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Varonika Darian/Peer de Smit (Hg.): Gestische Forschung. Praktiken und Perspektiven.: Berlin: Neofelis 2020. ISBN: 978-3-95808-246-5. 348 Seiten, 90 Illustrationen, Preis: € 28,00
Das Gestische oszilliert zwischen Phänomen und Begriff, flüchtiger Erfahrung und medialer Spur. Es regt zu multiplen Assoziationen an, wodurch Forschende in ihrer Differenzierung und Kontextualisierung besonders gefordert sind. Dieser bei Neofelis erschienene Band versammelt transdisziplinäre Beiträge zum Gestischen, die diese Pluralität seiner Bewegungen aufgreifen und analysieren. Die Beiträge sind in fünf Kapiteln lose thematisch gruppiert: Zu Beginn stellt Gestisches Denken, gestisch forschen mit Fabian Goppelsröders "Geste als Figur im Denken" eine philosophiegeschichtliche Lesart des Gestischen vor. Veronika Darians "Forschen als Geste – Gestisches in (Er-)Forschung" nimmt, im Folgenden, anhand diverser 'Fundstücke' speziell die 'unterbrechende' Wirkung der Geste u.a. mit Walter Benjamin, Bertolt Brecht sowie Giorgio Agamben in den Blick. Auch Ernst Machs und Dürers Zeichnungen, sowie Gayatri Spivaks postkoloniale Theorie dienen ihr als Anhaltspunkte in der Frage nach der Haltungsgeste und der physischen Disposition von Wissenschaftler*innen. Ihr ausschweifender Artikel lenkt schließlich den Blick auf Darians eigene Forschungspraxis. Eine Aufmerksamkeit für das Gestische fördere darin "den Akt der Haltungseinnahme" (S. 77) – einen bewusst und unbewusst eingesetzten wissenschaftlichen Habitus, der Forschenden ihre Verantwortung gegenüber hegemonialen Wissens- und Machtstrukturen bewusst machen könne. Das zweite Kapitel wendet sich Gestischem in "Sprache, Schreiben und Aufzeichnen" zu. Peer de Smit durchstreift Paul Celans Texte, in denen er "Begegnungen mit vereinzelten Worten" ortet. (S. 21) Er begreift den fragmentierten, brüchigen Charakter von Celans Sprache in ihrem kinästhetischen Potential, als sie die Wahrnehmung auf das richtet "was sich in der Sprache als Bewegung gestisch ereignet". (S. 114) Mit Isa Wortelkamp widmet sich noch eine weitere Autorin der Reflexion von Schreiben in Bewegung. In ihrem Beitrag "Szenen des Schreibens in zeitgenössischem Tanz" zeigt Wortelkamp am Beispiel von William Forsythes Projekten Motion Bank und Synchonous Objects, wie der Tanz, als Choreographie, ins Digitale übertragen, gespeichert und zugänglich gemacht wird. Mit Anne Theresa de Keersmaecker und Cy Twombly erkundet sie im Anschluss zwei weitere Protagonist*innen des Choreographischen, denen "die Schrift folgt", als jede Form der Analyse "ein Schreiben in Bewegung" ist. (S. 137) Michael Renner erkundet Konventionen und Abweichungen der Schreibgeste für Praxis und Lehre der visuellen Kommunikation, wozu er ausgewählte graphische Beispiele und das Phänomen der Handschrift analysiert. Vor dem Hintergrund von Hanna Arendts Ausführungen aus der Vita activa betont Renner dabei die soziale und kulturelle Prägung, die "im Schreiben das Sprechen und Handeln in einer einzigartigen Weise" manifestiert, sodass "die Spur der Schreibgeste sowohl die Individualität […] als auch die Identität" (S. 119) zu erkennen gebe. Das "Gestische in-situ" titelt das dritte Buchkapitel, und stellt mit Angelika Jäkel (zusammen mit Maren Gebhard, Adriana Könemann und Tine Voecks), sowie mit Till Boettger/Martina Reichelt zwei Beiträge vor, die der Qualität des Gestischen für die räumliche Erfahrung und für bauliche Situationen nachgehen. Hier wird insbesondere die Funktionalität der körperlichen Geste für das Verstehen des Verhältnisses von Mensch und Umwelt betont. Die Beiträge des folgenden Kapitels "Gestisches Aneignen, gestisch agieren" umkreisen Ausdrucksformen, die sich durch ein jeweils spezifisch gestisches Moment kennzeichnen, bzw. in ihrer Entwicklung eng an ein solches gebunden waren. Den Anfang macht dabei Jessica Hölzl, die sich einer detaillierten Inszenierungsanalyse von Tim Spooners 'Assembly of Animals' widmet. Das Agens des Gestischen untersucht auch Mischa Braun im Text "Gestische Praktiken der 'Umwendung' populistischer Diskurse", wenn er zwei Theaterproduktionen analysiert, welche die Reprogrammierung der Geschichte zum Zweck nationalistischer Machtpolitik zum Thema haben. Am Beispiel von Magyar adác und des darin verhandelten Narrativs des in Ungarn nationalpolitisch missbrauchten Akazienbaums und am Beispiel der Aktion RescEU veranschaulicht er, wie die Komplexitäten gestischer An- und Enteignung historischer Narrative durch die theatrale Praxis perspektiviert werden können. Mit Hirata Eiichîros Beitrag zur Bedeutungsdimension der Körpergeste in Bezug auf das japanische Tenno-System wird der Band, welcher die Deutungshoheit westlicher Theoriebildung ansonsten unerfreulich wenig in Frage stellt, zumindest um eine nicht-europäische Perspektive ergänzt. Hirata fragt darin, wie eine konformistische Betrachtungsweise die ambiguen Gesten des Tenno "ausschließlich auf einen eindeutigen Sinn der autoritären, vergöttlichten Handlung reduzieren will." (S. 242) Das gestische Repertoire im Körpertheater der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das sich durch scheinbar 'belanglose' und 'unverständliche' Bewegungen charakterisiert, sieht er in einer Verbindung mit dieser mysteriösen Ritualität des Tenno. Als deren "dekonstruktive Haltung" in die Ambiguität der Interpretation von Gesten interveniert, könne diese als "Präventionsmittel gegen die Eskalation in eine radikale Richtung wie den Ultranationalismus" (S. 252) wirksam werden. Mit den Beiträgen von Maren Witte und Melanie Haller gibt dieser Abschnitt zusätzlich Einblicke in die Arbeit von Performer Martin Clausen ("Bummeln als Geste"), sowie in die geschichtlichen Zusammenhänge von Bekleidung und Bewegung ("Zur Relationalität des Gestischen"). Mit dem abschließenden Buchteil "Gestisches Forschen in actu" gelingt es schließlich, die dominierende wissenschaftliche Herangehensweise zu einer tatsächlich gestischen Reflexion hin zu öffnen. Michael Wehren, Mitglied der Gruppe friendly fire bespricht zunächst, in einem dichten, mit Verweisen durchsetzten Pamphlet, die 'Zerlegung' des Begriffs aus künstlerischer Sicht. Im anschließenden Artikel dokumentieren Rée und Peer de Smit ihre Erfahrungen eines praktischen Projekts mit Studierenden. Sie beschreiben sensibel die Herangehensweise, wie sie in einer psychiatrischen Klinik eine 'forschende Praxis' zum Thema Festhalten und Berühren durchführen. Die Nähe der Begebenheit vermag dabei, eine distanzierte wissenschaftliche Haltung auf eine um-fassende, geradezu profunde Probe zu stellen: Das Beispiel zeigt, wie ein gestischer Forschungsansatz in Konflikt mit einer ergebnisorientierten Wissenschaft gerät; die in Projektrahmen, Zwischenberichten und Evaluationen denkt. Als physische Erkenntnisform erfordert die situative Bindung des Gestischen, es vielmehr in Relationen, Schichten und Pluralitäten zu begreifen. So betonen Rée und Peer de Smit: "Als wir uns eines Tages mit einsatzbereiter Videokamera dabei ertappten, wichtige Momente der Arbeit festhalten zu wollen, befiel uns im selben Augenblick eine bodenlose Scham, Scham nicht sowohl gegenüber denen, die mit Herz und Seele bei der Sache waren, sondern auch Scham angesichts des Unterfangens, etwas festhalten zu wollen, was festgehalten dessen beraubt wird, was es wesentlich ausmacht: Bewegung." (S. 319) Es lässt sich daher die Frage stellen, wie in der Gegenwart das Gestische und das Mediale zunehmend in ein produktives Verhältnis gesetzt werden müssen. Facettenreich ist schließlich auch das Gespräch zwischen Ulrike Hass und Sven Lindholm am Abschluss des Bands. Darin perspektivieren sie gestisch Forschende als Teilhabende an einer vielschichtigen Szene, an deren Kräftefeld sie als Mit-Gestalter*innen und Entwickler*innen teilhaben. Ihre Diskussion kreist unter anderem um die Frage, wie sich Relationen zwischen Teil und Ganzem, Anteilnahme und Einverleibung, sowie Haltungen des (künstlerischen) Empfangens und (wissenschaftlichen) Forderns 'beweglich halten' lassen. Künstlerische und (geistes-)wissenschaftliche Erkenntnis bilden ergänzende Teile eines solchen szenischen Forschungskonzepts. Insbesondere in installativen künstlerischen Beispielen verorten Hass und Lindholm mit Vilém Flusser dabei ein ontologisches Potential der Geste, ihre Relevanz für eine Erkenntnis, die jenseits der bloßen Bedeutungsebene liegt. Als die Publikation abweichende, sich teils ergänzende und lustvoll widersprechende Reflexionen auf das Phänomen des Gestischen anbietet, findet sich jene proklamierte Offenheit zuletzt auch im editorischen Konzept wieder. In einem Band versammelt, lesen sich die einzelnen fachspezifisch geprägten Beträge wie einander abwechselnde "Phasen" (S. 328), die jeweils noch eine begriffliche Transformation in die aktive und produktive Suche nach dem Gestischen einbeziehen. Der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit, der einzelnen Beispielen in einer derartigen Kollektion zukommt, ist offenkundig als Teil der versuchten Annäherung an das letztlich unfasslich bleibende Gestische und sein Erscheinen zu begreifen. Eine Lücke offenbart sich jedoch hinsichtlich prognostisch relevanter Verbindungen, insbesondere zur Thematik der Berührungs- und Emotionsforschung. Auf symbolische Weise wird der nach wissenschaftlichen Kriterien organisierte Band von einer von Rée de Smit gestalteten Tuschezeichnung durchzogen, die den linearen Lesefluss wiederholt überraschend durchbricht. Alleine schon dieser minimale Eingriff verweist auf die Möglichkeiten einer themenbezogenen medialen Selbstreflexion und ist eine überaus willkommene Ergänzung für die eigene, gestische Leseerfahrung.
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Katherine Mezur / Emily Wilcox: Corporeal Politics Dancing East Asia.: Michigan: University of Michigan Press 2020. ISBN: 978-0-472-07455-6. 372 Seiten, 80,00 $
Der vorliegende Band bespricht Körper-Politiken von Tänzer*innen, Performer*innen und Choreograph*innen aus Ostasien, wobei er durch "radikale Kontextualisierung" methodologisch auf die ausgeprägten historischen und kulturellen Verflechtungen innerhalb der Region verweist. Indes alle darin versammelten Analysen inner- und transasiatische Logiken und temporale Strukturierungen nachvollziehen, gelingt diesem kollektiven Projekt ein relevanter Beitrag zur Vertiefung des Feldes ostasiatischer Tanzforschung, die als Teil der globalen Tanzforschung zu verstehen ist. Mit einem Ausgangspunkt in den Critical Area Studies und unter besonderer Berücksichtigung länderspezifischer, sprachlicher Ressourcen, versteht sich der von Wilcox und Mezur herausgegebene Band als Beitrag im Feld der Critical Dance Studies. Die Publikation geht dabei von einer ostasiatischen Perspektive aus, die eine Re-Zentrierung eigener Narrative vornimmt und diese als Teil inter- und transnationaler Tanzgeschichtsschreibung positioniert. Der methodisch zu verstehende Titel verweist auf die zentrale Bedeutung des Körpers für den Tanz – der Körper kann dabei im Dienste politischer Agenden stehen, oder auch als Mittel und Methode ihrer Dekonstruktion agieren. Folgerichtig zielt die Publikation weder auf eine zusammenfassende Theoretisierung noch ein von Beispielen abgeleitetes Konzept ab. Die fünfteilige Gliederung orientiert sich dabei an thematischen Gruppierungen, die die Artikel unter den cluster-artigen Überschriften "Contested Genealogies", "Decolonizing Migration", "Militarization and Empire", "Socialist Aesthetics" und "Collective Technologies" versammeln. Die einzelnen Artikel bestehen als Koordinaten innerhalb dieses recht offenen Möglichkeiten-Feldes, als anspruchsvolle Analysen. Diese unternehmen aufwendige Reisen, wie beispielsweise der Beitrag von Suzy Kim, der die spätere künstlerische Karriere der 1911 geborenen Cheo Seung-hui in Nordkorea erzählt und dabei das beständige Potential einer Re-Aktualisierung von Folklore und politisch diktierten "Traditionen" durch das einzelne künstlerische Individuum betont. Fallbeispiele wie dieses zeigen deutlich Verkehrungen in 'orientalistischen' Vorstellungen an, die eine Hinwendung zu sogenannten 'traditionellen Formen' mit einem reduzierten Anspruch an die kreative Leistung der jeweiligen Künstler*innen gleichsetzen. Wie ein analytischer Blick auf die komplexen Lebensgeschichten von Seung-hui, Park Yeong-in, Dai Ailian oder Fujikage Shizue zeigen kann, zeugen diese vom Potential individueller Mobilität als prägendes Momentum künstlerischer Entwicklung. Sie durchkreuzen damit kulturnationalistische Lagepläne und Vorstellungen homogener Gemeinschaften, wie sie sich zugleich universalistischen Logiken westlicher Prägung und dichotomen Unterscheidungen – in 'traditionelle' künstlerische Formen des Ausdrucks einerseits, und 'moderne' Formen andererseits – verwehren. Die Relevanz der Publikation liegt damit auch darin, Tänzer*innen, Choreograph*innen und Performer*innen, die in der englischsprachigen akademischen Literatur bislang keine oder kaum Erwähnung fanden, einer breiteren Leser*innenschaft vorzustellen. Auch ist die jeweils konkrete Praxis jener Tänzerinnen, die bewusste Anerkennung disziplinierten und routinierten Trainings sowie der übenden Wiederholung ein Anliegen des Buches, wie sie Mezur auch in ihrem Nachwort unterstreicht (vgl. S. 319). Wilcox zieht hier einen bewussten Vergleich mit militarisierter Disziplinierung von Körpern, wobei sie den potentiell liberalisierenden Aspekt ausgebildeten Könnens und ein politisches Vermittlungspotential gerade durch die Virtuosität betont, wenn sie schreibt: "I also argue that gaining these regimented skills opens and liberates the bodies of the performers, and allows them to access a greater variety and range of physical and expressive skills and practices." (S. 320) In diesem Punkt differiert die Lesart der Herausgeberin stark von jenen, tendenziell der Dekonstruktion und dem Spektakel-Skeptizismus zugeneigten Positionen, wie sie, zumindest in Europa, wesentlich die Entwicklungen im Tanz der letzten Jahrzehnte charakterisieren. Wiewohl hier ein unmittelbar politisches Verständnis der Analysen gefordert wird, antworten glücklicherweise weitaus nicht alle Beispiele im Buch auf eine solche Engführung sensorischer Disziplin mit realpolitischer Kontrolle. Die fünfteilige Gliederung des Bandes beginnt mit dem Abschnitt zu "Contested Genealogies", welcher die chinesischen (sinophonen) Wurzeln kultureller Praktiken in der Region Ostasien erforscht. Im Fokus des Artikels von Beverly Bossler steht die stigmatisierte Motivik weiblicher Unterhaltungskünstler*innen im Kontext historischer Opern-Performances in China, wobei Bossler das transgressive Potential beschreibt, das mit diesen Figuren zugleich assoziiert wird und ihnen eine Existenz außerhalb unmittelbarer sozialer Hierarchien ermöglicht. Catherine Yeh, im Anschluss, eröffnet eine weitere neue Perspektive auf eine kultige Figur der Peking-Oper im 20. Jahrhundert, den Performer Mei Lanfang, wobei sie dessen Auseinandersetzungen mit modernem Tanz ("dancification", S. 44) als Vehikel zur Modernisierung chinesischer Theaterformen anerkennt. Nan Ma's Kapitel "The Conflicted Monk" endet mit einer Studie zu Adaptionen der Kun-Oper Si fan (Longing for the Mundane).Das zweite Kapitel ist Beiträgen zu "Decolonizing Migration" gewidmet und besieht, im Bereich des Artistischen, transnationale Zirkulationen in und aus Ostasien im Kontext von Imperialismus, westlicher Moderne, Weltkriegspolitik und jüngeren neoliberalen Entwicklungen. Kazuko Kuniyoshi verfolgt dazu die tänzerischen Einflüsse eines Deutschlandaufenthalts auf Murayama Tomoyoshi als Vorbild der Japanischen Avantgarde. Tomoyoshi ist 1922 nach Berlin gegangen, um dort von Mary Wigman zu lernen. Okju Son widmet sich, mit Park Yeong-in einem Protagonisten der koreanischen Tanzszene, welcher ebenso Studien in Deutschland absolvierte, um sich dort aber verstärkt in eigener Praxis um eine Vorstellung der koreanischen Kultur an ein deutsches Publikum durch hybride Formen und ästhetische Effekte (vgl. S. 108) einer gezielt eingesetzten 'Korean-ness' bemühte.Das Thema "Militarization and Empire" im dritten Teil, diskutiert unter anderem, wie Tanz als Strategie zur Kommunikation der japanischen 'Großostasiatischen Wohlstandssphäre' eingesetzt wurde und welche nachhaltigen Auswirkungen solche hegemoniale Körperpolitiken auf künstlerische Arbeiten zeitigen. Performances namens 'Miyako Odori' sind eine populäre Tradition in Kyoto, die seit 1872 jährlich im Frühling für die Öffentlichkeit gezeigt wird. Mariko Okada's Besprechung zeigt die propagandistische Absicht jener Performances im Japan der 1930er Jahre auf, die Kinder als Botschafter*innen einer vermeintlich idyllischen Beziehung zwischen China und Japan inszenierten. Auch ein Produkt pan-asiatischer Ideologie und bloße Vorstellung blieben die Pläne Itō Michio's, auf den Philippinen ein Festival aufzuführen, über die uns Tara Rodman informiert. Das hingegen realisierte Potential einer – mehrere Generationen umfassenden – Übertragung physischer Disziplinierung, über unmittelbare Zeiträume von Kolonialisierung oder die militärische Herrschaft einer Ein-Parteien-Regierung hinausgehend, wird danach am Beispiel Taiwans von Ya-ping Chen diskutiert. Ihr Artikel zu Lee-Chen Lin's Jiao Performance zeigt die Fähigkeit aller Lebewesen zur Verletzlichkeit als mögliche Rebellion. Der Raum der rituellen Begegnung wird so zum Befürworter einer leidenschaftlichen Begegnung zwischen den Lebenden und den Toten (vgl. S. 198) und räsoniert mit alten schamanistischen Vorstellungen und einer Praxis heilender Begegnung in Taiwan.Mit der bereits erwähnten Cheo Seung-hui erlaubt uns Suzy Kim, eine weitere beeindruckende Protagonistin des Theaters in Ostasien im 20. Jahrhundert kennenzulernen. Ihr Artikel eröffnet den Abschnitt des Sammelbandes, der mit "Socialist Aesthetics" betitelt ist und das Potential sozialistischer Stilistik, welche oftmals in ihrer künstlerischen Wertigkeit nicht ernst genug genommen wird, für die Entwicklungen im koreanischen bzw. chinesischen Tanz befragt. Dong Jiang's und Ting-Ting Chang's Artikel im selben Abschnitt befassen sich mit dem klassischen chinesischen Tanz und dessen janusköpfiger Relation zur Einordnung als repräsentativ und 'traditionell'. Chang geht dabei am Beispiel von Yang Liping's Spirit of the Peacock vor, deren Verhandlungen von feministischer Position und ethnischer Minorität in ihren international erfolgreich gezeigten Performances zumeist mit dem Darstellungslabel "Chinesische Identität" assoziiert werden.Der fünfte Teil "Collective Technologies" bespricht künstlerische Antworten auf die rasanten gesellschaftlichen Entwicklungen in Ostasien in den letzten Jahrzehnten. Dabei handelt es sich jedoch weniger um Subsumierungen unter dem Prädikat des Technologischen, als um die Potentiale kollektiver Ausdrucksformen, die jedwede Mittel für sich zu bedienen und zu (ver-)wenden wissen: In Katherine Mezur's "Cracking Historie's Codes in Crocodile Time" adressiert die Autorin die Arbeiten von Ashikawa Yoko und Furukawa Anzu, welche mehr als bloße produktive Ausnahmen innerhalb der gewöhnlich männlich dominierten Genealogien des Butoh-Tanzes darstellen. Soo Ryon Yoon widmet sich den kollektiven Kräften im Bereich von Evangelischem Aktivismus und Anti-LGBTQ Performances in Südkorea. Lediglich Yatin Lins abschließendes Kapitel wirft futuristisch-technologische Funken und beendet den, ansonsten weitgehend historisch ausgerichteten Sammelband mit einer Besprechung von Huang Yi's Roboter-Performances in Taiwan. Lin stellt so nicht nur eine innovative künstlerische Position vor, sondern erinnert mit der kategorischen Benennung "digital performance" vor allem daran, welche Rolle Ostasien in der heutigen Zeit, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in technologischer Hinsicht spielt. Der Aufruf, Ostasien "zu tanzen", ist buchübergreifend, daher als Aufbruch in die Komplexität der Beziehungen in der Region zu verstehen, stets im Bestreben, auch deren Widersprüche und Diversitäten anzuerkennen. In seinem cross-regionalen Anspruch, den das Buch großzügig als Dialog unterschiedlicher Charaktere, Zeiträume und Genres wiedergibt, bietet es den Lesenden so Parallelen und Erkenntnisse über glücklich unvermutete Begegnungen.
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