "unökonomisches Denken" entzieht sich damit einerseits einer einfachen Anschlussfähigkeit, ist aber andererseits ein dichter Fundus theaterhistoriographischen Arbeitens, den es stets neu zu entdecken gilt. Die Textsammlung gibt einen Einblick in diesen dichten Fundus, der über die darin konkret besprochenen theaterhistorischen Gegenstände hinaus auch eine Haltung zum historischen Material vermittelt, die – stilistisch eigenwillig und "strikt gegenwartsorientiert" (S.95) – Erkenntnismöglichkeiten gewährt und so Inspiration und Diskussionsgrundlage sein kann für weitere theaterwissenschaftliche Forschung. In seinen Erinnerungen an Max Picard – 2004 unter dem Titel Schweigen lernen publiziert und nun titelgebend für den besprochenen Band – legt Helmar Schramm schließlich ganz plastisch sein Verständnis vom akademischen Forschen dar: Erneut wissenschaftliche Analyse und literarisch verdichtete Metaphorik collagierend, versinnbildlicht er die Arbeit des Wissenschaftlers mit dem eines Archäologen. Ein Archäologe, der sich, um Sehen, Hören und Erfahren zu lernen, im "Niemandsland zwischen den Disziplinen" auf die Suche nach der "Begegnung mit der Wildnis des Schweigens" begibt – auf die Suche nach dem "verschütteten Schweigen" (S.267).
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Als sich 2007 eine Arbeitsgruppe zusammenfand, um über "Ethics, Evidence and Truth" in der Theatergeschichtsschreibung nachzudenken, war noch nicht abzusehen, dass sich die abschließende Publikation des Projekts knapp zehn Jahre später wie ein Kommentar auf die gegenwärtige gesellschaftspolitische Wirklichkeit lesen wird. Die Forschungsgruppe der TaPRA (The Theatre and Performance Research Association) beschloss ihr Nachdenken über die ethischen Implikationen theaterhistoriographischen Arbeitens 2016 mit dem Sammelband "Theatre History and Historiography. Ethics, Evidence and Truth" – just in dem Jahr, in dem die Redaktion des Oxford English Dictionary "post-truth" zum internationalen Wort des Jahres wählte.[1] Das Wort bezeuge, so die Jurybegründung, "that truth itself has become irrelevant"[2]. Das Gegenteil fordert die vorliegende Publikation für die historiographische Arbeit ein. Der unbedingte Versuch, "historical truth" zu vermitteln, sei – entgegen postmoderner Einwendungen – die gemeinsame Basis für Geschichtsschreibende (S. 4). Zwei weitere Maximen vergegenwärtigt der Sammelband angesichts neuerlicher Aushandlungen über die Deutungshoheit von Geschichte: die verantwortungsvolle Beteiligung am Prozess der Geschichtsschreibung einerseits und andererseits die Verständigung über Vergangenheit aus der Gegenwart heraus. "History matters", postuliert die Gruppe für die Theatre Studies und wendet sich damit gleichsam gegen einen von David Wiles diagnostizierten "Presentism" (S. 3). Dass eine ethisch verantwortungsvolle Historiographie theoretisch schnell gefordert, in der Praxis aber stetig neu zu justieren ist, zeigen die Beiträge des Bands allesamt. Angelegt in drei Teilen nähert er sich dem Komplex a-chronologisch und in 'kleinen Erzählungen': Jeder der insgesamt acht Autoren entwickelt größere ethische Fragestellungen am konkreten Material aus der eigenen Forschung heraus. Die Beitragenden – mehrheitlich aus den britischen Theatre Studies – eint dabei sowohl die Anerkennung von Geschichtsschreibung und Theater als sich bedingende soziale Praxen, als auch der Wunsch nach einem'Ethical Turn'für die Theaterhistoriographie. Im Sinne der mikrohistorischen Verfahrensweise eröffnet der erste Teil programmatisch mit dem Versuch, verfestigte Makronarrative aufzubrechen: Re-Writing (Master) Narratives – so der Titel von Teil 1 – steht programmatisch für die Beiträge von David Roberts, Rosemarie K. Bank und Vivien Gardner. Roberts nähert sich der Schwierigkeit biografischen Schreibens anhand der Schauspielerbiografie Thomas Bettertons. Banks unterzieht die Festschreibung einer US-amerikanischen Theaterfeindschaft im "langen 19.Jahrhundert" der kritischen Lektüre. Sie scheidet zwischen "anti-theatrical actions" und "anti-theatrical prejudice" (S. 49) und argumentiert, dass "actions", wie Stückzensur und Theaterschließungen, nicht notwendig auf eine generelle Befangenheit gegen Theater schließen lassen, sondern durch theaterfremde Faktoren motiviert gewesen sein könnten – das Narrativ der Theaterfeindlichkeit also durch Fakten allein nicht hinreichend gestützt sei. Eine Argumentation, die eine wichtige Sichtweise auf institutionell definierte Theaterfeindlichkeit betont, auf theateranthropologischer Ebene jedoch wiederum neu zu befragen wäre. Viv Gardner beschließt Teil 1 mit einer kritischen Rückschau auf ihr eigenes Forschen zum 5.Marquis of Anglesey (1875–1905), bekannt für sein durch Loïe Fuller inspiriertes Tanzen. Für den Sammelband dekliniert Gardner ihre Wahrheit als eine mögliche Wahrheit zu dessen exzentrischen Leben, setzt die Ergebnisse in Beziehung zum Forschungsakt – und hat damit eine unkonventionelle aber besonders fruchtbare Form gefunden, den historiographischen Prozess mittels der Maximen "reliability" and "trust" (S. 61) praktisch nachvollziehbar zu machen. Schonungslos ehrlich lesen sich die kursiven Passagen des Artikels, in denen Gardner nach ihren – zum Teil autobiografisch motivierten – Auswahlkriterien fragt, Notizen ihres Arbeitstagebuchs preisgibt und Informationen korrigiert, die sie 2007 noch als gesichert weitergab. Gardner rekonstruiert das mediale Eigenleben ihres selbstgeschaffenen Narrativs, das in Folge eines Guardian-Artikels in Internet-, Print- und Radiobeiträgen proliferierte und – nun außer ihrer Kontrolle – fortgeschrieben wurde. Daraus schlussfolgernd warnt sie vor der Überinterpretation einer Person und plädiert für die Balance zwischen "'controlling' the narrative and keeping the past open and available for 'diverse purposes'" (S. 73). Die folgenden drei Beiträge eint die Entscheidung der Herausgeberinnen, sie als 'Other' Histories in Teil 2 des Bands zu versammeln. Dabei wird das Einbringen marginalisierter Themen in den akademischen Diskurs als ethischer und politischer Akt zugleich markiert. Katherine Newey versteht ihre Fallstudie zu Frauen im viktorianischen England als Teil einer politischen feministischen Historiographie, als "Geschichte von unten". Jede der für die Studie ausgewählten Frauen stellt Newey vor ethische Fragen: So etwa die Theaterautorin Florence Bell (1851–1930), die gegen die Suffragetten-Bewegung ihrer Zeit agierte und damit auch die heutigen Positionen Neweys, die sich als "feminist historian" (S. 91) begreift, herausfordert. In Poonam Trivedis Beitrag über das English Garrison Theatre im kolonialen Indien sind 'die Anderen'nicht die Kolonialisierten, sondern die Kolonisten; genauer: Laienschauspieler der Britischen Armee, die westliches Theater in Indien populär gemacht haben sollen. Trivedi bemängelt die Geschichtsschreibung über koloniales Theater. Dessen Geschichte sei bisher lediglich anekdotisch – von englischer Seite – oder verklärend – von indischer Seite – erzählt worden. Beides verdecke die historische Bedingtheit indischer und englischer Theatertradition und mache eine Geschichte der Kolonisatoren aus postkolonialer Perspektive umso dringlicher. Mit der Perspektivierung eines Gegenstands und den damit verbundenen Setzungen beschäftigt sich auch Claire Cochrane. In Facing the Face of the Other zeichnet sie eine kurze Institutionsgeschichte des Nia Centre for African and Caribbean Culture nach und fragt nach den Gründen für dessen Schließung. Denn das Kunstforum, das 1991 in Manchester als erstes "black-led arts centre in Europe" (S. 121) gegründet wurde, scheiterte nach nur sechs Jahren wegen finanzieller Probleme. Cochrane positioniert sich selbst als "outsider historian" (139) mit "'white' skin pigmentation" (S. 125) und beschreibt dann endogene und exogene Faktoren für die Insolvenz, das aufgewühlte Umfeld des Projekts sowie die sozialen Erwartungen, die mit ihm verbunden waren. Sie lässt hierfür "Insider", d.h. "black perspectives", und "Outsider" (S. 139) zu Wort kommen und sieht sich als Wissenschaftlerin in der Verantwortung für ein ausgewogenes Gespräch zwischen verschiedenen Gruppen und Personen im multikulturellen Großbritannien. Teil 3 beschließt den Band mit The Ethics of Evidence. Alison Jeffers und Heike Roms fragen nach den ethischen Herausforderungen von Erinnerung, Material und Archiv. Beide beschäftigt deren Subsistenz zwischen Verflüchtigung und Verfestigung. Alison Jeffers bettet ein Social-Archiving-Projekt rund um ein Graffito in Nord-Belfast in theoretische Überlegungen zu kollektivem Gedächtnis. Mit Foucaults Urteil – "es gibt kein unschuldiges Archiv" – fragt sie nach den ethischen Grenzen, das Graffito aus der Zeit des Nordirlandkonflikts für die Menschen der benachbarten Wohnsiedlung als soziales Archiv fruchtbar zu machen. Heike Roms führt abschließend Performance, Ethics und Memory eng, indem sie die performative Seite sowohl von Erinnerung als auch von historischen Zeugnissen betont und hierin Wege für künstlerische Forschung (Artistic Research) sieht: Performative Formate könnten die Hierarchien zwischen Wissenschaftlern, deren untersuchten Subjekten und den Rezipienten neu herausfordern. Der Bogen, den der Sammelband – von der neuzeitlichen Schauspielerbiografie bis zu gegenwärtigen Performances – spannt, ist groß, der gemeinsame wissenschaftsethische Nenner weit gefasst. Man mag darüber und über die Tatsache verzweifeln, dass Geschichtsschreibung als kulturelle und damit auch ethische Praxis eine relative Angelegenheit ist; Gegenstände, Kontexte und Interpretationen verwoben sind und auch "historical truth" keine Letztgültigkeit beanspruchen kann – oder gerade darin den Reiz der eigenen Arbeit und der vorliegenden Publikation erkennen. Für sich genommen bieten die Beiträge zweierlei: Die konkrete inhaltliche Beschäftigung mit sehr diversen (zeit)historischen Gegenständen sowie die theoretische Reflektion darüber. So liest sich der Band gleichermaßen als Werkstattbericht und Protokoll eines Status quo der angelsächsischen Theaterhistoriographie. Das Ausstellen wissenschaftlichen Forschens als work in progress und das Einfordern eines ethischen Umgangs mit historischen Subjekten und historiographischen Positionen sind die Errungenschaften der Publikation. Sie zeigt aber auch, wie schwer es ist, eben jene Formeln vom "reflektierten Umgang" und von "verantwortungsvoller Haltung" ins konkrete zu wenden. Die verschiedenen Verständnisse vom Gegenstand Theater, die der Sammelband ebenso spiegelt wie die Perspektiven- und Theorienvielfalt der Theatre Studies, erschweren das gemeinsame Nachdenken über ethische Grundlagen zusätzlich. Sie machen das Abstecken eines Grundes, auf dem sich theaterhistorisches Forschen bewegt, aber umso notwendiger. Denn zuvorderst findet nur das, was als Theater untersucht wird, Eingang in Theatergeschichtsschreibung. Es mag dann genau an diesem gemeinsamen Grund liegen, ob sich die Summe der einzelnen Teile – etwa die, des breit aufgestellten Sammelbands – in der Betrachtung zum Kaleidoskop fügt oder als Flickenteppich geriert. --- [1] Die Gesellschaft für deutsche Sprache wählte im selben Jahr "postfaktisch" zum Wort des Jahres. [2] English Oxford Dictonaries, URL: https://en.oxforddictionaries.com/word-of-the-year/word-of-the-year-2016 [Zugriff 20.04.2017].
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Rückblickend klagte Max Reinhardt über seine Zeit als Schauspieler bei Otto Brahm. In dessen Aufführungen müsse man fast immer auf der Bühne essen: "meist Knödel und Kraut, was […] einem mit der Zeit auch über werden kann" (S. 58). In seiner Kritik der strikten Realitätsnachahmung auf der Theaterbühne hatte Reinhardt schon um die Jahrhundertwende einen verbündeten Dramatiker gefunden: Hugo von Hofmannsthal. Die schrittweise Abkehr beider vom naturalistischen Theater Brahms und die Erfindung einer von Traummotiven inspirierten Inszenierungspraxis beschreibt Konstanze Heininger als einen gemeinschaftlichen Prozess, der nur in enger Zusammenarbeit zwischen Reinhardt und Hofmannsthal vollzogen werden konnte. Sie hat hierfür zahlreiche zeitgenössische Stimmen, Kritiken und Schreiben collagiert, um sich der Beziehung zwischen dem Regisseur und seinem Dramatiker zu nähern; und es sind Zitate wie das einleitende, die die Lektüre der Arbeit zu einer theaterhistorischen Kulinarik werden lassen. Für ihre Dissertationsschrift – erschienen 2015 als Band 26 der Münchner Universitätsschriften Theaterwissenschaft – hat sich Heininger zum Ziel gesetzt, die künstlerische Kooperation zwischen Hofmannsthal und Reinhardt "in ihrer Gesamtheit" (S. 11) zu fassen und theatergeschichtlich zu verorten. Sie nimmt hierfür einen Zeitraum von vierzig Jahren, die zwischen der gemeinsamen Elektra-Bearbeitung im Jahr 1903 und Reinhardts Tod 1943 liegen, sowie 17 hofmannsthalsche Werke, die von Reinhardt inszeniert wurden, und einige unvollendete Pläne der beiden in den Blick. Angesichts des Anspruches der Arbeit, dieses gemeinschaftliche Wirken vollumfänglich zu fassen, scheint auch die Entscheidung der Autorin programmatisch, ihre Untersuchung in einen chronologischen Rahmen zu betten. Sie eröffnet mit der Beschreibung der künstlerischen Anfänge beider Protagonisten und ihrer Prägungen zwischen Wien und Berlin, Burgtheater und Berliner Bühnen, bevor sich in den folgenden Kapiteln die Lebenswege von Hofmannsthal und Reinhardt kreuzen und deren Zusammenarbeit entfaltet wird – beginnend mit Elektra und endend mit dem jahrelangen Ringen Hofmannsthals um eine Inszenierung des Turms durch Reinhardt. Die Calderón-Bearbeitung von La vida es sueño blieb letztlich dramatische Vorlage und zählt so, wie die Pantomimen zum Großen Welttheater und der gescheiterte Stummfilm für die Schauspielerin Lillian Gish, zu jenen unvollendeten "Plänen und Entwürfen" (Kapitel 6), mit denen Heininger ihre Arbeit beschließt. Das mit über 120 Seiten weitaus umfangreichste Kapitel befasst sich mit den Inszenierungen der hofmannsthalschen Dramatik durch Reinhardt. Es folgt auf ein "Grundlagen"-Kapitel, in dem die "Fundamente der Zusammenarbeit" (S. 93) gelegt werden, die Autorin also etwa den Festspiel- und den Gesamtkunstwerkgedanken resümiert sowie die Bedeutung von Traummotiven für Hofmannsthal und Reinhardt herausarbeitet. Die "Umsetzung des Dramas durch den Regisseur" (S. 19) steht im Mittelpunkt des anschließenden, größten Kapitels "Werke auf der Bühne", was – wie die Autorin einleitend kritisch bemerkt – eine Schwerpunktsetzung auf das "Höhenkamm-Theater" (Peter W. Marx) zur Folge hat. Ein Umstand, dem im Buch mit der Betrachtung "aller Inszenierungen sowie nicht aufgeführter Projekte" (S. 17) begegnet werden soll. Weniger diese Erweiterung des Untersuchungsbereichs als vielmehr die historisierende Analyse der Bühnenarbeiten hätte gerade diese Schwerpunktsetzung theaterhistorisch fruchtbar machen können; verweisen doch die von Heininger präzise erarbeiteten Kooperationen ebenso auf gesellschaftspolitische Zusammenhänge wie auf Theatertraditionsbestände, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den bürgerlichen und höfischen Bühnen weitgehend ausgeklammert worden waren. Gerade die in der Publikation erarbeiteten Rückgriffe der beiden Künstler auf antike und frühneuzeitliche Stoffe, etwa auf italienische Commedia-Strukturen und spanische Zwischenspiele, wären, weiterverfolgt, geeignet gewesen, über das "Höhenkamm-Theater" hinaus- oder davon ausgehend auf vergangene kulturelle Praktiken zurückzuweisen. Dass sich Konstanze Heininger generell für eine umfassend beschreibende Aufführungs- und Rezeptionsanalyse entschieden hat und damit wohl notwendigerweise eine detailliert historisierende Herangehensweise hintanstellen muss, ist eine theaterwissenschaftliche Grundsatzentscheidung, zählt aber zu den Wermutstropfen der Lektüre. Denn besonders erkenntniserweiternd wird die Untersuchung an jenen Stellen, an denen die Synthese beider Methoden gelingt. Etwa wenn die Faszination für Traum- und Magiemotive mit Sigmund Freuds Traumdeutung verknüpft oder Richard Wagners Idee vom Gesamtkunstwerk mit Reinhardts Operninszenierungen (Der Rosenkavalier, 1911;Ariadne auf Naxos, 1912) in Verbindung gebracht wird. Jedoch: sozial- und ideengeschichtliche Bezüge werden zwar oftmals an-, dann aber nicht ausgedeutet. Die großen Verwerfungen, die die Schaffenszeit von Reinhardt und Hofmannsthal prägten – der Erste Weltkrieg, der folgende Zerfall des Habsburgerreichs, die Suche nach neuen Ankerpunkten in der Ersten Republik und nicht zuletzt der offen ausgetragene Antisemitismus – werden meist nur am Rand bemerkt, aber kaum in Bezug zu den vielfach zitierten Bemühungen Hofmannsthals um eine "künstlerische Restauration Österreichs" (S. 312) in der Zwischenkriegszeit gesetzt. So bleiben auch neuere Studien aus dem englischsprachigen Raum unerwähnt, wie etwa die 2012 publizierte Studie Becoming Austrians. Jews and Culture between the World Wars von Lisa Silverman, in der die Umsetzung der Festspielidee für Salzburg als Beitrag zu einer katholisch-österreichischen Kultur in Verbindung zu Reinhardts und Hofmannsthals jüdischer Herkunft gedeutet wird. Auf inszenierungshistorischer und ästhetischer Ebene hingegen löst die Arbeit das gegebene Versprechen ein, die "Intentionen des Dramatikers" und die "Umsetzung des Dramas durch den Regisseur" (S. 19) zu erhellen. Hierfür dienen vornehmlich Regiebücher und Theaterkritiken als Grundlage, um Arbeitsprozess und Rezeption der Zusammenarbeit zu ergründen. Am Beispiel der Elektra-Inszenierung etwa – sie gilt gemeinhin als Wendepunkt für die Abkehr vom Bühnennaturalismus Brahms – führt Heininger Hofmannsthals dramatische Vorgaben mit Reinhardts Regiebuch und den anschließenden Kritiken eng und skizziert so ein Bild von Inszenierung und Aufführung. Das umfangreich recherchierte Material wird dem Leser mittels 'dichter Beschreibung' ausgebreitet. Die vom Ethnologen Clifford Geertz etablierte Arbeitsweise macht die Autorin für die theaterhistorische Forschung fruchtbar, indem sie sich auf den Vorschlag Geertz' stützt, "im Detail Untersuchungen anzustellen und Fakten zu sammeln, um diese dann im Kontext auszuwerten" (S. 18). Auch wenn, wie eingangs besprochen, die beschreibende der historisierenden Analyse vorgezogen wird: Anhand von Briefen, Tagebucheinträgen oder Essays von Zeitgenossen und den beiden Protagonisten selbst entsteht ein dichtes Panorama der künstlerischen Kooperation, die sich zwischen Wiener und Berliner Moderne entfaltete und für die vor allem Hofmannsthal zu vollem Einsatz bereit war. Neben der Rekonstruktion der Inszenierungen vermittelt sich durch die zeitgenössischen Stimmen und die informierten Kommentare der Autorin auch ein Beziehungsgeflecht zwischen Reinhardt, Hofmannsthal, Brahm und Strauss. Oftmals im Rückbezug auf die Ergebnisse des Literaturwissenschaftlers Leonard M. Fiedler, erhellt Heininger die Akteure der Theater- und Kritikerlandschaft im näheren und weiteren Umfeld der Zusammenarbeit, ebenso wie die Bemühungen um einen neuen Theaterraum jenseits der Guckkastenbühne und eine antinaturalistische Bühnensprache. Dank der zahlreichen Kritikerstimmen, die im Buch zu Wort kommen, wird auch das Handwerk von Schauspielern wie Gertrud Eysoldt oder Alexander Moissi – freilich an diesen Stellen stets durch die Brille des jeweiligen Kritikers – thematisiert. Heininger zeichnet zudem den Einsatz des "Wiener Autors" Hofmannsthal für ein Engagement des "Berliner Theatermachers" (S. 24) am Burgtheater nach und thematisiert die Reibungen zwischen beiden, nachdem Reinhardts Interesse an seiner Intendanz im Theater in der Josefstadt nachlässt. Sie löst so ihr Ausgangsvorhaben ein, einen umfassenden Einblick in die Arbeitsweise und Beziehung zwischen Reinhardt und Hofmannsthal zu erarbeiten. Die Publikation erfreut dabei vor allem durch reiches Detailwissen, eine präzise Aufbereitung der inszenatorischen Praxis und durch die Sammlung zahlreicher zeitgenössischer Kritikerstimmen. Von hier ausgehend könnten nun theateranthropologische und sozialhistorische Voraussetzungen der Zusammenarbeit dezidiert in Relation zum ästhetischen Schaffen gesetzt werden.
BASE
In: Tierstudien v.5