Lehrer als Therapeuten?
In: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium: sowi, Band 6, Heft 2, S. 80-82
ISSN: 0340-2304
Für eine erfolgreiche Therapie mit psychisch kranken oder gestörten Kindern und Jugendlichen, die zwar aus psychiatrischen Einrichtungen entlassen, aber noch nicht gesund sind, ist die Zusammenarbeit zwischen klinischem Therapeuten und dem Lehrer als Kontaktperson im heimatlichen Konfliktbereich sehr wesentlich. Die Frage, ob der Lehrer dem an ihn gestellten therapeutischen Anspruch gerecht werden kann (Therapie statt Auslese), muß auf dem Hintergrund der Situation der Schule geklärt werden. H.v. Hentig beschreibt die Schule als ein System mit eigener Pathologie, in dem Schüler und Lehrer leiden und Leiden verursachen. Die heutige "Kunstwelt Schule" trennt Lebens- und Lernprobleme voneinander ab. Solange die Schule abgetrennt wird vom Alltag und unter experimentellen Bedingungen Problembewältigung und Gemeinschaft praktizieren soll, wird sie zum Alibi für eine "unerziehliche Umwelt". Die historische Loslösung der Schule von der konkret erfahrbaren Arbeitswelt, die Einseitigkeit der Förderung von Fähigkeiten während einer langen rein theoretischen Ausbildungszeit, können zur Verkümmerung ursprünglich vorhandener Begabungen führen. Die berufliche Zukunft hat sich der Vorstellungsfähigkeit von Kindern und Eltern fast völlig entzogen. Das Kind steht zwischen den Erwartungen seiner Eltern und einem unübersichtlichen Ausbildungssystem ohne Praxisbezug. Es ist in seiner Beziehung zur eigenen Familie und Umwelt labilisiert und wird den zunehmenden Belastungen in der Schule immer weniger Stabilität entgegenbringen können. Im Mittelpunkt der kinderpsychiatrischen Forderungen an das Bildungssystem steht deshalb das Modell einer lebensnäheren Schule (R. Lempp), die den Zusammenhang von Leistungs- und Sozialbereich bewußt einbezieht und ein Herausgehen aus dem theoretischen Lernbereich in erfahrbare Praxisbereiche ermöglicht. Unter solchen Bedingungen kann Schule psychische Stabilität vermitteln und therapeutische Aufgaben wahrnehmen, anstatt "auffällige" Kinder in die Isolation der Klinik abzuschieben. (HH)