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Gunnar Landsgesell/Michael Pekler/Andreas Ungerböck (Hg.): Real America. Neuer Realismus im US-Kino.: Marburg: Schüren 2012. ISBN 978-3-89472-778-9. 208 S. Preis: € 19,90
Das Buch Real America. Neuer Realismus im US-Kino entwickelte sich aus der gleichnamigen Programmreihe der Viennale 2012, die Filme wie Man Push Cart, Wendy and Lucy und Putty Hill zeigte. Laut den Autoren Gunnar Landsgesell, Michael Pekler und Andreas Ungerböck gehören diese Filme zu einer sich seit Anfang des 21. Jahrhunderts formierenden Strömung im US-amerikanischen Independent-Kino und lassen sich in erster Linie über eine bestimmte sozialpolitische Gesinnung gegenüber der (Alltags-)Wirklichkeit verbinden: "eine Haltung zu ihren Geschichten, zu ihren Figuren, zu ihrem Land und dem, was darin vorgeht, zu dessen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Fragen, eine Haltung, die aus den Filmen klar und deutlich abzulesen ist, ohne dass sie einem vorgefertigt und unhinterfragbar ins Zuschauerhirn eingepflanzt würde" (S. 9). Darin, aber auch in der Umsetzung dieser Haltung orientieren sich die US-Filme von u. a. Ramin Bahrani, Kelly Reichhardt oder Debra Granik am neorealistischen Konzept, das André Bazin in seinem berühmten Buch Was ist Kino? mit Blick auf das frühe italienische Nachkriegskino beschrieb. Im Sinne Bazins liegt das "Politische dieser Filme in der Offenheit ihrer Struktur" (S. 10), "von der narrativen Anlage der Filme bis zu ihren Bildkompositionen" (ebd.), so die drei Autoren in ihrem Vorwort zu Real America. In den darauffolgenden drei Essays verstehen sie es, diese Eigenschaften näher zu ergründen und weitere vorzustellen. Dabei stützen sie sich u.a. auf den 2009 erschienenen New York Times-Artikel "Neo-Neo-Realism" von A. O. Scott, der jene bis dahin eher unbekannten Werke erstmalig einem breiten Publikum vorstellte. Den Anfang macht Andreas Ungerböck, der die neuen realistischen US-Filme der Jahrtausendwende produktionshistorisch verortet. Anders als diejenigen Erzeugnisse einer nur noch als 'Indie' markenetikettierten Szene, die mittlerweile ein symbiotisches Verhältnis mit der Hollywoodindustrie eingegangen ist, stehen diese für ein tatsächlich finanziell und damit auch künstlerisch unabhängiges Kino – wobei dessen Realisierung, beispielsweise bei der Akquirierung von Geldern, dadurch mitunter eine 'tour de force' bedeutet. (Als ein ausgesprochen hilfreiches Finanzierungsmodell mit Zukunftspotential dient das Crowdfunding.) Das Ergebnis sind in kleinen Teams hartnäckig erarbeitete Filme, die inhaltlich kompromissloser daherkommen (können) als zur selben Zeit entstandene Message-Filme wie Syriana oder Erin Brockovich, die "per definitionem ein Happy End haben müssen" und bloß mithelfen, "den sozialen Status quo des Landes […] zu übertünchen" (S. 25). Der Beschreibung dieses Status quo nähern sich die Filmemacher/-innen (die im Übrigen nicht miteinander vernetzt sind und unabhängig voneinander arbeiten) von verschiedenen geographischen Standpunkten aus. Mit Drehs in beispielsweise New York, Arkansas, dem Mississippi-Delta, Idaho oder Kalifornien setzen sie ein "reichhaltiges Amerika-Bild" (S. 32) zusammen. Wie bei den klassischen Neorealisten wird demnach an Originalschauplätzen und vorzugsweise im Freien gefilmt, und durch den sich ebenfalls großteils aus Laien zusammensetzenden Darstellerstab vermitteln die Filme den Eindruck dokumentarischer Authentizität. Der Dramaturgie und (Figuren-)Ästhetik des realistischen US-Kinos widmet sich der Essay von Gunnar Landsgsell. "[J]enseits eingeübter Formen von Empörung" (S. 101), so Landsgsell, entwickele sich dort im Gegensatz zu den pathetischen "Abfeierungen des Kaputten" (S. 99) vieler sozialrealistischer Independent-Produktionen eine tatsächlich alternative Gesellschaftskritik. Erkennbar sei dies u. a. am Versuch einer "Entleerung des Bildes" (S. 101) und am Gestus einer "Bedachtnahme" (S. 103), mit der sich die Filmemacher/-innen ihren Figuren und Schicksalsgeschichten nähern, – und der Landsgsell an den Respekt erinnert, den Bazin bei Vittorio De Sicas Umgang mit dem Stoff zu Ladri di bicicletta beobachtet (vgl. S. 103). Auch wenn die Protagonisten fast durchwegs der unteren sozialen Schicht angehören und um ihre karge Existenz ringen müssen – ob als eingewanderter Imbissverkäufer in Man Push Cart, Supermarktangestellte in Frozen River oder Arbeitsmigrantin in Wendy and Lucy –, werden sie nicht als ausschließlich dem Mitleid der Zuschaueden unterworfene Opferfiguren inszeniert. Sie erscheinen als aktive und komplexe Subjekte, die sich eindeutigen Interpretations- und möglichen Stigmatisierungsversuchen entziehen. Der neue US-Realismus wendet sich damit auch von stereotypischen Rollenzuschreibungen ab. Landgsell weist darauf hin, "dass die meisten der Filme mit keiner spezifischen Form von Weiblichkeit operieren" (S. 114) und die Frauenfiguren – die in diesem neuen US-Kino so vielschichtig präsent sind wie in wahrscheinlich keinem anderen – "[w]eder eine besondere familiale Handlungskompetenz [aufweisen], noch […] zugunsten eines dramaturgischen Mehrwerts sexualisiert oder maskulinisiert" (S. 114) werden. Diese Form der Figurenzeichnung geht nicht selten einher mit der "Verabschiedung männlicher Handlungsträger […] bzw. mit deren Unfähigkeit, traditionelle Rollenbilder auszufüllen" (ebd.). Sämtlichen Figuren gemein ist ein Einzelgängerdasein jenseits herkömmlicher Familienkonstellationen und fester Behausungen, ein Status der Isoliertheit, der durch die "Verdrängung des Sozialen aus den öffentlichen Räumen" (S. 106) forciert wird: Ohnehin schon ohne festen Wohnsitz und mit dem Auto als letztem Rückzugsort unterwegs, sehen sich in First, Last and Deposit Mutter und Tochter sowie der moderne Hobo Wendy auch noch kostenpflichtigen Stränden und von Security überwachten Parkplätzen gegenüber. Im Zuge dieses Wegbrechens demokratischer Strukturen scheint im neuen US-Realismus "auch den Narrativen der Sinn abhanden gekommen und so etwas wie ein grundlegender Zweifel sowie eine Fragmentierung erzählerischer Einheiten geblieben zu sein" (S. 121). Gleichzeitig wird mit der Etablierung solch loser, episodischer Strukturen den Hauptfiguren eine Erzählsouveränität zugesprochen, mit der sie "aus narrativen Verkettungen [heraustreten] und vielleicht durch die dadurch frei werdenden, sich lösenden Momente an von Bazin ins Treffen geführter 'Wahrhaftigkeit'" (S. 105) gewinnen. Wie Getriebene ziehen die Protagonisten durch die entdemokratisierten (Überlebens-)Räume des aktuellen US-Amerikas. Dass selbst die Natur nicht mehr als Zufluchtsort taugt, macht Michael Pekler in seinem Aufsatz deutlich. So wie im US-amerikanischen Kino insgesamt spielt diese auch im neorealistischen US-Film eine wichtige Rolle. Während sich die repräsentierte Natur aber selbst noch im New Hollywood und im aktuellen Mainstream als positiver Mythos hält, indem ihre Darstellungsweise "suggeriert, dass die Idee der Rückbesinnung [der Hauptfiguren] auf die Natur an sich richtig sei" (S. 55) und lohnenswert, kann sie in Wellness oder Old Joy ihrer Funktion als urwüchsig-paradiesischer Raum nicht mehr gerecht werden. Die konstruierte Dichotomie zwischen Natur als heilversprechendem Fluchtpunkt einerseits und zivilisatorischer Kultur als chaotischem wie korruptem Ort andererseits wird im neorealistischen US-Kino aufgegeben. Seine Vertreter offenbaren die immer schon mit zivilisatorischen Spuren versehene 'Wildnis' als untrennbaren Teil einer unbestimmten und sich permanent wandelnden Kulturlandschaft, in der das Individuum stets auf sich selbst zurückgeworfen wird. Demnach 'erinnern' die Figuren des neuen US-Realismus "mit ihren ins Leere führenden Bewegungen erneut an den italienischen Neorealismus der vierziger Jahre" (S. 71), der sich auch auf stilistischer Ebene wiederfinden lässt. Pekler verweist auf den von Filmhistoriker Massimo Perinelli für den Neoverismo verwendeten Begriff der "horizontale[n] Dezentrierung" (S. 71), die im amerikanischen Neorealismus ebenfalls mittels wiederkehrender, waagerechter Kamerabewegungen hergestellt wird. Sie verfolgen die Figuren durch die bazinschen "Bruchstücke der unbearbeiteten Wirklichkeit" (S. 63), die sich nicht mehr zu einem kohärenten Raum zusammensetzen lassen. Trotz mancher inhaltlicher Überschneidungen liefern die Autoren mit ihren Aufsätzen einen ausgesprochen interessanten Einblick in eine junge Strömung US-amerikanischer Independentfilme. Hervorzuheben sind die Scharfsinnigkeit bei den Filmanalysen sowie die Sinnhaftigkeit der Analogisierung – und damit der Zusammenführung der verschiedenen Filme – zum italienischen Neorealismus. Wie ein Echo scheint dieser in den Bildern des im Kino sonst eher unsichtbar gehaltenen bzw. meist verklärten, 'anderen Amerika' widerzuhallen, beispielsweise im Motiv des gestohlenen Imbisswagens in Man Push Cart, der dem entwendeten Fahrrad in Ladri di bicicletta entspricht und ein passend adaptiertes Sinnbild für die existenziellen Nöte der 'working class' im heutigen New York darstellt. Zum anderen überzeugt die Methode der filmischen Kontextualisierung, mit der diese Vergleichsführung vonstatten geht. Andreas Ungerböck bettet die realistischen Filme dabei nicht nur in die (Begriffs-)Geschichte des US-Indie-Kinos ein; er stellt die Werke des 'Real America' im Sinne A. O. Scotts auch Hollywoodklassikern wie Sullivan's Travels oder Grapes of Wrath gegenüber und nimmt die Leser/-innen mit auf einen kurzen historischen Streifzug durch das US-amerikanische Kino seit den vierziger Jahren. Zahlreiche Standbilder aus neorealistischen US-Filmen, darunter eine Filmstill-Strecke in Farbe, sowie zwei Abschlusskapitel, in denen die besprochenen Filme und deren Regisseur/-innen noch einmal separat vorgestellt werden, runden den gelungenen Essay-Band ab.
BASE
Lokale Orientierungen
In: Politik im Kontext: ist alle Politik lokale Politik?: individuelle und kontextuelle Determinanten politischer Orientierungen, p. 35-65
Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, auf der Grundlage der Daten des Forschungsprojekts "Europa im Kontext", die Zufriedenheit der Bürger mit verschiedenen Aspekten des Lebens in ihren Gemeinden zu vergleichen und zu analysieren. Im Mittelpunkt steht dabei weniger die politische Zufriedenheit im engeren Sinne, sondern (1) die allgemeine Zufriedenheit mit dem Leben in der Gemeinde sowie Orientierungen gegenüber (2) dem lokalen Verwaltungshandeln, (3) lokaler Wirtschaftsverhältnisse und (4) der lokalen Gesellschaft. Es werden zunächst die Gemeinsamkeiten und Differenzen hinsichtlich dieser Aspekte beleuchtet. Im analytischen Teil der Arbeit geht es dann um die Bestimmungsfaktoren lokaler Zufriedenheit, wobei sowohl Individual- als auch Kontextmerkmale in die Analyse einbezogen werden. Dabei kommen mehrere Erklärungsansätze zum Tragen: Gemäß der Performanzthese hängt die Zufriedenheit von den aktuellen Systemleistungen ab. Die Grundannahme lautet dabei, dass Bürger mit der Performanz ihrer Gemeinde zufrieden sind, wenn die Leistungen der Gemeinde ihren Präferenzen entsprechen. Die bisherige Forschung belegt aber, dass zum einen nicht unbedingt die objektive Performanz der Gemeinde entscheidend ist, sondern die individuelle Perzeption der Performanz. Zum anderen stellt sich die Frage, ob als Bewertungskriterium in erster Linie die eigene Situation des Bürgers dient oder ob auch die Gesamtsituation der Gemeinde in die Bewertung eingeht. Auf diese Frage wird insbesondere im Kontext der Zufriedenheit mit der lokalen Wirtschaft näher eingegangen. (ICI2)
Butis Butis (Hg.): Goofy History. Fehler machen Geschichte.: Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2009. ISBN 978-3-412-20426-6. 336 S. Preis: € 39,90
"Aus Fehlern lernen" lautet das Motto des von Marion Herz, Alexander Klose, Isabel Kranz und Jan Philip Müller herausgegebenen Sammelbandes Goofy History. Fehler machen Geschichte, der Störmomente innerhalb medialer Historiographien erforscht. Anstatt "einem fruchtlosen Konstruktivismus das Wort zu reden" (S.13), wird in insgesamt 25 Beiträgen die produktive Kraft aufgezeigt, die sich beim Aufspüren sogenannter 'goofs' innerhalb unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen entfalten kann. Ursprünglich war das Suchen und Aufzeigen von 'goofs' eine Angelegenheit für FilmliebhaberInnen, die sich im Internetzeitalter noch verstärkt hat. Die Internet Movie Database verfügt beispielsweise über eine Rubrik, in der die User vor allem im narrativ-fiktionalen Film vorgefundene 'goofs' – wie Anschlussfehler oder ins Bild hineinragende Mikrofone, die die sich scheinbar wie von selbst erzählenden 'Story'-Welten aufsprengen – akribisch zusammentragen. Zu den bekanntesten gehört zum Beispiel jene Szene aus Alfred Hitchcocks North by Northwest, in der sich ein Kinderstatist bereits vor den einsetzenden Pistolenschüssen die Ohren zuhält. Anders als in cinephilen Sammlerkreisen hat sich die Filmwissenschaft nur am Rande mit ihnen auseinandergesetzt, womöglich deswegen, weil sie als unwillkürlich aufplatzende Enunziationsmarker (vgl. Metz 1997) ohne nennenswert reflexives Potential bisher fehleingeschätzt wurden. Eben jene filmischen 'goofs' sind der Aufhänger des 2009 herausgegebenen Bandes Goofy History. Fehler machen Geschichte. Die Publikation ging aus einer im Oktober 2007 an der Bauhaus-Universität Weimar veranstalteten Tagung des Graduiertenkollegs "Mediale Historiographien" hervor und erschöpft sich mitnichten in einer bloßen Aufzählung diverser 'goofs'. Diese 'goofs' werden vielmehr als geeignete Schlupflöcher begriffen, mit deren Hilfe sich verschiedene und eng miteinander verflochtene Räume dargestellter Wirklichkeiten passieren lassen. So im Falle des prominenten 'Continuity Editing'-Fehlers aus dem brasilianisch-französischen Spielfilm City of God: Die plötzliche Abwesenheit eines in einem Schusswechsel entstandenen Blutflecks, der in einer früheren Einstellung noch auf dem T-Shirt einer Figur zu sehen war, macht nicht nur auf die Inszeniertheit der dargebotenen Erzählung aufmerksam. Sie bringt den Film zumindest ein Stück weit näher zu dem, was er – und darauf wurde im Zuge seiner Vermarktung immer wieder verwiesen – eigentlich zu leisten beansprucht: eine authentische Milieudarstellung zu sein. "Da die Schauspieler […] selbst aus der Favela Cidade de Deus, der 'Stadt Gottes', kommen, erscheinen sie erst in den Fehlern des Films, wie sie wirklich sind" (S.20), d.h. als Vertreter einer auch außerhalb des filmischen Realismus existierenden, suburbanen Wirklichkeit Rio de Janeiros, in der anders als im Film auch mal echtes Blut fließen kann. Die Aufsätze beziehen sich aber – wie angekündigt – nicht ausschließlich auf filmische 'goofs'. Disziplinen übergreifend machen die AutorInnen anhand von Fehlübergängen, kaschierten Anachronismen und Korrekturen auch auf die Konstruiertheit von Geschichtsschreibungen oder lediglich behaupteter naturwissenschaftlicher Faktizität aufmerksam. Wie hartnäckig und erfolgreich manche 'goofs' als angebliche Tatsachen propagiert werden, wird zum Beispiel am Flache-Erde-Mythos verdeutlicht, der vorgibt, erst Kolumbus' Amerika-Reise habe die Vorstellung von einer runden Erde begründet, obwohl bereits viele Schriften aus dem Mittelalter von einer terrestrischen Kugelform sprechen (vgl. Müller S.16f.). Und Karoline Weber beschreibt das nur allmählich vollzogene, Jahrhunderte andauernde Verschwinden von Phantominseln, die, "[d]urch Korrektur, Tilgung und Auslöschung zu Trugbildern der Kartographie gemacht, offenbaren […], dass sie schlicht Effekte und Ursachen von Medientechniken sind" (S.226). Dass demnach "Wissenschaftsgeschichte im Kern Mediengeschichte" (S.13) ist, daran erinnern die im Band analysierten 'goofs'. Die Dynamiken, die sich aus diesem Abhängigkeitsverhältnis entwickeln können, werden unter anderem in Lars Friedrichs Aufsatz "FLASH / GORDON. Schillers Wallenstein, Franklin und die Ableitung politischer Souveränität" illustriert. Darin zeigt der Autor, wie der Dramatiker Friedrich Schiller die herkömmliche Geschichtsschreibung über Wallenstein in eine andere Richtung zu lenken versuchte. Im Bewusstsein dessen, dass Historiographie nur durch das Material und das Medium der (Schrift-)Sprache ermöglicht wird und damit den Tücken sowie den jeweiligen Machtinhabern der Sprache – in diesem Fall Schweden als aus dem Dreißigjährigen Krieg hervorgegangenem Sieger – unterworfen ist, setzt er der, im Grunde immer schon gesetzten 'goofy history' mit seiner Wallenstein-Trilogie eine andere 'goofy history' entgegen. Diese wird sich im Nachhinein als weitaus progressivere entpuppen: Indem Schiller den Blitzableiter als dramatisches – und durch seine Einbettung in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges als anachronistisches – Motiv benutzt, mit dem Wallensteins Befehle herrschen "wie des Blitzes Funke sicher, schnell / geleitet an der Wetterstange" (S. 83), wird jenseits von Verzauberungsstrategien göttlicher Natur ein "neues Paradigma politischer Macht" benannt (S.82), "ein Wissensdispositiv politischer Vernunft, das man mit Michel Foucault als 'Entgouvernementalisierung des Kosmos' bezeichnen kann" (S. 83). Um das Sich-Ermächtigen von Geschichte mittels medialer Operationen geht es auch in Lorenz Engells Beitrag "Virtual History". Im Jahr 2004 wurden für die gleichnamige Produktion des TV-Senders Discovery Channel mit Hilfe computergenerierter Effekte unter anderem solche dokumentarhaften Bilder hergestellt, die Adolf Hitler kurz vor, während und unmittelbar nach der Explosion der Stauffenberg-Bombe in der Wolfschanze zeigen. Für Engell beweist das mit diesen 'goofy' Aufnahmen formulierte, fragwürdige Versprechen eines lückenlosen Bilderarchivs zu jedweder historischen Begebenheit jedoch nicht, dass das Fernsehen sich damit in den Dienst einer Erinnerungsgemeinschaft stellen würde. Diesem ginge es letztlich nur um Selbstbehauptung: "[G]erade indem es die digitalen Technologien in seine eigenen, in ihrer Herkunft zutiefst analogen Funktionen und Verfahrensweisen integriert, […] versichert es sich seiner stets gefährdeten Identität [… als] ein Fernsehen, das historisch schon immer da war" (S.292f.). Diesem Fernsehen, 'das schon immer da war', stellt Wolfgang Struck mit seiner Analyse von Peter Delpeuts Film Forbidden Quest ein Filmarchiv gegenüber, das noch nie ein richtiges gewesen ist. Während die "Virtual History" mit ihren neu erschaffenen, digital generierten Bildern nicht nur die nichtfilmische Geschichtsschreibung, sondern gleichzeitig auch die tatsächlich prekäre Lage filmischer Archive überspielt, verweist der Film – der aus im Niederländischen Filmmuseum vorgefundenem, teilweise schon zersetztem Dokumentarfilmmaterial zusammengeschnitten wurde – unter anderem auf die Fragilität und Vergänglichkeit archivierter Bilder (S.217). Forbidden Quest, so Struck, vermag als Kritik an einer gängigen, aber ausgesprochen lückenhaften – da selektiven – Archivierungsmethodik verstanden werden: "In dieser Zuspitzung auf das Fragment und seine materielle Geschichte kann man das Plädoyer für eine alternative Geschichte lesen, für die Revision jener Version der Filmgeschichte, die auf dem 'goof' von Autorschaft und Werk basiert" (S.217). Das Darstellen bestimmter Auffassungen von Geschichte und Geschichtsschreibung, das Ausloten dispositivischer Macht, das Zerlegen von Archiv und Gedächtnis – diese über die 'goofs' unternommenen Operationen fordern nicht nur das Selbstverständnis der jeweils tangierten Disziplin heraus, sondern auch den Leser, bei dem zumindest Basiskenntnisse über Michel Foucault und Niklas Luhmann vorausgesetzt werden. Genauso wie eine gewisse Flexibilität, sich auf einen Streifzug durch die Kulturphilosophie, Archäologie, Medizingeschichte u. a. einzulassen. Für die Rezeption erleichternd ist hingegen die klare Sprache, die alle Beiträge auszeichnet und dadurch auch komplexe Inhalte zugänglich macht. Auch wenn sich der 'goof' als geeigneter Impulsgeber für wissenschaftliche Untersuchungen erweist, birgt er doch die Gefahr in sich, als Terminus zu weit gefasst zu werden. Die Herausgeber teilen den 'goof' zwar in drei miteinander verschränkte Problemfelder ein: das der zeitlichen Ordnung, der Konsistenz sowie der Relation zwischen Darstellung und Dargestelltem. Weitergehende Klassifizierungen überlassen sie jedoch den Autoren, die unter dem Begriff mal einen unfreiwilligen Fehler, mal eine absichtliche Trickserei verstehen. Für eine überschaubare Gliederung der einzelnen Aufsätze konnte der 'goof' also wenig dienlich sein. Stattdessen einigte man sich darauf, längere Artikel und kürzere Schilderungen meist kurioser 'goof'-Fälle abzuwechseln, die den Lesefluss immer wieder aufzulockern verstehen. Ein Beispiel hierfür ist der Bericht von einer einzigartigen polizeilichen Fahndung, bei der sich erst nach zwei Jahren herausstellte, dass die an über dreißig Tatorten in Deutschland gefundene DNA-Spur der gesuchten weiblichen Person einer Fahndungsmitarbeiterin zuzuschreiben war. Hervorzuheben ist abschließend der Aufsatz des Philosophen Stephan Gregory, der am Ende des Buches noch einmal die Sinnhaftigkeit unterstreicht, sich Untersuchungsgegenständen von ihren Makeln her zu nähern. Anstatt Friedrich Nietzsches Gedanken von der Ewigen Wiederkunft aufgrund seiner konzeptionellen Kurzschlüsse für nichtig zu erklären bzw. zu versuchen, diese wie viele Nietzsche-Befürworter "aus der Welt zu schaffen" (S.315), hangelt sich der Autor an den Unstimmigkeiten entlang, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass Nietzsches Idee zwar nicht als Wiederholung von historischer Wirklichkeit funktioniert, wohl aber als Wiederholung von Zeichen. Indem Gregory klar macht, dass "das Bild der Ewigen Wiederkehr nur ein digitales Bild sein" (S.329) kann, weil nur zwei digitale Bilder absolut gleich sein können, überführt er Nietzsche in einen Diskurs, der allein schon aufgrund seiner Aktualität Relevanzansprüche anmelden darf. Die HerausgeberInnen erwähnen, bei ihrer Arbeit an dem Sammelband im Sinne Daniel S. Milos gehandelt zu haben: Das Beobachten von Anachronismen innerhalb der Geschichtsschreibung verstünden sie als "unschätzbares Vorgehen, das man radikal und fröhlich praktizieren sollte" (S.13).[1] Diese Freude überträgt sich auch auf den Leser. Und so erweist sich Goofy History als Fundgrube kluger, unterhaltsamer und inspirierender Texte, denen gerne noch mehr Beobachtungen folgen könnten. Im gesamten Band wurden übrigens nur zwei kleine Formatierungsfehler gefunden. --- [1] Vgl. Daniel S. Milo: "Pour une histoire expérimentale, ou la gaie histoire". In: Annales ESC, Paris 1990. S.717–734, hier S.728.
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Lokale Orientierungen
In: Politik im Kontext: Ist alle Politik lokale Politik?, p. 35-65
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Entfremdung in der Schule der Demokratie? Informationen und Beteiligungsmöglichkeiten bei lokalen Planungen aus Sicht von Bürgern und Politikern
In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Volume 47, Issue 2, p. 326-348
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European identity revisited: new approaches and recent empirical evidence
In: Critical European studies (London, England), 4
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Are Quantitative Research Methods to Blame for a Growing Irrelevance of Political Science? A Rejoinder to John Trent
In: European political science: EPS, Volume 13, Issue 2, p. 201-216
ISSN: 1682-0983
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