"Wie regieren Regierungen, wenn sie regieren? Was macht eine Regierung, um regierungsfähig zu werden bzw. zu bleiben? Der Artikel versucht, den Regierungsprozess mithilfe des Konzepts politischer Praktiken zu rekonstruieren. Politische Praktiken sind kollektive geteilte Frames, die durch erfahrungsgesättigtes Wissen entstehen und politisches Handeln in Institutionen strukturieren. Damit kann man die traditionelle Dichotomie von formellem und informellem Handeln unterlaufen, weil Institutionen nicht nur beschränken, sondern auch einen Horizont von kontingenten Handlungsmöglichkeiten eröffnen, der durch politische Praktiken strukturiert wird. Der Autor identifiziert sieben basale Praktiken, mit denen der Regierungsprozess organisiert wird (Abstimmungen, Belohnungen, Drohungen, Konfrontation, Vereinbarungen, Verhandlungen und Weisungen). Zudem wird versucht, Regierungsstile von Regierungen mithilfe von Praktikenkombinationen zu unterscheiden und insgesamt vier idealtypische Regierungsstile zu identifizieren, den 'navigatorischen', den 'anpasserischen', den 'administrativen' und den 'sich-durchwurstelnden', mit denen Regieren in modernen Gesellschaften typologisiert werden kann." (Autorenreferat)
"Friedbert Rüb rückt die Frage nach dem Zusammenhang von Kontingenz und politischem Entscheiden in den Vordergrund seiner Überlegungen. Hatte diese Verknüpfung im frühneuzeitlichen politischen Denken Machiavellis noch einen zentralen Platz eingenommen, so ist seine Vernachlässigung heutzutage häufig die Kehrseite des scientistischen Zugangs zur Politikanalyse. Ausgehend von der These, dass die Politik gegenwärtig von der zielorientierten Rationalität auf 'zeitorientierte Reaktivität' umstellt, spürt der Autor der Radikalisierung gesellschaftlicher Kontingenzerfahrung in den fünf Dimensionen räumlich, kognitiv, interaktiv, institutionell und temporal nach. Auf diese zeitdiagnostischen Ausführungen folgt die Weiterentwicklung der kontingenzsensibilisierten Policy-Analyse von John Kingdon und Nikolaos Zahariadis. Zu Ende gedacht sind die Implikationen für die Policy-Analyse dann vielfach weit reichender als eingangs vermutet, denn diese müsste nicht nur gründlich von der technokratischen Problemlösungsperspektive auf die Politik Abschied nehmen, sondern ferner auch den Anspruch einer möglichst umfassenden Rekonstruktion kausaler Wirkungsmechanismen aufgeben." (Autorenreferat)
In: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften: ZSE ; der öffentliche Sektor im internationalen Vergleich = Journal for comparative government and european policy, Band 6, Heft 1, S. 123-146
Der Autor diskutiert in seinem Aufsatz folgende Fragen: Findet gegenwärtig ein Wandel vom Wohlfahrtsstaat (WFS) zu einer neoliberal begründeten Privatisierung statt und wird der Wohlfahrtsstaat durch Märkte ersetzt, wie es viele gegenwärtige Analysen nahe legen? Oder haben wir es mit einem grundlegenden Wandel im Wohlfahrtsstaat zu tun? Und wenn ja, kann man die Herausbildung von Wohlfahrtsmärkten beobachten, also den Einbau eines dem Sozialstaat widersprechenden Prinzips in den Staat selbst? Welche Konsequenzen hätte dies für die Bereitstellung von sozialen Gütern und Dienstleistungen für die Bevölkerung? Der Autor geht von der Annahme aus, dass sich in der Bundesrepublik eine Transformation des Sozialstaates in bzw. dessen Ergänzung durch Wohlfahrtsmärkte vollzieht. Dies hat für die Bereitstellung und Anspruchsberechtigung von sozialen Leistungen weitreichende Folgen, die als "Re-Kommodifizierung" bezeichnet werden können. Der Autor zeigt zunächst aus historischer Perspektive, dass der WFS auch als Gegenspieler zu Märkten aufgefasst werden kann. Er betont aber auch, dass der WFS eher ein Beobachtungsschema von sozialer Ungleichheit und zugleich ein Verfahren darstellt, um diese Ungleichheit immer wieder neu zu denken und zu entscheiden, wie sich am Beispiel von einzelnen Bereichen der Sozialversicherung in der Bundesrepublik Deutschland zeigen lässt. (ICI2)
Der Verfasser weist einleitend auf die grundlegende Bedeutung horizontaler Kontrolle im liberalen Konstitutionalismus hin. Er untersucht im Folgenden die monistischen und doppelten Exekutiven in 17 Ländern Mittel- und Osteuropa, wobei er nach der konstitutionellen Stärke des Staatspräsidenten super-, semi- und premier-präsidentielle Regime unterscheidet. Dabei zeigt sich, dass insbesondere Belarus, Ukraine und Russland eine für demokratische Prozesse ungünstige Kumulation präsidentieller Kompetenzen aufweisen. In solchen Regierungssystemen ist keine ausreichende politische Kontrolle institutionalisiert, weshalb ihnen eine Tendenz zum Autoritarismus innewohnt. Bedenklich ist eine exekutiv ausgebaute Dekretmacht des Präsidenten besonders dann, wenn präsidentielle Dekrete nicht einmal veröffentlicht werden müssen. Abschließend wird aus handlungstheoretischer Perspektive gezeigt, dass direkt gewählte Staatspräsidenten für aus dem kommunistischen Regime kommende Eliten eine ideale Rückzugsinstitution sind. (ICE2)
Die Verfasserin untersucht den Kontext, der zwischen Gewalt und Staatlichkeit und den damit verbundenen fundamentalen Rechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit bzw. Sicherheit besteht. Sie geht den Fragen nach, wie neue Demokratien operieren, die auf einer schwach ausgebildeten Staatlichkeit aufgebaut sind, und wie (Markt)Wirtschaften funktionieren, in denen zentrale Rahmenbedingungen nicht gewährleistet sind. Es werden die Merkmale des modernen demokratischen Staates als rationale und unpersönliche Form politischer Herrschaft thematisiert. Anschließend werden die Stadien von Staatlichkeit analysiert und unterschiedliche Formen von 'Staatskristallisationen' identifiziert. Sie bilden das Macht- und Herrschaftszentrum von Gesellschaften, das nur als komplexer Handlungszusammenhang zu analysieren ist und nur unter bestimmten Bedingungen soziale Wirksamkeit entfaltet. Vor diesem Hintergrund wird das Konzept der 'künstlichen Staaten' sowie die Wirksamkeit von Staatlichkeit dargestellt. Ausgehend von dem Konzept von Staatsaufgaben wird der Staat als relationale Beziehung zur Gesellschaft, als komplexer Handlungszusammenhang konzeptionalisiert. Zum Schluss werden die Faktoren diskutiert, die für erfolgreiche oder gescheiterte Staatsbildung bzw. -kristallisationen in Demokratisierungsprozessen verantwortlich sind. (ICG2)
"Die Wirklichkeit der Politik ist eine Politik mit 'Wirklichkeiten' - in diesen knappen Satz lässt sich die Grundannahme der Wissenspolitologie bündeln. Sie reiht sich in eine ganze Reihe ähnlich gelagerter Konzepte ein, in denen Wissen bzw. wissens- und erfahrungsbasierten Wirklichkeiten keine ontologische Wahrheitsqualität zugesprochen wird. Vielmehr werden sie als Wirklichkeitskonstrukte betrachtet, die 'passen', mit denen man also mehr oder weniger erfolgreich in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen operieren kann. Zu diesen Ansätze gehören etwa die wissenssoziologisch begründete Diskursanalyse Keller, wissens- oder lernbasierte Ansätze in der Policy-Analyse oder argumentative Politikkonzepte. Von diesen Konzepten unterscheidet sich die Wissenspolitologie dadurch, dass sie das 'Politische' ernster nimmt. Sie begreift Politik als die Form menschlichen Handelns, die in eine bestehende Macht- und damit Wirklichkeitskonstellation neue 'Wirklichkeiten' einführt und dadurch den Status Quo herausfordert, um ihn zu verändern und neue Machtkonstellationen zu bewirken. Welche Wirklichkeitskonstruktionen in der Politik gewählt und wie Wirklichkeiten konstruiert werden, hängt vom jeweiligen Kontext ab und ist nicht als exogen fixierte Präferenz politischer Akteure vorgegeben. Von den sozial-konstruktivistischen Ansätzen von Alfred Schütz, Peter L. Berger und Thomas Luckmann u.a. unterscheidet sich die Wissenspolitologie grundlegend, weil bei ihr Wissenskonstruktionen nicht in erster Linie der Sinnhaftigkeit des Handelns dienen, sondern als strategische Optionen gewählt werden können, um in einem gegebenen politischen Kräftefeld ein Maximum an Macht zu realisieren. Der Vorteil der Methode ist darin zu sehen, dass sie das analytische Hauptaugenmerk auf das zentrale Medium der Politik lenkt, die Sprache. Sprache ist allgegenwärtig: Im einzelnen Gesetzestext, in der Programmatik der Parteien, in der öffentlichen Meinung und in der gesprochenen politischen Rede. Das bevorzugte empirische Material sind daher politische oder politisch relevante Texte und die Wissenspolitologie versucht, diese auf ihre Bedeutungsstrukturen hin zu entschlüsseln. Hierbei verwendet sie verschiedene qualitative Verfahren, die in der sozialwissenschaftlichen Inhalts- und Diskursanalyse gängig sind (siehe 'Diskursanalyse' und 'Sequenzanalyse') als auch quantitative Verfahren. Im Zentrum steht immer der Versuch, mittels dieser Techniken den Wandel von Wissensbeständen zu rekonstruieren und dadurch den Wandel einzelner Policies zu erklären. Statt der Konzentration auf Macht lenkt die Wissenspolitologie den Schwerpunkt der empirischen Forschung auf die gesprochene oder gedruckte Sprache, typologisiert deren Ausdrucks- und Erscheinungsformen, fragt nach deren Wirkung und Geltung in machtdurchwirkten Kontexten und erklärt die Konstanz oder den Wandel von Policies kausal aus veränderten Wissenskonstellationen, die gleichwohl an bestimmte Akteure rückgebunden werden (können)." (Autorenreferat)
Der Autor untersucht in Anlehnung an Michel Foucault und Francois Ewald die Ausgestaltung einer "Programm- und Diagrammrationalität" im semantischen Wandel des Wohlfahrtsstaates, d.h. im Rahmen seiner Selbstbeschreibungen, institutionellen Praktiken und damit verbundenen Konzeptionen von Politik. Er beschreibt zunächst die Rolle der individuellen Verantwortlichkeit und des Haftungsrechts in der liberalen Semantik des Wohlfahrtsstaates und skizziert die Bausteine des "liberalen Diagramms" der Risikoregulation. Er thematisiert anschließend den Wandel der Semantik von "Risiko" und "Versicherung", der durch deren Übernahme in den staatlichen Bereich entsteht und sich als neue politische Form des Sicherungsstaates niederschlägt. In der "Zweiten Moderne" mutiert dieser nach der These des Autors zum Staat des Risikomanagements, der sich nicht mehr mit der Kompensation sozialer Risiken beschäftigt, sondern reflexiv wird und sich zunehmend mit den Folgen seiner eigenen Risikokompensation konfrontiert sieht. Der Autor diskutiert ferner die sozialpolitischen Folgen dieser Entwicklung, die seiner Meinung nach vor allem in der Ausdifferenzierung einer ehemals einheitlichen sozialen Statusordnung bestehen. (ICI2)