Zickzackgeschichte: Juden in der Bundesrepublik
In: Merkur: deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Band 64, Heft 1, S. 73-79
ISSN: 2510-4179
Als die DDR in den späten 1980er Jahren ihrem Ende entgegen ging, wollte Erich Honecker das Regime retten und erinnerte sich daher seiner Juden. Während bisher unter dem Deckmantel des Antifaschismus jegliche Verantwortung für die Vergangenheit abgelehnt wurde, versprach man nun finanzielle Abfindungen und äußerte sogar die Bereitschaft, Juden aus der Sowjetunion im SED-Staat anzusiedeln. Nach der Wiedervereinigung übernahm die Bundesregierung auch diese Hypothek der DDR und ließ die Einladung gelten. Im Jahr 1991 erklärte man alle Juden, die aus den GUS-Staaten einwandern wollten, zu Kontingentflüchtlingen, und verteilte sie seither nach dem sogenannten "Königsteiner Schlüssel" auf alle Bundesländer. Fünfzehn Jahre nach der Wiedervereinigung waren etwa 200.000 Juden eingewandert, ihre Zahl in Deutschland hatte sich fast verzehnfacht und es hatte sich alles verändert. Die Zuwanderer waren keine polnischen oder osteuropäischen Juden mehr wie die Displaced Persons der Nachkriegszeit und kamen meist aus der ehemaligen Sowjetunion - nicht als die Opfer, sondern als die Sieger des Zweiten Weltkriegs. Mit einem politischen Schwert hatte die Bundesregierung den gordischen Knoten zerschlagen, der das deutsch-jüdische Verhältnis zu ersticken drohte, und ein moralisches Problem war aus der Welt geschafft. Aber es war zugleich die endgültige Verabschiedung des deutschen Judentums und die Juden in der Bundesrepublik machen einen neuen Anfang, dessen Zukunft nicht abzusehen ist. (ICI2)