Der kulturanthropologische Zugang zu Multilokalität fokussiert die Perspektive des handelnden Individuums, das zur Herstellung von sozialem Sinn sich ihm bietende Raumressourcen nutzt. In seiner theoretischen Herleitung und Ausformulierung wird der Begriff zu einem Instrument der Erfassung gesellschaftlicher Dynamik. Als Facette einer spätmodernen Lebensweise, die schichtenübergreifend unterschiedliche Altersund Interessengruppen umfasst, lässt sich multilokales Wohnen als Kulturtechnik sinnhaften Handelns beschreiben, die der Nutzung von Gegenwartsmöglichkeiten ebenso wie der Bewältigung ihrer Anforderungen dient. Alternierende, häufig transnationale Wohnpraktiken ermöglichen in diesem Sinne Handlungs- und Denkspielräume, die einen distanzierenden Ausgleich zu bindenden Alltagsanforderungen darstellen.
'Die Enttarnung der You Tube-Userin Lonelygirl15 als Fake im Jahr 2006 wurde innerhalb der Community kontrovers diskutiert, mit zum Teil deutlich ablehnenden Worten kommentiert und sorgte sogar in Printmedien und Fernsehen für Aufsehen. Spätestens seit diesem Zeitpunkt befindet sich das Social Networking Portal in einem Aushandlungsprozess, in dem die Frage nach der 'Echtheit' der bei YouTube geposteten Videobeiträge im Zentrum steht. Rekurrierend auf den Authentizitätsdiskurs in der Kulturanthropologie/ Europäischen Ethnologie, speziell im Bereich (massen)medialer Repräsentationen, behandelt dieser Beitrag den medienspezifischen Kontext von YouTube als einen prominenten Bestandteil des als sozialisiert kolportierten Web 2.0. Er stellt dar, wie dieser Kontext signalisierte, das Bedürfnis nach einer als echt empfundenen Seherfahrung befriedigen zu können und skizziert die Strategien der Authentifizierung für das Format Videotagebucheintrag. Schließlich wird deutlich, dass ein als unecht empfundenes Kommunikat Auswirkungen sowohl auf die an YouTube herangetragenen Rezeptionserwartungen als auch auf den Rezeptionskontext hat.' (Autorenreferat)
Der Artikel greift mit dem von Heather Paxson skizzierten Konzept der Mikrobiopolitik eine biopolitische Rezeptionslinie innerhalb des Fächerkanons der Kulturanthropologie und Europäischen Ethnologie auf, um zu hinterfragen, welche Praktiken und Politiken sich auf den regulierenden Eingriff in die Interaktionsbeziehung zwischen Menschen und Mikroben gründen. Die Idee der Mikrobiopolitik knüpft an naturwissenschaftliche sowie ethnografische Befunde an, die den Beitrag von Mikroorganismen zu Prozessen von Krankheit und Gesundheit, Evolution, Körpern und Körperpraktiken fokussieren. Basierend auf der Annahme, dass Viren und Menschen in enger wechselseitiger Beziehung zueinander stehen, wird das Beispiel der Influenza-Viren herangezogen, um zu diskutieren, auf welche Weise Viren an der Gestaltung des menschlichen Körpers sowie der Produktion von wissenschaftlichem Wissen beteiligt sind. Im Vergleich zwischen Mikrobiopolitik und Biopolitik zeigt sich, dass beide Perspektiven von der Prämisse ausgehen, dass Lebens- und Körperprozesse zum Gegenstand von Macht- und Wissensordnungen werden und damit möglichen politischen Interventionen einen Ansatzpunkt bieten. Beide Perspektiven unterscheiden sich jedoch darin, welche Lebensprozesse als relevant gelten, in welchen Zusammenhängen sich diese problematisieren lassen und welche Potenziale ihnen zugeschrieben werden. Für eine Mikrobiopolitik von Infektionskrankheiten steht dabei weniger das pathogene Potenzial von Mikroorganismen im Vordergrund, als vielmehr das biosoziale. ; ABSTRACT The article takes up, through the concept of microbiopolitics outlined by Heather Paxson, a line of biopolitics reception within the framework of Cultural Anthropology and European Ethnology, to investigate what policies and practices are based on medical regulated intervention in relationship within the interactions between men and microbes. The idea of microbiopolitcs is based on both natural-sciences diagnostics and ethnographic studies, putting the focus on the contribution of microorganism on disease processes and health, development, bodies and body practices. Based on the assumption that viruses and men are in close mutual relationships with one another, we take the example of the influenza virus, in order to discuss how viruses take part in the configuration of human bodies, as well as the production of scientific knowledge. In the comparison between microbiopolitics and biopolitics is shown that both perspectives are based on the premise that the body processes and life becomes the subject of orders of Power and Knowledge, and because of that, they are political interventions, which provide a starting point. However, they differ both perspectives in which processes of life are considered relevant, in which relationships they can be problematized and which potentials can be attributed to them. For a microbiopolitics of infectious disease which takes the spotlight is not much potential pathogenic microorganism, but the biosocial.
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 4673-4683
"Wirft man einen genaueren Blick auf Durkheim und seine Schüler, so stellt man fest, dass diese nicht - wie vielfach vermutet - reine Antipoden lebensphilosophischen Denkens sind, sondern rationalitätskritische Elemente der Lebensphilosophie aufnehmen und soziologisch zu überwinden versuchen. Durkheims Begeisterung für Schopenhauer zum Beispiel ging soweit, dass er von Studenten 'Schopen' genannt wurde. Lebensphilosophische Motive finden sich ferner in der kollektiven Efferveszenz oder in den von Mauss beschriebenen Tauschformen des Potlatsch, die Züge des Dionysischen tragen. Noch deutlicher ist die Verbindung zwischen Lebensphilosophie und Durkheimscher Soziologie bei dem Durkheim-Schüler Robert Hertz, der ein begeisterter Leser von Friedrich Nietzsche ist. Es ist vor allem die von Hertz vorbereitete Verknüpfung von Nietzsche und Durkheim-Schule, die die theoretische Basis für die 'Sakralsoziologie' des 1937 von Bataille, Klossowski und den Mauss-Schülern Caillois und Leiris gegründeten Collège de Sociologie bildet. Diese verfolgen das Ziel, die vom Zivilisationsprozess zurückgedrängten, aber in den Tiefenschichten des Sozialen noch schlummernden Lebensenergien kollektiver Erregung, die die Durkheim-Schule lediglich in 'primitiven' Gesellschaften untersucht habe, für moderne Vergemeinschaftungsformen (politisch) nutzbar zu machen. Sie interessieren sich insbesondere für die in Durkheims Soziologie aufblitzenden vitalistischen Momente schöpferischer Lebensgestaltung, wie sie Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie dem Dionysischen zugeschrieben hat. Auch die Zeitschrift des Collège, Acéphale, forciert eine 'Wiedergutmachung Nietzsches', um dessen Denken vor faschistischer Vereinnahmung zu retten. Damit nehmen sie nicht nur die Nietzsche-Rezeption postmoderner Theoretiker (wie Foucault, Deleuze) um Jahrzehnte vorweg, sondern legen auch die Grundsteine späterer soziologischer Theorien, die an Durkheim und Nietzsche anknüpfen, wie jüngst die umstrittene Soziologie Maffesolis. Der Vortrag wird die skizzierten Verbindungen zwischen der Durkheim- und Nietzsche-Rezeption in Geschichte und Gegenwart der Soziologie analysieren und vertiefen." (Autorenreferat)
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 4716-4725
"Der Sozial- und Gesellschaftstheorie ist es keineswegs äußerlich, welchen Begriff des (menschlichen) Lebens sie zugrunde legt. Aus impliziten oder expliziten anthropologischen Annahmen resultiert je ein anderes Bild des Sozialen; sind je andere Phänomene für Vergesellschaftung grundlegend; hat die Gegenwartsgesellschaft je einen anderen Charakter; erscheint das Spannungsverhältnis von Leben und Gesellschaft je anders; wird je eine andere Gesellschaftskritik notwendig. Zu beobachten sind gegenwärtig mindestens drei Anthropologien, die in soziologischen Theorien vorausgesetzt sind: unter Rezeption der vitalistischen Lebensphilosophie die Historische Anthropologie bei Foucault, Deleuze, Agamben; unter pragmatistischer Rezeption der Evolutionsbiologie die Soziologische Anthropologie bei Mead und Claessens; unter Transformation des deutschen Idealismus die Philosophische Anthropologie bei Scheler, Plessner und Gehlen. Die theoriegeschichtlich-systematische Rekonstruktion der konträren Anthropologien macht Vorentscheidungen in Gesellschafts- und Sozialtheorien explizit. Die Konzeptionen menschlichen Lebens differieren bereits in der Entscheidung, von wo aus der Blick auf den Menschen ansetzt: Historische Anthropologie setzt an der konstruktiven Unerschöpflichkeit des Menschen bis in seine organische Natur hinein an (historisches Apriori); Soziologische Anthropologie setzt an der Mitwelt, der kollektiven symbolischen Interaktion an, die bereits im subhumanen Leben als Soziales angelegt ist (soziologisches Apriori); Philosophische Anthropologie setzt an der (auch sozialkonstitutiven) Verschränkung von organischer Natur und Kultur an. Die systematische Rekonstruktion erlaubt im zweiten Schritt eine reflexive Konzeption des Sozialen und eine reflexive Analyse der Gesellschaft. Aus der Voraussetzung einer vitalistischen Anthropologie ist eine Kritik 'biopolitischer' Vergesellschaftung möglich; aus der Voraussetzung einer anticartesianischen Anthropologie eine Sozialtheorie der Expressivität, Materialität und Körperlichkeit; aus der Voraussetzung einer anti-individualistischen Anthropologie eine Theorie, die die Bedeutung der Sozialisation in den gesellschaftlichen Diskurs einbringt." (Autorenreferat)
This paper deals with the relevance of autoethnography for Volkskunde/cultural anthropology. It points out some connections between autoethnography and research principles of Volkskunde/cultural anthropology and tries to specify the term for future use in the field. Based on a discussion of major points of criticism, the authors call for a critically-reflexive but also courageous use of autoethnography in research and teaching.
The term "anthropocene" refers to mankind's probably irreversible impact on the biosphere of the planet. It also heralds a renewed interest among anthropologists in environmental-human-relations. The paper argues that German-language European ethnology is called upon to reposition itself vis-a-vis these challenges.
Die Chanten leben als Rentierzüchter in der Taiga Westsibiriens – eine Lebensweise, die durch die Erdölförderung verdrängt wird. Ihr Leben verläuft heute räumlich und sozial im Wechsel zwischen Wald und Stadt. Ihre Strategien, kulturelle Differenz und Autonomie durch Grenzziehungen mit Hilfe religiöser Praktiken und sozialer Normen aufrechtzuerhalten, werden am Beispiel des Festes zum "Tag des Rentierzüchters" verdeutlicht. Der Autor zeigt, wie Menschen der Taiga in dieser Situation eigene Praktiken des Verbergens und Vermeidens, aber auch neue Wege der öffentlichen Repräsentation nutzen.
"Die klassische visuelle Anthropologie hat in den letzten Jahren einen zunehmenden Paradigmenwechsel erfahren. Mehr und mehr bemühen sich KünstlerInnen und EthnologInnen um Zusammenarbeit und um das Aufbrechen der starren Grenzen zwischen den Disziplinen. Der hier besprochene Band widmet sich in dreizehn Beiträgen von KünstlerInnen, EthnologInnen und KunstwissenschaftlerInnen den Herausforderungen von Kollaboration und Austausch." (Autorenreferat)
In: Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Teilbd. 1 und 2, S. 3260-3271
"Der Begriff der 'Kultur' hat an Bedeutung gewonnen - auch und gerade in der soziologischen Theorie. Der cultural turn in der soziologischen Theorie und der Soziologie im allgemeinen wird begleitet von einer 'Kulturalisierung' der Geschichtswissenschaft. Eine wichtige Quelle der 'neuen' kulturwissenschaftlichen Ansätze ist die Ethnologie, insbesondere die nordamerikanische Cultural Anthropology. Gerade zu einer Zeit, in der Soziologie und Geschichtswissenschaft die ethnologische Kulturtheorie verstärkt rezipieren, steht der Kulturbegriff in der Ethnologie selbst aber zunehmend in der Kritik. Eine Auseinandersetzung mit dieser ethnologischen Debatte ist für eine Soziologie kultureller Unterschiede deshalb von hoher Relevanz. Thema des Vortrags ist die 'klassische' Kulturtheorie des amerikanischen Ethnologen Marshall Sahlins, die zu den wichtigsten und einflussreichsten ethnologischen Theorien des 20. Jahrhunderts zählt, seitens der postmodernen Ethnologie aber zunehmend kritisiert wird. Im Mittelpunkt des Vortrags steht die sogenannte 'Sahlins-Obeyesekere-Debatte', in der es um einen verhängnisvollen Kulturzusammenstoß im Rahmen der europäischen Expansion geht, der letztlich zum Tod von James Cook auf Hawaii 1779 führte. In dieser Debatte geht es aber nicht 'nur' um die korrekte Interpretation historischer Quellen, sondern um zentrale konzeptuelle Fragen über die Analyse kultureller Differenzen, die auch für die soziologische Theorie interessant sind. Vor dem Hintergrund dieser Debatte, einer werkgeschichtlichen Einordnung von Sahlins' kulturhistorischem Spätwerk sowie einer Einbettung von Sahlins' Theorie in die ethnologische writing-against-culture-Debatte soll die Frage beantwortet werden, ob Sahlins' Kulturtheorie für die Analyse kultureller Unterschiede und kultureller Globalisierung weiterführend sein kann." (Autorenreferat)