Die Spaltung der Politik: Vom politischen Mehrwert einer haltlosen Behauptung
In: Freie Assoziation: Zeitschrift für psychoanalytische Sozialpsychologie, Band 25, Heft 2, S. 10-28
ISSN: 1434-7849, 2699-1519
There really is no such thing as society: Weder kann man sagen, was Gesellschaft im Innersten zusammenhält, noch wo sie aufhört. Sie ist viel eher eine Perspektive, aus der man Prozesse der Vergesellschaftung betrachten kann, als ein Objekt, das Resultat dieser Prozesse sein könnte. Was also meint die Rede von der »gespaltenen Gesellschaft« oder der drohenden »Spaltung der Gesellschaft«? Die Art und Weise, wie diese Figur im Diskurs jeweils eingebracht wird, lässt vermuten, dass es dabei sinnvoll nur um eine Problemdiagnose aus der Perspektive (national)staatlicher Politik gehen kann: Spaltung meint dann die Gefährdung der Kapazität kollektiv bindender Entscheidungen – also Unregierbarkeit. Auch in dieser eingeschränkten Sicht ist der Begriff nicht besonders erhellend in Bezug auf die bundesrepublikanische Gesellschaft der Gegenwart, aber es wird verständlicher, wie er als Formel strategisch im politischen Konflikt eingesetzt werden kann. Im kursorischen Vergleich mit den ähnlichen Begriffen »Parallelgesellschaft«, »Exklusion« und »Polarisierung« wird deutlich, dass die bekundete Angst vor der »drohenden Spaltung« als kommunikatives Manöver selbst eine Drohung ist, die Dissens und Widerspruch in der Sachdimension dadurch moralisch disqualifiziert, dass ihnen in der Sozialdimension die Gefährdung des als Gemeinwohl maskierten Staatswohls vorgeworfen wird.