Die entwicklungspsychologischen Arbeiten Michael Tomasellos zur grundlegenden Normativität menschlicher Kooperation haben in den vergangenen Jahren interdisziplinäre Aufmerksamkeit erregt. Der Beitrag geht der Frage nach, inwiefern Tomasellos naturwissenschaftlich-empirisch fundierte Normativitätsforschung Anregungspotenzial für die Politische Theorie -und speziell für einen theoretisch gehaltvollen Begriff politischer Praktiken- bieten kann. Ein Begriff der impliziten Normativität gemeinsamer Praxis, wie er im Anschluss an die sprachphilosophischen Arbeiten Robert B. Brandoms seit längerem in der Diskussion ist, ließe sich, so die These, auf der Grundlage von Tomasellos Konzeption komplementär ergänzen.
Der Beitrag zeigt, dass und wie Urteilen als Praxis ein zentrales Element gemeinsamen Entscheidens bildet. Dazu wird zunächst geklärt, wie sich Urteilen als Handeln, als Urteilsakt, charakterisieren lässt. Zentrale Anknüpfungspunkte für einen Urteilsbegriff, der die Bedeutung der Praxis des Urteilens hervorhebt, findet die Autorin in der Sprachhandlungstheorie Robert Brandoms. Darüber hinaus liefert Brandoms Theorie aber auch ein Modell diskursiver Praxis, das als Grundlage für ein Modell gemeinsamen Entscheidens dienen kann. Die Überlegungen bauen dabei auf einer grundlegenderen These auf, nach der Entscheiden - sowohl als individuelles als auch als gemeinsames Handeln - auf drei zentralen Elementen basiert, die ineinander greifen: Wahl, Entschluss und Urteilen. Eine Entscheidung ist erstens eine Wahl zwischen verschiedenen Alternativen, im Akt der Entscheidung strukturiert das Wahlelement die Entscheidungssituation auf der materiellen Ebene (Ich entscheide mich für Option 1). Eine Entscheidung ist aber zweitens auch ein Entschluss, der die Entscheidungssituation auf der zeitlichen Ebene strukturiert (Ich entscheide mich jetzt, in dieser Situation). Drittens ist eine Entscheidung aber auch eine Form des Urteilens. Das Urteilselement strukturiert die Entscheidung auf der Ebene der Relation zwischen dem entscheidenden Akteur und dem zu entscheidenden Sachverhalt (Ich bin der Handelnde, der zu diesem Zeitpunkt entscheidet und in dieser Sache Option l für richtig hält und sich auf folgende Handlung festlegt). Über das dritte Element, das Urteilen, findet der Begriff der Erfahrung Eingang in die Definition des Entscheidungsbegriffs. Die Erfahrung in Form einer Rekonstruktion früherer Urteilshandlungen spielt eine wesentliche Rolle im Hinblick auf die Kritisierbarkeit des Urteilens als Praxis. Damit eine Entscheidung - auf der Grundlage früherer Erfahrungen - kritisierbar, korrigierbar und revidierbar wird, wird der Urteilsbegriff so definiert, dass er die Relation zwischen den entscheidenden Akteuren und dem zu entscheidenden Sachverhalt besonders hervorhebt. (ICA2)
"Als ethnographische Politikforschung wird ein interpretatives Verfahren verstanden, das aus zwei ineinander verschränkten Blöcken besteht: der teilnehmenden Beobachtung (Feldarbeit) und der interpretierenden Auswertung (Textarbeit). Angewendet wird das Verfahren vor allem dann, wenn es gilt, die alltägliche Praxis politischer Prozesse zu analysieren. Während die ethnographische Methode in benachbarten Disziplinen wie der Soziologie und der Ethnologie mittlerweile als gängige Vorgehensweise bezeichnet werden kann, ist ihr Einsatz in der Politikwissenschaft bisher noch nicht in größerem Umfang etabliert. Das Potenzial der Methode wird aber mehr und mehr erkannt: Als Alternative zu einer auf Interviews und Dokumentenanalyse beruhenden Herangehensweise bietet sie die Möglichkeit, Dynamiken und Eigenheiten der politischen Entscheidungsorte und -prozesse aufzuzeigen, die von den Akteuren und Akteurinnen in Interviews und den Verfassern und Verfasserinnen von Dokumenten in der Regel nicht berücksichtigt werden. Die Ursachen dafür sind weniger in einem auf bewusste Geheimhaltung zielenden Verschweigen zu suchen als darin, dass diese Aspekte nicht als berichtenswert erachtet oder erkannt werden, weil sie für die Akteure und Akteurinnen ganz selbstverständlich zu dem politischen Alltag gehören, in dem sie sich bewegen. Durch die ethnographische Herangehensweise, in der die Prozesse vor Ort beobachtet und in Feldprotokollen aufgezeichnet werden, besteht die Möglichkeit, das politische Alltagsgeschäft aus einer zwar kenntnisreichen, aber doch von außen kommenden Perspektive zu beleuchten. Die zentralen Materialien und Ressourcen, die in der Phase der Textarbeit ausgewertet werden, sind zum einen die erstellten Feldprotokolle, zum anderen aber auch die darüber hinausgehenden, nicht verschriftlichten intensiven Eindrücke, die die Forscherin aus ihrem Feldaufenthalt mitbringt. Die folgende Darstellung der ethnographischen Politikforschung konzentriert sich auf die Phase der Auswertung, also die Textarbeit. Der ethnographische Forschungsprozess zeichnet sich jedoch durch eine starke inhaltliche und zeitliche Verschränkung von Erhebung und Interpretation - von Feldarbeit und Textarbeit - aus, beide Phasen laufen über weite Strecken integriert ab. Daher fließen in die Beschreibung der Textarbeit verschiedentlich Erläuterungen ein, die dieser Verschränkung Rechnung tragen und auf Elemente der Feldarbeit eingehen." (Autorenreferat)