Der Beitrag befaßt sich mit einer wichtigen Verschiebung der Forschungsinteressen in der jüngeren Arbeitergeschichte, die unter dem Schlagwort "Alltagsgeschichte" stärker darauf insistiert, daß der Historiker auch zu untersuchen hat, wie Strukturen und Prozesse die Menschen betrafen, von ihnen erlebt und beeinflußt wurden. Die Erschließung der Welt der Wahrnehmungen und Erfahrungen, der Deutungen und Sichtweisen, der "Kultur" in einem weiten Sinn, die man im "Alltag" der Arbeiter aufzuspüren versucht, versetzen den Historiker in die Lage, Wirklichkeitsdimensionen zu thematisieren, die in vielen sozialgeschichtlichen Arbeiten der letzten Jahrzehnte wenig berücksichtigt wurden: Rituale und Feste, Gebräuche und ungeschriebene Verhaltensregeln, Gesten und Symbole, Leiden und Freuden, Emotionen und Affekte, Affektkontrollen und Wahrnehmungsformen, Arbeitsverhältnisse, Herrschaftsstrukturen, soziale Beziehungen aller Art. Zwar wurde diese Entwicklung vom Autor als willkommene Erweiterung und auch als manchmal berechtigte Korrektur anerkannt. Als neo-historistischer Rückfall und Flucht vor der Anstrengung des Begriffs, ja als Sackgasse wurde die "Alltagsgeschichte" jedoch dann kritisiert, wenn sie die Geschichte auf die "Abfolge von vielen Alltagen" reduziert, wenn sie Strukturgeschichte durch Erfahrungsgeschichte nicht ergänzt, sondern ersetzt, wenn sie die begriffliche Analyse von Strukturen und Prozessen als repressiv verwirft und die sympathisierende Erzählung von der Welt der kleinen Leute für ausreichend, ja besonders demokratisch hält ("Geschichte von unten"). Mikrohistorisierung und die emphatische Ablehnung gesamtgesellschaftlicher Analysen, überhaupt eine anti-analytische Stimmung wurde Teilen der heutigen "Alltagsgeschichte" vorgeworfen, wobei als Grundstimmung eine Sicht der Modernisierung als Zerstörung und Verlust statt als Aufbau und Fortschritt diagnostiziert wurde.
Contemporary History is always part of a historical culture, part of a society's mindset. This article reflects the rise, establishment and changes of this discipline in Austria in a "post-catastrophic" situation after 1945. It is shown what phases of politicisation and attempts of instrumentalisation there have been, how research topics have changed and what methodological turns can be identified. This article is structured as follows: 1. Contemporary History as "post-catastrophic" historical mindset; 2. The origins of Austrian contemporary history as "coalition historiography"; 3. Contemporary history as "political enlightment" program, 4. Contemporary history as historical social science; and 5. Postmodern parallelism: engagement and "historization", empathy and "visual turn".
The article is about the relationship between two scientific fields – history and psychology – with a focus on their connections during the last 150 years and about the meaning of subjectivity in history. It addresses possibilities of cooperation, taking as an example the relationship of oral history and psychoanalysis. The article emphasizes the problems regarding unconscious elements in history as well as the perception and "digestion" of history by the individual and the collective memory.
Der Aufsatz dreht sich zunächst um die Geschichte des Verhältnisses der beiden Disziplinen Geschichte und Psychologie, um die wichtigsten Felder dieser Beziehungen in den letzten anderthalb Jahrhunderten und um die Bedeutung des subjektiven Elements in der Geschichte und in der Historiographie überhaupt. Vertieft werden solche Grundsatzfragen an den kooperativen Möglichkeiten zwischen Psychoanalyse und Oral History und ihren Problemen, vor allem in den Fragen der Wirkung des Unbewussten in der Geschichte, der Wahrnehmung und Verarbeitung von Geschichte sowie des individuellen und des kollektiven Gedächtnisses.
This article reflects the new focus of historiography between quantification and Oral History. Based on theoretical debates, it is shown how historiography is changing in context of new research fields, new topics, methods, sources and theoretical standpoints. Thus, this all can be understood as paradigm shift in historical research. The author focuses on methodology and historical sources, including its constituent issues and research questions. First, it should be asked what kind of impact technical innovations have on historiographical practice. Second, two practical "cornerstones of historiography" are presented: quantification and Oral History. They can be understood as opposite poles complementing each other in research practice in a fruitful way.
Paul F. Lazersfeld - einer der 'Gründungsväter' der empirischen Sozialforschung - ist in seinem Denken nicht so ahistorisch wie allgemein dargestellt. Der vorliegende Beitrag zeigt, daß Lazersfeld in verschiedener Weise und in verschiedenen Phasen durchaus historische Fragestellungen und Interessen entwickelt hat oder sie aus seiner Sicht zu befruchten suchte. Dies geschieht in drei Bereichen: (1) Lazersfeld geht den Ursprüngen der empirischen Sozialforschung bis ins 17.Jahrhundert nach und unterscheidet verschiedene Ansätze und Traditionen. (2) Er betont die Bedeutung der gegenwärtigen Meinungsforschung für die zukünftige Geschichtswissenschaft. (3) Er arbeitet heraus, in welcher Weise Historiker und Soziologen sich methodologisch und in ihren theoretischen Annahmen befruchten können. (pmb)
In: Totalitarismus und Demokratie: Zeitschrift für internationale Diktatur- und Freiheitsforschung = Totalitarianism and democracy, Band 3, Heft 1, S. 47-77
'Die Revolution 1989 ermöglichte einen geeinten Nationalstaat in Europa. Dies ist bislang im Westen nicht angenommen und im Osten nicht verkraftet. Im Osten wirkt die revisionistische Sprache der Postkommunisten, im Westen dominiert eine Sprache der political correctness, die sich im Zuge einer 'Auschwitz-Identität' und der 'Selbstanerkennung' des westlichen Teilstaats ausgebildet hat. Auch in der Wissenschaft haben DDR-Themen an Bedeutung verloren. Häufig wird der Diktaturcharakter der DDR bestritten. Ähnliches gilt für das bundesdeutsche Rechtswesen, das die politischen Akte der Revolution nicht berücksichtigt oder gar als rechtsstaatswidrig deklariert. In unsrer politischen Kultur sind kaum Spuren des Fundamentes zu erkennen, auf dem die vereinte Republik ruht, die Revolution von 1989.' (Autorenreferat)
Herrschaftsmythen können als spezifische Gestaltungselemente einer Organisationskultur interpretiert werden. Sie waren in den frühneuzeitlichen Systemen Mittel des politischen Zusammenwirkens, gerichtet auf Integration und Definition der jeweiligen Organisation. Gegenstand der Untersuchung sind neun frühneuzeitliche Mythen, darunter der Roi Soleil, Neues Israel und Wilhelm Tell. Hinterfragt wurden wahrgenommene Ähnlichkeiten zwischen den neun Mythen, deren integrative und revolutionäre Muster sowie die unterschiedlichen Grade der Integration und Definition innerhalb der verwandten politischen Systeme. Tatsächlich bestätigen sich durch die Befragung die Auffassungen, dass das sehr integrative Muster eines Mythos und sein hoher Grad kollektiver Orientierung mit einem republikanischen politischen Kontext korrespondieren. Hauptsächlich das integrative Muster führte zu signifikanten Wirkungen der politischen Integration. (prh)
Der Essay beschäftigt sich mit der Gattung Autobiografie als Teil von Erinnerungskulturen in Ost- und Westdeutschland. Die literarische Gattung Autobiografie wird aus einer soziologischen Perspektive betrachtet. Während sich für die Literaturwissenschaften die Gattungsfrage aufzulösen scheint, kann festgehalten werden, dass diese nach wie vor in öffentlichen Diskursen funktioniert. Aus diesem Grund sind Autobiografien in politischen und zeitgeschichtlichen Kontexten wirksam und werden als solche wahrgenommen. Der vorgeschlagene Ansatz geht daher davon aus, dass Autobiografien einerseits eine intentionale Form der Sozialkommunikation darstellen, die gerahmt und beeinflusst wird von öffentlichen Erinnerungskulturen, andererseits aber auch auf diese aus einer subjektiven Perspektive einwirkt. Aus dieser Sicht sind Autobiografien keine individuellen oder autonomen, sondern an eine Öffentlichkeit adressierte Lebensgeschichten. Durch diese Öffentlichkeitsadressierungen sind Lebens- und Zeitgeschichte in Autobiografien politisch aufgeladen. Mit anderen Worten: "Das Private wird politisch".
In diesem Artikel wird Gesellschaftskritik im Bereich der Sozialen Arbeit aus der subjektiven Sicht des Autors reflektiert. Gesellschaftskritik wird als eine 'Bewegung' in Zeit (1960-2002) und Raum (alte Bundesrepublik - West-Berlin - neue Bundesrepublik - Soziale Arbeit) sichtbar. In der Zusammenschau der 'sich wandelnden Verhältnisse' und der sich in Korrespondenz damit ebenfalls ändernden Sichtweisen der KritikerInnen wird diese Bewegung - vielleicht - nachvollziehbar. Der Autor betont besonders die Zusammengehörigkeit von Kritik und Selbst-Reflexion.