Unter der Gürtellinie: von den Ordnungen des Geschlechtlichen
In: Merkur: deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Volume 61, Issue 8/9, p. 860-869
ISSN: 2510-4179
Der Verfasser argumentiert, dass der Orient, der eigenen politischen Impotenz und historischen Dekadenz sich nur allzu schmerzlich bewusst ist und zur Anklage des Sittenverfalls greift, um der materiellen Überlegenheit des Westens wenigstens ideell etwas entgegenhalten zu können. Sittliche Argumente schneiden dem ins eigene Fleisch, der sie als Waffen missbraucht: Despotie, Unterentwicklung, Korruption und Blutrache sind, auch wenn der hochmütige Westen sie noch so hochmütig geißelt, das Gegenteil islamischer Werte. Am Ende aber wird der Dekadenzvorwurf, als Waffe missbraucht, stumpf. So stumpf, dass gerade dasjenige am Anderen als dekadent beargwöhnt wird, was es am allerwenigsten ist. So erregt sich der Westen bevorzugt über Kopftücher: Im Sinne seiner Analyse, dass der Stillstand und relative Niedergang des Orients Folge des Patriarchats ist, in der Körpermetapher der Dekadenz gesprochen die Verkrüppelung der weiblichen Körperhälfte. Nicht nur übernimmt er dabei unhinterfragt die Deutung der Islamisten, dass der Schleier Symbol des Patriarchats ist, sondern er handelt so, als müsse und könne er die eigene Potenz durch Entschleierung des Weiblichen so nachweisen, wie die Islamisten es durch seine Verschleierung zu tun glauben. Dabei genügt der einfache Blick in Schulen oder Internetcafes des Orients vom Iran bis Kreuzberg, um zu erkennen, dass unter den Tüchern Köpfe stecken, die sich in ihrem Schutz auf den Weg zu Bildung, Aufstieg und Teilhabe gemacht haben. (ICG2)