Einiges zur Entwicklung der politischen Kultur in Bulgarien
In: Politische Kultur in Südosteuropa: Identitäten, Loyalitäten, Solidaritäten, S. 195-214
Der Autor stellt unterschiedliche Optionen bezüglich der Herangehensweise an das Thema zur Diskussion und entscheidet sich für jene, die der Periodisierung der Geschichte des Landes entspricht. Die Darstellung basiert auf geschichtswissenschaftlichen Publikationen. Er unterscheidet folgende Entwicklungsphasen: (1) die paganistische, (2) die byzantinisch-bulgarische, (3) die osmanische und (4) die neuzeitliche. Der erste Zeitabschnitt begann 681 mit der Gründung des bulgarischen Staates und dauerte etwa bis zur Bekehrung zum Christentum im Jahr 865/866 an. Die Phase war durch die starke Dominanz der sog. 'Protobulgaren' gekennzeichnet, die ihre Verwaltungs- und militärischen Traditionen durchsetzten, die jenen von Hunnen und Awaren ähnelten. Die zweite Periode umfasst die rhomänische Herrschaft und die Geschichte des Zweiten Bulgarischen Reiches, in der sich das byzantinische Modell der politischen Kultur eindeutig durchsetzte. Die Christianisierung führte zu wesentlichen Veränderungen in der staatlichen Organisation der Bulgaren - sowohl im Hinblick auf ihre institutionelle Struktur als auch auf die politische Praxis. Die byzantinische Herrschaft nivellierte die Unterschiede zwischen den Protobulgaren und den Slawen. Die Wiederherstellung der kaiserlichen Macht 1185 hatte zur Folge, dass sich die Merkmale des 'oströmischen Modells' der politischen Kultur durchsetzten. Das Ende dieses Zeitabschnitts war durch die Tatsache gekennzeichnet, dass das Land in mehrere Kleinstaaten aufgeteilt wurde, was den Siegeszug der Osmanen erleichterte. Die dritte Zeitspanne ist jene der Osmanischen Herrschaft. Die Isolation von den geistigen Zentren Europas führte zu einer 'Konservierung' der traditionellen Volkskultur, die orientalische Einflüsse aufnahm. In diesem Zeitraum haben sich Einstellungen zu dem politischen System herausgebildet, die den Umgang mit der Staatsgewalt als mit fremder Macht und Last legitimierten. Diese Merkmale trafen bis zu einem gewissen Maße auf die osmanische Herrschaft zu. Sie überlebten jedoch die sozialen und politischen Umstände ihrer Entstehung und prägten gewisse Züge der politischen Kultur bis in die Gegenwart. Die neuzeitliche Epoche in der bulgarischen Geschichte beginnt mit der so genannten 'nationalen Wiedergeburt'. Zuerst war es die Besinnung auf eine längst vergessene Vergangenheit, die durch die Auseinandersetzung mit der 1762 verfassten slawisch-bulgarischen Geschichte erfolgte. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde durch die Entstehung der bulgarischen Kirche der Grundstein zur konfessionellen Autonomie gelegt. Die bulgarische Nation hat sich herausgebildet, bevor ihr Staat entstand. Die Modernisierung der bulgarischen Gesellschaft begann bereits während der Osmanenzeit und intensivierte sich mit der Gründung des Nationalstaates. Zum Ausgang des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfuhr die Nation eine rasche Entwicklung, die durch die selektive Übernahme europäischer Muster gekennzeichnet war. (ICG)