In dem Beitrag werden Entstehung und Bedeutung der deutschen nichtamtlichen Quellen zum Vertreibungsgeschehen beschrieben. Da es der "Sturm der Ereignisse im Osten" nahezu unmöglich machte, amtliche Quellen zum Problem der Vertreibung zu erstellen, liegt keine "offizielle Datensammlung" vor. Es wird beschrieben, wie auf der Basis von Befragungen Datenmaterial gesammelt und in der sogenannten "Ost-Dokumentation" archiviert wurde. Die daraus entstandenen Dokumentationen und deren Weiterverarbeitungen werden vorgestellt. Die Entwicklung in der inhaltlichen Ausrichtung der Auswertungen des Datenmaterials werden beschrieben. (ICA)
"Auch vierzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist die Darstellung von Flucht und Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat keineswegs nur eine historisch-wissenschaftliche Aufgabe, sondern auch mit politischen und moralischen Kategorien zu behandeln. Daran ändert auch die besondere historische Quellenbasis nichts, die im wesentlichen aus umfangreichen Sammlungen von Erlebnisberichten und anderen Aufzeichnungen der Betroffenen besteht. Die Verpflichtung zur objektiven Darstellung von Flucht und Vertreibung kann keinesfalls mit apologetischen Tendenzen hinsichtlich der NS-Verbrechen in Zusammenhang gebracht werden. Auschwitz und Nemmersdorf haben dieselbe historische Wurzel. Die Potsdamer Konferenz vom Sommer 1945 bestätigte und ermöglichte die in früheren Kriegskonferenzen als Randproblem im Zusammenhang mit der politischen Nachkriegsordnung bereits im Grundsatz beschlossene Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat und mißbrauchte zudem den Tatbestand der Flucht von Millionen als pseudomoralische Rechtfertigung für den 'Bevölkerungstransfer'. Die Ereignisse im östlichen Teil Ostpreußens im Herbst 1944 machten erstmalig jenen grausigen Charakter des Flucht- und Vertreibungsgeschehens bekannt, der die Gesamtheit von Tausenden von Erlebnisberichten und Zeugenaussagen in erschreckender Übereinstimmung prägte. Sie wiederholten sich nach der sowjetischen Großoffensive vom Januar 1945 in vielfältiger Weise. Die Not der Flüchtlinge, die Mißhandlungen der auf dem Treck überrollten oder der in der Heimat Verbliebenen, die leidvollen Schicksale der schließlich endgültig aus ihrer Heimat im Osten und Südosten Vertriebenen - sie stellen bitteres Unrecht dar und führten zum Abbruch jahrhundertealter politischer und kultureller Traditionen. Im Zusammenhang mit den vorausgegangenen Verbrechen des NS-Regimes ist dieser Vorgang als eine ständige historische wie moralische Mahnung zu begreifen, um eine Zukunft ohne Terror, Verbrechen und gewaltsame Vertreibung zu sichern." (Autorenreferat)
"Die Vielfalt nationalsozialistischer Herrschaftsmittel ist nicht beschreibbar als ein beziehungsloses Nebeneinander von Revisions- und Expansionspolitik, begeisternden Festen und unpolitischem Alltag, bewußter Pflege vertrauter Wertkategorien und radikaler Umkehrung traditioneller Wertsysteme, von bürokratischen Mechanismen und ungehemmter Machtdurchsetzung, von Verführung durch Normalität für die Mehrheit und Verfolgung durch Terror für die Minderheit. Vielmehr handelt es sich um unterschiedliche Formen ein und desselben, auf die Kerninhalte der prinzipiell menschenverachtenden nationalsozialistischen Ideologie ausgerichteten Systems. Die in der Quellenüblieferung jener Epoche dokumentierte Vielfalt der Herrschaftsmittel des NS-Regimes ist im historischen und politischen Bewußtsein der Deutschen heute keineswegs so präsent, wie es ihrer Bedeutung für die Bewertung unserer jüngsten Geschichte entspräche. Neben allgemeinem Desinteresse an geschichtlichen Ereignissen sind als Gründe zu nennen: mangelnde Informationsmöglichkeiten, vor allem aber eine zu einseitigen Betrachtungsweisen führende, quellenferne Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus insbesondere in außerwissenschaftlichen Bereichen, schließlich auch bewußte Desinformationen aus tagespolitischen Motiven. In vier Bereichen wird die Vielfalt der Herrschaftsmittel aus schriftlichen Quellen und mündlicher Überlieferung von Zeitgenossen dargestellt, wobei das Verhältnis zwischen Erlebnissen der Betroffenen einerseits, der Erkenntnisfähigkeit und -bereitschaft heute Urteilender andererseits berücksichtigt wird." (Autorenreferat)