Transfer der Moderne: Liberalismus und Tradition auf dem Balkan des 19. Jahrhunderts
In: Transit: europäische Revue, Heft 43, S. 70-88
ISSN: 0938-2062
Sowohl die Zeitgenossen wie die Forscher späterer Tage neigen dazu, die Vielfalt der Positionen zur Problematik der Übersetzung des westlichen Liberalismus durch die Modernisierer des Balkans unter zwei monolithische Gegenpositionen zu subsumieren, die je nachdem mit dem Etikett Modernisten gegen Traditionalisten, Westler gegen Autochthone oder Proeuropäer gegen Nationalisten versehen worden sind. Diese ideologischen Gegenpositionen wurden überlagert von künstlich polarisierten politischen Kategorisierungen wie die zwischen Progressiven, Liberalen und zukunftsgerichteten Linken einerseits und Reaktionären, Konservativen und traditionalistischen Rechten andererseits. Dichotomien wie diese sind wenig geeignet, die verschiedenartigen, häufig vermischten und ambivalenten Positionen der Modernisierungsepoche historisch zu rekonstruieren. Liberale Modernisierer und Proeuropäer waren nicht notwendigerweise für rücksichtslose Importe oder Verwestlichung, und Antiwestler waren häufig genauso eifrige Modernisierer wie ihre proeuropäischen Gegner. Der "Gebrauch der Tradition" durch die Liberalen zeigt, dass wir die politischen Debatten der Zeit besser verstehen, wenn man sie als ein Kontinuum von Positionen betrachtet, in dem die Extremfälle unkritischer Nachahmung oder radikaler kultureller und politischer Autarkie die Ausnahme waren und marginal blieben. (ICB2)