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Manuel Palacio: Kleine (Sozial-) Geschichte des Spanischen Fernsehens : Marburg: Schüren 2022. ISBN: 978-3-7410-0409-4. 160 Seiten, Preis: 20,00 €
"Never judge a Book by its cover!" - Eine bekannte Redensart, an die man reflexartig denken muss, wenn man das hier behandelte Werk zur Hand nimmt. Das Cover-Motiv hat man sich bei der erfolgreichen spanischen Netflix-Serie La casa de papel (Haus des Geldes) geliehen, was sicher auch ein Zugeständnis an die Aufmerksamkeitsökonomie des Buchmarktes ist, markiert die gefällige Abbildung doch nur den äußersten Eckpunkt eines breiten, hierzulande weitgehend unbekannten Themas. Bei genauerem Betrachten ergibt sich jedoch ein komplexeres Bild. Immerhin ist das Motiv am Cover sichtlich ins Wanken geraten, was man als Hinweis darauf lesen darf, dass es hier einiges zu hinterfragen und entdecken gibt. Und auch Salvador Dalís Maske, die La casa de Papel so populär gemacht hat, ist, wie sich zeigen wird, keine gänzlich falsche Fährte. Der Titel des Buches macht sein Anliegen klar: Es geht hier nicht allein um die Geschichte des spanischen Fernsehens, sondern auch um etwaige Rückschlüsse auf Geschichte und Mentalität eines Landes. Das Programm ist gesetzt, die Eckpunkte vorgegeben: Ausgehend von Franco-Ära und Transición wandert der Autor vorhersehbar chronologisch bis in die Gegenwart. Das mag ein wenig bieder wirken, ist in diesem Fall aber sicher nicht der schlechteste Weg, ist doch vieles von dem, was Spanien lange zu einem europäischen Sonderfall machte, in jener Zeit zu verorten, in der auch die Geschichte des Fernsehens ihren Anfang nahm. Und das durchaus in einer Perspektive, die über die hier behandelte hinausgeht, denn das Fernsehen als eine Erfindung der 30er-Jahre fällt mit der Zeit der Zweiten Spanischen Republik und den bekannten Folgen zusammen: Erhebung der Militärs, Bürgerkrieg, Diktatur. Der Autor steigt gegen Ende dieses Abschnitts ein, der beinahe vier Jahrzehnte (1939–1975) umfasst. Gerade einmal eine Handvoll Empfangsgeräte gab es auf der iberischen Halbinsel, als in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre der erste Sendebetrieb aufgenommen wurde. Die Diktatur währte damals bereits gut zwei Jahrzehnte und ...
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Jo Ractliffe: Photographs 1980s - now.: Göttingen: Steidl 2020. ISBN: 978-3-95829-698-5. 470 Seiten, 95,00 €
Anlässlich des sechzigsten Geburtstages der südafrikanischen Fotografin erschien der vorliegende Bildband, der - soviel darf vorab verraten sein - keine alltägliche Publikation ist: mehr als 400 Seiten, edle Aufmachung, schweres Papier, höchste Bildqualität. Schon allein die Ausführung des Buches deutet also darauf hin, dass man es hier mit einer besonderen Künstlerin zu tun hat. Doch ist das auch ein bisschen so etwas wie eine falsche Fährte, denn jener Ecke, in die man jemanden stellen möchte, dem ein derartiger Band gewidmet wird, haftet der Geruch der alten Meister an. Und dieser Geruch passt so überhaupt nicht zu einer Fotografin wie Jo Ractliffe. Versucht man sich ihr zuallererst allein über ihre Bilder zu nähern – denn genau das ist es, was ein derartiger Bildband ja nahelegt – steht man vor einer ebenso langen wie intensiven Herausforderung. Einer Herausforderung, der ganz notwendigerweise auch etwas Produktives anhaftet, denn Ractliffes Aufnahmen und Werkkomplexe erschließen sich in aller Regel nicht von selbst. Ihre Aufnahmen eignen sich nicht für seichte Kontemplation und oberflächliche Betrachtung. Es bedarf stets einer zusätzlichen Vertiefung, einer weitergehenden Auseinandersetzung mit dem behandelten Thema. Eine ungewöhnliche Haltung für eine Fotografin, die einer Richtung zugerechnet wird, in der es oft genug um reißerische Bilder, spektakuläre Motive und visuelle Zuspitzung geht. Nicht zuletzt deshalb galt Jo Ractliffe lange Zeit als Künstlerin abseits des Mainstreams, war eher Liebkind der Fotokritik als international bekannte Fotografin. Die vorliegende Publikation lädt nun dazu ein, sich eingehend – und in der gebotenen Ruhe – mit ihrem umfangreichen und vielfältigen Werk auseinanderzusetzen. Doch wo beginnt man nun am besten mit einer derartigen Auseinandersetzung? Das Buch legt eine chronologische Betrachtung nahe. Eine Einladung, der man nicht zwingend folgen muss. So lohnt es sich etwa, den umgekehrten Weg zu beschreiten und sich den dicken Band von hinten nach vorne zu erarbeiten. Solcherart stößt man nämlich auf unterschiedliche Materialien, die dabei helfen, die hier versammelten Arbeiten einzuordnen. Allen voran ist das ein ausführlicher Auszug aus einem langen Gespräch mit Artur Walther (Walther Collection). Daneben steht der fiktive, auf einigen Fotografien Ractliffes fußende Text 'Rendezvous: A Fiction' des nigerianischen Schriftstellers Emmanuel Iduma sowie ein Essay von Matthew S. Witkovsky über Arbeiten der Fotografin, die sich dem Motiv des motorisierten Fahrens verschrieben haben. Hier lässt sich eine erste Brücke zu einem wichtigen Werkkomplex schlagen. Für Vlakplass: 2 June 1999 (drive-by shooting) hat die Fotografin aus dem fahrenden Auto heraus einen Ort dokumentiert, der für die Geschichte Südafrikas von zentraler Bedeutung ist: Das Gelände, auf dem die C1 Geheimpolizei unter dem Kommando des als 'Prime Evil' bekannten Eugene de Kock ihre systematischen Menschenrechtsverbrechen beging. Bei Ractcliffe erscheint dieser Ort in durchgehender Belichtung eines schwarz-weißen Mittelformatstreifens, fotografiert mit einer billigen Plastikkamera der Marke Holga. Die oft unscharfen, ineinander übergehenden Bilder des visuell schwer fassbaren C1 Headquarters stehen hier als Metapher für unvorstellbare im Namen der Apartheid begangene Verbrechen, aufgenommen am Tag der zweiten demokratischen Wahlen Südafrikas. 'I was stunned by the banality of that facade, the failure of that place to live up to the image it evoked in my imagination.' Immer wieder wirken die Aufnahmen Ractliffes wie ein bewusstes Statement gegen jene Gefälligkeit, die den allzu deutlichen Bildern des Fotojournalismus so oft anhaften. 'I am at war with the obvious', hat der Fotograf William Eggelston sein künstlerisches Konzept einmal zusammengefasst. Es scheint so, als hätte sich Jo Ractliffe dieses Motto für ihre dokumentarische Fotografie zum Vorbild genommen. Thematisch mag der Unterschied zuallererst beachtlich wirken, doch wenn man Ractliffes Referenzen, die neben Fotograf*innen wie Joseph Koudelka, Manuel Álvarez Bravo und Robert Frank auch Namen von Künstler*innen wie John Heartfield, John Baldessari und Ed Ruscha umfassen, wird klar, dass dem hier vorliegenden Werk mit althergebrachten Kategorisierungen nur schwerlich beizukommen ist. Man müsse die konkrete Gewalt nicht zeigen, habe Ractliffe etwa in Auseinandersetzung mit den Collagen Heatfields gelernt und auch Eisensteins Montagetheorie könne beim fotografischen Arbeiten helfen (vgl. S. 400). Etwa wenn es darum gehe, das Zusammenwirken von Bildern zu begreifen. Eine Komponente, die für Ractliffes Fotografien von großer Bedeutung ist. So sind ihre Fotos schwer zu isolieren, stehen sie doch fast immer in einem größeren Zusammenhang. Ractliffe geht es bei ihren Projekten zuallererst um die Sache selbst, erst danach werden die eingesetzten Mittel relevant. Als ihr Anfang der 90er-Jahre die Fotoausrüstung gestohlen wird, greift sie kurzerhand zu einer Diana (eine weitere Plastikkamera, die ernsthaften Fotograf*innen bestenfalls als Spielzeug gilt). Die niedrige optische Qualität der Plastiklinse verleiht den Mittelformataufnahmen einen traumhaften Charakter, der Ractliffe geeignet erscheint, das sich nach der Endhaftung Nelson Mandelas in einem radikalen Umbruch befindende Land zu dokumentieren. Bis 1995 entsteht so die Serie reShooting Diana, deren atmosphärische Fotos sich inmitten dieses hochwertigen Bildbands wie Fremdkörper ausnehmen. In einem mit dem Titel 'Aftermath' überschriebenen Kapitel beschäftigt sich Ractliffe mit den Nachwirkungen europäischer Kolonialpolitik. Im Mittelpunkt steht Angolas Bürgerkrieg, der das Land seit der Entlassung aus portugiesischer Herrschaft (1975) bis 2002 nicht zur Ruhe kommen ließ und stark von der Weltlage des Kalten Krieges befeuert wurde. 2007 bereiste Ractliffe zum ersten Mal Angola. Ein Land, das für sie zuvor ein geradezu abstrakter Ort war, an den Freunde und Geschwister gesendet wurden, um ihren Militärdienst abzuleisten. Für Terreno Ocupado (2007) nähert sich die Fotografin dem Land auf den Spuren des polnischen Autors Ryszard Kapuściński. Dabei ist sie sich ihrer schwierigen Rolle durchaus bewusst: 'I was very aware of being a stranger, photographing a place not mine' (S. 181). Eine Haltung, die man den Bildern deutlich ansieht: karge Landschaften mit Zivilisationsgerümpel und allen möglichen Verlassenschaften, Panoramen von improvisierten Baracken-Siedlungen, kaum Menschen. Alles in quadratischen Mittelformataufnahmen, alles schwarz-weiß. Noch entschlossener sind die Aufnahmen des Folgeprojekts As Terras do Fim do Mundo (2009-10). Ractliffe: 'I was intrested in exploring the idea of landscape as pathology' (S. 215). Hier gibt es demnach nur noch vollkommen menschenleere Landschaften. Nur ein einziges Foto weicht von diesem Konzept ab: Es zeigt den Soldaten einer Entminungseinheit, der in seinem Schutzanzug wie ein Außerirdischer wirkt. Abgeschlossen wird das Thema Angola von der Serie The Borderlands (2011-13), für die Ractliffe ausgewählte Orte innerhalb der südafrikanischen Grenzen dokumentiert, die für die Kolonialgeschichte, den Krieg in Angola und die Zeit der Apartheid von Bedeutung waren. Hier sieht man plötzlich auch wieder Menschen. Die Fotografin, die ein grundsätzliches Bedenken beim Ablichten von Menschen formuliert, das sich aus einem Unbehagen gegenüber der Aneignung des Abbildes der Porträtierten speist (vgl. S. 407), ist für diese Arbeit über ihren Schatten gesprungen, denn schließlich geht es hier auch um Fragen der Restitution. 'To avoid photographing people would mean to evacuate them from their homes and their land once again' (S. 253). Dieser im Kapitel 'Aftermath' zusammengefasste dreiteilige Werkkomplex zeigt eine Fotografin auf der Höhe ihres Könnens. Der Kontrast zu den oben genannten, früheren Arbeiten, die ihre Wirkung noch ganz bewusst aus einem spontanen Gestus in Verbindung mit niedriger Bildqualität zogen, könnte stärker kaum sein. An anderer Stelle verdeutlicht sich dann ein aktuelles Dilemma dokumentarischer Fotografie. Im Zuge der Arbeiten zu Borderlands hat Ractliffe in der Gegend von Schmidtsdrift auch Indigene in ihrer traditionellen Kleidung vor einer selbstgebauten Hütte fotografiert. Mit großem Unbehagen, wie sie erläutert. Da die Porträtierten dies jedoch ausdrücklich so wünschten, hat sie schließlich gegen alle Bedenken diese Art Fotos gemacht, die mit einem Mal die gesamte Problematik um den 'Edlen Wilden' als Objekt eines kolonialen Blickes wachrufen. Zu sehen bekommt man diese Aufnahmen allerdings nur als Miniaturen im erläuternden Teil (S. 408). Doch auch diese Entscheidung vermag nicht vollends zu überzeugen, lässt sie die solcherart Porträtierten doch als etwas erscheinen, das man verstecken müsse. Dabei wurde der Wunsch nach dieser Art von Sichtbarkeit ganz ausdrücklich artikuliert. Wem steht es also zu, diesen Wunsch zu verweigern oder nachträglich in einen opportun erscheinenden Rahmen zu drängen? Die Frage nach visueller Selbstbestimmung scheint auch hier noch nicht abschließend ausverhandelt. Dabei wäre so viel Vorsicht vielleicht gar nicht nötig gewesen. Hätte man die Fotos in ganz gewöhnlicher Größe abgebildet und der Diskussion darum etwas mehr Raum gegeben, niemand wäre auf die Idee gekommen, sie als Produkte einer unreflektierten Bildpraxis eizuordnen. Schon gar nicht, wo der 400 Seiten starke Kontext eine derart klare Sprache spricht. Das hier erstmals in einem Band versammelte Œuvre Ractliffes ist vielfältig und bemerkenswert. Ihr Zugang ist kein niederschwelliger und mag da und dort sogar etwas sperrig wirken. Es ist der Beleg einer Dokumentaristin, die sich den ausgetretenen Pfaden eines Genres zugunsten einer Handschrift verweigert, die sie deutlich von den gefälligen Bilderwelten ihrer Kolleg*innen abhebt. 'I wanted more than documentary, but still an anchor to the real…', formuliert sie ihren Zugang an einer Stelle des Gespräches mit Artur Walther (S. 401). Der wichtige südafrikanische Fotograf David Goldblatt – dem dieser Band auch teilweise gewidmet ist – hat es mit einer Serie über Minenarbeiter (On the Mines, 1973) zu internationaler Bekanntheit gebracht. Eineinhalb Jahrzehnte später stellt Jo Ractliffe ihre erste bedeutende Serie aus: Das stark ästhetisierte Projekt Nadir zeigt zurückgelassene Hunde portugiesischer Kolonialherren inmitten postapokalyptisch anmutender Landschaften. Es sind fiktive Fotomontagen, die auf authentischen Aufnahmen von Müllhalden in der Nähe Cape Towns fußen. Fünf Jahre später kommt es zum Ende der Apartheid und zu Südafrikas ersten demokratischen Wahlen. Es gibt viele Möglichkeiten, mit Fotografie etwas über die Geschichte eines Landes zu erzählen. 'My […] struggle was with the photographic conventions of the time', erzählt Ractliffe über diese Zeit des Umbruchs. 'I didn't fit the mode of social documentary, its direct political adress. I sought a different language, a certain poetics' (S. 13). Publikationen wie die vorliegende lassen hoffen, dass auch etwas von dieser anderen Sprache in Erinnerung bleiben wird.
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Daniela Kuschel: Spanischer Bürgerkrieg goes Pop. Modifikationen der Erinnerungskultur in populärkulturellen Diskursen.: Bielefeld: transcript 2019. ISBN: 978-3-8376-4871-3. 282 S., Preis: € 39,99
Der Spanische Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 war, wenngleich das hierzulande mitunter übersehen wird, ein bedeutsames historisches Zwischenspiel, dessen Implikationen und Konsequenzen weit über die Landesgrenzen Spaniens hinausreichten. In ihrer Dissertationsschrift spürt die Literatur- und Medienwissenschaftlerin Daniela Kuschel der Aufarbeitung des Bürgerkrieges in populärkulturellen Produkten nach. Eines vorweg: Dieses Buch beruht auf einer Dissertationsschrift. Es ist sinnvoll, auf diesen Umstand hinzuweisen, da derartige Publikationen die Charakteristika wissenschaftlicher Qualifikationsschriften recht deutlich umsetzen. Das betrifft in diesem Fall nicht lediglich Aufbau und Struktur der Arbeit (mit einer Unterteilung zwischen theoretischer Aufarbeitung der jeweiligen Themenbereiche, gefolgt von ausführlichen Analyseteilen), sondern etwa auch den Umstand, dass die zahlreichen Zitate ausschließlich in Spanischer Sprache gebracht werden. Ein Umstand, der auch gleich etwas über die Stoßrichtung des Buches verrät: Die Autorin wendet sich explizit an eine Leser*innenschaft, die ein spezielles Interesse für das verhandelte Thema mitbringt. In Anbetracht der hohen Komplexität des Spanischen Bürgerkriegs ist das nicht die schlechteste Strategie. Wäre das nicht so, müsste man wohl einen weit umfangreicheren Einleitungsteil voranstellen. Kuschel springt stattdessen direkt ins Feld. Ihre Einleitung gilt demnach nicht dem Kriegsverlauf oder dessen Vorbedingungen, sondern dem für ihre Analyse wesentlichen Bereich der Aufarbeitung und der Erinnerungskultur. Hier liegt dann auch gleich eine Stärke dieser Arbeit. Ziemlich genau das erste Drittel des Buches lässt sich als solides Arbeitsbuch verstehen. In atemberaubendem Tempo jongliert Kuschel die maßgebende Referenzliteratur, stellt Entwicklungslinien dar, streicht Tendenzen und Moden heraus. Dabei nimmt sie oft auch Bezug auf Analysen anderer Ereignisse mit traumatischer Qualität, allen voran des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts. Ein Vergleich, der einerseits der Quellenlage geschuldet ist, andererseits dabei hilft, das eigentliche Thema der Arbeit, das im deutschsprachigen Raum keine herausragende Aufmerksamkeit erfährt, besser zu verorten.Nach dieser profunden und gekonnten Abhandlung, widmet sich die Autorin ihrem zu untersuchenden Material. Für die Gattung der erzählenden Literatur sind dies zwei Werke: Soldados de Salamina (2001) von Javier Cercas undLa comedia salvaje (2009) von José Ovejero. Ersterer Roman ist bereits so etwas wie ein Referenzwerk jener spanischen Bürgerkriegsliteratur, deren Autor*innen der Nachgeborenengeneration angehören. Cercas, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler ist Jahrgang 1962, war also zum Ende der Franco-Diktatur (1975) gerade einmal dem Kindesalter entwachsen. Wichtig ist das deshalb, weil mit diesem Generationswechsel eine Diskussion über einen Wandel der Erzählweisen in der Bürgerkriegsliteratur einhergeht, für den Cercas Roman als beispielhaft gilt.Man muss hierfür kurz ausholen: Soldados de Salamina beruht auf einer formalen Dreiteilung des Textes in Vorgeschichte, Geschichte und Nachgeschichte. Das Herzstück bildet dabei eine Episode um den Schriftsteller und Falange-Mitbegründer Rafael Sánchez Mazas, der in den letzten Tagen des Bürgerkriegs seiner Erschießung entkommen kann und dessen Leben in Folge von einem republikanischen Soldaten geschont wird. Die Vorgeschichte ist die des fiktiven (!) Cercas, der sich des Themas annimmt, die Nachgeschichte die des republikanischen Soldaten, dem Sánchez Mazas sein Leben zu verdanken hat, und den der (abermals fiktive) Cercas ausfindig zu machen versucht. Das Buch wurde ein riesiger Erfolg. Nicht zuletzt, weil – wie Kuschel für alle von ihr verhandelten Werke präzise ausführt – Spanien zu dieser Zeit inmitten einer leidenschaftlich geführten Diskussion um die Erinnerungskultur an den Bürgerkrieg steckte (und im Grunde noch immer steckt). Die Beschäftigung eines als politisch links verorteten Autors mit dem rechten Ideologen Sánchez Mazas, dessen Charakterisierung noch dazu nicht ausschließlich negativ ausfiel, war ein beachtliches Wagnis. Wer es guthieß, sprach von einer historischen und notwendigen Versöhnung der beiden Lager, wer nicht, von Verrat. Sicher scheint dabei vor allem eines: Die Polemik hat der Popularität des Romans nicht geschadet. Die bereits erörterte Erzählperspektive, die Cercas geschickt anwendet, um die unvermeidliche Fiktionalisierung eines weit zurückliegenden Ereignisses im Text selbst erfahrbar zu machen, fand große Zustimmung und machte das Buch rasch zu einem Referenzwerk. So weit, so bekannt. Kuschel referiert all diese Stationen ausführlich. So gut die Autorin es auch vermag, bekannte Stimmen zusammenzufassen, so wenig versteht sie es, eigenes hinzuzufügen oder gar zu widersprechen. Ordentlich reiht sie Beleg an Beleg, bemüht Literaturwissenschaft und -kritik. Was gelobt wurde, lobt auch sie, was kritisiert wurde, streicht auch sie negativ hervor. Dabei wäre eine derart affirmative Haltung gar nicht notwendig, ist zu diesem Roman doch noch lange nicht alles gesagt. Und auch nicht alles, was gesagt wurde, muss widerspruchslos hingenommen werden. So ließe sich etwa die durchwegs als positiv gewertete Erzählstrategie auch kritisch hinterfragen. Wenn der reale Javier Cercas einen fiktiven Javier Cercas einführt, um durch dieses selbstreflexive, die Fiktion entzaubernde Manöver einer vermittelnden Instanz Rechnung zu tragen – und seinen Text von der Masse der Bürgerkriegsromane abzuheben – ist dies, so ließe sich argumentieren, nichts anderes als der Versuch, den sprichwörtlichen Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben: Eine Fiktion soll eine andere retten. Alles andere wäre nämlich kein Roman mehr. Spätestens an dieser Stelle wäre dann die Brücke zu Enzensbergers Der kurze Sommer der Anarchie (1972) zu schlagen. Ein bis heute weit herausragendes Werk, das – auf Interviews beruhend und eben doch auch als Roman ausgewiesen – das Verhältnis zwischen Fiktion und authentischem Zeugnis am Beispiel der Biographie des berühmten Anarchisten Buenaventura Durruti genau von der entgegengesetzten Richtung her befragt. Dass weder dieses Werk, noch andere vergleichbare Referenztexte (etwa von George Orwell oder Franz Borkenau) Erwähnung finden, mag verwundern, kann aber kein Zufall sein. Stattdessen lässt sich die Autorin gleich zweimal dazu hinreißen, einer Kritik am "emotionalen Ende" von Soldados de Salamina stattzugeben (S. 70 und 82). Hier scheint – einmal mehr – ein Missverständnis zwischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft zu bestehen. Ganz so, als ob es die Aufgabe Letzterer wäre, zu entscheiden, wann ein Autor/eine Autorin "emotional" – ohne zu belegen, was das überhaupt sein soll – schreiben dürfe, und wann nicht. Dabei gäbe es an Cercas Roman auch konkret Belegbares zu kritisieren: das nachgerade erschreckende Frauenbild etwa, das dieses sonst so bemerkenswerte Buch begleitet. Doch darüber kein Wort. Fraglich bleibt bei all dem also das Warum. Alles was man hier liest, ist bereits bestens bekannt, zähltSoldados de Salamina doch seit bald zwanzig Jahren zu den am eifrigsten verhandelten Beiträgen der Bürgerkriegsliteratur. Ganz anders beim zweiten Beispiel zeitgenössischer Literatur. Allein die Wahl des WerksLa comedia salvaje ist ein guter Griff, ist der Roman des im deutschen Sprachraum wenig bekannten Autors José Ovejero von der Literaturwissenschaft bisher doch kaum beachtet worden. Das holt Kuschel nun nach. Gründlich beleuchtet sie dieses mit Querverweisen, Referenzen und Zitaten gespickte – vielleicht auch überladene – Werk, das von der Frage nach der Bedeutung von Geschichten und deren Wahrheitsgehalt durchzogen wird. Nicht umsonst lautet der erste Satz des Buches "¡Todo es mentira!, Alles ist Lüge!", um im nächsten Moment eine ausladende, bildsprachlich überhöhte Eröffnungsszene folgen zu lassen, in der Blut, Staub, Schmutz, schlechter Atem, würgende Griffe, eingeschlafene und abgerissene Extremitäten und schließlich gar Gottes Abwesenheit bemüht werden, um die Gräuel eines Krieges sprachlich zu fassen. Eine implizite und weniger offensichtliche Form – gleichzeitig ein Kontrapunkt zur betont nüchternen Sprache eines Javier Cercas – die für erzählende Literatur notwendige Fiktionalisierung zu thematisieren. Kuschel analysiert diesen Ansatz anhand ausgewählter Szenen und kann dabei das einlösen, was sie bei Cercas Roman verfehlt hat. Gleichzeitig leistet sie Pionierarbeit. Zumindest in Bezug auf diesen Abschnitt der Arbeit geht allerdings ihr Titel fehl: Ovejero und Cercas mögen vieles sein, Vertreter einer Populärkultur sind sie nicht. (Ein Off-topic Hinweis sei an dieser Stelle erlaubt: Ovejeros fesselnder Wirtschaftskrimi Las vidas ajenas (2005) ist ein Meisterwerk der multiperspektivischen Erzählkunst und ein guter Einstieg in das Oeuvre des Autors.) Sehr wohl aus dem Bereich der Populärkultur stammen hingegen die in Folge untersuchten filmischen Arbeiten. Kuschel hat hierfür drei Beispiele gewählt. Einerseits La espinaza del diablo (2001) undEl laberinto del fauno (2006) des aus Mexiko stammenden, mittlerweile mit einem Oscar bedachten Regisseurs Guillermo del Toro, undLa balada triste de la trompeta (2010) des spanischen Kult-Regisseurs Alex de la Iglesia. Die drei Arbeiten eint, dass sie den Spanischen Bürgerkrieg nicht explizit adressieren, sondern als Hintergrund für andere Erzählungen verhandeln. Aus Kuschels Analyse spricht dann eine ähnliche Ambivalenz, wie sie schon in Hinblick auf die Romanbeispiele bemerkbar wurde: Es besteht kein Zweifel daran, dass die Autorin ihr Feld überblickt und ihre Materialien genauestens kennt. Ihre Einführung, in der sie relevante Literatur und die daran anknüpfenden Diskurse beleuchtet, ist vorbildlich, die eigentliche Analyse fällt dann trotzdem zwiespältig aus. Umfangreich recherchierte biografische und filmische Daten reihen sich an seminararbeitsähnliche Inhaltsangaben und genrespezifische Ergänzungen – im Falle von de la Iglesia etwa Betrachtungen zur Bedeutung der Groteske in Literatur, Theater und Malerei. Auch werden die Filme gründlich auf ihre Anschlussfähigkeit in Bezug auf die einleitend diskutierten Fragestellungen einer aktuellen Erinnerungskultur überprüft. Und dennoch: Nach mehr als sechzig Seiten, die die Autorin diesem Abschnitt widmet, fragt man sich, was denn nun die Erkenntnis dieser Analyse, was denn nun das Besondere an den so umfangreich untersuchten Filmen sein soll. Vergleichsweise präzise fällt ein Kapitel über den Comic aus. Nach einer Einführung in das Thema unter besonderer Beachtung der spanischen Tradition als auch der thematischen Orientierung an Werken, die Kriege thematisieren, wobei Art Spiegelmans bekannter Comic über die Shoah (MAUS, 1989) als Referenzpunkt dient, wendet sich Kuschel dem Comic1936 – La batalla de Madrid zu. Dass sie in diesem Fall bei einem einzigen Werk bleibt, erweist sich als Vorteil. Kuschel macht den 2014 erschienen Comic, in dem der in Bedrängnis geratenen Republik eine Einheit von Superhelden zur Hilfe eilt, als Werk begreifbar, das seine genretypische, offensichtliche Vermittlungsstruktur nutzt, um dem Postulat des Historisch-Authentischen erzählerische Freiheiten abzutrotzen und tradierte Mythen zu hinterfragen. Nun kann man die hier wirksamen Genrespezifika der Superheldencomics US-amerikanischer Prägung mögen oder nicht, die Analyse macht jedenfalls Neugierig auf das untersuchte Werk und beweist, dass mitunter auch eine Fallstudie reichen kann, um ein ganzes Genre zu umreißen. (Hinweis: Michel Matlys OpusEl cómic sobre la guerra Civil wäre das Gegenprogramm dazu.) Nicht zufällig widmet sich das letzte Kapitel des Buches der Welt des Videospiels. Hieraus sei nur ein Gedanke hervorgehoben, der in seiner Dimension jedoch noch einmal all das umfasst, was dieses Buch sich zu untersuchen vorgenommen hat: "Tú decides la historia, Du entscheidest die Geschichte", der Marketingslogan des ComputerspielsSombras de Guerra bringt das Missverhältnis zwischen Spiel (das per Definition einen offenen Ausgang haben muss) und historischer Authentizität deutlich auf den Punkt. Eben diesen Widerspruch problematisiert die Autorin am Schluss ihrer Arbeit. Derartige Computerspiele erscheinen ihr dabei als Antwort auf sich verändernde Bedürfnisse in Hinblick auf eine kollektive Identitätsbildung und Erinnerungskultur, wobei einer damit eihergehenden Offenheit von Geschichte Tendenzen der Banalisierung und Enttabuisierung entgegengehalten werden. Wie eingangs angemerkt, beruht Kuschels Buch auf einer Dissertationsschrift. Das ist in diesem Fall auch ein bisschen eine vergebene Chance. Etwas abgespeckt, dem bemüht akademischen Duktus enthoben und gründlich lektoriert, hätte so ein Standardwerk für den untersuchten Gegenstandsbereich entstehen können. Was bleibt, ist ein solides Arbeitsbuch, das vor allem durch seine Einführungen in die untersuchten Genres und die Aufarbeitung eines aktuellen Forschungsstandes besticht. Literatur: Borkenau, Franz: Kampfplatz Spanien. Politische und soziale Konflikte im Spanischen Bürgerkrieg, Stuttgart: Klett-Cotta 1986 [orig. 1937]. Cercas, Javier: Soldados de Salamina, Barcelona: Tusquets 2008. Enzensberger, Hans Magnus: Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972. Jiménez, Rafael/Sollero, José Antonio: 1936 La batalla de Madrid, Córdoba: Almuzara 2014. Orwell, George: Mein Katalonien. Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg, Zürich: Diogenes 1975 [orig. 1938]. Malty, Michel: El cómic sobre la guerra civil, Madrid: Cátedra 2018. Ovejero, José: La comedia salvaje, Madrid: Alfaguara 2009. Ovejero, José: Las vidas ajenas, Madrid: Espasa 2005.
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Steffen Siegel: Fotogeschichte aus dem Geist des Fotobuchs.: Göttingen: Wallstein 2019. ISBN: 978-3-8353-3469-4. 88 S., 27 Abb., Preis: € 15,40
Manchmal legt der Titel eines Werkes sein Anliegen bereits recht unmissverständlich dar. Das vorliegende Büchlein von Steffen Siegel ist ein derartiger Fall. Der Autor widmet sich darin der Frage, in welcher Weise Fachpublikationen zum Thema der Fotografie die Geschichte des Mediums – bzw. dessen Wahrnehmung – mitbestimmt haben. Es ist dies also eine kleine Metageschichte der Geschichte der Fotografie, wobei speziell auf die Kategorie des Fotobuchs fokussiert wird, was gleichsam die Frage nach dem aufwirft, was die behandelten Publikationen ihrer damaligen Leserschaft denn tatsächlich zeigten. Die Vorgehensweise Siegels ist historisch-chronologisch und beginnt bei den ersten Fachtexten, die bereits parallel zur Veröffentlichung der ersten fotografischen Bilder erschienen. Ausgangspunkt ist damit einmal mehr Louis Daguerres bekannte Präsentation seines fotografischen Verfahrens an der Pariser Akademie der Wissenschaften von 1839. Jene Zeit also, zu der sich neben Daguerre auch noch andere Pioniere darum bemühten, dem sich hier etablierenden neuen Medium den eigenen Stempel – und wenn möglich auch gleich Namen – aufzudrücken. Zu nennen sind neben Daguerre selbst auch noch dessen englischer Hauptkonkurrent William Henry Fox Talbot, der für dieses Wettrennen zu früh verstorbene Joseph Nicéphore Niépce und der glücklose, dabei aber gewitzte Hippolyte Bayard. Sie alle waren nicht nur Praktiker, sondern äußerten sich auch immer wieder in unterschiedlicher Form zu ihren Versuchen, wobei ihre Texte freilich noch nicht von monografischem Charakter waren, sondern als Berichte, Kommentare und Korrespondenzen erschienen. Über Daguerre, der durch die ihm zugesprochene Pension auch zu einer Publikation verpflichtet wurde, erfährt man etwa, dass er als Erfinder jener Verkopplung von historischen und technischen Hinweisen gelten darf, die für die ihm nachfolgenden Fachpublikationen so lange bestimmend sein sollten. Als eines der ersten fotohistorischen Werke findet Josef Maria Eders Ausführliches Handbuch der Photographie Erwähnung. Das monumentale Werk erschien über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten (1884 bis 1932) in mehreren Ausgaben, deren letzte Fassung den stolzen Umfang von 8.411 Seiten erreichte. Siegel betont die besondere Position Eders Werk, das noch versucht hat, Fragen zu Geschichte, Technik und Ästhetik, die in Folge meist getrennt verhandelt werden sollten, in ein umfassendes Ganzes zu integrieren. Das Erscheinungsdatum der letzten Ausgabe von Eders Handbuch markiere somit auch einen Umbruch im Bereich der Fotografiegeschichtsschreibung: "In der Zeit um 1930 entfaltet sich mit der Bildgeschichte des Fotografischen ein neues Paradigma der Medienhistoriografie. Erst seither wird die dem Medium eigene Geschichtlichkeit als eine historisch differenzierte Bildästhetik erforscht. Am fotografischen Bild als Objekt und im fotografischen Bild als Darstellungsgegenstand werden fortan Antworten auf fotohistorische Fragen gesucht" (S. 8). Spannend liest sich ein Abschnitt über Walter Benjamins als "feuilletonistische Skizze" bezeichnete Kleine Geschichte der Fotografie, die ursprünglich 1931 in der Literarischen Welt in drei Teilen erschienen war, ohne dabei besondere Wirkung zu erzielen (S. 24). (Was bei der Neuauflage 1963 bekanntermaßen umso intensiver geschah.) Siegel widmet sich in Folge drei Fotobüchern, mit denen sich Benjamin damals beschäftigt hat, wodurch er zumindest teilweise eine Frage beantwortet, die in Zusammenhang mit Der kleinen Geschichte der Fotografie immer wieder gestellt wird: "Auf welcher Basis hat Benjamin seine fotoästhetischen Thesen überhaupt entwickeln können?" (S. 26). Gleichzeitig erfährt man, dass sich die gängige Form der damaligen Fotobücher stark am Dispositiv des Familienalbums orientierte und mit den damals im Bereich der illustrierten Magazine populären avantgardistischen Layouts nichts gemein hatte. Auch Hinweise wie den, dass Julia Margaret Cameron und David Octavius Hill die erste Fotografin bzw. der erste Fotograf waren, denen eigene monografische Studien gewidmet wurden, nimmt man gerne auf. Die Geschichte wollte es, dass der hundertste Geburtstag der Fotografie durch die zugespitzte weltpolitische Lage belastet wurde. Wie sich das auf die Fotografiegeschichtsschreibung auswirkte, erläutert Siegel anhand Erich Stengers Die Photographie in Kultur und Technik (1938) bzw. der Übersetzung dieses von einem konservativen Nationalisten deutscher Provenienz verfassten Werkes ins Englische. Eine eingeklebte editorische Notiz, in der sich der Übersetzer für das Erscheinen des Buches geradezu rechtfertigt, lässt erahnen, mit welchem Makel die Herausgeberschaft eines derartigen Werkes belegt war. Ein Befund über die Ausgestaltung der damals erschienenen Werke – neben Erich Stenger wird William Shepperleys A History of Photography als für diese Zeit exemplarisch behandelt – fällt ambivalent aus: Zwar wird hier erstmals "das fotografische Bild als eine Quelle mit je eigener Materialität und Ästhetik ernst genommen", doch vermögen es die Autoren noch nicht, das festgefahrene Konzept einer Fotografiegeschichtsschreibung, die Texte und Bilder einfach nebeneinanderstellt, aufzubrechen (S. 62). Das Verdienst, hier einen Schritt weiterzugehen, kam schließlich Beaumont Newhall zu. Den Bibliothekar des New Yorker Museum of Modern Art ereilte 1936 der Auftrag, eine Sonderausstellung zur Fotografie zusammenzustellen. Das Ergebnis wurde legendär: Im März 1937 eröffnete die nüchtern mit Photography, 1839 – 1937 betitelte Ausstellung. Begleitend erschien ein Katalog, der einiges von dem einlöste, was die Fotografiegeschichtsschreibung zuvor verabsäumt hatte. Mit dem laut Siegel eilig geschriebenem Ausstellungskatalog eines kuratorischen Novizen vollbrachte Newhall etwas für den Bereich des Fotobuches geradezu Revolutionäres: Er fand eine Form der "doppelten Darstellungsstrategie, die das Narrativ des Textes mit dem Archiv des Bildteils verknüpft" (S. 68). Die Wirkungsstärke der mittlerweile als Standardwerk anerkannten Publikation leite sich, so Siegel, denn auch maßgeblich von dieser formalen Ausgestaltung und weniger vom Inhalt ab. Worauf wohl auch der Umstand hindeutet, dass Newhalls Entwurf einer Fotografiegeschichte heute gemeinhin als recht konventionell gilt. An der Person Newhalls verdeutlicht sich gleichzeitig, dass auch die Fotografiegeschichtsschreibung ihre ironischen Momente hat: Nach dem zweiten Weltkrieg verlor Newhall im Zuge interner Verwerfungen seine Stelle am Museum of Modern Art; sein Nachfolger wurde Edward Steichen. Aber gerade diesem Umstand ist es zu danken, dass Newhall mittels eines Stipendiums der Guggenheim Foundation unter dem nunmehrigen Titel The History of Photography from 1839 to the Present Day eine komplett überarbeitete – und neugestaltete – Neuauflage seines Werks vorlegen konnte, die in aktualisierten Fassungen bis 1981 (!) erscheinen sollte. Als letztes Werk streicht Siegel schließlich die zu Unrecht in Vergessenheit geratene Histoire de la photographie (1945) von Raymond Lécuyer heraus, mit der in Sachen Buchgestaltung ein bis heute unerreichter Maßstab gesetzt worden sei. Ein Befund, der sich angesichts der beigegebenen Abbildungen durchaus nachvollziehen lässt. Steffen Siegels schmales Heftchen – rund achtzig Seiten, davon etwas mehr als dreißig Seiten Text – vollbringt großes: Anhand eines Close Readings ausgewählter Stellen ausgewählter Fotobücher, gibt der Text nicht nur Auskunft über die Fotografiegeschichtsschreibung, sondern befragt vor diesem Hintergrund zugleich das für die Medienwissenschaft bedeutende Verhältnis von Text und Bild, wodurch ein Zusammenhang zwischen Konventionen der Buchgestaltung und Paradigmen der Medienwissenschaft erfahrbar wird. Die Lesefreude wird einzig durch den Umstand ein wenig getrübt, dass die zahlreichen Graustufenabbildungen nicht annähernd jenen Eindruck zu vermitteln vermögen, der dem Inhalt angemessen wäre. In fahlen Grauwerten reihen sich Reproduktionen historischer Buchumschläge an blasse Faksimiles. Betrachtet man allein die Abbildungen, könnte man einmal mehr glauben, die Geschichte der Fotografie sei eine fade, graue Angelegenheit. Farbabbildungen könnten hier Abhilfe schaffen, hätten den Preis aber natürlich in die Höhe getrieben. Und wenn schon! Welche Publikation wäre das schon wert, wenn nicht eine wie diese?
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Jojakim Cortis/Adrian Sonderegger: Double Take. Eine wahre Geschichte der Fotografie.: Zürich: Lars Müller Publishers 2018. ISBN 978-3-03778-564-5. 128 S., 87 Illustrationen, Preis: € 30,-
"Eine wahre Geschichte der Fotografie" – der Untertitel dieses Bildbandes klingt gewagt – und ist dennoch treffend. Was könnte wahrer sein, als in aller Deutlichkeit darauf hinzuweisen, dass Fotos stets gemacht sind: You don't take a photograph, you make it! Die ebenso gewitzten wie akribischen Nachbauten weltbekannter Aufnahmen, die das Schweizer Fotografenduo Jojakim Cortis und Adrian Sonderegger im Atelier erstellt haben, erhellen den Blick auf jene Art von Fotografie, in deren Zusammenhang geradezu reflexartig vom kollektiven Gedächtnis gesprochen wird. Aufnahmen, die man schon tausende Male gesehen hat und bei denen man gar nicht mehr genau hinsieht. Aufnahmen, die eine Unzahl von Publikationen hervorgebracht haben, die auf jeweils leicht abgeänderte Weise die immer gleichen Geschichten erzählen. Geschichten, die sich gerne eines Vokabulars bedienen, das ebenso nichtssagend und abgegriffen wirkt, wie die Fotos, die es begleitet. Von historischen Momenten ist in diesen Texten gerne die Rede, von fotografischen Ikonen und immer, immer wieder vom kollektiven Gedächtnis. Wie gut tut da eine Publikation, die diesen ausgetretenen Kreislauf der Zweit- und Drittauswertung sprengt und eine lustvolle Neuinterpretation vornimmt. Double Take zeigt eine Auswahl berühmter Fotos (von Niépces La Cour de Domaine du Gras bis hin zu einer Aufnahme des Tsunami an der Küste des indischen Ozeans von 2004) und versieht diese mit einem schelmischen Augenzwinkern. "Schau genau! " scheinen einem die Aufnahmen zuzurufen. Ausgangspunkt dieser Versuchsanordnung war dabei just ein Foto, das dem Kontext entstammt, in dem die beiden Künstler mittlerweile selbst gelandet sind: Andreas Gurskys Rhein von 1999 ist keine Arbeit, die einen Moment dokumentiert (wie das bei der Mehrzahl der anderen Bilder der Fall ist) sondern ein Werk, das dem Kunstmarkt entnommen wurde. Die Stoßrichtung des Projekts war damit von Anfang an klar. Erst später haben die beiden Fotografen dann damit begonnen, auch dokumentarische Bilder nachzubauen. Wie sie dabei vorgingen und mit welchen Problemen sie es zu tun bekamen, lässt sich in einem ausführlichen Interview nachlesen. Das Verfahren, sich fotografisch auf Fotografien zu beziehen, ist in jedem Fall so alt wie die Fotografiegeschichte selbst und spätestens seit Sherrie Levines Appropriationsaufnahmen oder Richard Princes Untitled-Serie auch im Kunstbereich bestens bekannt. Besonders nah kommen Cortis und Sonderegger mit ihrem Verfahren natürlich den Arbeiten des bildenden Künstlers Thomas Demand, der bekannte Aufnahmen als Modelle aus Papier und Karton nachbaut, abfotografiert und die Modelle anschließend wieder zerstört. Doch während Demand sich vor allem auf Bilder der Zeitgeschichte bezieht, verschieben Cortis und Sonderegger den Fokus deutlich auf die Fotografiegeschichte selbst und bringen nebenbei einen weiteren Aspekt der Selbstreferentialität ins Spiel. Auf ihren Aufnahmen sieht man stets das gesamte Setting: Schere und Klebstoff liegen noch neben den Modellen, die Leuchtmittel, Stative und Hintergründe sind klar zu erkennen. Da und dort ist ein Objekt beigegeben, das als versteckter Hinweis auf den Entstehungszusammenhang der Originalaufnahme verweist. So etwa ein Lehrbuch über Fotografiegeschichte "am Set" der Aufnahme von Niépce, die so gerne – und fälschlich – als erste Fotografie angeführt wird. Besonderen Spaß macht es, die Nachbauten von Aufnahmen zu betrachten, deren eigene Authentizität fraglich ist. Am deutlichsten ist das wohl bei Joe Rosenthals The Raising of the Flag on Iwo Jima (1945) und Robert Capas Death of a Loyalist Militarman (1936) der Fall. Erstere Aufnahme ist die geplante und inszenierte Wiederholung eines realen Events, Capas berühmte Aufnahme aus dem Spanischen Bürgerkrieg wiederum umstritten in dem Sinn, dass bis heute unklar ist, was dieses Bild überhaupt zeigt und ob es authentisch ist. Dass es sich bei beiden Aufnahmen um Kriegsfotografie handelt, verdeutlicht die Bedeutung des Mediums für Propagandazwecke. Indem Cortis und Sonderegger derartig politische Aufnahmen nicht nur im physischen Sinne auseinandernehmen, sondern darüber hinaus noch auf eine Ebene mit den vergleichsweise trivialen Fotos von Marilyn Monroe oder dem Monster von Loch Ness stellen, ist ihr Ansatz gleich doppelt entlarvend: alles Inszenierung, alles Schwindel! Wenngleich bei einem derartigen Bildband selbstredend die Fotos (oder hier treffender: die Werke) selbst im Vordergrund stehen, sollen dennoch die kurzen Texte erwähnt sein, die den jeweiligen Beispielen zur Seite gestellt sind. In diesen wohldosierten Textminiaturen gelingt nämlich Überraschendes: Wer denkt – etwa aufgrund des oben erwähnten Überangebots an kommentierten Fotobänden – bereits alles über die hier versammelten Aufnahmen zu wissen, wird eines Besseren belehrt. Dem Autor ist es gelungen, fast über jedes der Bilder etwas zu erzählen, was man so noch nicht gelesen hat. Dass das alles Trivia sind, spielt dabei keine Rolle, denn es ist nicht Aufgabe dieser Texte, sich wichtiger zu geben, als sie es sind. Schließlich sind ja auch die hier nachgebauten Bilder nichts anders als ein verspielter Hinweis darauf, deren Vorlagen – und den oberlehrerhaften Tonfall, der sie sonst so gerne begleitet – nicht uneingeschränkt ernst zu nehmen.
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Bernd Hüppauf: Fotografie im Krieg.: Paderborn: Fink 2015, ISBN 978-3-7705-5828-5, 372 S. Preis: € 29,90
Seit die Fotografie technisch dazu in der Lage war, hat sie den Krieg begleitet. Das ist nun seit mehr als 150 Jahren der Fall. Fotografie im Krieg unternimmt am Ende des fotografischen Zeitalters eine Bestandsaufnahme, die sich in ihrer theoretischen Fundierung deutlich und erfreulich vom Gros der bisherigen Darstellungen zum Thema absetzt. Seine erste Beschäftigung mit dem Thema der Kriegsfotografie, so Bernd Hüppauf in der Einleitung, reiche bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück. Damals setzte er sich mit dem Werk des australischen Kriegsfotografen Frank Hurley auseinander, dem er mehrere Vorträge widmete, ohne dabei besonderes Interesse zu wecken. Hüppaufs Schlussfolgerung über das Forschungsfeld der Kriegsfotografie zu Beginn der neunziger Jahre fällt dann auch unmissverständlich aus: "Krieg und Fotografie waren keine Themen, und Kriegsfotografie existierte für die Forschung nicht" (S. 15). Das hat sich seither freilich gründlich geändert. Eine ganze Reihe wesentlicher Publikationen zum Thema erschien Ende der Neunziger des letzten bzw. Anfang des neuen Jahrtausends. Dazu kam dann noch der Schub des Gedenkjahres 1914, der in Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkriegs eine Welle an Veröffentlichungen – darunter auch einiges explizit zum Thema der Fotografie – hervorbrachte. In diesem Kontext, den Hüppauf stets gut im Blick hat, positioniert er dann auch sein eigenes Werk, das sich in seiner kulturgeschichtlichen Ausrichtung von der überwiegend "historisch-militärischen Perspektive auf den Krieg" (S. 24), wie sie in anderen Werken vorherrscht, absetzen soll. Dabei werde die Frage "Was sind Bilder?" in die Frage "Was tun Bilder?" umgedeutet. Anders formuliert: Wie ist es möglich, dass man als nicht persönlich Beteiligter überhaupt eine Vorstellung von etwas derart Unbegreiflichem wie einem Krieg haben kann? Um diese Problematik eindringlich darzustellen, greift der Autor auf den Begriff des Mythos zurück: "Wenn in den dichtesten Momenten des Ersten Weltkriegs, einem ausgefeilten Plan gemäß, bis zu 30 000 Menschen in 24 Stunden auf engem Raum zu Tode kamen, versagt das Verständnis" (S. 34). Die zehn Millionen Toten des Ersten Weltkriegs seien – wenngleich gesichertes Wissen – von der Lebensrealität der Zivilbevölkerung ebenso weit entfernt wie der seine Kinder fressende Kronos aus der griechischen Mythologie. Doch wo der Mythos reiner Phantasie entspringe, sei das Wissen vom Krieg realen Ursprungs und stets von einer Imagination begleitet, ohne die kein Bild vom Krieg zu machen sei. Daraus erwachse die Notwendigkeit, das Kriegsbild der Moderne frei von Verklärungen zu halten. "Empirie und kritische Methoden dürfen nicht leichtfertig aufgegeben werden" (S. 35). Die "Kleine Theorie der Kriegsfotografie", die Hüppauf im ersten Teil des Buches entwickelt, folgt dann auch einem interdisziplinären Ansatz, der den aktuellen Stand der Bildtheorie in Hinblick auf das Thema der Kriegsfotografie aufbereitet. Von Platon bis W. J. T. Mitchell reicht das Spektrum der Bezüge, anhand derer Hüppauf einen Überblick zur Theorie des Bildes gibt, der weit über die Grenzen des gesetzten Themas hinausweist. Eine der Stärken des Buches besteht darin, dass diese spezifische Anwendung bildtheoretischer Ansätze auch für jene Leser lohnend ausfällt, denen das Thema grundsätzlich nicht neu ist. Im Zentrum steht dabei stets eine klar – und durchaus wiederholt – formulierte Frage: Wie ist das Verhältnis zwischen Krieg (als reale Handlung), Fotografie (als Bilder produzierende Technik) und dem Wissen über den Krieg in einer nicht direkt davon betroffenen Gesellschaft (im Sinne einer Vorstellung, eines inneren Bildes) organisiert. Aufgabe einer Geschichte der Kriegsfotografie kann es folglich nicht sein, "nach dem Krieg, nach dem Krieg, der gleichsam vor dem Bild liegt, zu forschen. Sie behandelt vielmehr Entstehungsbedingungen und Folgen der spezifischen Kriegsbilder, die die Fotografie in dieser überschaubaren Phase der langen Kriegsgeschichte hergestellt hat. Sie sucht nach Ursprung und beschreibt Funktionen und Effekte" (S. 149, Herv. i. Orig.). Der hier formulierte Ansatz korrespondiert so mit einem Konzept des Fotografischen,[1] das weit mehr umfasst als das bloße Entstehen und Betrachten von Bildern. Demzufolge werden dann auch sämtliche Stufen, die eine Fotografie von ihrer Entstehung bis zur Rezeption durchläuft, behandelt. Fragen zur Authentizität wie zum besonderen Zeichencharakter der fotografischen Technik werden dabei ebenso berücksichtigt wie die Medien, in denen die Bilder verbreitet werden und die Diskurse, die sie auslösen oder befeuern. "Für das Kriegsbild gibt es kein außerhalb der Medien. Sie sind immer schon im Krieg und im Bild. Sie sind an der Konstruktion ihres Gegenstandes konstitutiv beteiligt. Vor den Medien gibt es keinen Krieg" (S. 98). Für Hüppauf geht es dann auch darum – wie er mit Bezug auf Sybille Krämer festhält –, die "Idee von der Transparenz der Medien zu unterminieren", denn nur so könne "Kriegsfotografie zu einem Element der Gesellschaftsgeschichte werden" (S. 122). Dabei gilt es die rasche Veränderung der Medien, wie sie seit dem Ersten Weltkrieg zu beobachten ist, mitzudenken. Während Paul Virilio noch Krieg und Kino zusammendachte, wurde die Berichterstattung über den Golfkrieg bereits an den Gesetzmäßigkeiten der Massenmedien – allen voran dem Fernsehen – ausgerichtet. Die Veränderungen durch Internet und digitale Technologien sind wesentliche Merkmale unserer Zeit, denen Hüppauf dann auch den letzten Teil seines Buches widmet: "Was als Sensation begann, wird zur Langeweile. Die Kriegsfotografie, in Routine eingegangen, erzeugt Desinteresse. Selbst spektakuläre Fotos sind in kurzer Zeit vergessen. […] Der materielle Gehalt des Kriegs hat sich so verändert, dass er nicht mehr als Stoff für innere Bilder taugt. Fotografie liefert keine Bilder mehr, die zu dem großen gesellschaftlichen Projekt, den Krieg zu verstehen, um in zu beherrschen, beitragen" (S. 310). In einem der Fotoessays, die das Buch begleiten und die die entwickelten Überlegungen durch konkrete Fotos ergänzen, findet sich dann auch nicht das Bild einer Kampfhandlung, sondern das eines Kontrollraums, den Hüppauf das "neue Schlachtfeld" nennt. "Es ist kein Feld des Todes oder der Helden, sondern der Computer-Spezialisten" (S. 318). Von da wäre es nur ein kleiner Schritt zu einem anderen bekannten Kriegsfoto, das stellvertretend für den hier beschriebenen Wandel stehen kann: Jene Aufnahme aus dem Situation Room, die Barak Obama, Hillary Clinton und andere dabei zeigt, wie sie der Übertragung der Tötung Osama bin Ladens zusehen. Was sie genau sehen, ist auf dem Bild nicht zu erkennen und kann bestenfalls anhand ihrer Gesichtsausdrücke erahnt werden. Dabei wird umso deutlicher, dass wir es heute mit Bildern vom Krieg zu tun haben, die radikal anderen Gesetzmäßigkeiten folgen, als das bei Robert Capa, Gerda Taro oder gar Roger Fenton der Fall war. Zwischen diesem Ausblick und der einführenden "Kleinen Theorie der Kriegsfotografie" steht ein Abschnitt, der mit "Stationen der Kriegsfotografie" überschrieben wird. Der Autor nimmt darin anhand konkreter Ereignisse eine historische Verortung der Kriegsfotografie vor: Amerikanischer Bürgerkrieg, Krimkrieg, Spanischer Bürgerkrieg, die beiden Weltkriege, Vietnam, Bosnien, Irak, Syrien – die Stationen sind die (aktualisierten) bekannten. Aber Hüppauf geht es auch hierbei nie um eine Listung oder einen simplen Vergleich der behandelten Fotos. Vielmehr steht auch im Zentrum dieses Teils stets die Suche nach der Teilhabe der Fotografie an einem Wissen über den Krieg. Die theoretische Verortung ist in diesem zweiten großen Abschnitt des Buches so dicht, dass sich der Unterschied zum vorausgehenden Kapitel kaum bemerkbar macht. Allerdings fällt spätestens an dieser Stelle auf, dass ästhetischen Kategorien für ein Buch, das sich explizit mit Fotografie beschäftigt, überraschend wenig Bedeutung zukommen, was sich auch in der zurückhaltenden Illustration und der eher durchschnittlichen Qualität der Abbildungen niederschlägt. Selbstverständlich ist der Wert solcher Fotografien, wie sie hier im Fokus stehen, in erster Linie einer der Information und des Nachrichtenwerts. Doch gibt es visuelle Strategien, die sich mit dieser Anforderung verbinden lassen. Die bekanntesten Bilder der Kriegsfotografie belegen diese Annahme und auch aktuelle Beispiele finden sich. So hält etwa Otto Karl Werckmeister in Der Medusa-Effekt. Politische Bildstrategien seit dem 11. September 2001 (2005) fest, dass James Nachtwey, den Hüppauf als "einen der mutigen Kriegsfotografen der Gegenwart" (S. 107) erwähnt, sich bei seinen Aufnahmen von Massengräbern in Ruanda und Goma (1994) auch stets an ästhetischen Kriterien orientierte. So verweisen seine Bilder auf Aufnahmen, die George Rodgers 1945 bei der Befreiung des KZs in Bergen-Belsen gemacht hatte, wodurch Nachtwey seine Behauptung unterstreicht, die Massaker in Ruanda seien völkerrechtlich als Genozid zu beurteilen. Ein weiteres Beispiel, das zudem noch die Grenzen der gegenwärtigen Kriegsfotografie problematisiert, ist Thomas Ruffs Jpeg ny02.[2] Das Foto zeigt das kollabierende World Trade Center nach den Terroranschlägen von 09/11. Die Aufnahme ist dem Strom der abertausenden Bilder entnommen, die in Folge des Attentats durch die Nachrichtenkanäle gespült wurden. Die spröde Materialität des Fotos wurde dabei von Ruff visuell überhöht, wodurch das Bild immer auch seine Entstehungsbedingungen miterzählt. Ruffs Aufnahme – die primär dem Kunstsektor zuzuordnen wäre – ist aber auch deshalb relevant, weil sie ein Ereignis behandelt, das in Fotografie im Krieg kaum Erwähnung findet: den neuen Krieg des Terrors bzw. den Krieg gegen den Terror, der nicht nur danach verlangt, all das, was nach bisherigen Maßstäben als kriegerische Handlung gegolten hat, neu zu bewerten, sondern auch ständig neue Bilder entstehen lässt. Ruffs Arbeit kann als eine erste bemerkenswerte Annäherung an diese Herausforderungen gelten. Die klare Stärke von Fotografie im Krieg liegt darin, dass es der Autor schafft, das Thema der Kriegsfotografie aus dem Bereich der allzu linearen, einmal technisch, einmal historisch orientierten Darstellungen zu lösen und einer Befragung zu unterziehen, die den aktuellen fotografie- und bildtheoretischen Ansätzen genügt. Eine Weiterführung der im letzten Abschnitt des Buches angestoßenen Überlegungen zu einer Neubewertung der Kriegsfotografie vor dem Hintergrund der sich veränderten Gegebenheiten und einer eventuell notwendigen Erweiterung des Untersuchungsfeldes steht derweil noch aus. Auf Leselisten zum Thema Kriegsfotografie wird Bernd Hüppaufs Buch – verdienter Maßen – dennoch ab sofort regelmäßig zu finden sein. --- [1] Zum Begriff des Fotografischen bzw. eines fotografischen Paradigmas, wie ihn Herta Wolf in Anschluss an Rosalind Kraus eingeführt hat, siehe Herta Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt: Suhrkamp 2002. [2] Zu einer anderen Aufnahme aus Ruffs Jpeg-Serie sowie zum Begriff der Medienästhetik im Kontext der "Neuen Medien" siehe Jens Schröter: "Medienästhetik, Simulation und 'Neue Medien'", in: zfm. Zeitschrift für Medienwissenschaft, 1/2013, S. 88–100.
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Edgar Lissel / Gabriele Jutz / Nina Jukić (Hg.): RESET THE APPARATUS! A Survey of the Photographic and the Filmic in Contemporary Art.: Berlin: De Gruyter 2019. ISBN: 978-3-11-063068-8. 208 Seiten, 33,95 €
Was bleibt vom genuin Fotografischen/Filmischen nach dem Ende des fotografischen Zeitalters? Welche grundlegenden medialen Charakteristika des Fotografischen bzw. Filmischen werden von aktuellen künstlerischen Prozessen aufgegriffen oder umgedeutet? Derartigen Fragen widmete sich das Forschungsprojekt RESET THE APPARATUS!, das als PEEK-Projekt (Arts- based Research) an der Abteilung für Medientheorie der Universität für Angewandte Kunst in Wien realisiert wurde und mit dieser Publikation eine Mischung aus Überblickskatalog und Abschlussbericht vorlegt. Ausgehend von dem – freilich nur auf den ersten Blick – paradox wirkenden Umstand, dass die neuen digitalen Technologien ein gesteigertes Interesse an den analogen Medien hervorgerufen haben, widmet sich dieses Buch – das auch und insbesondere Materialsammlung ist – Fragen nach der Rolle des spezifisch Fotografischen (photographic) bzw. Filmischen (filmic) in der zeitgenössischen Kunst. Im Zentrum steht eine genaue Betrachtung der im Forschungsprojekt untersuchten Medien bzw. deren materieller/technischer Grundlagen, die niemals allein Mittel zum Zweck sind, sondern sich auf mannigfaltige Weise in den künstlerischen Prozess, dessen Ergebnis, Wahrnehmung und Verwertung einschreiben.Dieses konstitutive Potenzial des Apparatus ist aus den Medienwissenschaften gut bekannt, weshalb das Besondere an der vorliegenden Publikation nicht die Fragestellung per se, sondern viel mehr dessen Aufbereitung ist. Als Arts-based Research-Projekt wird hier gewissermaßen der Spieß umgedreht und sprichwörtlich in der Schraube die Maschine erkannt. Ausgehend von einer umfangreichen Materialsammlung und in Zusammenarbeit mit externen Partner*innen (aus den Bereichen der Wissenschaft als auch den Künsten, heimischer als auch internationaler Provenienz) wird ein Feld erschlossen, das man in den medienwissenschaftlichen Diskursen schon öfters betreten hat, hier aber plötzlich aus einem anderen Blickwinkel sieht. Und das ist nicht bloß als Metapher gemeint, denn zu sehen gibt es in diesem Buch/Katalog wirklich einiges: Die Publikation präsentiert sich als durch theoretische Texte angereicherter Bildband und stellt in dieser Form ein beeindruckendes Zeugnis zeitgenössischer Medienkunst vor, die das Projektteam in den vergangenen Jahren befragt hat. Das Buch ist folgendermaßen aufgebaut: Ein einleitender Aufsatz der drei Projektleiter*innen, Gabriele Lutz, Edgar Lissel und Nina Jukić – der sich selbst explizit als "Gebrauchsanweisung" ("User's Manual") versteht – erörtert nicht nur die wesentlichen Fragestellungen und Perspektiven, sondern zieht zugleich Resümee über den aktuellen Stand von Kunstproduktionen, die Analoges und Digitales zusammendenken, beziehungsweise der theoretischen Debatten, die dieses Verhältnis begleiten. Hervorzuheben ist, dass sich die hier angestellten Betrachtungen niemals in einer Gegenüberstellung oder Aufrechnung eines Verfahrens gegenüber dem anderen erschöpfen, sondern darauf angelegt sind, die tradierten Grenzen der als überkommen (vor)verurteilten medialen Technologien aufzubrechen und deren Einfluss auf aktuelle künstlerische Verfahren zu bewerten. Die Aussage "For a contemporary understanding of medium specificity, it is necessary to give up 'the old fiction of the purity of media' and to consider their 'interpenetration and contamination'" wird unter Bezug auf die Filmwissenschaftlerin Erika Balsom als ein Hauptanliegen des Projekts formuliert. Bei dem thematischen Streifzug durch die maßgebende Film- und Medientheorie gerät denn gemäß der Stoßrichtung des Projekts insbesondere die Perspektive der Künstler*innen in den Blick, die den zweiten Teil des Buches bildet. Dabei geht es etwa um künstlerische Entscheidungen für die Arbeit mit speziellen medialen Technologien, ausgehend von dem simplen – auch wenn für die Betrachter*innen des fertigen Werkes oft nicht maßgebenden – Umstand der direkten Arbeit am künstlerischen Produkt und die Anwendung künstlerischer Verfahren, die nicht notwendigerweise auf standardisierten Wegen erfolgen muss; man denke an das breite Feld des experimentellen Films und der experimentellen Fotografie und seiner Tradition des physischen Zugriffs auf das Trägermaterial. Bezugnahmen zu jener filmischen Praxis, die unter dem Label expanded cinema ausgehend von avantgardistischen Kunstproduktionen seit den 1960er-Jahren unterschiedliche Zuschreibungen erfahren hat, prägen dann auch stark die vorliegende Analyse, wobei der hier angelegte Begriff der "Erweiterung" (im Sinne eines 'to expand') auch auf das Feld der Fotografie, oder besser: des Fotografischen, übertragen wird. Etwa wenn unter Bezug auf das erst später geprägte und weniger bekannte Schlagwort der expanded photography argumentiert wird, dass die hier verwendeten Begriffe photographic bzw. filmic darauf hinweisen würden, dass sich solcherart bezeichnete Praktiken, auch wenn sie ihre medialen Grenzen überschreiten, dennoch stets genuine Medienspezifika bewahren. Der dritte und vierte Teil des Buches stellt die Kooperationen mit verschiedenen Medienkünstler*innen bzw. "Partner Collaborations" sowie die Arbeiten von Studierenden aus Wien und Essen vor. In dieser heterogenen Werkcollage werden theoretische Mythen des Digitalen, wie etwa der Tod des Kinos und Videos in Zeiten von digitalen Medien aufgegriffen und dekonstruiert (etwa in den Beiträgen von Jonathan Walley über Gibson+Recorder und Andy Birtwistle über die Arbeiten von Gebhard Sengmüller), Bezugnahmen zu historischen Vorläufern des kinematografischen Dispositivs, etwa zur Phantasmagorie, gezogen (Beitrag von Hubertus Amelunxen) und schließlich mit den Arbeiten der Studierenden die Frage nach dem Verbleib des Analogen ins Zeitalter der "Digital Natives" transferiert. Der letzte Teil des Buches bindet über drei theoretische Texte und ein Essay die künstlerischen Arbeiten wieder an den Apparatus-Begriff zurück. Der im Titel des Projekts angelegte Terminus des Apparatus hatte seinen Ursprung bekanntermaßen in der französischen psychoanalytischen Filmtheorie der 1970er-Jahre, die stark mit dem Namen Jean-Louis Baudry verbunden ist, den Film seines Objektcharakters enthebt und seine Analyse in ein weiter gefasstes architektonisches wie diskursives Setting einbindet, das zahlreiche zusätzliche Aspekte – vor allem jenen der Rezeption – berücksichtigt. Die Autor*innen halten fest, dass die Apparatus-Theorie der Rolle der Produktion keine herausragende Aufmerksamkeit beikommen hat lassen – ein Missstand, den das vorliegende Werk kompensieren soll. Dieser letzte Teil steht dabei in direkter Verbindung zum sogenannten "Corpus", ein von Lissel, Jutz und Jukić zusammengetragener Katalog künstlerischer Arbeiten, die allesamt die Fragestellungen des Projektes von unterschiedlichen Perspektiven ausgehend illustrieren und kommentieren. Dieser wird von TAGS strukturiert, die jeweils einen spezifischen, medialen Aspekt im Nachdenken über den Apparatus adressieren. Damit wird quasi eine nonlineare Lektüre des Buches – ähnlich dem Blättern in einem Ausstellungskatalog – nahegelegt und so nicht nur das Verhältnis von Theorie und Medienkunst, sondern auch dessen Erfassungsprozesse als ein vernetztes Bedeutungsfeld dargestellt.Diese von den Autor*innen in der Einleitung festgelegten TAGS werden damit nicht als unverrückbare Zuschreibungen, sondern als Ausgangspunkte zur Erkundung eines heterogenen Korpus von Medienkunst konzipiert, der so von verschiedenen Seiten aus durchwandert werden kann. Am besten funktioniert das auf der Homepage des Projektes (http://www.resettheapparatus.net), die mit präzisen Beschreibungen, Informationen und weiterführenden Links zu allen 140 versammelten Arbeiten aufwartet. Die ausgewählten Arbeiten selbst fokussieren – gemäß der Themensetzung des Projekts – die letzten zehn Jahre, reichen aber da und dort bis in die 1960er-Jahre zurück. Versammelt sind sowohl bekannte Projekte, als auch solche, die weniger bekannt sind. So reicht etwa der TAG "Body Involvement", der auf ein Miteinbeziehen des gesamten Körpers in den medialen Prozess abzielt, von Alfons Schillings Sehmaschinen (mehrere Arbeiten ab den 1960er-Jahren) über Gustav Deutschs Taschenkino (1995), bis hin zu einer aus den frühen 2000er-Jahren stammenden Arbeit von Olena Newkryta (Absolventin der Universität für Angewandte Kunst Wien), die Proband*innen dazu aufforderte, unbelichteten Negativfilm ein Monat lang am Körper zu tragen, um diesen anschließend zu entwickeln und in Fotografien überzuführen. One month on skin (2013 – 2014) treibt so den indexikalischen Charakter der analogen Fotografie – und damit eines der zentralen Merkmale des Mediums – auf die Spitze.Der TAG "Still / Moving" wiederum erkundet das Verhältnis zwischen Einzelbild und Laufbild, wodurch auf die ganz grundsätzliche materielle Verbindung zwischen analoger Fotografie und analogem Film fokussiert wird. Die unter diesem TAG versammelten Arbeiten bieten einen geradezu lehrbuchartigen Überblick über experimentelles Filmschaffen, das dieses Verhältnis auf unterschiedlichste Weise hinterfragt und in der Arbeit Motion Picture (1984) von Peter Tscherkassky, die auf einem Frame von Arbeiter verlassen die Fabrik (1895) der Brüder Lumière basiert, bis in die Geburtsstunde des Films zurückreicht. Weitere TAGS, wie "Darkroom Exposed", "Fleeting Images", "Live Acts", "Lost & Found", "Material Agency", "Relics", "Repurposing the Hardware", "Scale & Format", "Site Specifity" und "Transplanar Images", illustrieren dabei nicht nur die strukturierte Weise, mit der sich das Forschungsprojekt den Gegenständen genähert hat, sondern auch die beeindruckende politische Tragweite der Verflechtung von Film und Fotografie. Sie zeigen so die vielen Kernbereiche der Gesellschaft auf, die von Medien schon immer durchzogen sind bzw. waren. Dass dabei etwa Themenfelder wie das Anthropozän und der materielle Überfluss, die Energieballung in städtischen Räumen und der stete Zerfall von Bildträgern wie Zelluloid als konstitutiver Bestandteil unserer Erinnerungspraxis thematisiert werden, erweist, wie vielfältig anschlussfähig die hier aufgeführten theoretischen wie künstlerischen Impulse sind. Die englischsprachige Publikation ist – auch das soll gesagt werden – ein schön gemachtes, wertiges und preiswertes Buch, das so einige Verlage über Buchdesign und Preisgestaltung nachdenken lassen sollte. Am bemerkenswertesten ist dabei sicher die Funktion, die es – in Verbindung mit den Beiträgen der Projektpartner*innen – als überraschend übersichtliches Nachschlagwerk und gleichsam Dokumentationsversuch einer heterogenen Medienkunst-Medientheorieszene erfüllt. Der einleitende Text des Projektteams ist in seiner Klarheit und Übersichtlichkeit zudem eine Lektüre, die sich sämtlichen Leser*innen empfiehlt, die sich mit Film, Fotografie und Medienkunst beschäftigen – und zwar unabhängig davon, ob dies auf einem akademischen Niveau geschieht oder auf einem ganz "allgemeinen" Interesse an Kunst und Medien fußt. Auch das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. www.resettheapparatus.net
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