Veränderungen des Familiensystems bei Aufnahme eines Pflegekindes: eine empirische Untersuchung der Belastungserfahrungen und Bewältigungsstrategien von Pflegefamilien
In: Geisteswissenschaft
Inhaltsangabe: Die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien und Einrichtungen der Heimerziehung ist "neben der Adoption die bedeutsamste Möglichkeit der Jugendhilfe zur Sicherung der Lebens- und Entwicklungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen aus prekären (kindeswohlgefährdenden) familiären Situationen" (Jordan 2001). In den vergangenen Jahrzehnten ging die Entwicklung im Pflegekinderbereich hin zu einer Aufwertung und zu einem Ausbau der Familienpflege. Die wurde auch durch die Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) von 1991 zum Ausdruck gebracht. Die Anzahl der in Heimen untergebrachten Kinder sollte reduziert werden. Ausgelöst wurde dieser Trend durch die sogenannten "Heimkampagnen" Anfang der 70er Jahre. "Die Zustände in den Heimen [wurden] öffentlich gemacht und die Pflegefamilien als pädagogische Alternative der Fremderziehung wiederentdeckt" (Handbuch für Pflege- und Adoptiveltern 1993). Die Studentenbewegung und die sich anschließenden "gesellschaftlichen Reformprozesse" machte die für die Jugendhilfe Verantwortlichen "sensibler für kindliche Bedürfnisse", "gesellschaftliche Unterdrückung" und verlangte "schließlich auch nach einer Reform des sozialpädagogischen Institutionssystems und der sozialpädagogischen Ausbildung. Das Pflegekinderwesen erreichte alles dies vor allem über den Tatbestand, dass die Heimerziehung schrecklich teuer wurde" (Blandow 2001). Mit der Aufwertung der Pflegekinderarbeit durch die Spezialisierung innerhalb der Jugendämter (Schaffung von Pflegekinderdiensten) und durch Professionalisierung potentieller Pflegeeltern (Schulungen und gezielte Informationen) – sind die Zahlen für die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in institutionellen Einrichtungen in den letzten 30 Jahren zurückgegangen, die Anzahl der Pflegestellen gestiegen. Insgesamt aber ist die Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen außerhalb der eigenen Familie rückläufig. Ausgelöst durch die Anti-Heimkampagnen sanken in den 80'er Jahren die Zahlen der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Heimen und sonstigen Einrichtungen der Jugendhilfe. Die Anzahl der Pflegestellen konnte im selben Zeitraum fast verdoppelt werden. In den letzten zwanzig Jahren sanken sowohl die Zahlen für die Heimunterbringung als auch die der Pflegestellen. Laut Statistischem Bundesamt waren Ende 2000 insgesamt 49.000 junge Menschen bis 26 Jahre in einer Pflegefamilie untergebracht. 80 % der Pflegekinder lebten in einer für sie fremden Familie, während die anderen bei Großeltern und anderen Verwandten untergekommen waren. Von den in fremden Familien lebenden Kindern waren mehr als die Hälfte unter 12 Jahre alt. Für die Rückläufigkeit der Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung außerhalb des Elternhauses werden a) strukturelle Veränderungen innerhalb der Jugendhilfe, b) Individualisierungsprozesse innerhalb der Gesellschaft und c) veränderte Lebensentwürfe von Paaren und Familien verantwortlich gemacht. a) Die aktuellen Jugendhilfedebatten gehen dahin, dem Kind, solange es geht, seinen Platz in der Familie zu erhalten, indem qualifizierte ambulante und teilstationäre Hilfsangebote, wie die sozialpädagogische Familienbetreuung, Tagesgruppen, therapeutische Angebote, etc. vor einer möglichen Herausnahme des Kindes in Anspruch genommen werden müssen. b) Es gibt in der Gesellschaft eine größere Toleranz für abweichendes Verhalten von Kindern und Jugendlichen und deren Eltern. Die diesbezügliche Wahrnehmung und somit die "Höhe" der Interventionsschwellen haben sich verändert. c) Veränderte Lebensentwürfe von Paaren und Familien - der Individualisierungswunsch vieler Frauen, sich vom traditionellen Familienkonzept lösen zu wollen – führt dazu, dass sich immer weniger Personen um Pflegekinder bewerben. Was veranlasst also Menschen, trotz qualifizierter anderer Hilfsangebote, trotz größerer Toleranz für abweichendes Verhalten und trotz veränderter Lebensentwürfe, sich dennoch auf das Wagnis Pflegekind mit all seinen Verwicklungen einzulassen? Die Fragestellung speziell der vorliegenden Arbeit beinhaltete: welche Veränderungen haben Familien durch die Aufnahme eines Pflegekindes erfahren? Was für Belastungen entstanden für die Familie und ihre Mitglieder und welche Bewältigungsstrategien setzten sie ein, um mit den Belastungen adäquat umgehen zu können? Um diese Fragen beantworten zu können, war es naheliegend, die Betroffenen selbst zu befragen. Damit war der Weg für qualitative Sozialforschung und eine empirische Erhebung durch ein problemzentriertes Interview vorgezeichnet. Für die Durchführung der Interviews wurde ein Leitfaden erstellt, der dem Interview Struktur geben sollte, um zu gewährleisten, dass bestimmte Bereiche bei den Betroffenen abgefragt wurden. Aufgrund der Struktur konnten die Aussagen miteinander verglichen und ausgewertet werden. Ziel dieser Untersuchung war es, die durch die Interviews gewonnenen Informationen wissenschaftlich zu verarbeiten und das Endergebnis dieses Prozesses in eine möglicherweise zu verbessernde Beratungspraxis und Betreuungssituation im Pflegekinderbereich mit einfließen zu lassen. Diesbezügliche Ergebnisse werden im siebten und achten Teil dieser Arbeit vorgestellt. Im Anschluss an die Einleitung wird im zweiten Teil die Pflegefamilie und die rechtliche Situation des Pflegekinderwesens dargelegt. Im dritten Teil werden die Forschungsergebnisse zum Pflegekinderwesen vorgestellt, die in die Teilbereiche Pflegekind, leibliche Eltern und Pflegefamilie unterteilt sind. Hier gilt es zu erwähnen, dass das empirische Ausgangsmaterial, welches dieser Arbeit zugrunde liegt, sich ausschließlich auf Pflegekinder bezieht, die im Säuglings- und Kleinkindalter in die Pflegefamilie gekommen sind und die keine vorangegangene Heimerfahrung gemacht haben. Aufgrund anderer Sozialisationserfahrungen werden bei der Darstellung der wissenschaftlichen Erkenntnisse Heimkinder und ältere Pflegekinder nicht explizit berücksichtigt. Zudem wird im Kapitel der Pflegefamilie der Unterschied zwischen einer Ergänzungsfamilie und einer Ersatzfamilie erläutert – eine Kenntnis der wissenschaftlichen Begründung und deren Vertreter ist Voraussetzung, um bestimmten Argumentationsketten folgen zu können. Im vierten Teil wird der Verlauf des Forschungsprozesses dokumentiert und im fünften und sechsten Teil werden die Ergebnisse der Untersuchung präsentiert. Der Darstellung und Interpretation der Interviews mit den Pflegemüttern folgt die Darstellung und Interpretation der Interviews mit den leiblichen Kindern, wobei die in der Auswertung verwendeten Zitate exemplarische Funktion haben. Im siebten Teil erfolgt die Zusammenfassung und Kommentierung der Forschungsergebnisse. Ausgehend von den Forschungsergebnissen werden im achten Teil Konsequenzen für die sozialpädagogische Praxis gezogen.