Was geht in der deutschen Altenpflege vor sich, wenn Angehörige Sondennahrung verabreichen, Langzeitarbeitslose als Betreuungsassistenten bettlägerige Patienten waschen und eine bulgarische Schneiderin als Haushaltshilfe monatelang mit einer demenzkranken Pflegebedürftigen das Bett teilt? Die Altenpflege steckt in einer Krise und die Stärkung informeller Laienpflege stellt eine für das deutsche Pflegeregime typische sozialpolitische Lösungsstrategie dar. Das Buch zeigt, dass es sich dabei um eine strukturelle und kaskadenförmige Ausbeutungsdynamik handelt, bei welcher pflegende Angehörige, freiwillig Engagierte, Arbeitslose und Migrantinnen zu Ausfallbürgen eines sozialstaatlichen Umbaus im Kontext einer Krise sozialer Reproduktion avancieren. Tine Haubner erhielt für diese Arbeit den Dissertationspreis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und den Dissertationspreis der Sektion Arbeits- und Industriesoziologie.
Mit dem Wandel der gesellschaftlichen Bedingungen für die soziale Reproduktion müssen marxistisch-feministische Theorien Sozialer Reproduktion ihr theoretisches Instrumentarium aktualisieren und erweitern. Dies gilt umso mehr, als zentrale reproduktionstheoretische Begriffe und Perspektiven stark vom Entstehungskontext des fordistischen Reproduktionsmodells der 1970er-Jahre geprägt sind. Dabei ist einerseits an alten Stärken festzuhalten und andererseits sind begrifflich-analytische Engführungen zu überdenken und aufzugeben. Der Beitrag kritisiert den Produktivitätsfunktionalismus und die Abwesenheit der Kategorie des Raums, adressiert damit zwei Leerstellen im reproduktionstheoretischen Denken und unterbreitet Vorschläge zu deren Bearbeitung.
PurposeIn the context of a care crisis in Germany, care work done by volunteers is increasingly being semi-formalized by the state and used in professional care work contexts to relieve families and professionals. However, voluntary care has not yet been adequately studied from a care-specific perspective. This study examines in what way voluntary care can be considered decent care from a care-ethical and empirical perspective.Design/methodology/approachConsidering findings of a qualitative interview study, the study examines the special features of voluntary care, addresses its socio-political expansion, and asks about the decency of voluntary care in elder care and social work.FindingsCare work done by volunteers is a special kind of care work, which has advantages but also disadvantages regarding care-ethical requirements of decent care. The study examines under which conditions voluntary care violates these requirements and how this can be countered in socio-political terms.Originality/valueVoluntary care is an under-researched phenomenon despite its increasing socio-political importance. While its state-led expansion can informalize and deprofessionalize care work at the expense of users, professionals, and volunteers, its analysis can help to illuminate the preconditions for decent care.
Die Sozialberufe sind Prozessen einer zunehmenden Ökonomisierung unterworfen. Zugleich lässt sich hier ein auch staatlich beförderter Bedeutungszuwachs von Freiwilligenarbeit beobachten. Beide Entwicklungen stellen die Sozialberufe, die noch immer als semiprofessionelle "Frauenberufe" gelten, vor große Herausforderungen. Der Beitrag widmet sich dem Spannungsverhältnis zwischen der wachsenden Bedeutung von Freiwilligenarbeit und einer unvollständigen Professionalisierung in Pflege und Sozialer Arbeit. Dabei werden auf der Grundlage empirischer Befunde zwei Thesen vorgestellt: Erstens stellt der Einsatz Freiwilliger in den Sozialberufen eine Antwort auf Versorgungs- und Leistungsdefizite dar, die durch Rationalisierungs- und Ökonomisierungsprozesse verursacht werden. Dabei spielt das Engagement, so die zweite These, eine ambivalente Rolle: Einerseits entlastet es Fachkräfte. Andererseits trägt es nicht zur Aufwertung der Sozialberufe bei, sondern droht vielmehr, ihre Deprofessionalisierung zu befördern und zum Ausfallbürgen von Ökonomisierungsprozessen zu werden.
Against the background of a crisis of elder care in Germany, this article examines the expansion of informal elder care work in terms of exploitation. A concept of indirect exploitation is used that takes into account the special characteristics of highly feminised elder care work and Germany's elder care market. The article shows, through an empirical qualitative case study, that Germany's elder care regime is maintained through the politically supported exploitation of socially vulnerable population groups in favour of lowering the costs of social reproduction in an ageing capitalist society.
Im Kontext steigender Versorgungsbedarfe, eines grassierenden Fachkräftemangels und einer Krise sozialer Reproduktion kommt es seit den 1990er Jahren zu einem sozial- und pflegepolitischen Ausbau niedrigschwelliger und informeller Pflegearbeit in den Grauzonen des Pflegemarktes in Deutschland. Angetrieben durch einen spezifischen Kostendruck, entsteht mithilfe politischer Förderstrategien ein Regime gemeinwohldienlicher Schattenarbeit, das für das Berufsfeld der Pflege typische Informalisierungsprozesse in neuer Gestalt und unter gewandelten Reproduktionsbedingungen fortführt und vorantreibt. Exemplarisch dafür ist einerseits der politisch regulierte Einsatz sogenannter "zusätzlicher Betreuungskräfte" sowie andererseits die staatliche Förderung freiwilligen Engagements in der Pflege. Im Rahmen dieses Ausbaus geringqualifizierter Beschäftigungssegmente, niedrigschwelliger Betreuungsangebote und quasi-professionalisierter Tätigkeitsbereiche sind Informalisierungsprozesse und Fälle rechtswidriger Arbeitskraftnutzung, qualifikatorische Grenzüberschreitungen und Unterschichtungsprozesse zu beobachten. Diese Entwicklungen werden vom Berufsprofil der Pflege als einer hochgradig feminisierten und "unvollständigen Profession" begünstigt. Der Beitrag zielt mit der Vorstellung ausgewählter Befunde einer qualitativen Interviewstudie zum Einsatz zusätzlicher Betreuungskräfte und freiwillig Engagierter im Kontext des gegenwärtigen Pflegenotstands darauf ab, die Bedeutung sozialpolitischer Maßnahmen für Informalisierungsprozesse im Sorgearbeitskontext "entwickelter Gesellschaften" empirisch fundiert zu exemplifizieren. ; Since the 1990s and against the background of the ongoing German crisis of elder care, a socio- and care-politically driven support of informal elder care work done by lay people can be observed. In order to use the informal labor potentials of civil society, the state sets up workfare programs for long-term unemployed and low-skilled workers and strengthens legal support for the elderly with the help of monetized volunteer work. Driven by a specific cost pressure on the welfare market of elder care and by the help of an active state support, a regime of shadow work within public elder care services emerges that perpetuates and promotes typical informalization processes in the field of elder care but in a new form and under changed conditions of social reproduction. As a result, this expansion of low skilled employment and the labor utilization of 'additional caregivers' and volunteers transgresses the threshold to legal infringements and advances processes of de-professionalization and informalization within the field of elder care. This process is also encouraged by the special features of elder care like feminization and incomplete professionalization. The goal of this article is to show, by the help of empirical findings for the use of informal elder care work, that informalization is no single feature of so called 'economically developing nations' but can also be understood as a strategy of labour utilization within the context of 'developed nations' such as in the case of Germany's conservative care regime.
Im Kontext steigender Versorgungsbedarfe, eines grassierenden Fachkräftemangels und einer Krise sozialer Reproduktion kommt es seit den 1990er Jahren zu einem sozial- und pflegepolitischen Ausbau niedrigschwelliger und informeller Pflegearbeit in den Grauzonen des Pflegemarktes in Deutschland. Angetrieben durch einen spezifischen Kostendruck, entsteht mithilfe politischer Förderstrategien ein Regime gemeinwohldienlicher Schattenarbeit, das für das Berufsfeld der Pflege typische Informalisierungsprozesse in neuer Gestalt und unter gewandelten Reproduktionsbedingungen fortführt und vorantreibt. Exemplarisch dafür ist einerseits der politisch regulierte Einsatz sogenannter "zusätzlicher Betreuungskräfte" sowie andererseits die staatliche Förderung freiwilligen Engagements in der Pflege. Im Rahmen dieses Ausbaus geringqualifizierter Beschäftigungssegmente, niedrigschwelliger Betreuungsangebote und quasi-professionalisierter Tätigkeitsbereiche sind Informalisierungsprozesse und Fälle rechtswidriger Arbeitskraftnutzung, qualifikatorische Grenzüberschreitungen und Unterschichtungsprozesse zu beobachten. Diese Entwicklungen werden vom Berufsprofil der Pflege als einer hochgradig feminisierten und "unvollständigen Profession" begünstigt. Der Beitrag zielt mit der Vorstellung ausgewählter Befunde einer qualitativen Interviewstudie zum Einsatz zusätzlicher Betreuungskräfte und freiwillig Engagierter im Kontext des gegenwärtigen Pflegenotstands darauf ab, die Bedeutung sozialpolitischer Maßnahmen für Informalisierungsprozesse im Sorgearbeitskontext "entwickelter Gesellschaften" empirisch fundiert zu exemplifizieren.
Was geht in der Altenpflege vor, wenn Angehörige Sonden-Nahrung verabreichen, eine ehemalige Kindergärtnerin auf ehrenamtlicher Basis Injektionen setzt, Langzeitarbeitslose als umgeschulte "Betreuungsassistenten" die Wundversorgung übernehmen und eine bulgarische Schneiderin als "Haushaltshilfe" monatelang mit einer demenzkranken Pflegebedürftigen das Bett teilt?Die Pflege wird in der Bundesrepublik seit vielen Jahren von einem Krisendiskurs beherrscht, der eine immer weiter aufklaffende Versorgungslücke im Kontext des demographischen Wandels adressiert: Während die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2030 auf 3,4 Millionen ansteigen soll, fehlen für deren Versorgung bis zu 506.000 professionelle Pflegekräfte (vgl. Prognos 2012). Neben der Anwerbung ausländischer Fachkräfte und Bemühungen, den Beruf der Altenpflege zu reformieren, sind seit den 1990er Jahren sozial- und pflegepolitische Versuche zu beobachten, den Einsatz von Laienpflegekräften sukzessive zu stärken. So wird das "informelle Pflegepotenzial" von Familie, Freunden oder Nachbarn im Rahmen der Pflegeversicherung mittels zweckgebundener Transferleistungen gezielt gefördert. Darüber hinaus werden kontinuierlich Anreize geschaffen, den Kreis informeller Pflegepersonen auszuweiten. Das Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz zielt 2002 mit der Förderung "niedrigschwelliger Betreuungsangebote" auf die Stärkung häuslicher Demenzbetreuung durch Ehrenamtliche ab. Auf diese Weise avanciert das Ehrenamt mitunter zu einer nebenberuflichen Beschäftigung an der Schwelle zum Niedriglohnsektor, das für Rentner*innen, die von Altersarmut betroffen sind, attraktiv wird. Das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz bietet stationären Pflegeeinrichtungen ab 2008 die Möglichkeit, "zusätzliche Betreuungskräfte" für demenzkranke Heimbewohner einzustellen. Diese als "Jobchance Pflege" deklarierte Anwerbestrategie zielt seit dem Pflege-Neuausrichtungsgesetz 2013 verstärkt auf geringqualifizierte Langezeitarbeitslose ab, die für einen "niedrigschwelligen" Einsatz in der Pflege gewonnen werden sollen. Mit einer Neufassung der Beschäftigungsverordnung für Haushaltshilfen wird zudem seit 2015 das Aufgabenspektrum migrantischer Laien-Pflegekräfte um grundpflegerische Verrichtungen erweitert.Die genannten sozialpolitischen Interventionsmaßnahmen zur Stärkung der Laienpflege weisen dabei eine spezifische Dynamik aus Ausschluss und Arbeitskraftnutzung auf: Sie adressieren vorwiegend Gruppen, die aufgrund von Ausschlussprozessen sozial verwundbar sind und deren pflegerische Arbeit kostengünstig genutzt werden kann. Damit gehen Unterschichtungsdynamiken einher, die zur Deprofessionalisierung und Informalisierung pflegerischer Dienstleistungen beitragen und dabei der noch immer verbreiteten Vorstellung folgen, wonach es sich bei Pflege um eine "Jederfrautätigkeit" handelt, bei der es primär auf Empathie und weniger auf Qualifikation ankommt. Statt der Krise des Pflegeberufes mit einer Aufwertung pflegerischer Arbeit zu begegnen, wird so das berufliche Negativimage reproduziert und die Grauzonen des Pflegemarktes ausgedehnt. Und auch die informellen Helfer*innen riskieren ihre Überforderung: Freiwillige "Demenzhelfer*innen" werden mitunter Notfallsituationen ausgeliefert, denen sie hilflos gegenüber stehen und migrantische Laienpfleger*innen mit Schwer-Pflegebedürftigen allein gelassen. Der rechtswidrige Einsatz zusätzlicher Betreuungskräfte gehört daneben in Pflegeeinrichtungen zum "offenen Geheimnis" der Branche, bei dem berufliche Quereinsteiger*innen nach einer kurzen Qualifizierungsphase, selbst behandlungspflegerische Leistungen verrichten.Die sozialpolitische Stärkung der Laienpflege ist im Rahmen einer Promotion im Zeitraum zwischen April 2013 und April 2016 qualitativ-empirisch untersucht worden. Weil Pflege eine "typische Querschnittsmaterie" ist, verbindet die Arbeit verschiedene soziologische Disziplinen und Untersuchungsfelder wie die Ungleichheits-, Frauen- und Geschlechterforschung sowie die Forschung zu Care-Work, Wohlfahrtsstaat und Migration. Ausgewählte Forschungsergebnisse könnten im Rahmen einer 20-minütigen Präsentation vorgestellt werden.
Kapitalismuskritik ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die Soziologie folgt diesem Trend. Gesellschaftskritik im Allgemeinen und Kapitalismuskritik im Besonderen sind wieder soziologische Themen. Der Beitrag leitet in den vierten Themenblock des Sammelbandes zu Kapitalismustheorie und Arbeit ein, der sich mit Kapitalismustheorie und Kapitalismuskritik auseinandersetzt. Nach kurzen grundsätzlichen Überlegungen zu diesem thematischen Schwerpunkt skizziert der Beitrag die Aufsätze dieses Themenblocks. (ICB2)
Karl Marx' Analysen bleiben auch im vorerst siegreichen Kapitalismus virulent. Begriffe wie Klasse, Ausbeutung oder Ideologie lassen sich weiter plausibel anwenden, wenn infrage steht, wie soziale Ungleichheit in unseren Gesellschaften aufrechterhalten wird, wie der Einsatz un(ter)bezahlter Arbeit die Profite von Unternehmen oder staatliche Kosteneinsparungen ermöglicht. Auch für Fragen der Umweltzerstörung, öffentlicher Güter oder unbezahlter Sorgearbeit bietet Marx Denkanstöße und analytisches Werkzeug. Der Band diskutiert diese Aktualität, indem er soziologische Ansätze versammelt, die gesellschaftliche Konflikte und Krisen der Gegenwart mit marxistischen Mitteln begreifen.
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In: AIS-Studien: das Online-Journal der Sektion Arbeits- und Industriesoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), Band 16, Heft 1, S. 10-24
Im Kontext des wirtschaftlichen, demografischen und sozialstaatlichen Strukturwandels nehmen sozialräumliche Ungleichheiten zu. Vor dem Hintergrund von Peripherisierungsprozessen lassen sich in ländlich-strukturschwachen Räumen die Entstehung eines neuen verarmten Landproletariats und eine wachsende soziale Polarisierung beobachten. Im Rahmen eines laufenden qualitativen Forschungsprojektes zu ländlicher Armut in Ost- und Westdeutschland fragt der Beitrag nach der Zusammensetzung und klassenanalytischen Bestimmung dieses Landproletariats. Dabei werden empirisch gestützt und mit Bezug auf heterodoxe und feministisch-marxistische Theorien dominante Annahmen marxistischer Klassentheorie kritisch reflektiert. Die klassenanalytische Bestimmung des neuen Landproletariats, so wird argumentiert, muss die tradierte Erwerbszentriertheit überwinden und nicht-formelle Modi der Subsumption von Arbeit und Leben unter das Kapital unter Berücksichtigung des Raumbezuges ins Zentrum stellen. Hiervon ausgehend plädieren wir für einen erweiterten Begriff von proletarisierten Klassenlagen, der das Verhältnis von Proletarisierung und Pauperisierung betont.