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Über kein sozialwissenschaftliches Projekt der letzten achtzig Jahre ist in den Medien so viel berichtet worden wie über »Wittenberge«. Die ehemalige Industriestadt an der Elbe zwischen Hamburg und Berlin, deren Einwohnerzahl infolge der Deindustrialisierung nach 1990 auf 19 000 geschrumpft ist und sich damit nahezu halbierte, war in der DDR bekannt für das Nähmaschinenwerk Veritas. Von 2007 bis 2010 beobachteten und untersuchten Soziologen und Ethnologen die Veränderungen in der ostdeutschen Industriestadt, wie Menschen mit dem Umbruch umgehen, welche Überlebensstrategien sie entwickeln, welche Bedeutungen Familie, Gemeinschaft, Selbsthilfe und charismatischen Personen in solch einem Prozess zukommen. In diesem Band werden nicht nur die Ergebnisse der Wittenberge-Studie vorgelegt, die Autoren fragten sich auch, inwiefern Wittenberge als Modell einer fragmentierten Gesellschaft dienen kann, und machten sich auf nach Europa: Wie wird in Pirmasens (Rheinland-Pfalz) und London, in Dänemark, Polen und Rumänien mit Deindustrialisierung, Schrumpfung und sozialer Ausgrenzung umgegangen? "Die Soziologen haben über Wittenberge, dessen Nähmaschinenwerk einst das modernste Europas war, Erstaunliches herausgefunden: 'Es ist der Abschied von der Bonner Republik, erzählt aus der Perspektive einer Stadt, die diese Bonner Republik nie kannte und dennoch exemplarisch für ihre Verabschiedung steht'" (taz)

Die Industrieansiedlungspolitik in der DDR folgte anderen als marktwirtschaftlichen Überlegungen - Aufhebung der Unterschiede zwischen Stadt und Land, breitflächige Streuung industrieller Anlagen etc. -, so dass im Ergebnis auch außerhalb der Landwirtschaft Industriebetriebe im ländlichen Raum dominierten. Ihr Ende nach der Wende hinterließ damit postindustrielle Strukturen. Der Beitrag belegt die These, dass nach der Wende die "Arbeitsgesellschaft" der DDR nirgends so gründlich zerstört worden ist wie in den ländlichen Gebieten jenseits der Großstädte. Die Ghettos in Ostdeutschland sind die ländlichen Räume, wie die großstädtischen Ghettos in den USA oder die vorstädtischen Randgebiete Frankreichs Resultate des Zerfalls industrieller und arbeitsgesellschaftlicher Strukturen sind. In diesem Klima wachsen rechtsradikale Gewalt und die Etablierung einer "süchtigen Gesellschaft" mit einer Drogenszene im städtischen Ausmaß. (ICA)

Das Gesellschaftsempfinden ist am Anfang unseres Jahrhunderts von der Vorstellung beherrscht, daß sich über die alte Unterscheidung von Oben und Unten die neue von Drinnen und Draußen legt. Quer durch die Schichten und Milieus zieht sich eine Spaltung zwischen denen, die von den Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse profitieren, und jenen, die nicht mithalten können. Die Provokation des Exklusionsbegriffs besteht darin, daß er eine Verbindung zwischen Rand und Mitte der Gesellschaft herstellt.Was man einst als Randgruppenphänomen von sich weisen konnte, hat die Mitte der Gesellschaft erreicht. Man erlebt schrittweise Degradierungen, die plötzlich eine Schwelle ins soziale Aus überschreiten. Die »Überflüssigen« haben keinen angestammten Ort, nur noch ein gemeinsames Schicksal. Heinz Bude ist Professor für Soziologie an der Universität Kassel und Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Andreas Willisch ist am Thünen-Institut Bollewick tätig.

Die Landschaft der sozialen Ungleichheit hat sich dramatisch verändert. Nicht nur die Schere zwischen Armen und Reichen öffnet sich immer weiter, eine wachsende Anzahl von Menschen verliert auch den Anschluss an den Mainstream unserer Gesellschaft. Sie leben an den Rändern der Großstädte, in den Neubaugebieten des sozialen Wohnungsbaus - in Gegenden mit hoher Arbeitslosigkeit oder massiver Unterbeschäftigung, mit maroden Schulen und demollierten Bahnhöfen. Hier treffen ökonomische Marginalisierung, räumliche Abschottung und der Verfall der Zivilgesellschaft zusammen.

"Anna Eckert und Andreas Willisch untersuchen in ihrem Beitrag die Veränderungen der individuellen Lebensführung in Zeiten des Umbruchs. Sie gehen dabei der Frage nach, wie sich die Umbruchsprozesse Exklusion, Fragmentierung und Schrumpfung auf die alltägliche Lebensführung auswirken. Dabei geht es insbesondere um den Umgang mit Arbeitslosigkeit oder prekären Arbeitsbedingungen. Als Beispiel dient die norddeutsche Kleinstadt Wittenberge, in der 1991 und 1992 etwa 6.000 Angestellte aufgrund der Schließung dreier industrieller Betriebe ihre Arbeit verloren. Die Betroffenen schlugen in der Folge ganz unterschiedliche Wege ein, um sich selbst zu helfen und ihr Leben neu zu ordnen. Der erste Weg ist der mehrerer Nebenjobs, wie ihn die 56-jährige Doris Vogel, ehemalige Lackiererin, geht. Sie verdient mithilfe verschiedener kleinerer Jobs etwas zu ihren Arbeitslosengeld II-Bezügen dazu, ohne je ganz die Hoffnung auf eine 'richtige', unbefristete Stelle aufzugeben. Ihre Arbeitsfähigkeit ist ihr sehr wichtig. Der 46-jährige Horst Kramer entschied sich dagegen für das Gemeinschaftsprinzip. Regelmäßige Treffen mit Nachbarn strukturieren seinen Tag und sind eine Quelle für Selbstbewusstsein und gesellschaftliche Teilhabe. Das dritte Prinzip schließlich ist das der körperlichen Reinheit, bei dem sich alles darum dreht, dass der Körper gesund und leistungsfähig bleibt. Andrea Jahn, die diesem Prinzip folgt, schöpft aus ihrer guten körperlichen Verfassung Kraft und Zufriedenheit. Alle Lebensführungsmodelle beruhen auf Selbsthilfe, dienen der Strukturierung des prekären Alltags und bieten ein Stück weit Sicherheit" (Autorenreferat)

Der Beitrag zur Lage in Ostdeutschland befasst sich mit der demographischen Entwicklung in den 'neuen' Bundesländern. In einem ersten Schritt wird zunächst die besorgniserregende Bevölkerungsentwicklung in ihren Grundzügen beschrieben und als Naturalisierung eines sozioökonomischen Umbruchs bezeichnet. Der zweite Schritt liefert Fakten zur Ost-West-Wanderung in Deutschland für den Zeitraum 1988 bis 2005 mit besonderem Blick auf die dramatische Schrumpfung der Städte. Der dritte Schritt beleuchtet den Zusammenhang von demographischem Wandel und wirtschaftlicher Entwicklung in den ostdeutschen Stadtregionen. Der vierte Schritt skizziert abschließend die Schrumpfungsszenarien und liefert Gestaltungsansätze für den entsprechenden Stadtumbau. Die mit dem demographischen Wandel und der Schrumpfung verbundenen Probleme werden brisant, wenn sie mit wirtschaftlicher Stagnation verbunden sind. Sie sind lösbar, wenn neue Entwicklungsrichtungen erprobt und eingeschlagen werden. Dafür aber bedarf es einer Reform der Planungs-, Verwaltungs- und Beteiligungsverfahren, einer Reorganisation der sozialen Beziehungen der Akteure. (ICG2)

Der Beitrag zur Lage in Ostdeutschland befasst sich unter der Hinzuziehung von statistischem Datenmaterial mit den neuen sozialen Problemlagen in den 'neuen' Bundesländern. So werden in einem ersten Schritt zunächst einige der wichtigsten Problemfelder und Befunde dargestellt. Dazu gehören (1) die Arbeitslosigkeit, (2) gespaltene Arbeitsmärkte, (3) Qualität und Bedingungen der Arbeit in den Betrieben, (4) Einkommen bzw. Einkommensentwicklung, (5) Entwicklung der Altersrenten sowie (6) Probleme der Integration der nachwachsenden Generation. Im zweiten Schritt werden die seit den 1980er Jahren entstehenden neuen sozialen Problemlagen in ein Modell des Umbruchs des Wirtschafts- und Sozialmodells eingeordnet und der 'sekundäre Integrationsmodus' als Bewegungs- und Bearbeitungsform vorgestellt: als 'Exklusion durch (sekundäre) Integration', verbunden mit Erosion und partieller Aufhebung der in der fordistischen Ökonomie begründeten Maßstäbe für Teilhabe. Damit wird ein konzeptioneller Zusammenhang zwischen den Einzelbefunden zur sozialen Entwicklung in Deutschland und speziell in Ostdeutschland hergestellt. (ICG2)

In Ostdeutschland verläuft eine hochgradig fragmentierte gesellschaftliche Entwicklung, wobei sich die Fragmente zueinander autoaggressiv verhalten, sie behindern und verzerren sich. Diese Entwicklung lässt sich sowohl in der Erwerbsarbeit als auch in der Wirtschaft erkennen. Die Ursachen für die fragmentierte Entwicklung liegen darin, dass Ostdeutschland das westdeutsche Wirtschafts- und Sozialmodell zu einer Zeit übernommen hat, als die Bedingungen für sein Funktionieren nicht mehr hinreichend bestanden. Das alte fordistische Wirtschafts- und Sozialmodell bestimmte zwar immer noch die institutionellen Grundstrukturen der Bundesrepublik Deutschland, funktionierte aber schon lange nicht mehr. Die künftige Entwicklung in Ostdeutschland hängt von der Fähigkeit zum kreativen Um- und Neubau ab. Aufbau Ost und Umbruch der Wirtschafts- und Sozialsysteme sind nicht voneinander zu trennen. Ein neuer Umgang mit den Problemen der Erwerbsarbeit, der Arbeitslosigkeit und der selbst organisierten Gemeinwohl orientierten Arbeit ist der wichtigste Schritt, um die Aktivierung und Akkumulation von "sozialem Kapital", des Entstehens von Selbstorganisation, Netzwerken und Bürgerbeteiligung zu erreichen. (ICF)

Der rasche Strukturwandel der ländlichen Regionen mit seinen längerfristig kaum absehbaren, widersprüchlichen Folgen führt zu der Frage, inwieweit die Agrarsoziologie in der Lage ist, diesen Wandel zu erfassen und Gestaltungsalternativen in die öffentliche Diskussion einzubringen. Eine Soziologie der ländlichen Gesellschaft, d.h. der Funktionsweise der Interaktionen zwischen einzelnen sozialen Gruppen und Organisationen, zwischen Unternehmen, Betrieben, Gemeinden, Vereinen und Bevölkerung ist nach Ansicht der Autoren bislang kaum zu finden. Ihrer These zufolge werden gelungene wie krisenhafte Verläufe des Strukturwandels deshalb nur unzureichend verstanden, da die Unternehmen wie auch einzelne soziale Gruppen isoliert betrachtet werden. Ein genaues Verständnis ist jedoch ohne eine Analyse der sozialen Dynamiken im Zusammenhang von ländlicher Wirtschaft und ländlicher Gesellschaft nicht möglich, wie im vorliegenden Beitrag anhand von Beobachtungen aus Mecklenburg-Vorpommern verdeutlicht wird. Es wird gezeigt, dass die Krisen der ländlichen Regionen Ostelbiens nicht Ausdruck eines Modernisierungsrückstandes, sondern Folge von Modernisierungen sind, die zu einer Verödung der ländlichen Gesellschaft und Ghettoisierung der Landbevölkerung führen. (ICI2)