Der kulturanthropologische Zugang zu Multilokalität fokussiert die Perspektive des handelnden Individuums, das zur Herstellung von sozialem Sinn sich ihm bietende Raumressourcen nutzt. In seiner theoretischen Herleitung und Ausformulierung wird der Begriff zu einem Instrument der Erfassung gesellschaftlicher Dynamik. Als Facette einer spätmodernen Lebensweise, die schichtenübergreifend unterschiedliche Altersund Interessengruppen umfasst, lässt sich multilokales Wohnen als Kulturtechnik sinnhaften Handelns beschreiben, die der Nutzung von Gegenwartsmöglichkeiten ebenso wie der Bewältigung ihrer Anforderungen dient. Alternierende, häufig transnationale Wohnpraktiken ermöglichen in diesem Sinne Handlungs- und Denkspielräume, die einen distanzierenden Ausgleich zu bindenden Alltagsanforderungen darstellen.
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 4673-4683
"Wirft man einen genaueren Blick auf Durkheim und seine Schüler, so stellt man fest, dass diese nicht - wie vielfach vermutet - reine Antipoden lebensphilosophischen Denkens sind, sondern rationalitätskritische Elemente der Lebensphilosophie aufnehmen und soziologisch zu überwinden versuchen. Durkheims Begeisterung für Schopenhauer zum Beispiel ging soweit, dass er von Studenten 'Schopen' genannt wurde. Lebensphilosophische Motive finden sich ferner in der kollektiven Efferveszenz oder in den von Mauss beschriebenen Tauschformen des Potlatsch, die Züge des Dionysischen tragen. Noch deutlicher ist die Verbindung zwischen Lebensphilosophie und Durkheimscher Soziologie bei dem Durkheim-Schüler Robert Hertz, der ein begeisterter Leser von Friedrich Nietzsche ist. Es ist vor allem die von Hertz vorbereitete Verknüpfung von Nietzsche und Durkheim-Schule, die die theoretische Basis für die 'Sakralsoziologie' des 1937 von Bataille, Klossowski und den Mauss-Schülern Caillois und Leiris gegründeten Collège de Sociologie bildet. Diese verfolgen das Ziel, die vom Zivilisationsprozess zurückgedrängten, aber in den Tiefenschichten des Sozialen noch schlummernden Lebensenergien kollektiver Erregung, die die Durkheim-Schule lediglich in 'primitiven' Gesellschaften untersucht habe, für moderne Vergemeinschaftungsformen (politisch) nutzbar zu machen. Sie interessieren sich insbesondere für die in Durkheims Soziologie aufblitzenden vitalistischen Momente schöpferischer Lebensgestaltung, wie sie Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie dem Dionysischen zugeschrieben hat. Auch die Zeitschrift des Collège, Acéphale, forciert eine 'Wiedergutmachung Nietzsches', um dessen Denken vor faschistischer Vereinnahmung zu retten. Damit nehmen sie nicht nur die Nietzsche-Rezeption postmoderner Theoretiker (wie Foucault, Deleuze) um Jahrzehnte vorweg, sondern legen auch die Grundsteine späterer soziologischer Theorien, die an Durkheim und Nietzsche anknüpfen, wie jüngst die umstrittene Soziologie Maffesolis. Der Vortrag wird die skizzierten Verbindungen zwischen der Durkheim- und Nietzsche-Rezeption in Geschichte und Gegenwart der Soziologie analysieren und vertiefen." (Autorenreferat)
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 4716-4725
"Der Sozial- und Gesellschaftstheorie ist es keineswegs äußerlich, welchen Begriff des (menschlichen) Lebens sie zugrunde legt. Aus impliziten oder expliziten anthropologischen Annahmen resultiert je ein anderes Bild des Sozialen; sind je andere Phänomene für Vergesellschaftung grundlegend; hat die Gegenwartsgesellschaft je einen anderen Charakter; erscheint das Spannungsverhältnis von Leben und Gesellschaft je anders; wird je eine andere Gesellschaftskritik notwendig. Zu beobachten sind gegenwärtig mindestens drei Anthropologien, die in soziologischen Theorien vorausgesetzt sind: unter Rezeption der vitalistischen Lebensphilosophie die Historische Anthropologie bei Foucault, Deleuze, Agamben; unter pragmatistischer Rezeption der Evolutionsbiologie die Soziologische Anthropologie bei Mead und Claessens; unter Transformation des deutschen Idealismus die Philosophische Anthropologie bei Scheler, Plessner und Gehlen. Die theoriegeschichtlich-systematische Rekonstruktion der konträren Anthropologien macht Vorentscheidungen in Gesellschafts- und Sozialtheorien explizit. Die Konzeptionen menschlichen Lebens differieren bereits in der Entscheidung, von wo aus der Blick auf den Menschen ansetzt: Historische Anthropologie setzt an der konstruktiven Unerschöpflichkeit des Menschen bis in seine organische Natur hinein an (historisches Apriori); Soziologische Anthropologie setzt an der Mitwelt, der kollektiven symbolischen Interaktion an, die bereits im subhumanen Leben als Soziales angelegt ist (soziologisches Apriori); Philosophische Anthropologie setzt an der (auch sozialkonstitutiven) Verschränkung von organischer Natur und Kultur an. Die systematische Rekonstruktion erlaubt im zweiten Schritt eine reflexive Konzeption des Sozialen und eine reflexive Analyse der Gesellschaft. Aus der Voraussetzung einer vitalistischen Anthropologie ist eine Kritik 'biopolitischer' Vergesellschaftung möglich; aus der Voraussetzung einer anticartesianischen Anthropologie eine Sozialtheorie der Expressivität, Materialität und Körperlichkeit; aus der Voraussetzung einer anti-individualistischen Anthropologie eine Theorie, die die Bedeutung der Sozialisation in den gesellschaftlichen Diskurs einbringt." (Autorenreferat)
In: Kultur und Gesellschaft: gemeinsamer Kongreß der Deutschen, der Österreichischen und der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie, Zürich 1988 ; Beiträge der Forschungskomitees, Sektionen und Ad-hoc-Gruppen, S. 727-728
In: Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Teilbd. 1 und 2, S. 3260-3271
"Der Begriff der 'Kultur' hat an Bedeutung gewonnen - auch und gerade in der soziologischen Theorie. Der cultural turn in der soziologischen Theorie und der Soziologie im allgemeinen wird begleitet von einer 'Kulturalisierung' der Geschichtswissenschaft. Eine wichtige Quelle der 'neuen' kulturwissenschaftlichen Ansätze ist die Ethnologie, insbesondere die nordamerikanische Cultural Anthropology. Gerade zu einer Zeit, in der Soziologie und Geschichtswissenschaft die ethnologische Kulturtheorie verstärkt rezipieren, steht der Kulturbegriff in der Ethnologie selbst aber zunehmend in der Kritik. Eine Auseinandersetzung mit dieser ethnologischen Debatte ist für eine Soziologie kultureller Unterschiede deshalb von hoher Relevanz. Thema des Vortrags ist die 'klassische' Kulturtheorie des amerikanischen Ethnologen Marshall Sahlins, die zu den wichtigsten und einflussreichsten ethnologischen Theorien des 20. Jahrhunderts zählt, seitens der postmodernen Ethnologie aber zunehmend kritisiert wird. Im Mittelpunkt des Vortrags steht die sogenannte 'Sahlins-Obeyesekere-Debatte', in der es um einen verhängnisvollen Kulturzusammenstoß im Rahmen der europäischen Expansion geht, der letztlich zum Tod von James Cook auf Hawaii 1779 führte. In dieser Debatte geht es aber nicht 'nur' um die korrekte Interpretation historischer Quellen, sondern um zentrale konzeptuelle Fragen über die Analyse kultureller Differenzen, die auch für die soziologische Theorie interessant sind. Vor dem Hintergrund dieser Debatte, einer werkgeschichtlichen Einordnung von Sahlins' kulturhistorischem Spätwerk sowie einer Einbettung von Sahlins' Theorie in die ethnologische writing-against-culture-Debatte soll die Frage beantwortet werden, ob Sahlins' Kulturtheorie für die Analyse kultureller Unterschiede und kultureller Globalisierung weiterführend sein kann." (Autorenreferat)
Der Beitrag untersucht theoretische Konzepte kultureller Sinnsysteme. Zu Beginn der Arbeit werden zunächst der Kulturbegriff und daraus resultierende Probleme der Kulturanalyse erläutert. Dabei ist hervorzuheben, dass die kulturanalytische Forschung vor dem Problem steht, wie kulturelle Regeln für das alltägliche und automatische Ganze spezifiziert werden können. Die Schwierigkeit für die Kulturanalyse besteht darin, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Regeln einer Kultur zu erkennen. Des Weiteren ist es schwierig, ein kulturelles System zu identifizieren. Zu diesem Zweck muss hinterfragt werden, für welchen Raum, für welche Zeit und welche Gruppierung die Regeln gelten. In diesem Kontext geht der Beitrag außerdem auf das Problem der Ebenenbestimmung der kulturellen Regeln ein. Im zweiten Abschnitt der Arbeit werden die Traditionen der Kulturanalyse untersucht, die in vielen verschiedenen Disziplinen, wie Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Ethnologie, Sozialanthropologie oder Psychologie, ihren Ursprung finden. Der dritte Teil des Beitrags untersucht die verschiedenen Verfahren der Kulturanalyse. Hierbei werden die gestalttheoretische Prämisse, die psychoanalytische Prämisse sowie die strukturalistische und die phänomenologische Prämisse behandelt. Der Beitrag schließt mit einer Analyse von Problemen, die in der kulturanalytischen Forschung einer gesonderten Behandlung bedürfen. (ICG)
In: Kultur und Gesellschaft: gemeinsamer Kongreß der Deutschen, der Österreichischen und der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie, Zürich 1988 ; Beiträge der Forschungskomitees, Sektionen und Ad-hoc-Gruppen, S. 190-193
In: Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Teilbd. 1 und 2, S. 3225-3234
"Eine in der Organisationssoziologie prominent gewordene Sichtweise auf Organisationen ist mit dem Begriff 'Organisationskultur' verbunden. Was man als 'verschieden' beobachten kann, lässt sich in dieser Perspektive als Reproduktion kultureller Unterscheidungen beschreiben - als Mechanismus der Ausdifferenzierung von Organisationen. Von anhaltendem Interesse ist dabei die Frage, auf welche Weise sich das, was hier mit 'Kultur' umschrieben wird, in eine Theorie der Organisation einarbeiten lässt. Der Vorschlag der Verfasserin besteht darin, den Zugriff über kulturelle kognitive Schemata zu wählen. Man landet dann bei einer wissenssoziologischen Neubeschreibung der Organisation, die auf die unentscheidbaren Voraussetzungen des Entscheidens rekurriert." (Autorenreferat)
In: Kultur und Gesellschaft: gemeinsamer Kongreß der Deutschen, der Österreichischen und der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie, Zürich 1988 ; Beiträge der Forschungskomitees, Sektionen und Ad-hoc-Gruppen, S. 482-484
In: Kultur und Gesellschaft: gemeinsamer Kongreß der Deutschen, der Österreichischen und der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie, Zürich 1988 ; Beiträge der Forschungskomitees, Sektionen und Ad-hoc-Gruppen, S. 58-59
In: Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Teilbd. 1 und 2, S. 797-812
Die Erweiterung der Staatsbürgerschaft um eine kulturelle Dimension ist insofern paradox, als sie auf eine Re-Partikularisierung eines inhärent universalistischen Konzepts hinausläuft. In der Theorie lassen sich zwei Varianten der multikulturellen Staatsbürgerschaft unterscheiden: eine radikale Variante, die die universalistischen Bürgerrechte substituieren will, und eine liberale Variante, der es um eine Ergänzung dieser Rechte geht. In der Praxis gibt es eine multikulturelle Staatsbürgerschaft in dem Sinne, dass sich die gesamte Bürgerschaft eines Staates als multikulturell begreift, nur in Kanada und Australien. In Europa ist der Multikulturalismus enger an die Minderheitenrechtsagenda gekoppelt. Insbesondere die britischen und niederländischen Vorzeigemodelle eines europäischen Multikulturalismus sind gegenwärtig auf dem Rückzug. Besonders im Umgang mit islamischen Minderheiten gewinnt die klassische liberale Haltung der staatlichen Neutralität - wie im Kopftuchstreit - und der Privatisierung von kultureller Differenz erneut an Bedeutung, und sie wird vom liberalen Staat seit der sich weltweit vollziehenden Politisierung des Islam auch aggressiver gegen die multikulturelle Alternative vorgebracht. (ICE2)
In: Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Teilbd. 1 und 2, S. 1629-1637
"Im Zuge weltweiter Mobilisierungsschübe sehen sich Schulen in den durch Migration geprägten Landschaft städtischer Agglomerationen zunehmend mit dem Phänomen der 'Multikulturalität' konfrontiert. Während sich vornehmlich die Erziehungswissenschaften in den vergangenen Jahrzehnten theoretisch mit der Herausforderung der 'multikulturellen Schulen' auseinandergesetzt haben, ist die Praxis bis heute nur ungenügend reflektiert. Das Referat präsentiert Ergebnisse einer Forschung in Bern-West, die an dieser Diskrepanz von Theorie und Praxis ansetzt: Einerseits werden die diskursiven Formationen von Politik und interkultureller Pädagogik zu Multikulturalität und Schule in der Schweiz präsentiert, andererseits wird die anhand der ethnographischen Methode erhobene Praxis in Bern West analysiert. Es interessiert, welche Konzepte und Begrifflichkeiten von kultureller Differenz, Multikultur, Hybridität, Integration, Assimilation usw. in unterschiedlichen Diskursgemeinschaften auftauchen und wie sie von verschiedenen AkteurInnen verwendet und strategisch eingesetzt werden. Die Frage nach der Relation von sozialer Ungleichheit und kultureller Identität ist dabei von besonderem Interesse." (Autorenreferat)