Der Tagungsband präsentiert Standpunkte und Handlungsmöglichkeiten der Bildungs- und Berufsberatung angesichts der Veränderungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Im Fokus stehen die Professionstheorie und berufspraktische Ansätze. Außerdem diskutieren die Autor:innen die Rolle der Bildungs- und Berufsberatung und wie die Beratenden sie ausführen und interpretieren - individuell und als Berufsgruppe. Die Beiträge sind vier Schwerpunkten zugeordnet: Was prägt den Berufsalltag der Beratenden und wie gehen sie damit um? Welche Herausforderungen bringt die Migration? Wie kann die Professionstheorie der Bildungs- und Berufsberatung differenziert und weiterentwickelt werden? Wie lassen sich Potenziale und Ressourcen erkennen und ausbauen?
Die Etablierung der Beratungsprofession ist seit jeher begleitet von einer breit angelegten, international in Wissenschaft und Praxis geführten Diskussion um die Festlegung beratungsspezifischer Qualitätsstandards. Erst in neuerer Zeit hat die Thematik auch eine politische Dimension erhalten: Professionelle Verbände in aller Welt, aber auch internationale Organisationen wie OECD, EU u. a. fordern von den nationalen Regierungen die Einführung verbindlicher Standards für die Qualität von Beratungsleistungen und für die Zulassung zu beratenden Berufen im Bereich von Bildung, Beruf und Beschäftigung. Denn Bildungs- und Berufsberatung ist nicht nur ein hohes individuelles, sondern auch ein hohes öffentliches Gut, das einen wichtigen Beitrag zur Erreichung zentraler gesellschaftspolitischer Ziele leisten kann. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über die internationalen Entwicklungen in diesem Bereich und stellt verschiedene Ansätze zur Qualitätssicherung vor.
In seinem Eröffnungsbeitrag bezieht Ronald G. Sultana Position für eine emanzipatorische, kritische und streitbare Bildungs-, Berufs- und Laufbahnberatung, die sich sozialer Gerechtigkeit verpflichtet sieht. Mit Bezug auf Zygmunt Baumans Begriff der "flüchtigen Moderne" arbeitet er die aktuelle Dominanz des "Soziale-Effizienz"-Diskurses gegenüber Entwicklungs- und Emanzipationszielen innerhalb der Laufbahnberatung heraus und umreißt den Spielraum emanzipatorischer Laufbahnberatung angesichts verschiedener Formen von Unterdrückung und Benachteiligung. Wolfgang Bliem thematisiert in seinem Beitrag relevante Veränderungsfaktoren der Arbeits- und Berufswelt sowie deren Auswirkungen auf den Qualifikationsbedarf und geht dabei auf die Bedeutung der "New Skills" ein. Ausgehend davon zeigt er mögliche Herausforderungen, aber auch Entwicklungsfelder für die Bildungs- und Berufsberatung auf. Diese liegen neben Themen wie Laufbahncoaching und Unterstützung zur Self-Guidance z. B. im Bereich neuer bzw. weiterentwickelter Kommunikationsformen wie E-Counselling und im Einsatz von Simulationen, um realistische Bilder von Berufen und Tätigkeiten zu vermitteln. Mit Bezug auf die vielfältigen Belastungsfaktoren, denen Bildungs- und BerufsberaterInnen in ihrer Arbeit ausgesetzt sind, legt Wolfgang Schüers in seinem Text mögliche Hilfestellungen dar. Dabei beleuchtet er insbesondere das Konzept der Achtsamkeit und beschreibt zum einen, was darunter zu verstehen ist, und gibt zum anderen konkrete praktische Anregungen, um Achtsamkeit im Beratungsalltag zu praktizieren. Wichtig ist ihm dabei, darauf hinzuweisen, dass achtsamkeitsbasierte Verfahren nur eine mögliche Unterstützungsform im Umgang mit dem zunehmenden Druck sind, die zugrunde liegenden strukturellen Widersprüche davon aber nicht tangiert werden.
Bildungs- und Berufsberatung ist im deutschsprachigen Raum wenig erforscht. Das Bundesinstitut für Erwachsenenbildung bifeb) in Österreich veranstaltete im Jahr 2012 eine Fachtagung für Akteurinnen und Akteure in diesem Feld. Leitlinie und Bezugspunkt war das Thema der Identität. Der Band enthält die Beiträge der Tagung und gibt Impulse zu einer verstärkten theoretischen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Aspekten der Bildungs-, Berufs- und Laufbahnberatung. Die Verbindung von theoretisch-wissenschaftlichen Positionen mit Inhalten der beraterischen Praxis macht die Vielfalt und Heterogenität dieses Berufsfeldes deutlich. Das Buch ergänzt die Ergebnisse des ersten Bandes aus dem Jahr 2011.
Peter Weber stellt in seinem Artikel die Europäischen Kompetenzstandards (EKS) von NICE (Network for Innovation in Career Guidance & Counselling in Europe) vor. Dabei geht er ausführlich auf das diesen Standards zugrunde liegende Kompetenzverständnis wie auch auf die verschiedenen Rollen sowie auf Praxis- und Ausbildungsprofile von BeraterInnen für Bildung, Beruf und Beschäftigung ein. Die Ausführungen über Beratung als äußerst anspruchsvolles und komplexes Geschehen und darüber, wie Beratung gelehrt und gelernt werden kann, bieten richtungsweisende Leitlinien für alle, die mit der Aus- und Weiterbildung von BeraterInnen befasst sind. In seinem Beitrag hinterfragt Clinton Enoch die gängige Unterscheidung von Fach- und Prozessberatung und plädiert für eine Aufwertung einer "informativen Beratung", die mehr ist als die Bereitstellung von Informationen. Zur Anregung des Diskurses zum Thema Fachberatung geht er auf den Zusammenhang von Wissen und Emotion ein: Werden deren notwendige Kopplungsprozesse beachtet, kann informative Beratung neu bewertet und ein theoretisches Konzept zur Verknüpfung von Fach- und Prozessberatung entwickelt werden, das auch dem tatsächlichen Selbstverständnis von BeraterInnen entspricht. Ursel Sickendiek und Frank Nestmann thematisieren in ihrem Beitrag, dass die Laufbahnberatung sowohl in ihren theoretischen Grundlagen als auch in ihrer Praxis nach wie vor stark von einer individuumzentrierten Perspektive und dem Fokus auf makrosoziologische Einflüsse auf die Berufswahl bestimmt ist. Sie treten dafür ein, die sozialen Beziehungen bzw. die sozialen Beziehungsstrukturen der Ratsuchenden ins Zentrum zu rücken und führen dies am Beispiel der feministischen Laufbahnberatung sowie der Beratung mit Geflüchteten aus.
Hanni Bütler stellt in ihrem Aufsatz das Zürcher Ressourcenmodell ZRM, ein Verfahren zum Selbstmanagement, das auf aktuellsten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zum menschlichen Handeln beruht, vor. Wie diese differenzierte psychologische Methode, deren Ausgangspunkt und Kernelement die Arbeit mit Bildern darstellt, in der Laufbahnberatung eingesetzt werden kann, wird von der Autorin anschaulich und nachvollziehbar beschrieben. Da die Beratung von geflüchteten Menschen in jüngster Zeit an Bedeutung gewonnen hat, ist auch das Thema Trauma stärker ins Bewusstsein gerückt. Doris Deixler gibt in ihrem Artikel einen Überblick über das aktuelle Wissen über das Wesen von Traumata und über deren Folgen. Aus ihrer Praxis als Traumaberaterin zeigt sie, auf welche Weise sich Traumafolgen in Beratungssituationen auswirken können - und wie BeraterInnen darauf reagieren können. Georg Gittler und Test 4 U GmbH stellen ein neuartiges, in jahrelanger Forschung entwickeltes Online-Instrument vor, das eine Orientierungshilfe für die Studienwahl bietet: Das "Studien-Navi" vergleicht persönliche Interessensprofile mit denen bereits Studierender und rangreiht mögliche Alternativen nach dem Grad ihrer Passung. Das Instrument ist auf wissenschaftlicher Basis entwickelt und umfangreich empirisch abgesichert. Es hat in der wissenschaftlichen Community große Beachtung gefunden und wird im Rahmen des vom österreichischen Wissenschaftsministerium gemeinsam mit dem Bildungsministerium ins Leben gerufenen Programm "18plus - Berufs- und Studienchecker" für angehende MaturantInnen im Zusammenhang mit individueller Beratung angeboten. Martin Busch und Laura Soroldoni berichten über eine weitere innovative Entwicklung im Zusammenhang mit dem Programm "18plus": Auf Basis von Forschungen zur Berufswahl unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen hat Mark Savickas ein von den in der Berufsberatung üblichen Interessenstests abweichendes Instrumentarium entwickelt, das Auskunft über den Stand des Orientierungsprozesses und die damit zusammenhängenden Einstellungen und Verfasstheiten der Ratsuchenden gibt. Dieses Instrumentarium wurde mit Genehmigung des Autors ins Deutsche übersetzt und um spezifische Empfehlungen an die Ratsuchenden für die weitere Gestaltung des Orientierungsprozesses erweitert.
Beraten ist als eine pädagogische Kernaufgabe bei der Gestaltung von Bildung in gleicher Weise bedeutsam wie Unterrichten, Organisieren, Arrangieren oder Helfen. Konzepte der Beratung sind in der pädagogischen Tradition gut verankert (vgl. Nittel 2009). Beratung ist auch zur Realisierung des Rechts auf Bildung, das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 18.12.1948 festgehalten ist, notwendig. Bildung und Beratung sind im Interesse der Entfaltung von Persönlichkeit stark miteinander verbunden.
In seinem zweiten Beitrag setzt sich Ronald G. Sultana einleitend mit dem Begriff "Kultur" und der komplexen Beziehung zwischen "Identität" und "Andersheit" auseinander. Mit Bezug auf Erkenntnisse und Einsichten der Critical Race Theory sieht er die Bildungs-, Berufs- und Laufbahnberatung gefordert, gängige Schlüsselkonzepte und Begriffe wie etwa "Laufbahn" oder "Wahl" zu hinterfragen. Auch betont er die Unabdingbarkeit von multikulturellen Erfahrungen und (Selbst-)Reflexivität für Laufbahnberatungsangebote im Kontext kultureller Diversität. Allerdings gibt es "Fallstricke", die kultursensible Beratungsangebote im Blick haben müssen. Sultana bietet anhand der Diskussion fünf solcher Fallstricke eine Reihe von weiterführenden Reflexionen für PraktikerInnen der Laufbahnberatung an. Christina Altenstraßer, Gergana Mineva und das kollektiv analysieren Widersprüche, innerhalb derer Bildungs- und Berufsberatung agiert, reflektieren Prozesse der Subjektwerdung im Kontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Verwertungslogik und hinterfragen die Rolle der BeraterInnen in diesem Prozess. Sie identifizieren Reflexivität und Engagement gegen diskriminierende Strukturen als zentrale Aspekte professioneller und gesellschaftskritischer Beratung und plädieren für Irritation und politisches Handeln. Eingebettet in diese Fragestellungen und Positionierung präsentieren sie das Projekt "FAMME: Berufsbilder_Konstruktion und Dekonstruktion" und zeichnen den Entstehungsprozess eines Berufskartensets für die Bildungs- und Berufsberatung für MigrantInnen nach. Norbert Bichl erläutert die Bildungsstruktur jener Menschen, die in jüngerer Zeit nach Österreich zugewandert sind und informiert über den Ablauf von Anerkennungsprozessen von beruflichen und schulischen Ausbildungen und deren gesetzliche Grundlagen. Welche Hürden bei der Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen von Zugewanderten in der Praxis existieren, stellen Martin Weichbold und Wolfgang Aschauer in ihrem gleichlautenden Beitrag dar: In einer qualitativen und quantitativen Studie untersuchten sie Anerkennungsverläufe ebenso wie Motive für den Verzicht auf Anerkennungsanträge. In einem anschaulichen Treppenmodell visualisieren sie förderliche und hinderliche Faktoren und, damit verbunden, unterschiedliche Verlaufspfade von beruflichen Karrieren von MigrantInnen. Migrare bietet als Zentrum für MigrantInnen in Oberösterreich seit über 30 Jahren muttersprachliche Beratung an. Nermina Imamovic stellt in ihrem Beitrag die breite Palette der Angebote und Projekte zur Berufs- und Bildungsberatung bei migrare vor. Sie geht dabei auf besondere Erfolge, etwa beim Einsatz des Kompetenzprofils nach CH-Q, ein, verweist aber auch auf Grenzen der Beratungsarbeit und strukturell bedingte Problemfelder.