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Marx scheint sich im Kapital in einem Selbstwiderspruch zu bewegen: Einerseits charakterisiert er das Kapitalverhältnis in einer Weise, die moralische Empörung und Kritik ausdrückt, andererseits vertritt er seinem Selbstverständnis nach eine materialistische Wissenschaft, für die Moral und ihre Begründung durch die philosophische, normative Ethik nur noch als Gegenstand von Ideologiekritik taugen. Die seit Ende des 19. Jahrhunderts währende Debatte über die vermeintlichen oder wirklichen normativen Grundlagen der Kapitaltheorie hat zu keiner in der Sache überzeugenden Antwort geführt, sondern nur zu einer Vielzahl von einander widerstreitenden Positionen. Bei aller Divergenz ist dem Gros der Positionen gemeinsam, dass sie zwischen dem ›marxschen Denken‹ und der Theorie, in die dieses Denken mündete, nicht unterscheiden. Dem widerspricht diese Arbeit. Zwischen dem Denken des Theoretikers und seiner Theorie ist in dem Moment zu unterscheiden, in dem die Theorie nicht mehr nur Gegenstand eines motivgeschichtlichen, ideengeschichtlichen oder methodologischen Interesses ist, sondern die Wahrheitsfrage an sie gestellt wird. Frank Kuhne zeigt, dass die Kapitaltheorie der Sache nach von einem emphatischen Begriff praktischer Subjektivität abhängig ist, wie er zuerst von Kant eingeführt wurde. ›Der Sache nach‹ heißt: Dieser Begriff ist für die Kapitaltheorie konstitutiv. Dagegen wird nicht behauptet, Marx sei im Grunde seines Herzens ein Kantianer gewesen. Das war er ganz sicher nicht.
In: Nomos eLibrary
In: Soziologie
Im Frühjahr 2020 leitete Deutschland drastische Schritte zur Bekämpfung des COVID-19-Virus ein. Seitdem sind viele der tief in die Alltagswirklichkeit eingreifenden Ausnahmemaßnahmen selbst zur gesellschaftlichen Routine geworden. Schnell wurde dafür das Schlagwort einer »neuen Normalität« gefunden. Doch was bezeichnet diese Chiffre? Eine Art Zwischenzeit? Oder doch den Korridor zu einem neuen sozialen Zustand, über den noch kaum belastbares Wissen vorliegt? Im vorliegenden kulturtheoretisch und diskursanalytisch angelegten Essay geht Jörn Ahrens dem Konzept Neue Normalität nach. Er rekonstruiert dessen begriffsgeschichtlichen Hintergrund, untersucht es als Ausdruck einer Störung, mithin einer Krise des Sozialen und fragt nach seinen sozialen Eigenschaften. Durch Reflexion auf die Bedingungen von Normalität überhaupt kann er so Neue Normalität als ein biosoziales Gouvernementalitätsregime kenntlich machen. Indem dieses das Unberechenbare als gewöhnlich ausgibt, wird das Unheimliche zum Modus der Vergesellschaftung.
In: Unrechtserfahrung in transkultureller Perspektive
Welche kritische Funktion hat die Philosophie in autoritär regierten Staaten? Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen dieser Frage im Kontext arabischer Diktaturen und ihrer Nachfolgegesellschaften nach. Sie erörtern die Bedeutung erlittenen Unrechts für die Philosophie und konfrontieren die historische Erfahrung mit der Erfahrung des Denkens. Die Autor:innen untersuchen philosophische An- und Enteignungsstrategien von komplexen Themen wie Aufklärung, Freiheit oder Frauenrechte. Sie setzen sich mit unterschiedlichen Dimensionen der Kritik auseinander und zeigen im Rückgriff auf arabische und europäische Denktraditionen, welche Aufgaben Kritik bei ausgewählten zeitgenössischen arabischen Denker:innen hat. Darüber hinaus reflektieren Philosoph:innen über ihre persönliche Unrechtserfahrung. Ihre Zeitzeugenberichte sind erst in einer Post-Diktaturphase möglich geworden und liegen erstmalig in deutscher Übersetzung vor. Mit Beiträgen von Zeïneb Ben Saïd-Cherni, Sarhan Dhouib, Franziska Dübgen, Fatna El-Bouih, Nadia El Ouerghemmi, Steffi Hobuß, Elizabeth Suzanne Kassab, Salah Mosbah, Sarah Schmidt, Fathi Triki und Rachida Triki.
In: Nomos eLibrary
In: Soziologie
Die Entstehung des europäischen Bürgertums ist ohne Zünfte und Gilden nicht denkbar. Diese frühen Formen genossenschaftlicher Selbstorganisation haben bei den Klassikern der Soziologie und innerhalb jener sozialistischen Bewegungen, die sich nicht auf Marx beriefen, eine bis heute unterschätzte Rolle gespielt. Der Blick zurück ins Mittelalter und auf das bemerkenswerte Interesse vieler Soziolog/innen an genossenschaftlichen Modellen dient nicht der romantischen Verklärung, sondern erlaubt intellektuelle Lockerungsübungen angesichts der angeblichen »Alternativlosigkeit« unserer Lebensverhältnisse. Die Krise der Demokratie verweist auf eine gewisse kulturelle Bedürfnislosigkeit, auf einen historischen Gedächtnisverlust, auf Sorglosigkeit im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit gesellschaftlicher Institutionen. Das Thema Zünfte, Gilden und Genossenschaften ist jedenfalls mehr als geeignet, die gegenwärtige Debatte über die »Zukunft des Kapitalismus« in ein anderes Fahrwasser zu lenken. Mit Beiträgen u.a. von Knut Schulz (Kommune, Gilden und Zünfte im Mittelalter), Heinz-Gerhard Haupt (Das Ende der Zünfte), Otto Gerhard Oexle (Tönnies, Simmel, Durkheim und Max Weber über Berufsmoral, Solidarismus und Genossenschaften), Niklas Luhmann (Mein Mittelalter), Richard Vernon (G.D.H. Cole und der Gildensozialismus), Christiane Mossin (Ein Brief G.D.H. Coles an einen Freund), Susanne Elsen (Genossenschaften in Italien), Oscar Kiesewetter (Das Potential von Genossenschaften), Markus Römer (Die heutige Dynamik des traditionellen Gesellenwanderns), Kurt Biedenkopf (Die Genossenschaftsidee) und einem Vorwort von Ingo Schulze (Gegen Alternativlosigkeit).