Risse im Schleier der Erinnerung: zur Kritik der historischen Memorik
In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft: ZfG, Band 58, Heft 3, S. 201-221
ISSN: 0044-2828
Das erinnerungskritische Vorgehen wird im Beitrag an zwei Episoden aus der "Vita Willibaldi" exemplifiziert. Es sucht dort nach Realkennzeichen, wo das Unerwartete, Ungewöhnliche und Verstörende die meist unbewusst angewendeten kognitiven Schemata durcheinanderbringt. Erst vor der Folie des Typischen lässt sich das Untypische als inkongruent erkennen. Daher muss die Memorik die historisch sich wandelnden Formen der Weltdeutung, der Wissensordnung, also das, was als kognitives Schema die Wahrnehmungen steuert, in ihre Überlegungen einbeziehen. Doch für authentisches Erinnern ist nicht das Bild selbst von Belang, das sich Menschen zu einem gegebenen Zeitpunkt von ihrer Welt machen, sondern im Gegenteil das Ungewöhnliche, Nicht-Stimmige darin, dessen Verarbeitung die ganze Aufmerksamkeit verlangt, weil es dazu zwingt, die ausgetretenen Pfade der Kognition zu verlassen. Die größere Aufwendung kognitiver Ressourcen, die die Enkodierung schemainkongruenter Stimuli erfordert, kann dann allerdings mit einer stabilisierten Erinnerung belohnt werden. Das Schemainkongruente ist gewissermaßen der Riss im Schleier der Erinnerung, durch den hindurch man vielleicht auf etwas blicken kann, was man kühn als das Faktum ansprechen könnte. (ICF2)