Die Ausgabendämpfungspolitik der letzten zwanzig Jahre hat die Ursachen der Kostenexplosion nicht tangiert, daher ist der Beitragssatz in der Gesetzlichen Krankenversicherung weiterhin kontinuierlich angestiegen. Als letztendliche Gründe für die Ausgabendynamik und zukünftige Herausforderungen an die GKV schälen sich der demographische Wandel und der medizinische Fortschritt heraus. In Berechnungen wird dargelegt, daß der Beitragssatz in der GKV aufgrund der doppelten Altersdynamik im Jahre 2030 bei gleichen Versorgungsansprüchen deutlich über 20% liegen wird. Weiter zeigt sich: Durch den Fortschritt werden die Möglichkeiten der Medizin ständig erweitert. Diese Explosion des Machbaren geht mit Ausgabensteigerungen einher. Der medizinische Fortschritt löst eine Fortschritts-Ausgaben-Spirale aus: Er verlängert die (Rest-) Lebenserwartung der Menschen und erhöht damit die Aufwendungen im Gesundheitswesen, da die Krankheitskosten mit zunehmendem Alter progressiv anwachsen. Permanent werden neue medizinische Wohltaten entwickelt, deren Finanzierbarkeit allerdings an Grenzen stößt. Die Rationierung medizinischer Leistungen ist unausweichlich, soll die GKV bezahlbar bleiben.
Der Aufsatz beschreibt, auf welche Weise die gesetzliche Unfallversicherung nach der Reform von 2009 ihre Bewährungsprobe bestanden hat. Darüber hinaus wird geprüft, inwieweit sie dabei zum Vorbild für andere Sozialversicherungen, insbesondere die Rentenversicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung, werden kann. Die überwiegend positive Entwicklung der gesetzlichen Unfallversicherung beruht vor allem darin, dass in den Entscheidungsgremien auf institutioneller Ebene die Fachfragen vor der politischen Diskussion rangieren und die Anreizmechanismen allokationseffizient gesteuert werden. So entsteht ein System, dass sowohl den Unternehmen, wie auch den Arbeitnehmern ein hohes Maß an Schutz, trotz international bestem Abschneiden in der Kostenhöhe, bietet. Durch die intensive Behandlung von Präventionsfragen in den Fortbildungen der zahlreichen Schulungshäuser entsteht darüber hinaus eine Kultur der Arbeitsplatzsorgfalt.
Das Thema einer gesetzlichen Mindestquote für Frauen in Führungspositionen der Privatwirtschaft ist in Deutschland politisch und gesellschaftlich umstritten. Der Beitrag beleuchtet die Thematik näher und gibt eine Einschätzung der Frauenquote und weiterer Maßnahmen, die die Ungleichstellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt verringern können.
Die Mindestlohnkommission hat bis zum 30. Juni 2018 über die Anpassung der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns zu beschließen und der Bundesregierung ihren zweiten Bericht über die Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns vorzulegen. Vor diesem Hintergrund hat die Mindestlohnkommission das IAB im Rahmen einer schriftlichen Anhörung zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns um seine Stellungnahme gebeten. Die Erkenntnisse der Mindestlohnforschung des IAB werden in der vorliegenden Stellungnahme im Detail dargestellt. Nach einer grundsätzlichen Einschätzung der Auswirkungen des Mindestlohns werden dessen Effekte auf Löhne und Einkommen betrachtet, die bisher vorliegenden Erkenntnisse des IAB zur Beschäftigungswirkung des Mindestlohns dargelegt, Befunde des IAB zu weiteren Auswirkungen des Mindestlohns diskutiert sowie der Umsetzungsgrad des Mindestlohngesetzes und die damit verbundenen Aufzeichnungspflichten erörtert. ; The Minimum Wage Commission has to reach a decision on adjustments of the level of the compulsory minimum wage and has to submit its second report on the effects of the compulsory minimum wage to the Federal Government by 30 June 2018. Against this background, the Minimum Wage Commission has requested the IAB to provide a statement on the effects of the compulsory minimum wage within the framework of a written hearing. The insights gained from research on the minimum wage carried out at IAB are presented in detail in this current statement. After a basic assessment of the consequences of the minimum wage, effects on wages and income, insights to date on the impact of the minimum wage on employment, and findings on further effects of the minimum wage are discussed. Moreover, the degree to which the Minimum Wage Act has been implemented and the related obligations to record hours of work are elaborated.
Bisher stand bei den Reformen der gesetzlichen Krankenversicherung die Finanzierungsseite im Vordergrund, nun will sich die Bundesregierung auf die Leistungsseite konzentrieren. Wie kann mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen etabliert werden? Welche Erfahrungen wurden damit im Ausland gemacht? Welche Rolle sollen zukünftig die Kassenärztlichen Vereinigungen spielen? Was bedeutet mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen für die gesetzlichen Krankenkassen?
Verschiedene Maßnahmen haben in den letzten Jahren Rentendämpfungen verhindert. Gleichzeitig verspricht die Politik aber das Nachholen dieser unterbliebenen Rentenanpassungen. Mittlerweile hat sich ein regelrechter Nachholberg angehäuft, der droht, in den nächsten Jahren noch höher zu werden. In diesem Beitrag werden die Höhe dieses Berges und die damit verbundenen Mehrbelastungen der Beitragszahler abgeschätzt sowie die Zeit quantifiziert, die benötigt wird, um den Nachholberg wieder abzutragen.
In der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) müssen einige Versicherte einen geringeren, andere einen höheren als den versicherungstechnisch äquivalenten Beitrag entrichten. Die dadurch bewirkte Umverteilung wird in der Sozialpolitik als sozialer Ausgleich bezeichnet. Der Beitrag entwickelt ein Konzept zur Messung des sozialen Ausgleich und quantifiziert die Umverteilungswirkungen der Beitragsgestaltung in der GKV für das Jahr 1990. Dabei wird der Ausgleich von Leistungsrisiken über die Versicherten nicht als Umverteilung, sondern als Ausdruck eines umfassenden Versicherungsschutzes verstanden. Dieser ist auch im langfristigen privaten Krankenversicherungsverhältnis zu beobachten. Die dann verbleibenden Umverteilungswirkungen sind im Hinblick auf sozialpolitische Zielsetzungen sehr ineffizient. Der soziale Ausgleich erhöht teilweise die Einkommensarmut von Haushalten mit niedrigem Äquivalenzeinkommen und behandelt diese uneinhetlich. Gleichzeitig kommt es zu Begünstigungen für manche Haushalte mit einem überdurchschnittlichen Einkommen. Der Einkommensausgleichsanteil als Bestandteil des Krankenversicherungsbeitrages ist zudem mit Blick auf das verfassungsrechtliche Gebot der Belastungsgleichheit problematisch.Die Lösung der genannten Probleme könnte darin bestehen, bei der Bemessung der Beiträge zur GKV auf den Einkommensausgleich zu verzichten. Umverteilungsziele müßten in diesem Fall verstärkt über das Steuer-Transfer-System verfolgt werden.
In der Märzausgabe des WIRTSCHAFTSDIENST veröffentlichten wir einen Aufsatz von Barbara Henman und Michael Voigtländer unter dem Titel "Unzureichende Berücksichtigung der Kindererziehung als Ursache der Rentenkrise" 1 . Hierzu eine Replik von Peggy Letzner, in der sie sieben Gründe gegen einen beitragsfinanzierten Familienlastenausgleich anführt.
Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf zur Stärkung der Tarifautonomie vorgelegt ("Tarifautonomiestärkungsgesetz"). Darin vorgesehen ist ein Gesetz über einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn (MilOG) in Höhe von 8,50 . Dieser wirft vielfältige verfassungsrechtliche Fragen auf. Die Vereinbarkeit des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns mit dem Grundgesetz stellt sich dabei nicht nur hinsichtlich des vorgesehenen Mindestlohns, sondern auch hinsichtlich etwaiger Ausnahmen. Die vorliegende Untersuchung skizziert zunächst die relevanten Regelungen des Gesetzesentwurfes. Anschließend wird das System der Mindestlohnrechtsetzung in Deutschland dargestellt, um das Regelungsproblem klar herauszuarbeiten. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die Kernvorschriften des MiLoG. Diese werden auf ihre Verfassungskonformität hin überprüft. Das betrifft die Vereinbarkeit des gesetzlichen Mindestlohnes mit der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) und mit der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG). Schließlich wird auch die Verfassungskonformität möglicher Ausnahmen von den Regelungen des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns untersucht. Dabei wird insbesondere der Frage nachgegangen, ob eine Ausnahme für den Bereich der Pressezusteller erforderlich ist.
Klaus-Dirk Henke, TU Berlin und Wolfram Richter, TU Dortmund, identifizieren in ihrem Kommentar gravierende Ordnungsdefizite beim Wettbewerb im deutschen Gesundheitswesen. Sie gehen solchen Defiziten im Bereich der GKV nach und benennen konkrete Mängel, die von der Politik behoben werden sollten.
Obgleich lange Zeit tabuisiert, finden derzeit im wissenschaftlichen und politischen Bereich vielfältige Diskussionen um eine Anpassung des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) an die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen statt. Unbeschadet noch vorhandener beachtlicher Rationalisierungspotenziale dürften infolge der strukturellen Wachstumsschwäche der Finanzierungsbasis die Beitragseinnahmen bei Wahrung der Beitragssatzstabilität künftig kaum ausreichen, um die ausgabenseitigen Herausforderungen zu bewältigen. Es kann, um eine Verschärfung der impliziten Rationierung zu vermeiden, nicht um das Ob, sondern nur um das Wie von Reformen der GKV gehen. ; Even though it has been a taboo for a long time, at the moment manifold discussions in the social and political arena address the issue of adapting the benefits catalogue of Social Health Insurance (SHI) to social and economic changes. Irrespective of the still existing considerable rationalization potential the receipts from contributions – if the contribution rate is to remain constant – will hardly be sufficient to master the challenges caused by the expenditure side due to the structurally weak growth of the financing basis. In order to prevent an aggravation of the implicit rationing the crucial point to consider is the "how" – and not the "if" – of SHI reforms.
Beim GV handelt es sich um einen zwischen Ärzten und KVtr abgeschlossenen Normenvertrag zur Verwirklichung des durch den Gesetzgeber im ASVG an die KVtr gerichteten Versorgungsauftrags.Er stellt das gesetzgeberische Ideal zur Durchsetzung des durch die Sozialversicherung begründeten öffentlich-rechtlichen Leistungsanspruchs der Versicherten auf die durch die KVtr zu gewährleistende Sachleistungsvorsorge dar.Obzwar der GV als privatrechtliche Rechtsquelle durch den überwiegenden Teil der Lehre als Normenvertrag angesehen wird, löst die Festlegung der Rechtsnatur des GV einerseits einen Diskurs über eine zweiseitig zwingende Wirkung des GV und andererseits über das etwaige Merkmal seiner einseitig korporativen Natur, mit der ÄK als Korporation, aus.Im Zuge der Kategorisierung des GV als Normenvertrag ist dessen Vereinbarkeit mit der österreichischen Bundesverfassung zu prüfen, zudem ist dessen Bindung an die Grundrechte und das Unionsrecht zu erörtern.Da die Regelung der Beendigung des GV der Disposition der Abschlussparteien überlassen bleibt, stehen den Parteien grundsätzlich sämtliche Möglichkeiten zur Lösung eines Dauerschuldverhältnisses offen. In der Lehre bestehen allerdings verschiedene Ansichten über die Zulässigkeit befristeter GV sowie über die Rechtsfolgen der unzulässigen Teilkündigung eines wesentlichen Bestandteils des GV.Bei den wesentlichen Bestandteilen des GV handelt es sich um einen gesetzlich relativ ungenau vorgegebenen Mindestinhalt, der sich nach der hL aus dem Vertragsarztsystem, dem Zulassungssystem, der Honorierung der Ärzte durch die KVtr, der Regelung der Honorarhöhe sowie der Regelung der grundsätzlichen Arztpflichten zusammensetzt.Ziel dieser Arbeit ist es, das rechtliche "Konstrukt" des GV näher zu beleuchten, indem dessen Rechtsnatur, die Abschlussparteien, die Beendigung sowie der Mindestinhalt eingehend dargestellt und analysiert werden. ; The general contract or state health insurance fund contract is a normative contract for the realization of the provision of health services, which has been assigned by the legislator to the health insurance institutions as a public service task in the Law on general health insurance. It governs the relationship between the physicians and the health insurance institutions and constitutes the legislative ideal for the implementation of the public-law entitlement on part of those insured under compulsory insurance to the provision of health care services by the health insurance institutions.Although the general contract, as a source of private law, is regarded as a normative contract by the predominant part of legal scholars, the establishment of the legal nature of the general contract has triggered a discourse on the one hand on its mandatory binding effect on both, the parties to the general contract and the individual physicians, and, on the other hand on the possible feature of its one-sided corporative nature, the Medical Chamber constituting a corporation.In the course of the establishment of the general contract as a normative contract, its compliance with the Austrian Federal Constitution needs to be examined, and its conformity with fundamental rights and the law of the European Union must be discussed.Since the regulation to terminate the general contract is left to the disposition of the parties concluding the contract, in principle, all the possibilities to terminate a continuing obligation are open to the parties. However, different opinions exist among legal scholars on the admissibility of general contracts with a time limit as well as on the legal consequences of an undue partial termination of an essential component of the general contract.The essential components of the general contract consist in a minimum content which is however not defined exactly by law and which encompasses the system of panel physicians, the licensing system, the remuneration of the physicians by the health insurance institutions, the regulation of the fees as well as the regulation of the basic duties of the physicians.The aim of this thesis is to examine the legal "construct" of the general contract in more detail. Thus the legal nature, the concluding parties, the termination and the minimum content of the general contract are described and analysed in depth. ; von Nicolas Salamun ; Abweichender Titel laut Übersetzung des Verfassers/der Verfasserin ; Karl-Franzens-Universität Graz, Diplomarbeit, 2017 ; (VLID)1880836
Alle im Bundestag vertretenen Parteien treten inzwischen für Mindestlohnregulierungen ein, deutlich unterschiedliche Positionen gibt es jedoch hinsichtlich der Gestaltung und der Höhe. In der vorliegenden Untersuchung wird gezeigt, dass bei einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn vor allem die Löhne von geringfügig Beschäftigten, Frauen, Personen ohne Berufsausbildung und Arbeitnehmern, die nicht im gelernten Beruf tätig sind, sowie von Beschäftigten in Ostdeutschland angehoben werden müssten. Betroffen wären insbesondere Kleinstbetriebe sowie Anbieter konsumnaher Dienstleistungen, kaum indes Wirtschaftszweige, die unmittelbar dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind. Generell müsste ein Mindestlohn nach den Ergebnissen der ökonomischen Forschung nicht mit Arbeitsplatzverlusten einhergehen. Es gibt aber Hinweise darauf, dass die Wirkungen stark von der Höhe der festgesetzten Lohnuntergrenze abhängen. Durch einen Mindestlohn könnte zwar die Lohnspreizung verringert werden, und Gerechtigkeitsvorstellungen, wie sie von einer großen Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland geteilt werden, würden so weniger verletzt als gegenwärtig. Zu einer Einebnung der Ungleichheit bei den verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte und zu einer wesentlichen Verringerung von Armut käme es aber nicht. Ebenfalls wäre nicht zu erwarten, dass die Zahl derjenigen Arbeitnehmer, die Leistungen nach Hartz IV beziehen (Aufstocker), stark zurückginge. Ein kräftiger gesamtwirtschaftlicher Kaufkraftschub ist ebenfalls nicht anzunehmen. Die Einführung eines allgemeinen Mindestlohns in Deutschland wäre ein Feldexperiment, das mit Bedacht angegangen werden sollte. Aus wissenschaftlicher Sicht sollte beim Einstieg das Niveau nicht zu hoch angesetzt werden, und die Wirkung des Mindestlohns müsste sorgfältig beobachtet werden. Erweist sich ein allgemeiner Mindestlohn als unschädlich für die Beschäftigung, sollte sein Niveau zügig angehoben werden. Bei der Einführung ist darauf zu achten, dass die Regulierung nicht unterlaufen wird - etwa durch unbezahlte Mehrarbeit oder durch die vermehrte Beschäftigung in Form von Minijobs oder Werkverträgen. ; All parties represented in the Bundestag now support minimum-wage regulations, yet their positions on its structure and amount differ significantly. The present study shows that a general statutory minimum wage would mainly have to increase the wages of workers in marginal employment, women, persons with no vocational training, workers employed in fields other than those in which they were trained, and workers in eastern Germany. Very small businesses and consumer service providers would be impacted most of all, but those sectors of the economy directly exposed to international competition hardly at all. According to the results of economic research, a minimum wage would not generally lead to job losses. However, there are indications that the effects depend strongly on the amount of the minimum wage. A minimum wage could reduce the wage differential and would be more in line with what a large majority of the German population currently considers fair. However, it would not even out inequalities in the disposable incomes of private households or significantly reduce poverty. Nor could the number of workers receiving Hartz IV benefits (means tested minimum income support), i. e., income supplements, be expected to fall significantly. A powerful boost in overall purchasing power would not be expected, either. Introducing a general minimum wage in Germany would be a field experiment to be approached with caution. From a scientific point of view, the level should not be too high at first, and the impact of the minimum wage should be observed closely. If it proves not to have negative effects on employment, the general minimum wage should be increased rapidly. When it is introduced, care should be taken that regulation is not circumvented - for example through unpaid additional work or increasing the number of people in employed in mini-jobs or through contract work.
Aufgrund bestehender und sich weiter verstärkender Altersarmut steht der Reformbedarf der Leistungsseite der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) im Zentrum der wissenschaftlichen und politischen Diskussion. Im Fokus stehen dabei Personen mit lückenhaften Erwerbsbiographien und niedrigen Einkommen, die besonders stark von Altersarmut betroffen sind und für die aufgrund der Grundsicherung im Alter nach §§ 41 ff. SGB XII Fehlanreize bestehen, einen Beitrag in das umlagefinanzierte System der GRV zu entrichten. In einem Mikrosimulationsmodell soll auf Basis des Scientific Use File (SUF) der Versicherungskontenstichprobe (VSKT) 2009 untersucht werden, welche Auswirkungen die Einführung eines Grundsicherungsabstandsgebotes in der GRV hat. Dabei werden drei mögliche Abstände zur Grundsicherung im Alter sowie drei verschiede Anspruchskriterien mit unterschiedlich hohen Beitrags- bzw. Versicherungsjahren modelliert.
Am 22. Juni 1889 wurde das "Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung" verabschiedet. Neben Krankheiten (1883) und Betriebsunfällen (1884) wurden damit auch Alter und Erwerbsunfähigkeit als zentrale und in der Industriegesellschaft nur unzureichend abgesicherte Lebensrisiken von der staatlichen Sozialgesetzgebung erfasst. Der Forschungsbericht untersucht [1.] den Entstehungsprozess des ersten deutschen Rentenversicherungsgesetzes vor dem Hintergrund der politischen und sozialen Verfassung des Kaiserreiches. Da Bismarck sich in den entscheidenden Jahren seit 1887 bereits aus der sozialpolitischen Gesetzgebung weitgehend zurückgezogen hatte, wurden Handlungsspielräume frei, die anderen Akteuren nicht nur vorher kaum denkbare Durchsetzungschancen eröffneten, sondern ihnen auch erhöhte Verantwortung zumaßen. Das Gesetz wurde im Reichsamt des Innern angestoßen, als Entwurf zunächst vom Bundesrat behandelt und schließlich in drei Lesungen des Reichstags durchberaten. Während die öffentlichen Beratungen des Reichstags zu dieser Materie in der Literatur bereits verschiedentlich analysiert wurden, legt diese Studie besonderes Gewicht auf die bisher unbekannten Aushandlungsprozesse zwischen den obersten Reichsbeamten, den Bundesratsvertretern der Einzelstaaten und den Reichstagsabgeordneten. Dafür wurden Aktenbestände sowohl aus dem Bundesarchiv wie auch aus den Archiven der größeren Länder Preußen, Bayern, Baden, Württemberg und Sachsen ausgewertet. Die Analyse des politischen Entscheidungsprozesses zum Gesetz wird [2.] verknüpft mit einer Untersuchung seines sozialpolitischen Gehalts. Für einige Kernelemente des Gesetzes wird genau zurückverfolgt, wer welche Bestimmung durchzusetzen half und wer andererseits mit welchen Gegenkonzepten scheiterte. Die Durchleuchtung solcher Entstehungshintergründe trägt zum besseren Verständnis charakteristischer Züge des deutschen Rentenversicherungssystems bei, die sich zum Teil bis heute erhalten haben. Ein solches Charakteristikum ist die Differenzierung der Beiträge und Leistungen entsprechend dem Lohneinkommen, die keineswegs von vornherein selbstverständlich war. Sowohl innerhalb der Reichsverwaltung wie auch unter den konservativen Parlamentariern gab es eine starke Bewegung zugunsten von Einheitsrenten, die nur einen minimalen Schutz gegen die ärgste Altersarmut gewährleisten sollten. Letztlich blieben die Vertreter dieser Richtung aber in der Minderheit. Im Ausblick der Studie wird die deutsche Gesetzgebung für die Versorgung von Alter und Erwerbsunfähigkeit im Zusammenhang mit dem zeitgenössischen internationalen Vergleichsfeld diskutiert, um einen Beitrag zur historischen Verortung des deutschen Sozialstaats zu leisten.