Der vorliegende Überblick entstand im Auftrag und bezogen auf den Kontext des Sonderforschungsbereichs 'Literatur und Anthropologie' an der Universität Konstanz. Im Sonderforschungsbereich wurde eine dreifache Fragestellung verfolgt: (1) Warum produzieren Menschen Literatur? (2) Was wird in der Literatur über den Menschen gesagt? (3) Wie verhalten sich die literarischen Darstellungen zu anderen sprachlichen Artikulationen des 'Menschlichen' oder zu anderen Formen der medialen Repräsentation? Die vorliegende kommentierte Auswahlbibliographie umfaßt vier Forschungsrichtungen: Die Historische Anthropologie, die Philosophische Anthropologie, Interkulturalität und Kulturanthropologie. Die Überblicksdarstellung beabsichtigt, die Hauptanliegen der vier Gebiete in Bezug auf methodische, reflexive und theoretische Überlegungen zu ordnen und kurz zu referieren. (ICA)
Der kulturanthropologische Zugang zu Multilokalität fokussiert die Perspektive des handelnden Individuums, das zur Herstellung von sozialem Sinn sich ihm bietende Raumressourcen nutzt. In seiner theoretischen Herleitung und Ausformulierung wird der Begriff zu einem Instrument der Erfassung gesellschaftlicher Dynamik. Als Facette einer spätmodernen Lebensweise, die schichtenübergreifend unterschiedliche Altersund Interessengruppen umfasst, lässt sich multilokales Wohnen als Kulturtechnik sinnhaften Handelns beschreiben, die der Nutzung von Gegenwartsmöglichkeiten ebenso wie der Bewältigung ihrer Anforderungen dient. Alternierende, häufig transnationale Wohnpraktiken ermöglichen in diesem Sinne Handlungs- und Denkspielräume, die einen distanzierenden Ausgleich zu bindenden Alltagsanforderungen darstellen.
'Die Enttarnung der You Tube-Userin Lonelygirl15 als Fake im Jahr 2006 wurde innerhalb der Community kontrovers diskutiert, mit zum Teil deutlich ablehnenden Worten kommentiert und sorgte sogar in Printmedien und Fernsehen für Aufsehen. Spätestens seit diesem Zeitpunkt befindet sich das Social Networking Portal in einem Aushandlungsprozess, in dem die Frage nach der 'Echtheit' der bei YouTube geposteten Videobeiträge im Zentrum steht. Rekurrierend auf den Authentizitätsdiskurs in der Kulturanthropologie/ Europäischen Ethnologie, speziell im Bereich (massen)medialer Repräsentationen, behandelt dieser Beitrag den medienspezifischen Kontext von YouTube als einen prominenten Bestandteil des als sozialisiert kolportierten Web 2.0. Er stellt dar, wie dieser Kontext signalisierte, das Bedürfnis nach einer als echt empfundenen Seherfahrung befriedigen zu können und skizziert die Strategien der Authentifizierung für das Format Videotagebucheintrag. Schließlich wird deutlich, dass ein als unecht empfundenes Kommunikat Auswirkungen sowohl auf die an YouTube herangetragenen Rezeptionserwartungen als auch auf den Rezeptionskontext hat.' (Autorenreferat)
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 4673-4683
"Wirft man einen genaueren Blick auf Durkheim und seine Schüler, so stellt man fest, dass diese nicht - wie vielfach vermutet - reine Antipoden lebensphilosophischen Denkens sind, sondern rationalitätskritische Elemente der Lebensphilosophie aufnehmen und soziologisch zu überwinden versuchen. Durkheims Begeisterung für Schopenhauer zum Beispiel ging soweit, dass er von Studenten 'Schopen' genannt wurde. Lebensphilosophische Motive finden sich ferner in der kollektiven Efferveszenz oder in den von Mauss beschriebenen Tauschformen des Potlatsch, die Züge des Dionysischen tragen. Noch deutlicher ist die Verbindung zwischen Lebensphilosophie und Durkheimscher Soziologie bei dem Durkheim-Schüler Robert Hertz, der ein begeisterter Leser von Friedrich Nietzsche ist. Es ist vor allem die von Hertz vorbereitete Verknüpfung von Nietzsche und Durkheim-Schule, die die theoretische Basis für die 'Sakralsoziologie' des 1937 von Bataille, Klossowski und den Mauss-Schülern Caillois und Leiris gegründeten Collège de Sociologie bildet. Diese verfolgen das Ziel, die vom Zivilisationsprozess zurückgedrängten, aber in den Tiefenschichten des Sozialen noch schlummernden Lebensenergien kollektiver Erregung, die die Durkheim-Schule lediglich in 'primitiven' Gesellschaften untersucht habe, für moderne Vergemeinschaftungsformen (politisch) nutzbar zu machen. Sie interessieren sich insbesondere für die in Durkheims Soziologie aufblitzenden vitalistischen Momente schöpferischer Lebensgestaltung, wie sie Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie dem Dionysischen zugeschrieben hat. Auch die Zeitschrift des Collège, Acéphale, forciert eine 'Wiedergutmachung Nietzsches', um dessen Denken vor faschistischer Vereinnahmung zu retten. Damit nehmen sie nicht nur die Nietzsche-Rezeption postmoderner Theoretiker (wie Foucault, Deleuze) um Jahrzehnte vorweg, sondern legen auch die Grundsteine späterer soziologischer Theorien, die an Durkheim und Nietzsche anknüpfen, wie jüngst die umstrittene Soziologie Maffesolis. Der Vortrag wird die skizzierten Verbindungen zwischen der Durkheim- und Nietzsche-Rezeption in Geschichte und Gegenwart der Soziologie analysieren und vertiefen." (Autorenreferat)
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 4716-4725
"Der Sozial- und Gesellschaftstheorie ist es keineswegs äußerlich, welchen Begriff des (menschlichen) Lebens sie zugrunde legt. Aus impliziten oder expliziten anthropologischen Annahmen resultiert je ein anderes Bild des Sozialen; sind je andere Phänomene für Vergesellschaftung grundlegend; hat die Gegenwartsgesellschaft je einen anderen Charakter; erscheint das Spannungsverhältnis von Leben und Gesellschaft je anders; wird je eine andere Gesellschaftskritik notwendig. Zu beobachten sind gegenwärtig mindestens drei Anthropologien, die in soziologischen Theorien vorausgesetzt sind: unter Rezeption der vitalistischen Lebensphilosophie die Historische Anthropologie bei Foucault, Deleuze, Agamben; unter pragmatistischer Rezeption der Evolutionsbiologie die Soziologische Anthropologie bei Mead und Claessens; unter Transformation des deutschen Idealismus die Philosophische Anthropologie bei Scheler, Plessner und Gehlen. Die theoriegeschichtlich-systematische Rekonstruktion der konträren Anthropologien macht Vorentscheidungen in Gesellschafts- und Sozialtheorien explizit. Die Konzeptionen menschlichen Lebens differieren bereits in der Entscheidung, von wo aus der Blick auf den Menschen ansetzt: Historische Anthropologie setzt an der konstruktiven Unerschöpflichkeit des Menschen bis in seine organische Natur hinein an (historisches Apriori); Soziologische Anthropologie setzt an der Mitwelt, der kollektiven symbolischen Interaktion an, die bereits im subhumanen Leben als Soziales angelegt ist (soziologisches Apriori); Philosophische Anthropologie setzt an der (auch sozialkonstitutiven) Verschränkung von organischer Natur und Kultur an. Die systematische Rekonstruktion erlaubt im zweiten Schritt eine reflexive Konzeption des Sozialen und eine reflexive Analyse der Gesellschaft. Aus der Voraussetzung einer vitalistischen Anthropologie ist eine Kritik 'biopolitischer' Vergesellschaftung möglich; aus der Voraussetzung einer anticartesianischen Anthropologie eine Sozialtheorie der Expressivität, Materialität und Körperlichkeit; aus der Voraussetzung einer anti-individualistischen Anthropologie eine Theorie, die die Bedeutung der Sozialisation in den gesellschaftlichen Diskurs einbringt." (Autorenreferat)
In: Kultur und Gesellschaft: gemeinsamer Kongreß der Deutschen, der Österreichischen und der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie, Zürich 1988 ; Beiträge der Forschungskomitees, Sektionen und Ad-hoc-Gruppen, S. 727-728
This paper deals with the relevance of autoethnography for Volkskunde/cultural anthropology. It points out some connections between autoethnography and research principles of Volkskunde/cultural anthropology and tries to specify the term for future use in the field. Based on a discussion of major points of criticism, the authors call for a critically-reflexive but also courageous use of autoethnography in research and teaching.
The term "anthropocene" refers to mankind's probably irreversible impact on the biosphere of the planet. It also heralds a renewed interest among anthropologists in environmental-human-relations. The paper argues that German-language European ethnology is called upon to reposition itself vis-a-vis these challenges.
"Die klassische visuelle Anthropologie hat in den letzten Jahren einen zunehmenden Paradigmenwechsel erfahren. Mehr und mehr bemühen sich KünstlerInnen und EthnologInnen um Zusammenarbeit und um das Aufbrechen der starren Grenzen zwischen den Disziplinen. Der hier besprochene Band widmet sich in dreizehn Beiträgen von KünstlerInnen, EthnologInnen und KunstwissenschaftlerInnen den Herausforderungen von Kollaboration und Austausch." (Autorenreferat)
Die sogenannte 'Historische Sozialwissenschaft' hat stets den Anspruch vertreten, für die Geschichtswissenschaft als ganzes eine Neuorientierung zu bieten. Ähnliches gilt für die 'Historische Anthropologie'. Beide Disziplinen stehen daher in der heutigen Geschichtswissenschaft als zwei Versuche einer innerfachlichen Neuorientierung nebeneinander. Der Beitrag beschreibt die Berührungspunkte und Überschneidungsbereiche und konstatiert, dass ihr jeweiliges Erkenntnisinteresse unterschiedlich ist. Jene menschlichen 'Elementarsituationen' und 'Grundbefindlichkeiten', für die sich die Historische Anthropologie interessiert, stehen mit Sicherheit nicht im Mittelpunkt der Historischen Sozialwissenschaften. Insgesamt spricht der Autor von einem 'offenen Projekt' in dem von sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen ausgehende Richtungen konvergieren. (ICA)
In: Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Teilbd. 1 und 2, S. 3260-3271
"Der Begriff der 'Kultur' hat an Bedeutung gewonnen - auch und gerade in der soziologischen Theorie. Der cultural turn in der soziologischen Theorie und der Soziologie im allgemeinen wird begleitet von einer 'Kulturalisierung' der Geschichtswissenschaft. Eine wichtige Quelle der 'neuen' kulturwissenschaftlichen Ansätze ist die Ethnologie, insbesondere die nordamerikanische Cultural Anthropology. Gerade zu einer Zeit, in der Soziologie und Geschichtswissenschaft die ethnologische Kulturtheorie verstärkt rezipieren, steht der Kulturbegriff in der Ethnologie selbst aber zunehmend in der Kritik. Eine Auseinandersetzung mit dieser ethnologischen Debatte ist für eine Soziologie kultureller Unterschiede deshalb von hoher Relevanz. Thema des Vortrags ist die 'klassische' Kulturtheorie des amerikanischen Ethnologen Marshall Sahlins, die zu den wichtigsten und einflussreichsten ethnologischen Theorien des 20. Jahrhunderts zählt, seitens der postmodernen Ethnologie aber zunehmend kritisiert wird. Im Mittelpunkt des Vortrags steht die sogenannte 'Sahlins-Obeyesekere-Debatte', in der es um einen verhängnisvollen Kulturzusammenstoß im Rahmen der europäischen Expansion geht, der letztlich zum Tod von James Cook auf Hawaii 1779 führte. In dieser Debatte geht es aber nicht 'nur' um die korrekte Interpretation historischer Quellen, sondern um zentrale konzeptuelle Fragen über die Analyse kultureller Differenzen, die auch für die soziologische Theorie interessant sind. Vor dem Hintergrund dieser Debatte, einer werkgeschichtlichen Einordnung von Sahlins' kulturhistorischem Spätwerk sowie einer Einbettung von Sahlins' Theorie in die ethnologische writing-against-culture-Debatte soll die Frage beantwortet werden, ob Sahlins' Kulturtheorie für die Analyse kultureller Unterschiede und kultureller Globalisierung weiterführend sein kann." (Autorenreferat)
Analysiert werden die in Aberglauben und Verschwörungstheorie angelegten Praktiken und Wissensbestände zur Vermeidung von Risiken - im Fokus stehen dabei die konkreten Handlungspraktiken. Aberglaube und Verschwörungstheorie werden so als kulturelle Techniken der Risikovermeidung greifbar.
Krisen fungieren als Situationen der Explikation des Gegebenen. Als "immunologischer Ausnahmezustand" ist die Corona-Pandemie eine solche Krise: Sie problematisiert "Immunität" und "Verwundbarkeit". Der Beitrag wirft kulturtheoretische Schlaglichter auf diese Konzepte und befragt ihr Wechselspiel in "Regimen des Atmens", jenen Immunisierungspraktiken, die in Form von Schutzmasken und Beatmungsgeräten unkontaminierte Luft und unbeeinträchtigtes Atmen als bedingte Voraussetzung des Lebens explizieren.
'Ausgehend von der Frage danach, inwieweit gängige Kulturkonzepte eine realitätsnahe Wahrnehmung anderer Kulturen einengen, werden verschiedene soziologische und ethnologische Positionen in der Auseinandersetzung mit dem Fremden skizziert. In einer kritischen Rezeption der Ethnopsychoanalyse wird als deren Verdienst die Thematisierung der eigenen emotionalen Beteiligung in der Erfahrung des kulturell Anderen herausgestellt und die Frage aufgeworfen, warum das darin liegende Potential bisher kaum für die psychosoziale Praxis fruchtbar gemacht wurde. Die Grenzen der Ethnopsychoanalyse werden darin gesehen, daß sie die kulturelle Differenz zur Voraussetzung ihrer Erkenntnismethode macht: damit läuft sie Gefahr, die Spaltung von kulturell Eigenem und Fremdem festzuschreiben. Es wird dafür plädiert, sich angesichts einer facettenreichen gesellschaftlichen Realität bewußt in die Dynamik interkultureller Erfahrungen hineinzubegeben.' (Autorenreferat)