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Der Bundestag berät einen großen Ampel-Antrag zur Internationalisierung der Wissenschaft. FDP-Wissenschaftspolitiker Stephan Seiter sagt, welches Signal die Koalitionsfraktionen damit setzen wollen – und was ihm ein persönliches Anliegen ist.
Stephan Seiter, 60, ist seit 2021 FDP-Bundestagsabgeordneter und Sprecher seiner Fraktion für Forschung, Technologie und Innovation. Vorher war er Professor für Volkswirtschaftslehre an der ESB Business School der Hochschule Reutlingen. Foto: DBT/Stella von Saldern.
Herr Seiter, die Ampelfraktionen haben einen umfangreichen Antrag zur Internationalisierung von Wissenschaft und Hochschulbildung in den Bundestag eingebracht, der voraussichtlich bereits am heutigen Mittwoch im Plenum debattiert wird. Wie passt der in die Zeit der Kriege, Konfrontationen und des gegenseitigen Misstrauens?
Er passt genau in diese Zeit einer neuen geopolitischen Lage. Es geht um Offenheit im Bewusstsein der Risiken. Eine interessengeleitete Internationalisierung, wie wir sie in dem gemeinsamen Antrag von SPD, Grünen und FDP fordern, bedingt, dass die Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen mehr professionelle Unterstützung und Beratung erhalten im Umgang mit Staaten, die es mit der Wissenschaftsfreiheit nicht so genau nehmen. Zugleich wollen wir verdeutlichen, dass Deutschland offen bleibt für internationale Forschende, die zu uns kommen möchten. Wissenschaftlicher Protektionismus, das Abschotten und Abschneiden von Forschungskooperationen, wie manche Leute es fordern, kann keine Antwort sein auf die Krisensituation. Das ist die wertgeleitete Dimension unseres Antrags. Hierzu gehört praktisch, dass wir es den ausländischen Studierenden und Wissenschaftlern leichter machen, zu uns zu kommen. Die Visavergabe ist ein Riesenproblem, manch schon vereinbarter Aufenthalt verzögert sich massiv, weil die deutschen Botschaften im Ausland nicht genug Termine vergeben können.
Angesichts Ihres klaren Plädoyers pro Internationalisierung wundert schon, dass die Bundesregierung gleichzeitig derart stark bei Mittlerorganisationen wie der Alexander-von-Humboldt-Stiftung (AvH) einsparen will, dass deren Präsident deren Fortbestand "langsam gefährdet" sieht. Und der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) muss zum Beispiel nächstes Jahr die Ukraine-Sonderhilfen einstellen.
Wir wissen alle, dass die Situation der öffentlichen Haushalte angespannt ist. Aber die Budgetverhandlungen laufen noch, weshalb wir in unserem Antrag explizit auf die Relevanz der AvH- und DAAD-Programme hingewiesen haben.
"Natürlich hoffen wir, dass sich noch Verbesserungen im Bundeshaushalt umsetzen lassen."
Am Donnerstag, nur einen Tag nach der Plenardebatte zu dem Internationalisierungsantrag, findet die entscheidende Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses für den Bundeshaushalt 2024 statt. Wollten Sie als Ampel-Wissenschaftspolitiker vorher nochmal ein Zeichen setzen?
Diese zeitliche Nähe ist der parlamentarischen Terminplanung geschuldet. Aber natürlich hoffen wir, dass sich noch Verbesserungen umsetzen lassen, denn wer Fortschritt wagen will, muss die Internationalisierung vorantreiben. Wobei wir mit unserem Antrag zugleich langfristig wirken wollen. Indem wir jetzt eine Strategie zur Internationalisierung vorlegen, die in den nächsten Haushaltsverhandlungen ihre Wirkung entfaltet.
Von den 36 Einzelpunkten des Antrags sind 26 Forderungen an die Bundesregierung, deren Umsetzung zum Teil beträchliche Mengen an Geld kosten würde. Hier durften sich alle Koalitionspartner mit ihren individuellen Wünschen verewigen?
Es geht nicht um individuelle Wünsche, sondern für mich ist der Antrag ein Zeichen, dass die Ampel-Koalition in vielen Bereichen sehr gut zusammenarbeitet. Kai Gehring von den Grünen, Ruppert Stüwe von der SPD und ich haben ihn miteinander konzipiert, natürlich mithilfe unserer Mitarbeiter, wir haben ihn immer wieder mit den Fachpolitikern unserer Fraktionen abgestimmt. Oft werden in der Öffentlichkeit die Debatten, die wir in der Ampel haben, vor allem als Streit interpretiert. Ich finde aber, wir brauchen mehr solche engagierten Diskussionen. Auch wenn wir hier und da weit auseinanderliegen, nur in der Auseinandersetzung miteinander finden wir gemeinsame Lösungen. Ich halte das für gute politische Kultur.
"Das Signal soll sein: Wenn ihr euer Land verlassen müsst, könnt ihr bei uns in Deutschland weiterarbeiten"
Welche Punkte sind aus Ihrer Sicht besonders wichtig an dem Antrag?
Zu der Bedeutung einer Willkommenskultur, die sich auch in einer reibungslosen Visavergabe zeigt, habe ich etwas gesagt. Dieses Thema müssen wir wirklich schnell lösen. Ein persönliches Anliegen ist mir darüber hinaus die Idee einer Akademie für verfolgte und bedrohte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, konzipiert nach dem Vorbild der "University in Exile" der New School in New York. Natürlich wird so eine Akademie nicht jeden aufnehmen können, aber das Signal soll sein: Wenn ihr euer Land verlassen müsst, könnt ihr bei uns in Deutschland weiterarbeiten und forschen, auch wenn ihr bislang keine wissenschaftliche Kooperation mit deutschen Partnern habt.
Wir sprechen also von einem physischen Ort, einer neuen Universität?
Das Konzept müssen wir erst noch an die deutsche Situation anpassen. Wie Sie wissen, liegen Universitäten bei uns primär in der Verantwortung der Länder. Idealerweise reden wir aber schon von einem echten Anlaufpunkt, einer Akademie, in der die die Forschenden zusammenkommen können. Natürlich nicht auf Dauer, weil es ein Ort des Durchgangs sein soll, bevor sie anderswo in Deutschland und Europa wissenschaftlich Fuß fassen. Die Fragen der Trägerschaft, der Finanzierung und der Positionierung einer solchen Einrichtung in der Forschungs- und Bildungslandschaft müssen wir klären, und genau darauf wollen mir mit unserem Antrag hinwirken.
Wenn Sie von mehr Beratung und Unterstützung der deutschen Wissenschaft im Umgang mit autoritären Staaten reden, was meinen Sie genau? Explizit fordert der Antrag die Bundesregierung auf, "in Sicherheitsbehörden und Wissenschaftseinrichtungen weiterhin darauf hinzuwirken, dass für Sicherheitsrisiken und hybride Bedrohungen auf das Bildungs- und Forschungssystem sensibilisiert wird". Passiert das nicht längst?
Ja, aber das reicht noch nicht. Die Sicherheitsbehörden und Geheimdienste können und sollten regelmäßige Briefings für die deutsche Wissenschaftslandschaft erstellen, die über neue und fortbestehende Risiken informieren. Außerdem brauchen wir, nicht zwingend verpflichtend, Schulungen für Forschende, wie sie Cyberbedrohungen besser erkennen können. Anlaufstellen wie das Kompetenzzentrum internationale Wissenschaftskooperationen (KiWi) beim DAAD, wo Forschende Beratung erhalten, bevor sie in konkrete Kooperationen hineingehen, haben wir als Koalition finanziell bereits gestärkt, hier müssen wir noch intensiver über die vorhandenen Angebote informieren.
"Forschende brauchen keine Bevormundung durch die Politik, sondern qualifizierte Unterstützung"
Kein großer Antrag zur Internationalisierung der Wissenschaft kommt ohne Klärung der Beziehung zu China aus. Ihre Parteikollegin Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger hat die Hochschulen mehrfach mit deutlichen Worten zur Überprüfung ihrer Kooperationen aufgefordert. Wie würden Sie die gemeinsame Linie der Ampel beschreiben?
Der Antrag macht deutlich, dass die Bearbeitung vieler globaler Herausforderungen, an erster Stelle des Klimawandels, ohne China unmöglich sein wird, daher, ich sagte es, bitte keine Abkopplung. Aber natürlich müssen wir an die Zusammenarbeit mit chinesischen Forschenden anders herangehen, als wenn wir mit US-Hochschulen kooperieren. Wir müssen uns immer bewusst sein, dass die Wissenschaft in China unter staatlichem Einfluss steht, was gerade bei Forschung mit potenziellem Dual Use von großer Bedeutung ist. Darum sollten Forschende bei jeder Kooperation mit China eine Risikobewertung vornehmen und auf deren Grundlage die Entscheidung treffen, ob sie die Kooperation tatsächlich eingehen oder nicht. Doch brauchen Forschende hier keine Bevormundung durch die Politik, sondern qualifizierte Unterstützung. Ich bin davon überzeugt, dass sie schon jetzt mit offenen Augen und Ohren agieren.
CDU/CSU: Ampel-Rückzug bei Internationalisierung
Parallel zu den Ampel-Fraktionen hat auch die Unionsopposition einen Antrag zur Internationalisierung eingebracht, in dem sie einen Rückzug der Bundesregierung aus der internationalen Zusammenarbeit in Wissenschaft und Forschung kritisiert.
CDU und CSU verweisen unter anderem auf die Ankündigung der Alexander-von-Humboldt-Stiftung (AvH), sie müsse aufgrund der mangelnden Finanzierung das prestigeträchtige Bundeskanzler-Stipendium für Nachwuchsführungskräfte einstellen. "Die Handschrift der Regierungskoalition aus SPD, Grüne und FDP im Bildungs- und Wissenschaftsbereich scheint vor allem mit dem Rotstift gezeichnet zu werden."
Konkret fordert die Union, Bundeskanzler Scholz müsse sich darum kümmern, geeignete Rahmenbedingungen zur Fortführung des Bundeskanzler-Stipendiums zu schaffen. Außerdem solle die Bundesregierung für Klarheit sorgen, ob und wie sie "das von der Regierungskoalition gegebene Versprechen einer institutionellen Förderung von DAAD und AvH analog zum Pakt für Forschung und Innovation noch einlösen wird". Schließlich solle sie dem Bundestag kurzfristig ein zielgerichtetes Maßnahmenpaket zur Sicherung der auch internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Stipendienhöhe deutscher Vermittlerorganisationen vorlegen und die Voraussetzungen für eine zügige Umsetzung schaffen.
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Der wiedergewählte DAAD-Präsident Joybrato Mukherjee über die neue Nationale Sicherheitsstrategie, das Streiten für eigene Ziele und Werte – und die Frage, was vom alten Austausch-Idealismus noch übrig ist.
Joybrato Mukherjee, 49, ist seit 2020 Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Am Dienstag wurde er von den DAAD-Mitgliedshochschulen für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Außerdem ist Mukherjee seit 2009 Präsident der Universität Gießen und designierter Rektor der Universität zu Köln. Foto: Jonas Ratermann.
Herr Mukherjee, heute Vormittag sind Sie als DAAD-Präsident wiedergewählt worden, Ihre zweite Amtszeit beginnt am 1. Januar 2024. Herzlichen Glückwunsch! In Hochstimmung schienen Sie schon vergangene Woche zu sein, als die Bundesregierung ihre – von Ihnen hochgelobte – Nationale Sicherheitsstrategie vorgestellt hat. Die Strategie zeige, so lautete Ihr Kommentar, dass Wissenschaft heute eine "harte Währung" in der Außen- und Sicherheitspolitik sei. War sie das denn früher nicht?
Der Unterschied ist, dass die Außenwissenschaftspolitik früher als eigenständige "dritte Säule" der Außenpolitik gedacht wurde – und damit getrennt von der Sicherheitspolitik. Jetzt hat sich ein integriertes Verständnis von Außen-, Sicherheits- und Geopolitik etabliert, was bedeutet, dass Wissenschaft nicht als irgendeine Folklore gesehen wird, sondern als robuster Teil der außenpolitischen Beziehungen unseres Landes.
Weil wir in einer Zeit der Krisen leben?
Sicherlich gibt es da einen Zusammenhang. Stärker als vor fünf oder zehn Jahren gelten Wissenschaft und Außenwissenschaftspolitik als relevante Größen für Europas Sicherheit und für die Stabilisierung einer multilateralen Weltordnung. Wir werden auch die Folgen des Klimawandels nur wissenschaftlich fundiert und über Grenzen hinweg kooperierend in den Griff bekommen. Dies sind Erkenntnisse, die sich nicht von einem auf den anderen Tag entwickelt haben, aber natürlich hat hier die Pandemie wie in vielen anderen Bereichen als Beschleuniger gewirkt.
"Die Ukraine will in den Westen, und wir bahnen ihr über unsere Austauschprogramme wissenschaftspolitisch den Weg."
Eine neue Rolle auch für den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD)?
Keine neue Rolle. Wir haben immer schon neue außen- und geopolitische Herausforderungen mit neuen Initiativen und Programmvorschlägen beantwortet. Aber jetzt spüren wir eine andere Resonanz auf Seiten der Politik: Bundesregierung und Bundestag sehen den DAAD als größte und leistungsstärkste Mittlerorganisation in einer besonderen Verantwortung. Die neue Nationale Sicherheitsstrategie formuliert diese Erwartung an uns ganz explizit. Wenn in Afghanistan die staatliche Ordnung zusammenbricht und Frauen vom öffentlichen Raum und vom Bildungssektor immer stärker ausgeschlossen werden, starten wir mit Unterstützung des Entwicklungshilfeministeriums ein Stipendienprogramm für 5000 Afghaninnen, damit sie in einem der Nachbarländer studieren können. Oder nehmen Sie die Ukraine: Es war kein Zufall, dass Präsident Selenskyj sich jeweils anderthalb Stunden Zeit genommen hat für ein digitales Treffen mit Wissenschaftler:innen und Studierenden der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität zu Köln. Die Ukraine will in den Westen, und wir bahnen ihr über unsere Austauschprogramme wissenschaftspolitisch den Weg.
Ganz so generisch wirkt die Entwicklung von außen nicht. Es ist nicht lange her, da herrschte in der deutschen Wissenschaft und auch beim DAAD die Auffassung vor, dass wissenschaftlicher Austausch und Internationalisierung immer und unter allen Umständen gut seien. Fragen nach Kosten, Nutzen und Grenzen wurden schon mal mit einem Stirnrunzeln beantwortet. Wurde dieser Idealismus der Realpolitik geopfert?
Das ist mir zu einfach. Die Welt ist geopolitisch in Unordnung geraten, darüber machen wir uns alle berechtigte Sorgen. Ja, es ist wichtig, sich gerade in einer solchen Welt den Idealismus und die Hoffnung zu bewahren. Denn es bleibt richtig: Der Austausch von Menschen über Kulturgrenzen hinweg ist ein Wert an sich, das Stiften interkultureller Erfahrungen und wissenschaftlicher Kooperationen zu Fragen, die uns auf diesem Planeten alle gemeinsam betreffen, ist ohne Alternative. Umgekehrt müssen wir aber anerkennen, dass anderswo Staaten, Regierungen und Regime erstarkt sind, deren Werte sich von unseren unterscheiden, und die ihre eigenen außenpolitischen Ziele verfolgen, und zwar mit großer Entschlossenheit. Auch diese Länder wollen wissenschaftliche Kooperation, aber aus Motiven, die nicht immer die unsrigen sind. Das müssen wir im Jahr 2023 bei allem, was wir als DAAD tun, im Hinterkopf haben. Sonst wären wir naiv.
"Wir kommen aus einer Zeit, in der Deutschland, Europa und der Westen insgesamt aus einer Position der Stärke heraus agieren konnten. Nun sehen wir uns konfrontiert mit einer veränderten Welt."
Sie sprechen von China?
China ist ein Beispiel. Wir haben ein großes Eigeninteresse daran, die Beziehungen zu einem der großen Hochschulmärkte nicht abbrechen zu lassen, zu einer der dynamischsten Wirtschaftsregionen überhaupt, die auch in vielen Forschungsfeldern sehr leistungsfähig geworden ist. Wir können und werden uns nicht abschotten, wollen aber gleichzeitig für unsere eigenen Interessen und Werte einstehen. Beides übereinzubringen, ist das große Kunststück. Das gilt für die Wissenschaft und genauso für die Wirtschaft oder die allgemeine Politik, wie wir gerade an den gemeinsamen Regierungskonsultationen sehen. Das neudeutsche Wort in dem Zusammenhang lautet "De-Risking", also ein Maximieren des Nutzens von Kooperationen bei gleichzeitiger Minimierung ihres wirtschaftlichen und politischen Risikos: Wir kommen aus einer Zeit, in der Deutschland, Europa und der Westen insgesamt aus einer Position der Stärke heraus agieren konnten. Nun sehen wir uns konfrontiert mit einer veränderten Welt, in der wir unsere Interessen, Ziele und Wertvorstellungen abwägen müssen mit denen der anderen, durchaus auch stärker auftretenden Seite.
Wie schafft man dieses Abwägen?
Bleiben wir bei China. Wenn wir für unser gemeinsames Stipendienprogramm die Bewerber:innen interviewen, wollen wir beim DAAD diese Gespräche aus grundsätzlichen Erwägungen nicht aufzeichnen. Die Chinesen aber wollen das. Also was tun, damit wir unsere Zusammenarbeit nicht beerdigen müssen? Wir haben uns verständigt, dass der DAAD das Auswahlverfahren nach seinen Standards durchführt und die Chinesen nach ihren. Und am Ende werden diejenigen gefördert, die auf beiden Ergebnislisten stehen.
Das hört sich so an, als hätten die chinesischen Bewerber in der Praxis wenig davon, wenn Sie demonstrativ demokratische Werte beschwören.
Das sehe ich anders. Wir haben das Ziel, das gemeinsame Förderprogramm fortzuführen – unter vertretbaren Bedingungen, ohne von unseren Standards abzulassen. Wir müssen aber anerkennen, dass die andere Seite auch ihre Grundsätze hat.
Bevor Sie demnächst in Ihre zweite Amtszeit gehen, die Frage: Ist irgendetwas von dem, was Sie sich Ende 2019 für Ihre erste Amtszeit vorgestellt hatten, nicht von der Realität überholt worden?
Ich habe damals drei inhaltliche Schwerpunkte benannt, und ich finde, alle drei haben in den vier Jahren an Bedeutung gewonnen. Als ich Ende 2019 von einem digitalen Erasmussemester sprach, wurde ich von vielen belächelt; seit der Pandemie ist dies anders. Wie wichtig zweitens die Festigung des europäischen Hochschulraums war und ist, muss ich angesichts mancher Verwerfungen zwischen EU-Mitgliedsstaaten nicht erläutern. Das dritte Thema, das ich aufrief, war das Einstehen für unsere Werte. "Im Schlafwagen werden wir die Wissenschaftsfreiheit nicht verteidigen", habe ich damals gesagt. Seitdem mussten wir beobachten, was in Afghanistan geschehen ist oder im Iran. Der größte sicherheitspolitische Schock aber war der 24. Februar 2022, der russische Angriff auf die Ukraine. Er hat uns gezeigt, dass viele der Voraussetzungen, unter denen wir akademischen Austausch betrieben haben, nicht so gottgegeben waren, wie wir annahmen in den Jahrzehnten des Friedens und der relativen Stabilität in Europa. Insofern kann ich meinen Schlafwagen-Satz heute nur wiederholen.
"Die Digitalisierung kam schneller und anders als erwartet, aber sie kam nicht unerwartet."
Bei der Digitalisierung ging es Ihnen damals um Nachhaltigkeit und die klimapolitischen Folgen des akademischen Austauschs.
In der Tat: Kein halbes Jahr, nachdem ich das gesagt habe, brach die Corona-Pandemie aus, die Studierenden konnten nicht mehr an ihre Gastuniversität reisen. Stattdessen nahmen sie an der Online-Lehre teil und erhielten trotzdem ihre Erasmus-Förderung oder ihr DAAD-Stipendium. Die Digitalisierung kam also schneller und anders als erwartet, aber sie kam nicht unerwartet. Diese Erfahrung können wir jetzt nutzen: Wenn die Hochschulen aus Nachhaltigkeitsgründen die physische Mobilität verringern wollen, können sie auf die bereits vorhandenen Konzepte zurückgreifen.
Allerdings gab es in der Corona-Zeit auch viel zusätzliches Geld. Jetzt fordern Pandemie und Ukraine-Krieg ihren haushaltspolitischen Tribut. Vergangenes Jahr haben Sie sich noch erfolgreich gegen Kürzungen beim DAAD gewehrt, gelingt Ihnen das auch dieses und nächstes Jahr?
Meine Universität in Gießen etwa bekommt wie alle hessischen Hochschulen von der Landesregierung eine für fünf Jahre feste Finanzierung und jährliche Steigerungsraten zugesichert. Vergleichbares kennen wir auf Bundesebene leider nicht. Der DAAD muss immer von Jahr zu Jahr wirtschaften und jedes Jahr um eine auskömmliche Finanzierung kämpfen. Zum Glück haben wir die guten Argumente auf unserer Seite, und wir sind hartnäckig darin, sie vorzubringen. Dadurch konnten wir 2022 den Bundestag dazu veranlassen, uns für 2023 ein Rekordbudget zu bewilligen. Für 2024 bin ich daher auch nicht hoffnungslos. Vor wenigen Wochen erst hat das BMBF die Förderung für unser Kompetenzzentrum Internationale Wissenschaftskooperationen (KIWi) verdoppelt. Die Wahrheit ist aber: All das bietet keinerlei Garantien für 2024.
Was haben Sie den DAAD-Mitgliedshochschulen für Ihre zweite Amtszeit als Schwerpunkte genannt?
Was ich jetzt sage, ist der Plan. Ob die Realität dann eine große Planungstreue zeigt, muss man sehen. Aus heutiger Sicht aber ist ein Fokus der nächsten vier Jahre die Erstellung einer neuen DAAD-Strategie, von der wir noch klären müssen, ob sie als Horizont das Jahr 2030 oder das Jahr 2035 hat. In jedem Fall wird sie sich dezidiert mit den geopolitischen Verwerfungen befassen, aber auch mit Fragen der Wissenschaftskommunikation und mit dem Beitrag, den wir bei der Bekämpfung des Fachkräftemangels leisten können. Sie soll pünktlich zum 100-jährigen Jubiläum fertig sein, das der DAAD 2025 feiert. Ein guter Zeitpunkt, um zurückzublicken, aber eben auch nach vorn – mit den Erfahrungen von einem Jahrhundert Austausch im Gepäck und mit einer neuen Strategie für die Welt der 20er und 30er Jahre.
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Israels Hochschulleitungen fordern Solidarität von ihren Kollegen aus aller Welt – und kritisieren ausgerechnet die US-Eliteunis Harvard und Stanford scharf.
"X"-Botschaft der Hebräischen Universität an Harvard und Stanford. Bild: Screenshot vom "X"-Account der Hebräischen Universität.
DIE BRIEFE, die Asher Cohen an seine amerikanischen Kollegen verschickte, hatten es in sich. "Ihre Stellungnahme verfehlt leider die geringstmöglichen Standards von moralischer Führung, Mut und Wahrhaftigkeit", schrieb der Präsident der Hebräischen Universität in Jerusalem gleichlautend an die Leitungen von Harvard und Stanford. Diese hätten "uns im Stich gelassen". Auf ihrem X-Account, wo sie die Schreiben parallel veröffentlichte, wurde die Hebräische Universität persönlich: "Ihr habt uns im Stich gelassen", steht dort in großen Lettern, gerichtet an die beiden bekanntesten US-Universitäten.
Was war passiert: Nach den Terrorangriffen der Hamas, bei denen letzten Angaben zufolge mindestens 1.400 Menschen ums Leben kamen, hatten sich die Chefs von Harvard und Stanford anders als viele Hochschulleitungen weltweit nicht per Presse-Statement, sondern nur an die eigene Hochschulöffentlichkeit geäußert. So schrieben Harvard-Präsidentin Claudine Gay und weitere akademischen Führungskräfte am 9. Oktober auf der Hochschul-Website, man sei erschüttert angesichts von Tod und Zerstörung, hervorgerufen durch den Hamas-Angriff, der gegen Bürger in Israel gerichtet gewesen sei, und angesichts des Krieges in Israel und Gaza.
Ebenfalls am 9. Oktober, zwei Tage nach dem Angriff, hatten Stanford-Präsident Richard Saller und Provost Jenny Martinez zunächst drei Absätze auf die Website gesetzt. "Wir sind tief traurig und erschrocken angesichts von Tod und menschlichem Leid", schrieben die beiden und sprachen von "niederschmetternden Ereignissen in Israel und Gaza".
Beide Stellungnahmen beschworen im Anschluss die Bedeutung der akademischen Gemeinschaft und versprachen Unterstützung für alle auf dem Campus, die sie bräuchten.
"Alles, was es bräuchte, ist ein wenig Menschenverstand und minimale Integrität"
Normalerweise unterhält die 1918 gegründete Hebräische Universität, die als bekannteste und bedeutendste Hochschule Israels gilt, beste Beziehungen zu Harvard und Stanford. Globale Leuchttürme der akademischen Forschung und Lehre seien sie, heißt es auch im Beschwerdebrief von Präsident Cohen, den auch Rektor Tamir Sheafer und Ex-Rektor Barak Medina mitunterzeichnet haben.
Genau deshalb ist ihre Enttäuschung jetzt offenbar so groß: Die Hamas-Führung zeige durch ihre Worte und Taten deutlich, dass der Massenmord mit der Absicht geschehen sei, die Juden in Israel zu vernichten, weswegen man kein Experte für internationales Recht sein müsse, um die extreme Immoralität dieses Genozid-Verbrechens zu erkennen. "Alles, was es bräuchte, ist ein wenig Menschenverstand und minimale Integrität." Doch den Statements der Führungsetagen von Harvard und Stanford fehle beides. Das Ziel, eine geschlossene Hochschul-Gemeinschaft zu erhalten, werde über die eindeutige Verurteilung des Bösen gestellt.
In Harvard verursachte nur einen Tag nach dem Statement der eigenen Hochschulleitung der Offene Brief des studentischen "Harvard Undergraduate Palestine Solidarity Committee" weitere Aufregung, demzufolge allein das "israelische Regime" mit seinem "Apartheid"-System die Verantwortung trage für alle kommende Gewalt. 33 weitere Harvard-Studierendengruppen setzten ihre Unterschrift darunter. Woraufhin unter anderem der frühere US-Finanzminister und ehemalige Harvard-Präsident Larry Summers auf "X" kommentierte, dieses Statement mache ihn krank: Das "Schweigen der Harvard-Leitung" verbunden mit dem Brief der Studierenden sorge dafür, das Harvard "bestenfalls neutral" dastehe angesichts der "Terrorakte gegen den jüdischen Staat Israel“.
Woraufhin Präsidentin Gay in einem weiteren Statement nachschob, die Universität "verurteilt die terroristischen Gräueltaten der Hamas". Egal, wie man zu den Ursachen des seit langem bestehenden Konfliktes stehe, eine derartige Unmenschlichkeit sei schrecklich. Im Übrigen spreche nur die Hochschulleitung für die Universität.
Stanford: "Schmaler Grat zwischen Plattitüden und Überpolitisierung"
Die Stanford-Führung meldete sich am 11. Oktober ebenfalls noch einmal in einem "Update für die Stanford-Community" zu Wort, verteidigte jedoch ihre verbale Zurückhaltung. Stanford sei eine Gemeinschaft von Gelehrten. "Wir glauben, es ist wichtig, dass die Universität als Institution sich grundsätzlich einer Positionierung bei komplexen politischen oder globalen Fragen enthält, die über unseren direkten Zuständigkeitsbereich hinausgehen."
Dass viele Universitäten in den vergangenen Jahren dazu übergingen, häufig aktuelle politische Ereignisse zu kommentieren, sei problematisch und führe bei Hochschulangehörigen zu gefühlter Inkonsistenz – weil die Äußerung zu einem Ereignis dann zwangsläufig einhergehe mit dem Schweigen zu anderen. Außerdem könne der Eindruck einer institutionellen Orthodoxie entstehen, der die Wissenschaftsfreiheit beeinträchtige. Schließlich bewege man sich bei jedem Statement auf einem schmalen Grat zwischen Platitüden und überpolitisierten Positionen.
Universitäten und Forschungseinrichtungen aus Deutschland und vielen anderen Ländern hatten nach den Hamas-Angriffen mit vehementen Presse-Erklärungen reagiert. "Wir sind schockiert und entsetzt über die furchtbare Gewalt der Terroristen und verurteilen diese barbarischen Taten aufs Schärfste. Sie führen zu unsäglichem Leid unter der gesamten Zivilbevölkerung", schrieb etwa die Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen. "Wir stehen fest in Solidarität mit Israel."
Am Sonntag unterzeichnete Asher Cohen einen weiteren Offenen Brief, diesmal zusammen mit allen Präsidenten israelischer Universitäten. Adressaten waren ihre Kollegen, die "Universitätsleitungen in aller Welt".
"Es gibt keine guten Leute auf beiden Seiten", schreiben Israels Hochschulleitungen
Nach dem Dank für die von vielen erhaltene Unterstützung und Mitgefühl kommen die israelischen Hochschulchefs zum Punkt: "Während die Leitungen einiger akademischer Institutionen öffentliche Verurteilungen herausgaben, erfuhren wir, dass andere die Hamas-Angriffe lediglich als 'ein weiteres Ereignis' im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern sehen, was von unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden könne." Das entspreche absolut nicht der Wahrheit angesichts der singulären Barbarei. "Es gibt keine guten Leute auf beiden Seiten."
Es folgt ein Satz, mit dem sich die israelischen Unipräsidentin vor allem auf Harvard beziehen dürften: Sie hätten von Unterstützungsinitiativen an Universitäten außerhalb Israels für Hamas und den Islamischen Jihad erfahren, die von Lehrenden und Studierenden verantwortet würden, "und wir sehen, dass es nicht immer eine eindeutige Reaktion der Hochschulleitungen darauf gegeben hat".
Die Vizepräsidentin für Internationales der Universität von Tel Aviv, Milette Shamir, lobte unterdessen im Research.Table, in Deutschland habe es "sehr klare Statements" der wissenschaftlichen Community gegeben, die Unterstützung sei "außergewöhnlich". Der neue Brief habe sich zu einem großen Teil auf einige "Elite-Universitäten in den USA" bezogen. Deren Reaktionen seien gerade zu Anfang "lauwarm und sehr zurückhaltend" gewesen. "Jetzt sehen wir, in einer zweiten Runde, klarere Statements, die die besondere Situation anerkennen."
Dieser Artikel erschien heute in einer kürzeren Fassung auch im Tagesspiegel.
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Die China-Euphorie von einst ist auch in der Wissenschaft dem Misstrauen gewichen. Die Bundesrepublik definiert gerade ihre Außenwissenschaftspolitik neu.
Foto: Edward Jenner / pexels.
ES WAR IM JAHR 2009, im "Deutsch-Chinesischen Jahr der Wissenschaft und Bildung", als die damalige Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) vier Tage durch China reiste, auf Einladung ihres Pekinger Amtskollegen, eine Berufsbildungskonferenz eröffnete und eine Wissenschaftsausstellung auf der Deutsch-Chinesischen Promenade. "Deutschland und China sind wichtige Partner in der Forschung", sagte Schavan. "Wir wollen unsere Zusammenarbeit weiter ausbauen und insbesondere den Austausch zwischen unseren Hochschulen, Bildungseinrichtungen und Forschungsstätten intensivieren."
14 Jahre später klingt die amtierende Bundesforschungsministerin so: "Wir dürfen China nicht naiv gegenüber sein und müssen extrem aufpassen", sagte Bettina Stark-Watzinger (FDP) T-Online. Hochschulen müssten Forschungskooperationen "sorgsam abwägen", gerade bei Technologien aufpassen, "die militärisch genutzt werden oder auch entgegen unserer Werte eingesetzt werden können."
Sie würde kein Konfuzius-Institut an ihrer Hochschule haben wollen, sagt BMBF-Chefin Stark-Watzinger
Die China-Euphorie von einst ist dem Misstrauen gewichen. Beispiel Konfuzius-Institute: Vor 15 Jahren galten sie als chinesisches Pendant der Goethe-Institute, oftmals betrieben in Partnerschaft mit deutschen Hochschulen, die sie als Aushängeschilder ihrer China-Kompetenz nutzten. Dass sie und die an ihnen hängenden Professuren größtenteils aus Peking finanziert und immer eine chinesische Leitung hatten, verursachte damals nur ein Achselzucken. Heute führt es dazu, dass immer mehr Universitäten ihre Konfuzius-Verbindungen kappen, wie Hamburg, Düsseldorf oder zuletzt Trier – oder wie an der Freien Universität Berlin seit Jahren erbittert darüber gestritten wird.
"Ich würde sie an meiner Hochschule nicht haben wollen", meint Forschungsministerin Stark-Watzinger – während etwa Ex-Kanzlerin Merkel noch 2020 ihre "herzlichsten Grüße und Glückwünsche" zum Jubiläum des Konfuzius-Instituts Stralsund geschickt hatte.
Vor wenigen Jahren, sagt Marijke Wahlers von der Hochschulrektorenkonferenz, hätten sich Hochschulen noch rechtfertigen müssen, wenn sie die Kooperation mit China nicht zur Top-Priorität gemacht hätten. "Heute ist es oft genau umgekehrt."
Früher nahm man an Deutschlands Hochschulen oft auch mehr oder minder achselzuckend hin, dass sich in einer Besuchergruppe chinesischer Wissenschaftler oft genug mindestens ein Gast befand, der mehr oder minder offen als staatlicher Aufpasser fungierte. Oder dass chinesische Doktoranden regelmäßig in der chinesischen Botschaft vorsprachen.
Risikoanalyse vor Kooperation
Dabei geht es jetzt um mehr als nur das Aushandeln einer neuen Beziehung zu China. Spätestens der russische Angriff auf die Ukraine hat ganz grundsätzlich klar gemacht: Die alte Regel deutscher Außenwissenschaftspolitik – je mehr Kooperation, desto besser – gilt in dieser Form nicht mehr. Bestes und zugleich teuerstes Beispiel: Die Milliarden teure Beschleunigeranlage FAIR in Darmstadt wird jetzt ohne den Hauptpartner Russland weitergebaut.
Einer, der die neuen wissenschaftspolitischen Realitäten früh gesehen hat, war ausgerechnet der Präsident derjenigen Organisation, die bis heute das Motto "Wandel durch Austausch" hat. Joybrato Mukherjee, seit 2020 an der Spitze des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, sagte kurz vor seinem Amtsantritt: "Im Schlafwagen werden wir die Wissenschaftsfreiheit nicht verteidigen". Und: Eine rote Linie in der Zusammenarbeit sei gegeben, "wenn Sie durch den wissenschaftlichen Austausch ein totalitäres Regime eher stabilisieren, als dass sie den Wissenschaftlern und Studierenden vor Ort helfen".
Was aber auch zeigt, wie hoch die Hürde für einen Beziehungsabbruch ist – und laut Mukherjee sein muss. "Wir müssen, wollen und werden weiter mit China zusammenarbeiten", sagt er. "Der Unterschied zu früher ist, dass wir heute viel ungeschminkter unsere eigenen strategischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Interessen kommunizieren und verfolgen."
Doch was genau sind die strategischen Interessen der deutschen Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen? Woher wissen sie, ob und wann sie Chinas Wissenschaftlern trauen können? Und wie genau definieren sie die Grenzen der Zusammenarbeit? Viele Hochschulen und Wissenschaftler wünschten sich eine Checkliste mit Do’s und Don’ts zum Abhaken, sagt Marijke Wahlers von der HRK. "Aber die kann es nicht geben. Es bleibt immer bei Einzelfallentscheidungen."
Die meisten No-Go-Zonen wissenschaftlicher Zusammenarbeit sind nicht so leicht identifizierbar
Unterdessen hat jetzt eine Gruppe von US-Forschern im Fachblatt Science gefordert, die Hochschulen müssten in ihrem Streben nach einem weiter offenen Austausch proaktiv die Grenzen der Zusammenarbeit mit China benennen. So sollten US-Einrichtungen keine Studierenden und Wissenschaftler aufnehmen, die bekanntermaßen für Chinas Militär oder Sicherheitsbehörden arbeiteten. Auch sollten sie nicht mit Chinas Militärforschungseinrichtungen oder den sogenannten National Defence Universities kooperieren – und auch nicht mit chinesischen Firmen, die im Verteidigungssektor aktiv seien. Von der Teilnahme an chinesischen Talent-Recruiting-Programmen, die dem Abfluss von US-Technologie nach China dienten, raten sie ab.
Das Problem bleibt indes, dass die meisten No-Go-Zonen wissenschaftlicher Zusammenarbeit eben nicht so leicht identifizierbar sind. Weshalb der DAAD 2019 "KiWi" gegründet hat, das Kompetenzzentrum Internationale Wissenschaftskooperation, mit Unterstützung der Bundesregierung und auf Empfehlung des Wissenschaftsrates. Tatsächlich sei der Bedarf an Beratung gewaltig, sagt KiWi-Leiterin Friederike Schröder. 1200 Anfragen aus deutschen Hochschulen hat das Kompetenzzentrum 2022 bearbeitet, doppelt so viele wie im Jahr zuvor.
Etwa 400 davon erhielt der DAAD zu bestehenden oder möglichen Projekten mit China. "Die Unsicherheit hat stark zugenommen", sagt Schröder und nennt Stichworte: der Umgang mit Dual Use, die Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis, ungewollter Wissensabfluss, der Schutz sensibler Forschungsdaten. "Gleichzeitig will man aber den Austausch auf Augenhöhe erhalten", sagt Schröder. "Das geht nur, wenn sich die Hochschulen einer ehrlichen Risikoanalyse stellen." Dabei unterstützt KiWi sie – und hat im April vom BMBF sein Budget um eine zusätzliche Million pro Jahr aufgestockt bekommen – fast eine Verdopplung.
Zwei von elf Projekten gestoppt
Eine der Hochschulen, die sich der Risikoanalyse stellt, ist die RWTH Aachen. Kein Wunder, gehört sie doch zu den Universitäten in Deutschland, die seit vielen Jahren enge Bande pflegen. So sind zum Beispiel 3400 der rund 47.000 RWTH-Studierenden Chinesen. Ihre Zahl hat sich vervierfacht seit 2011 und auch während Corona kaum eingebrochen. Die für Internationales zuständige Prorektorin Ute Habel berichtet, dass sie in der Hochschulleitung gerade an einer neuen China-Leitlinie arbeiten, "als Orientierungshilfe für mögliche Kooperationen und um auf den Prozess hinzuweisen, der dann einzuhalten ist."
So gingen alle geplanten Forschungsprojekte mit Drittstaaten durch die Exportkontrolle, und besonders streng sei die bei sogenannten Waffenembargostaaten, zu denen auch China gezählt werde. Zwölf von 452 Projekten habe die RWTH-Verwaltung seit 2020 als durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) genehmigungspflichtig eingestuft, bei elf habe es sich um Partner aus China gehandelt. Zwei davon seien bislang von der BAFA abgelehnt worden und acht genehmigt. "Abgesehen von der rechtlichen Bewertung werden alle Vorhaben, bei denen Zweifel an der rein wissenschaftlichen Motivation der Partner bestehen, im Rektorat besprochen, wir haben eine Ethikkommission, und wenn nötig, stellt unser Verbindungsbüro in Peking weitere Recherchen an."
Eines, sagt Habel, dürfe man bei aller berechtigten Vorsicht nicht vergessen. "Es gibt immer mehr Forschungsfelder vom Klimaschutz bis zur künftigen Energiegewinnung, wo die Chinesen auch wissenschaftlich führend sind, wir also von ihrem Wissen profitieren können."
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#MeToo in der Wissenschaft? Die strukturelle Benachteiligung von Frauen in Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen wird in Deutschland meist totgeschwiegen. Das müssen wir ändern. Ein Gastbeitrag von Rena K. Nieswind*.
*Der Name der Autorin wurde geändert. Bild: chenspec / Pixabay.
EINE ABENDLICHE INSTITUTSFEIER irgendwo in Deutschland: Ein Arbeitsgruppenleiter, der perspektivisch auf eine Juniorprofessur berufen werden soll, bändelt mit einer Doktorandin der Gruppe an. Im Nachgang vermittelt sie ihm, dass sie keine nähere Beziehung zu ihm haben möchte. Einige Mitglieder der Gruppe, darunter diese beiden, nehmen wenig später an einer Konferenz im Ausland teil, wofür eine Unterkunft in einem "Bed & Breakfast" gebucht wurde. An einem der Abende, die Doktorandin schläft bereits in ihrem Zimmer, klopft der Arbeitsgruppenleiter im volltrunkenen Zustand an ihre Tür und fordert sie zu sexuellen Handlungen auf. Die Doktorandin ist paralysiert und lässt den sexuellen Übergriff über sich ergehen. Danach vertraut sie sich der Gleichstellungsbeauftragten der Universität an, die Mitglieder der Hochschulleitung kontaktiert und um Unterstützung und Aufklärung bittet. In der Folge passiert: nichts. Weil die Betroffene irgendwie doch selber schuld ist?
Machtmissbrauch, systematische Benachteiligung und sexualisierte Gewalt gegen Frauen machen seit einiger Zeit verstärkt Schlagzeilen. Viel ist dabei von Vorfällen in der Politik, in den Medien oder der Wirtschaft die Rede – und kaum einmal von den Zuständen an Universitäten im In- und Ausland. Und wenn, dann handelt es sich um abstoßende Einzelfälle. Die noch dazu oft nur geahndet werden, wenn der mediale Druck doch einmal zu groß wird.
Manchmal schwappt etwas von der Debatte über strukturelle Diskriminierung "über den Teich", aber das wird meist schnell abgetan, das sei halt in den USA so, während es hierzulande "anders zugehe". Leben die Mitglieder deutscher Universitäten, Hochschulen und anderer Wissenschaftsinstitutionen tatsächlich in einer weitgehend geschützten Blase, umgeben von gegenseitiger Wertschätzung und respektvollem Umgang miteinander?
Diskriminierung auf allen Ebenen
des akademischen Betriebs
Leider nein, wohl eher in einer aus karrierepolitischen Gründen schweigenden Akzeptanzwelt. Erschreckende Vorfälle gibt es auch in Deutschland auf allen Ebenen des akademischen Betriebs, die Erfahrungen reichen von der Studentin bis zur Professorin – wobei der Anteil an Frauen durch die Qualifizierungsstufen signifikant absinkt, bis auf dem Level der Professur eine deutliche Unterrepräsentanz an Frauen erreicht ist.
Der Anteil an Professorinnen liegt aktuell bei etwa einem Drittel, und das trotz zahlreicher Bemühungen der vergangenen Jahre, hier Veränderungen herbeizuführen. Professorinnen sind im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen besonders stark von strukturellen Defiziten, etwa einer fehlenden Unterstützung durch Personal- und Beschwerdemanagement-Systeme, betroffen und werden im Bedarfsfall oft allein gelassen.
Wie die Professorin, die ein Forschungsprojekt in einem Verbund betreut, in dem der Frauenanteil kleiner als 20 Prozent ist, und beabsichtigt, die wissenschaftlichen Ergebnisse in einer Fachzeitschrift zu veröffentlichen. Sie benennt alle an der Studie beteiligten Wissenschaftler*innen und sendet den Entwurf an die Koautor*innen zur finalen Überarbeitung. Daraufhin erhält sie eine Rückmeldung von einem männlichen Koautor, der sie auffordert, den Institutsdirektor (männlich) auf die Veröffentlichung mit aufzunehmen. Ihre Argumentation, dass dieser nicht zur wissenschaftlichen Arbeit beigetragen habe, wird ignoriert und auf die Mitnutzung von Infrastruktur des kooperierenden Instituts hingewiesen. Die kaum verhohlene Drohung: Diese Mitnutzung lässt sich jederzeit beenden.
Da ist die Juniorprofessorin, die im Rahmen ihrer befristeten Professur schwanger wird und Angst hat, es dem Lehrstuhlinhaber/Institutsleiter mitzuteilen; die Professorin, die in männlich dominierten Gremien keine Stimme erhält oder nicht ernst genommen wird. Oder die vielfach belegte Tatsache, dass Berufungszusagen oder Leistungszulagen im Falle von Professorinnen bei gleicher Leistung geringer ausfallen als bei ihren männlichen Kollegen. Und das sind nur einige Beispiele für die strukturelle Diskriminierung von Frauen im deutschen Wissenschaftssystem.
Nur wenige haben den Mut,
sich aufzulehnen
Hinzu kommen verbale Attacken: "Frau" sei nicht so leistungsfähig, weil sie sich neben dem harten Job einer Professur noch auf die Familie konzentrieren müsse; warum "sie" sich das überhaupt antue und nicht ihrem Mann die Finanzierung der Familie überlasse, wenn sie durch eine Schwangerschaft bzw. bereits vorhandene Kinder forschungstechnisch eh nicht mehr auf internationalem Niveau mithalten könne. Äußerungen, die fast jeder Professorin irgendwann einmal begegnen. Diskriminierungen aus religiösen, kulturellen oder sprachlichen Gründen gibt es noch obenauf.
Nur wenige haben den Mut, sich dagegen aufzulehnen, solche Situationen bekannt zu machen oder auch nur, sich jemandem anzuvertrauen. Denn immer noch verhindern Abhängigkeiten in Qualifikations- oder Berufungsverfahren oder bei der Ressourcenzuteilung die ehrliche und transparente Auseinandersetzung mit diesen Themen.
Sicher: Die jüngste Initiative der Hochschulen in Nordrhein-Westfalen, mit einer gemeinsamen Selbstverpflichtungserklärung gegen Machtmissbrauch und übergriffiges Verhalten vorzugehen, ist löblich. Es stellt sich allerdings die Frage, was genau wo und wie umgesetzt wird – wenn doch die Strukturen für ein adäquates Meldewesen, für ein entsprechend organisiertes Beschwerdeverfahrensmanagement und die dafür nötigen Kontrollsysteme gegenwärtig weitgehend fehlen und ihre Etablierung auch dadurch behindert wird, dass solche Ämter und Tätigkeiten an Hochschulen leider oft unprofessionell begleitet werden – erst recht in einer weitgehend nach ständischen Regeln funktionierenden Organisation wie der deutschen Wissenschaft.
Das Warten auf die Entfristung oder die Berufung auf eine Lebenszeitprofessur, die Integration in bestehende Netzwerke, die Begutachtungen von Veröffentlichungen jeglicher Art oder von Projektanträgen durch (vorwiegend) männliche Kollegen, die Etablierung und Aufrechterhaltung von notwendigen Kooperationen: Das sind nur einige der wesentlichen Umstände, die über Erfolg und Status im akademischen System entscheiden und viele Frauen zum Schweigen bringen.
Sie verzichten lieber auf eine als vermeintlich konfrontativ empfundene Vorgehensweise zur Durchsetzung ihrer berechtigten Interessen, um – das ist das größte Paradox – genau diese nicht zu gefährden. Wie lange noch?
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In diesem Beitrag stellt Johanna Bunes folgenden Aufsatz vor: Öztürk, Cemal / Pickel, Gert / Schneider, Verena (2021): Religion, Vorurteile und Rechtsextremismus - kommt zusammen, was nicht zusammengehört?; in: Blättel-Mink, Birgit (Hrsg.): Gesellschaft unter Spannung. Verhandlungen des 40. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2020, online unter: https://publikationen.soziologie.de/index.php/kongressband_2020/article/view/1334.In diesem Beitrag thematisieren Öztürk, Pickel und Schneider Zusammenhänge und Wirkung von Religiosität und rechtsextremen Einstellungen. Doch was kann darunter verstanden werden? Während es Antisemitismus schon sehr lange gibt, gilt die Muslimfeindlichkeit als ein relativ junges Phänomen. Dabei werden AnhängerInnen verschiedener religiöser Gruppen als Ursache von Konflikten verantwortlich gemacht. Nach dieser Theorie sind die Werte dieser Religionen nicht mit den westlichen Werten vereinbar. Dadurch kommt es zu ethnopluralistischen Forderungen wie das Stoppen der Einwanderung und die Rückführung in die (angeblichen) Herkunftsländer.Der Beitrag befasst sich diesbezüglich mit zwei zentralen Fragen. Zuerst wird überprüft, ob ein Zusammenhang zwischen Religion beziehungsweise Religiosität und rechtsextremen Einstellungen vorliegt. Dabei liegt der Fokus nicht auf rechtsextremen Parteien, sondern auf dem Anteil der Bevölkerung, der für rechtsextreme Überzeugungen und Vorstellungen anfällig ist. Um adäquate Aussagen treffen zu können, wurde nach Brähler und Decker eine Konsensdefinition mit sechs Dimensionen konstituiert:Affinität zur Diktatur als Staatsform,nationaler Chauvinismus,Verharmlosung des Nationalsozialismus,Antisemitismus,Fremdenfeindlichkeit,Sozialdarwinismus.Diese Dimensionen werden seit 2002 in den Leipziger Autoritarismus-Studien mit jeweils drei Items gemessen (vgl. S. 3). Um eine These zu entwickeln, werden vier Studien aufgeführt, welche die Entwicklung der rechtsextremen Einstellungen seit 2002 erforschen. Bei diesen Studien handelt es sich umdie Leipziger Autoritarismusstudien (LAS) 2002-2020,die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) 2018,das International Society Survey Programme (ISSP) 2018 undden Survey des Projekts 'Konfigurationen individueller und kollektiver religiöser Identitäten und ihre zivilgesellschaftlichen Potenziale (KONID)' 2019 (vgl. S. 3).Die LAS-Studie zeigt, dass die Anzahl der Personen mit geschlossen rechtsextremen Einstellungen, also einer Zustimmung zu allen 18 Items, in Gesamt- und Westdeutschland seit 2002 rückläufig ist. Allerdings ist seit 2006 ein Anstieg in Ostdeutschland zu verzeichnen. Es wurde zudem die Beobachtung gemacht, dass die meiste Zustimmung der Items im Bereich von chauvinistischen und fremdenfeindlichen Aussagen zu verzeichnen ist. Die Ergebnisse der Studien erwiesen, dass der Anteil der Personen mit geschlossen rechtsextremen Vorstellungen gering ist, allerdings ist die Zustimmung für einzelne Dimensionen deutlich höher. Demzufolge "können rechte AkteurInnen ein Mobilisierungspotenzial sehen, indem sie an verbreitete Vorurteile …anknüpfen" (S. 4).Doch inwieweit beeinflussen sich nun Religiosität und Rechtsextremismus? Lassen sich Zusammenhänge erkennen? Mithilfe von verschiedenen Daten werden drei zentrale Thesen überprüft, die den Zusammenhang von Rechtsextremismus und Religiosität beschreiben. Die erste These besagt, dass Gruppenablehnungen religiöser Gruppen rechtsextreme Einstellungen verstärken (vgl. S. 4). Diese These lässt sich durch die Social Identity Theory und Integrated Threat Theory bekräftigen.Die erste Theorie "besagt, dass das Verhalten von Personen durch ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe bestimmt wird" (S. 4). Dieses Verhalten lässt sich erklären, da die Zugehörigkeit zu einer Gruppe den Selbstwert steigert. Aufgrund der eigenen Selbstwertsteigerung erfährt die In-Group Aufwertung, während der Out-Group negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Gleichzeitig stützt sich die Integrated Threat Theory auf die aufkommenden Bedrohungsängste, welche aus der Auf- und Abwertung resultieren und damit einhergehen.Diese können realistischer oder symbolischer Struktur sein. Unter realistischen Bedrohungsängsten versteht man "wahrgenommene existenzielle Bedrohungen des physischen, politischen oder materiellen Zustands der In-Group" (S. 5). Dagegen erweisen sich wahrgenommene Differenzen zwischen Normen und Werten als symbolische Bedrohung, wie beispielsweise 'die Islamisierung des Abendlandes'. Diese Wahrnehmungen können Ursache für die Entwicklung von Vorurteilen sein. Diese Vorurteile nutzen wiederum rechtsradikale oder rechtsextreme Gruppierungen für Instrumentalisierungen bestimmter Religionen als Feindbild mit der zuvor beschriebenen Vorstellung der Ungleichheit.Die zweite These der Fragestellung erwägt, ob die christliche Religiosität als Sozialform rechtsextreme Einstellungen hemmt. Dabei soll der Austausch mit Mitgliedern anderer religiöser Gruppen zum Abbau der Vorurteile beitragen. Sozial engagierte Mitglieder mit pluralistischen Ansichten greifen auf religiöse Werte in sozialer Ausrichtung zurück und wirken mit dieser Offenheit rechtsextremen Einstellungen entgegen. Diese Annahme beruht auf der Kontakthypothese, welche laut Öztürk, Pickel und Schneider empirisch nachgewiesen werden konnte. Das religiöse Engagement zur Kontaktsuche mit anderen religiösen Gruppen wird zum Schlüsselmerkmal dieser These.Die dritte These behauptet dagegen, dass rechtsextreme Einstellungen begünstigt werden, wenn die Mitglieder der In-Group einer dogmatischen und exklusivistischen Religiosität angehören. Diese These bestätigt sich durch die Ergebnisse der zuvor erwähnten ALLBUS- und KONID-Studie. Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit weisen eine enge Verbindung mit rechtsextremen Einstellungen auf, somit sind dogmatisch-fundamentalistische ChristInnen anfällig für rechtsextreme Einstellungen und Inhalte. Beide Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen Ablehnung anderer religiösen Gruppen und rechtsextremen Vorstellungen.Aus diesen Ergebnissen der ersten Fragestellung entwickelt sich die zweite zentrale Frage des Beitrages. Hier erörtern Öztürk, Pickel und Schneider die Wirkung von Religiosität auf rechtsextreme Vorstellungen. Dabei wird zunächst untersucht, ob rechtsextreme Vorstellungen in bestimmten religiösen Gruppen vermehrt existieren. Dabei zeigt sich - laut der Leipziger Autoritarismus-Studie - keinerlei ausschlaggebende Differenz zwischen ProtestantInnen, KatholikInnen und weiteren Ausrichtungen. Es herrscht also keine direkte Verbindung zwischen Religiosität beziehungsweise religiöser Zugehörigkeit und rechtsextremen Einstellungen. Doch es lassen sich indirekte Beziehungen entdecken.Wie die zweite und dritte These zeigte, besteht ein ambivalentes Verhältnis von Religiosität und Rechtsextremismus. Religiosität kann rechtsextreme Einstellungen verstärken, aber gleichzeitig auch hemmen. Dieses Paradoxon erklären Öztürk, Pickel und Schneider im Betrag anhand der KONID-Studie. Die Studie betrachtet das Verständnis von Religion. Dabei erweist sich eine Selbstbeschreibung als religiös oder der Kontakt mit anderen Religionen positiver Art als ohne Effekt. Dagegen zeigt die Studie, dass eine dogmatisch-fundamentalistische Auslegung der eigenen Religion die Aneignung von rechtsextremen Einstellungen begünstigen und fördern kann.Ebenso überprüfte die Studie den Zusammenhang rechtsextremer Einstellungen und der eigenen Religiosität kombiniert mit sozialem Engagement. Die Ergebnisse zeigen, dass Personen mit dieser Auffassung der eigenen Religion weniger anfälliger sind für rechtsextremistische Inhalte. Es bilden sich also zwei Pfade. Beide besitzen die Gemeinsamkeit der Selbstbeschreibung als religiös, allerdings mit einem unterschiedlichen Verständnis von Religion, was sich wiederum auf die Anfälligkeit für rechtsextreme Ausrichtungen auswirkt.Im Beitrag wird dieser Zustand noch mit einem weiteren, vertiefenden Mediationsmodell ergänzt. Zu den zwei Pfaden wird Bildung, Geschlecht und Alter überprüft. Diese zeigten allerdings keinen Effekt. Letztendlich ist ein direkter Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe, der eigenen Religiosität und rechtsextremen Vorstellungen nicht erwiesen worden. Allerdings können dogmatisch-fundmentalistische Vorstellungen einer Religion eine Brücke bilden zu Vorurteilen sowie Auf- und Abwertungen. Diese können von rechtsextremen AkteurInnen genutzt werden, um Feindbilder zu kreieren und die Ideologie von Ungleichheit zu befördern.Dahingehend ist es wichtig, die eigene Religiosität mit sozialem Engagement und pluralistischen, offenen Überzeugungen zu setzen. Dieses inkludierende Religionsverständnis wirkt hemmend und ermöglicht ein Zusammenleben, ganz im Gegensatz zu der Vorstellung der Unvereinbarkeit der unterschiedlichen Religionen und Werte, welche rechtsextreme AkteurInnen postulieren.Da nur ein geringer Anteil der dogmatisch-fundamentalistischen ChristInnen auf rechtsextreme Inhalte zurückgreifen, mag es den Anschein erwecken, dass dieser Sachverhalt nicht großartig beachtet und weiterhin erforscht werden muss. Allerdings sind Annäherungen und Offenheit für rechtsextremistische Einstellungen, Vorstellungen und Inhalte ein ausschlaggebendes Argument und bieten sich somit für weitere Untersuchungen auf diesem Gebiet an (vgl. S. 11).
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Der neue OECD-Bildungsbericht zeigt: Deutschlands soziale Polarisierung spiegelt sich auch in seinem Bildungssystem wider. Wie Bund und Länder reagieren – und was sich tatsächlich aus den Ergebnissen lernen ließe.
Illustration: pinterastudio / pixabay.
BUND UND LÄNDER IN A NUTSHELL: Als am Dienstag der Industriestaatenverband OECD seinen jährlichen Bildungsvergleich "Bildung auf einen Blick" präsentierte, kommentierte BMBF-Staatssekretär Jens Brandenburg (FDP): "Es ist alarmierend, dass der Anteil gering qualifizierter junger Erwachsener in Deutschland erneut gestiegen ist." Es brauche daher dringend eine bildungspolitische Trendwende. Mit dem geplanten Startchancen-Programm wolle man "den großen Hebel" ansetzen. Anschließend lobte er die berufliche Bildung als "ausgezeichnet".
Während Torsten Kühne (CDU), Vorsitzender der KMK-Amtschefskonferenz und Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung, mit dem Lob der beruflichen Bildung in Deutschland anfing, die "weltweit großes Ansehen" genieße und führe in vielen Bereichen "zu erfreulichen Ergebnissen" führe. Um dann zu sagen: "Besondere Sorge bereitet uns, dass der Anteil der gering qualifizierten Erwachsenen angestiegen ist." Es bleibe eine "kontinuierliche Aufgabe, unsere Bildungslandschaft weiter zu verbessern, um sicherzustellen, dass alle jungen Menschen in Deutschland die besten Bildungschancen erhalten".
Zwischen Alarmismus und Allgemeinplätzen
Sowohl der alarmistische Ton des Bundes (der überwiegend von der Medienberichterstattung aufgegriffen wurde) als auch die betont nüchterne, in Allgemeinplätze mündende Rhetorik aus den Ländern reflektieren den Zustand des deutschen Bildungswesens. Dazu das Selbstverständnis seiner politischen Akteure. Und die Beziehung, die sie im Moment zueinander pflegen.
Zuerst aber einige wichtige OECD-Ergebnisse und was sie bedeuten.
Erstens: Im Gegensatz zu allen anderen untersuchten Ländern bis auf Tschechien stieg in Deutschland der Anteil der 25- bis 34-Jährigen ohne Berufsausbildung oder Abitur zwischen 2015 und 2022: um drei Prozentpunkte auf 16 Prozent. Das ist viel. Und ja, das kann auch mit dem Zustrom an Geflüchteten in den vergangenen Jahren zu tun haben, von denen viele in diese Altersgruppe fallen und keinen entsprechenden Abschluss mitbringen konnten. Aber als alleinige Erklärung taugt das nicht, wie der Verweis auf Schweden zeigt. Dort ging der (in den Jahren vorher stark gestiegene) Prozentwert junger Leute ohne mindestens Sekundarstufe-II-Abschluss seit 2015 um drei Prozentpunkte auf 15 herunter – obwohl Schweden noch 2015 und 2016 auf die Bevölkerung bezogen sogar mehr Menschen aufnahm als Deutschland. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Schweden seit 2016 den Zugang für Geflüchtete extrem erschwert hat.
Zweitens: Zu den großen Erfolgsgeschichten der Bildungspolitik zählt, dass Deutschland bei den akademischen Abschlüssen seinen lange gewaltigen Rückstand weiter aufholt. 2022 hatten 37 Prozent einen Hochschulabschluss (in der OECD insgesamt 47 Prozent), sieben Prozentpunkte mehr als 2015. Bemerkenswert ist, dass sich in der Bundesrepublik erst jetzt die Schere zwischen den Geschlechtern öffnet, die aus vielen anderen Ländern lange bekannt ist. Akademiker-Anteil bei den Männern: 35 Prozent (+6); bei den Frauen: 40 Prozent (+9).
Drittens: So viel in Deutschland im vergangenen Jahr über die sogenannten NEETs diskutiert wurde, also über junge Menschen, die sich weder in Ausbildung befinden noch einen Job haben: Im internationalen Vergleich liegt die Bundesrepublik hier noch unter dem Schnitt, mit je nach Bildungsstand fünf bis 12 Prozent der 25- bis 29-Jährigen. OECD: 10 bis 17 Prozent, Frankreich 10 bis 22 Prozent. Griechenland, das die schlechtesten Wert aufweist, erreicht gar bis 33 Prozent.
Viertens: Deutschland investiert für seine Schüler und Studierenden pro Kopf rund 15.800 Dollar und übertrifft damit das Mittel der OECD-Länder um etwa 3.100 Dollar. Weniger schmeichelhaft wird die Statistik, wenn man die Aufwendungen ins Verhältnis zur Wirtschaftsleistung setzt: 4,6 Prozent – ein satter halber Prozentpunkt weniger als der internationale Durchschnitt. Schaut man auf diejenigen Länder mit den führenden Bildungs- und Wissenschaftssystemen weltweit, wird der Unterschied eklatant. Israel: 6,4 Prozent, Schweden: 5,7 Prozent, Großbritannien: 6,3 Prozent. Und ja, im Fälle Großbritanniens liegt das auch am sehr gebührenlastigen Hochschulsektor, aber nicht nur. Für das übrige Bildungssystem verwendet das Vereinigte Königreich 4,2 Prozent seiner Wirtschaftsleistung – und Deutschland 3,3 Prozent.
Es geht nicht um eine Wahl "Ausbildung oder Studium"
Was lässt sich also unabhängig vom politischen Spin oder das Aufsetzen von Bund-Länder-Brillen festhalten? Vor allem dies: In Deutschland läuft, wenig überraschend, etwas auseinander. Während erfreulicherweise mehr Menschen als je zuvor einen Hochschulabschluss erwerben, gibt es deutlich mehr Menschen, die komplett abgehängt werden. Weil sie ohne Abitur oder Berufsabschluss keinen Beruf werden ausüben können, der ausreichend gut bezahlt wird. Und weil sie nicht mithalten können mit den technologischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich besonders stark auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt auswirken.
Angesichts solcher Zahlen ist es ärgerlich, wieviel Zeit in den vergangenen Jahren auf vollkommen überflüssige Debatten einer angeblichen Akademikerschwemme verwendet wurde, die nur Unsicherheit unter jungen Menschen erzeugt haben, aber ansonsten vollkommen am Punkt vorbeigingen: Nicht mehr Abiturienten und mehr Hochschulabsolventen sind das Problem, da sie praktisch alle ein erfolgreiches Berufsleben vor sich haben. Diejenigen, die auf der Strecke bleiben, standen nicht nämlich gar nicht vor der Wahl "Ausbildung oder Studium".
Stattdessen zeigt sich, dass eine Beseitigung des so stark befürchteten Fachkräftemangels aufs Engste verknüpft ist mit der Beantwortung der sozialen Frage im Bildungssystem: Nur wenn es in den Schulen gelingt, den eklatant hohen (und gestiegenen) Anteil junger Menschen zu senken, die nicht richtig lesen, schreiben und rechnen können, werden wieder mehr von ihnen die Kompetenzen erreichen, die sie brauchen, um eine berufliche Ausbildung zu schaffen und ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Deutungsstreit um politische Geländegewinne
Was bedeutet dies nun für die politische Debatte? Weder den Ländern noch dem Bund sind die Zahlen oder die von der OECD beschriebenen Entwicklungen wirklich neu. Doch nutzt der Bund sie wie so oft in den vergangenen Monaten, um Druck auf die Länder auszuüben. Das Ziel ist nicht mehr eine Reform des Bildungsföderalismus insgesamt, wie er Anfang der Legislaturperiode vorstellbar erschien, das hat sich die Ampel angesichts der starken Friktionen mit den Ländern längst abgeschminkt. Aber die "Startchancen", dieses symbolträchtige Förderprogramm für benachteiligte Schüler und Schulen, gilt es noch über die Ziellinie zu bringen. Und hier hilft dem Bund, um in den laufenden Verhandlungen seine Vorstellungen der Pakt-Konditionen möglichst weit durchzusetzen, jede öffentliche Empörung über den Status Quo. Denn für diesen Status Quo sind entsprechend der Verfassung zu allererst die Länder zuständig.
Entsprechend gelassener, ja beschwichtigender daher die Positionierung der Länder. Sich nur nicht vorführen lassen mit dem Reden über eine bildungspolitische Trendwende, lautet die Devise: die Problem einräumen, ja, aber vor allem aber auch auf die Stärken des Bildungssystems hinweisen. Und auf das, was man selbst tut und wofür man den Bund gar nicht braucht. Weshalb der Berliner Staatssekretär auch nicht die "Startchancen" als Antwort auf den wachsenden Anteil der gering Qualifizierten erwähnt, sondern den "Pakt für berufliche Bildung, den die Kultusministerkonferenz gemeinsam mit der Wirtschaft und allen relevanten Akteuren auf den Weg bringt".
Bund und Länder in a nutshell und Business as usual im Föderalismus? Vielleicht. Wäre da nicht das Misstrauen zwischen den Ebenen, das zurzeit sogar noch stärker ist als normalerweise. Was zu tun hat mit einer Kultusministerkonferenz, deren überfällige Reform hin zu einer größeren Wirksamkeit lähmend langsam vor sich geht und deshalb allergisch reagiert auf alle Versuche, vorgeführt zu werden. Und mit einer Ampel-Regierung, deren leuchtende Versprechungen vom großem Bildungsaufbruch in einer gewaltigen Diskrepanz stehen zu der einen einzigen zusätzlichen Bildungsmilliarde pro Jahr, die vollständig erst 2025 fließen soll und trotzdem von FDP-Finanzminister Christian Lindner bei jeder Gelegenheit als Großtat gefeiert wird.
So werden – leider – auch die OECD-Zahlen wohl kaum nüchtern diskutiert werden können und nach einem kurzen Aufblitzen wieder in der Versenkung der Tagespolitik verschwinden. Schade eigentlich. Denn, siehe oben, es ließe sich eine Menge aus ihnen lernen.
Hinweis am 15. September: Ich habe die Passage zu Geflüchteten unter "Erstens" geändert, weil meine Darstellung hier nicht korrekt, zumindest aber nicht vollständig war. Ich danke Susmita Arp von der SPIEGEL-Dokumentation, die mich auf meinen Gedankenfehler hinwies.
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Ein Viertel der Schüler lernt nicht richtig lesen. "Tutoring for All" will deshalb eine neue Methode der Leseförderung in Deutschland etablieren. Kann das funktionieren? Ein Interview mit dem Sozialunternehmer Ekkehard Thümler und der Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Gogolin.
Ekkehard Thümler ist Senior Fellow am Centre for Social Investment (CSI) der Universität Heidelberg. Er arbeitete in verschiedenen Funktionen unter anderem für Joachim-Herz-Stiftung und die Bertelsmann-Stiftung. 2020 gründete er das gemeinnützige Startup "Tutoring for All". Ingrid Gogolin war über viele Jahre Professorin am Arbeitsbereich "Interkulturell und International Vergleichende Erziehungswissenschaft" der Universität Hamburg und forscht dort als Seniorprofessorin weiter. Fotos: Gerrit Meier/Scholzfoto.
Herr Thümler, 26 Prozent der deutschen Neuntklässler können schriftliche Texte nicht sinnerfassend verstehen, hat die jüngste PISA-Studie ergeben.
Ekkehard Thümler: Und das Problem fängt in der Grundschule an. Jedes vierte Kind lernt nur sehr schlecht lesen. Wenn wir das ändern wollen, brauchen die Lehrkräfte Unterstützung und die Schulen neue Methoden.
Mit Mitstreitern haben Sie "Tutoring for All" gegründet, was ist das?
Thümler: Ein Sozialunternehmen, das die individuelle Förderung von Kindern in ganz kleinen Gruppen durch Tutorinnen und Tutoren fördern will. Außerhalb des regulären Unterrichts und mit Hilfe einer digitalen Tutoring-Plattform.
Dahinter steht das sogenannte "High Impact Tutoring". Klingt nach Marketing.
Thümler: Das ist eine Methode aus den USA, die laut Forschung besonders hohe Effekte hat, vor allem bei der Stärkung sozial benachteiligter Kinder und deren Basiskompetenzen. In den USA und Großbritannien wird Tutoring deshalb auch mit großen nationalen Programmen gefördert. In Deutschland nennen wir unser Angebot "Lesen mit dem Turbo-Team". Knackpunkt ist die hohe Dosis. Tutoring mindestens dreimal die Woche, durchgeführt von geschulten Tutorinnen und Tutoren. Reale Menschen, die digitale Hilfsmittel einsetzen, auf der Grundlage eines wissenschaftlichen Konzepts. Aber das Persönliche, die menschliche Beziehung zwischen Kind und Tutor, steht im Vordergrund. Das ist der Unterschied zu rein virtuellen Tools, die deutlich weniger bringen. Hinzu kommt, dass es beim High Impact Tutoring ein Monitoring gibt, um zu prüfen, ob die gewünschten Effekte auch tatsächlich eintreten.
"Wir konzentrieren uns auf einen Ansatz, der relativ leicht umzusetzen ist und relativ schnell einen hohen Wirkungsgrad erzielt."
Ihr Glaube an die Methode muss groß sein. Immerhin haben Sie dafür die sichere Welt einer Bildungsstiftung verlassen, um in die Selbstständigkeit zu gehen.
Thümler: Eigentlich hatten wir mehr vor. Wir wollten ein umfangreiches Schulentwicklungsprogramm nach Deutschland holen, "Success for All", bei dem das Tutoring nur ein Ausschnitt gewesen wäre. Aber dann kam Corona. Und uns wurde klar, dass für so große Projekte mit jahrelangem Vorlauf jetzt weder die Zeit noch das Geld da ist. Darum konzentrieren wir uns auf einen Ansatz, der relativ leicht umzusetzen ist und relativ schnell einen hohen Wirkungsgrad erzielt.
Was heißt "relativ schnell"?
Thümler: Mit dem Turbo-Team waren wir Ende 2023 an 22 Schulen bundesweit, im Januar kommen fünf weitere Standorte dazu. Das bedeutet, wir haben bislang etwa 1000 Kinder mit der Förderung erreicht. Dafür arbeiten wir meistens mit Organisationen und Vereinen zusammen, die ohnehin schon an den Schulen sindund oft auch eigene Tutorinnen und Tutoren mitbringen. In selteneren Fällen führen Schulen unser Programms auch eigenständig durch.
Frau Gogolin, Sie sind Senior-Professorin am Arbeitsbereich "Interkulturell und International Vergleichende Erziehungswissenschaft" der Universität Hamburg und begleiten "Tutoring for All" wissenschaftlich. Warum?
Ingrid Gogolin: Ekkehard Thümler und ich kennen uns seit etlichen Jahren. Wir haben gemeinsam versucht, "Success for All" aus den USA nach Deutschland zu bringen, nach meiner Überzeugung eines der besten Schulentwicklungskonzepte weltweit. Die wissenschaftliche Studienlage ist da sehr eindeutig: Konzepte, die verschiedene Akteure von innerhalb und außerhalb der Schule unter einer gemeinsamen Strategie vereinen, auf dieser Grundlage systematisch Maßnahmen ergreifen und deren Wirkung regelmäßig messen, haben durchgehend positive Effekte auf die Schülerleistungen. Und weil, wie Ekkehard eben erwähnte, nach Corona das ganz große Rad nicht mehr zu drehen war, haben wir gesagt: Fangen wir mit dem Tutoring an, also mit einem Element von "Success for All". Dieses Tutoring findet in enger Abstimmung mit den Lehrkräften und dem allgemeinen Unterricht statt. Einen wichtigen Erfolgsaspekt möchte ich hinzufügen: Es handelt sich nicht um allgemeine Leseförderung, sondern um das gezielte Arbeiten an individuellen Schwächen, die vorher bei einem Kind diagnostiziert worden sind. Wenn diese Schwächen beseitigt sind, endet auch die Förderung. Dadurch ist es möglich, sehr genau die Effekte zu messen.
Das haben Sie getan.
Gogolin: Ja, in Form einer Pilotevaluation. Ich weiß, dass Ekkehard den Begriff nicht mag und mich zu vorsichtig findet mit meinen Aussagen. Aber als Wissenschaftlerin muss ich genau sein. Es handelt sich immer noch um eine relativ kleine Anzahl von Kindern, und für die Kontrollgruppe haben wir keine Zufallszuweisung der Kinder hinbekommen. Trotzdem, und das kann ich als Wissenschaftlerin wieder ohne Einschränkung sagen, sind wir von den Ergebnissen einigermaßen überrascht gewesen.
Sie haben zu Beginn und nach Abschluss des Turbo-Tutorings bei den Kindern vier Kompetenzbereiche untersucht: ihre basale Lesefertigkeit, ihr Wortverständnis, ihr Satzverständnis und ihr Textverständnis. Und Sie haben die Ergebnisse mit Schülern verglichen, die nicht an dem Programm teilgenommen haben.
Gogolin: Und damit man die Ergebnisse vergleichen kann, haben wir den Einfluss von Geschlecht, Klassenstufe, Erstsprache und sozioökonomischem Status der Familie statistisch kontrolliert. Unabhängig von der Lesekompetenz vor Beginn der Förderung zeigte sich in allen vier Bereichen ein Vorteil für die Kinder, die beim Tutoring dabei waren. Beim Satzverständnis und beim Textverständnis fiel der Unterschied so groß aus, dass er statistisch signifikant, also kein Zufallsergebnis ist.
"Auch andere Leseförderprogramme haben überzeugende Geschichten von sich zu erzählen. Doch stellen sich nur die wenigsten einer wissenschaftlichen Evaluation."
Warum war das bei der basalen Lesefähigkeit und dem Wortverständnis anders?
Gogolin: Weil sich auch die Kinder der Kontrollgruppe in anderen an den Schulen bereits praktizierten Formen der Leseförderung befanden. Auch dies war also eine gute Förderung. Der Turbo-Team-Ansatz bringt aber zusätzlich auf der Ebene der komplexeren Leseleistungen erstaunliche Effekte, also genau da, wo die Stolperstellen liegen, die das Tutoring gezielt bearbeitet. Wichtig ist, dass dies in der Kombination eines digitalen Systems mit Tutorinnen und Tutoren passiert, die das Programm in ihrer Arbeit mit den Kindern zum Leben bringen. Darum bin ich optimistisch, dass wir bei einer größer angelegten Evaluation zu vergleichbaren Ergebnissen kämen. Dann müssten wir die Kinder allerdings auch über einen längeren Zeitraum verfolgen, um herauszufinden, ob der Lerneffekt von Dauer ist.
Ist Ihnen das zu pessimistisch Herr Thümler?
Thümler: Ich würde nie mit einer Wissenschaftlerin schimpfen, weil sie wissenschaftlich vorgeht. Und Ingrid hat ja Recht: Auch andere Leseförderprogramme haben überzeugende Geschichten von sich zu erzählen. Doch stellen sich nur die wenigsten einer wissenschaftlichen Evaluation.
Gogolin: Ich kenne keinen einzigen anderen Anbieter einer onlinebasierten Leseförderung, der das schon im Prozess der Entwicklung getan hat.
Thümler: Das enthält ja auch ein immenses wirtschaftliches Risiko, wenn Sie gerade ein Unternehmen gegründet haben und als Person in Vorleistung gegangen sind. Was wäre passiert, wenn die wissenschaftliche Untersuchung nun belegt hätte, dass die Methode nicht funktioniert?
Gogolin: Aber wir haben das Risiko offenen Auges auf uns genommen und sehen nun, dass die Richtung, in die das Programm geht, stimmt. Der Vorteil ist, dass die Ergebnisse unserer Prüfung sofort wieder in die Weiterentwicklung der Plattform einfließen können.
Wie geht es jetzt weiter, Herr Thümler?
Thümler: Motiviert von der Evaluation wollen wir jetzt an weitere Schulen gehen und so viele Schülerinnen und Schüler erreichen, dass wir uns einer noch anspruchsvolleren wissenschaftlichen Studie stellen können. Unsere Botschaft lautet: Wir bringen ein fertiges Produkt mit, verknüpft mit dem Angebot, die vorhandenen Tutoren und Lehrkräfte zu schulen. Wir wollen es den Schulen so einfach wie möglich machen.
"Wirtschaftlich ist das eine Wette, das ist klar."
Das klingt, als wären die meisten Schulen sehr vorsichtig und zurückhaltend. Was kostet denn die Teilnahme?
Thümler: 2.500 Euro pro Schule und Jahr, unabhängig von der Zahl der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler und Tutorinnen und Tutoren. Dafür können sie alle die digitale Plattform nutzen, sie bekommen die Schulungen und alle Unterstützung, die sie brauchen, um das Programm durchzuführen. Künftig wollen wir noch einen Schritt weitergehen und das Angebot machen, dass jemand von "Tutoring for All" vorbeikommt, wenn ein konkretes Anwendungsproblem zu lösen ist.
Gogolin: Was eine große Rolle spielt, wie unsere Evaluation gezeigt hat: Es braucht nicht nur die einmalige Schulung von Tutorinnen und Tutoren, sondern ihre dauerhafte Begleitung.
Und der ganze Aufwand für 2.500 Euro, Herr Thümler – das geht auf?
Thümler: Die Kalkulation wird dann aufgehen, wenn wir eine ausreichend große Zahl von Schulen gewinnen können. Insofern ist es wirtschaftlich eine Wette, das ist klar.
Wo sind denn dann all die Schulen, die mitmachen wollen?
Thümler: Die meisten Schulen haben im Moment weder die Ressourcen noch die Kraft, sich erst auf einen jahrelangen Schulentwicklungsprozess einzulassen. Aber genau das ist das "Turbo-Team" nicht, die Schulen müssen sich zu nichts committen. Hinzu kommt: Viele Schulen haben bislang gar nicht das Budget für solche Extra-Aktivitäten, wenn sie es nicht durch Stiftungen oder andere Förderorganisationen finanziert bekommen. Das ändert sich hoffentlich durch das Startchancen-Programm von Bund und Ländern für Schulen in benachteiligten Lagen. "Lesen mit dem Turbo-Team" wird von diesem Programm ausdrücklich als empfehlenswerte Maßnahme genannt, das könnte eine große Chance auch für unser Vorhaben sein.
Gogolin: Es gibt auch eine emotionale Schwelle, die es zu überwinden gilt. Sehr viel Leseunterstützung, die es heute gibt, kommt von Ehrenamtlichen, die sich mit den Kindern unterhalten, ihnen etwas vorlesen. Das finde ich prima – aber: Jetzt kommen wir mit so einem systematischen Lernprozess, mit dialogischen, digital gestützten Verfahren und Monitoring-Tools. Das ist vielen Ehrenamtlichen fremd. Aber wir können hoffentlich klarmachen, dass wir die Angebote, die es gibt, nicht ersetzen wollen. Dass sie aber bei allem Bemühen noch nicht reichen, um den besonders gefährdeten Kindern ausreichend zu helfen. Wenn jetzt die Startchancen kommen und Ganztagsausbau an den Grundschulen voranschreitet, hoffen wir, dass diese systematische Perspektive stärker als bislang aufgegriffen wird.
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Viel dreht sich in diesen Tagen der "Corona-Krise", wie schon der Terminus nahelegt, um die gesellschaftlichen Folgen dieser Krankheit. Dabei wird in Deutschland wie in Polen gleichermaßen auf die weltweiten Entwicklungen geblickt, welche durch die Pandemie angestoßen worden sind oder an Dynamik gewonnen haben. Gleichwohl verengt sich der Blick allzu schnell oft wieder, etwa bei der Beurteilung der Maßnahmen der eigenen Regierung oder bei Überlegungen zu einer internationalen Solidarität. Dabei ist nicht davon auszugehen, dass Effekte des Auseinanderdriftens oder Zusammenrückens der Staatengemeinschaft automatisch in Zusammenhang mit der aktuellen Krise gedacht werden können; sie müssten aktiv gewollt und betrieben werden. Historisch gesehen hängen Krankheit und Krise und ihre Wechselwirkungen ohnehin fest zusammen, auch im deutsch-polnischen Kontext. Dabei handelt es sich um eine kulturelle Dynamik, die zwei Seiten vereint: einerseits die Eigenschaften einer speziellen Infektionskrankheit, wie etwa Gefährlichkeit für Gesundheit und Leben des Menschen und Möglichkeiten der Übertragbarkeit, andererseits die Handlungsmöglichkeiten zur Eindämmung der Krankheit von hygienischen Belangen über sonstige gesellschaftliche Regeln bis zur medizinischen Behandlung. Obgleich der eine Strang als Voraussetzung für den anderen erscheinen mag, zeigt der Blick in die Geschichte doch deren Interaktion und viel mehr noch, dass beide davon überformt werden, in welchen Bildern die betroffenen Gesellschaften den Prozess fassen, wie sie darüber nachdenken, wie sie darüber sprechen.Beim historisch motivierten Blick in die deutsch-polnischen Beziehungen lassen sich viele epidemische Erscheinungen ausmachen, deren Betrachtung als Fallbeispiele lohnt – einige davon sollen hier aufgegriffen werden: die Entwicklung eines Fleckfieber-Impfstoffs in der gerade entstandenen Zweiten Polnischen Republik in Lemberg (Lwów), die Anwendung von Fleckfieberimpfungen während des Zweiten Weltkriegs, die Cholera-Epidemie in Danzig 1831 und die Pestpogrome von 1348/49 am Rhein und ihre Folgen. Seuchen in KriegsbemalungEine Krankheit, die auch diskursiv aufs Engste nicht nur mit Krisen, sondern mit Kriegen verflochten war, ist das Fleckfieber. Diese Krankheit, die durch Läuse von Mensch zu Mensch übertragen wird, existierte wohl schon seit dem Altertum und trat im Mittelalter zunehmend in Europa auf, ab dem 16. Jahrhundert auch in der Neuen Welt, wie etwa 1576/77 in Mexiko mit etwa 2 Millionen Toten. Der Feldzug Napoleons gegen Russland 1812 wurde stark von einer heftigen Fleckfieberepidemie beeinflusst, ebenso der Krim-Krieg 1854–1856 und der russisch-türkische Krieg 1877/78. Auch in Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen gab es im 20. Jahrhundert viele Erkrankte und Tote, u. a. eine schwere Epidemie in Russland 1918–1922 mit 30 Millionen Fällen, davon 3 Millionen mit tödlichem Ausgang. Quarantäneposten vor bewachten vom Fleckfieber befallenen Zivilhäusern in Perehińsko (Westukraine, Februar 1916)Die militärischen Bilder, die zur gedanklichen Fassung von Seuchen bemüht wurden, sind für das Fleckfieber und andere historisch gründlich untersucht worden. Das Phänomen als solches setzt sich bis in die Gegenwart[1] fort: Militärische Metaphern werden etwa aufgerufen, um Ohnmachtsgefühlen martialisch entgegenzutreten, Freiheitseinschränkungen im Innern einen größeren Rahmen zu verleihen oder Fragen nach der Herkunft von Seuchen und Schuldzuweisungen bildlich zu fassen. Ein emblematisches Beispiel war die TV-Ansprache an die Nation von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vom 16. März 2020, in der er konstatierte, man befinde sich im Krieg gegen einen unsichtbaren Feind. Ein viel weniger prominenter Fall war die Anfang März im polnischen Staatsfernsehen TVP übertragene Landkarte, die zeigte, wie das Coronavirus aus Deutschland nach Polen eingetragen wurde – mit großen und kleinen Pfeilen, wie sie vielen aus dem Schulunterricht zur Visualisierung angreifender Armeen bekannt sind. Der deutsche Finanzminister Olaf Scholz hingegen packte rhetorisch, ebenfalls im März 2020, die "Bazooka" nur aus zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen des Virus und behielt "Kleinwaffen" in der "Hinterhand". Belege für die Aktualisierung von historisch tradierten Ängsten, Feindbildern und Stereotypen, die mittels militarisierter Sprache verbreitet werden, ließen sich aus zahlreichen Staaten finden, darunter verstörend weit verbreitet antisemitische Verschwörungstheorien. Der Erste Weltkrieg, das Fleckfieber und die Anfänge der Zweiten Polnischen RepublikWährend des Ersten Weltkriegs wurde das seit den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert politisch zergliederte und unter deutscher, österreichisch-ungarischer und russischer Herrschaft stehende polnische Territorium zu einem Hauptkriegsschauplatz. Mit der deutschen Besatzung während des Krieges kamen nicht nur das Fleckfieber, sondern auch die Deutungen der Krankheit und ihre feste Einordnung als unzivilisiert, rückständig und östlich. Dies zeigt Katharina Kreuder-Sonnen in ihrer historischen Studie über zirkulierendes bakteriologisches Wissen,[2] in der sie den mittelosteuropäischen Raum in eine globale Wissensgeschichte einordnet. Die Gefahr durch das Fleckfieber galt der deutschen Militärmacht viel mehr als ein Problem der Front im Osten als im Westen. Besonders richteten sich diese Interpretationen auch gegen orthodoxe Juden, die von Zwangsmaßnahmen durch die deutsche Besatzung ab 1915 in besonderer und unverhältnismäßiger Härte betroffen waren. Trotz der auch ansonsten getroffenen Vorkehrungen kam es in verschiedenen Orten Zentralpolens zwischen 1915 und 1917 zu Fleckfieberepidemien. Im polnischen medizinischen Diskurs wurde diese Fokussierung und Einschränkung auf die jüdische Bevölkerung ebenfalls übernommen. Im weiteren Verlauf des Krieges und gegen Ende verknüpfte und verschob sich diese Rhetorik hin zu einer festen Verbindung der Epidemie mit einer Einschleppung durch den Feind von außen, besonders wiederum aus Richtung Osten und dem gerade entstandenen Sowjetrussland, so Kreuder-Sonnen: "Die diskursive Verknüpfung von Seuche und bolschewistischer Bedrohung hatte (…) den jungen polnischen Staat als Schutzwall des 'Westens' gegen Sozialismus und Fieber etabliert. (…) Seuchenbekämpfung und Staatsbildung verschränkten sich hier eng miteinander.[3]"Die Ineinssetzung mit dem Bolschewismus im polnischen Kontext hatte das Fleckfieber mit der Spanischen Grippe gemein, die von 1918 bis 1920 in drei Wellen weltweit bis zu 50 Millionen Todesopfer forderte.[4] Während diesem Virus nur wenig entgegengesetzt werden konnte, was auch und gerade die deutsche Bakteriologie erschütterte, die sich für längere Zeit fälschlicherweise an der Identifizierung eines vermeintlich schuldigen Bakteriums (!) abarbeiten sollte,[5] gab es bei der Erforschung des Fleckfiebers im selben Zeitraum bald große Fortschritte. Die Entwicklung eines Fleckfieberimfpstoffs in Lemberg (Lwów)Der in Lemberg studierte Entomologe und Histologe Rudolf Weigl, der sich in Wien in Bakteriologie weitergebildet hatte, begann zunächst in Kriegsgefangenenlagern in Tarnów und Przemyśl mit seinen Forschungen am Fleckfieber. Dort legte er die Grundlage für seine Impfstoffentwicklung, die er an der Universität Lemberg fortführte. Er konnte dabei auf viele vorangegangene Forschungen aufbauen, die nötig gewesen waren, um den Erreger verlässlich zu identifizieren, der innerhalb der Kleiderlaus für die Auslösung der Krankheit verantwortlich war. Dieser hatte schließlich vom am Hamburger Tropeninstitut beschäftigten brasilianischen Mediziner Henrique da Rocha Lima den Namen Rickettsia prowazeki erhalten, benannt nach dem US-amerikanischen Mikrobiologen Howard Taylor Ricketts und dem tschechisch-österreichischen Bakteriologen Stanislaus von Prowazek, die beide während ihrer Forschungen dem Fleckfieber erlagen, Ricketts 1910 in Mexiko und Prowazek 1915 in Cottbus. Rudolf Weigl im Laboratorium, Datum unbekanntUm Filtrat für den Impfstoff zu erhalten, musste Weigl auf dem in vielen, meist in peripheren Gegenden – nämlich den Orten großer Epidemien – erworbenen und eng an Personen gebundenen Wissen aufbauen, das auch dazu diente, viele praktische Probleme zu lösen. Es galt, zunächst gesunde Läuse zu züchten, diese mittels ausgefeilter Gerätschaften zu infizieren und in kleinen fixierbaren Käfigen – die kurz zuvor von Rocha-Limas Kollegin Hilde Sikora[6] entwickelt worden waren – so zu halten, dass sie sich vom Menschen ernähren konnten ohne Gefahr der Entweichung. Die Übertragung der Krankheit erfolgte nicht durch den Biss der Läuse, sondern durch das Eintragen ihrer Ausscheidungen beim Kratzen. Trotzdem blieb die Läusefütterung durch den Menschen ein gefährliches Unterfangen, das zunächst im Selbstversuch und an Mitarbeitenden ausprobiert wurde. Auf dem Höhepunkt der Erkrankung der Läuse wurden diese getötet und aus ihrem Darm, mit einer besonders hohen Konzentration der Rickettsia, der Impfstoff hergestellt. Nach einer dreimaligen Impfung mit dem Präparat überlebten viele Probanden auch während Fleckfieberepidemien. Die Ergebnisse wurden publiziert, und viele Forscher kamen nach Lemberg, um die nötige Arbeit genau zu studieren, die im Laufe der 1930er Jahre im größeren Stil praktisch ausprobiert wurde.[7] Rudolf Weigls Fleckfieberimpfstoff, Ausstellungdisplay im Museum POLIN in WarschauLiteraturKatharina Kreuder-Sonnen, Wie man Mikroben auf Reisen schickt. Zirkulierendes bakteriologisches Wissen und die polnische Medizin, 1885–1939. Tübingen 2018.O. Gsell, W. Mohr (Hrsg.), Infektionskrankheiten. In vier Bänden, Bd. IV: Rickettsiosen und Protozoenkrankheiten, Berlin u. a. 1972.Ute Caumanns, Fritz Dross, Anita Magowska (Hg.), Medizin und Krieg in historischer Perpsektive / Medycyna i wojna w perspektywie historycznej, Frankfurt a. M. 2012.Laura Spinney, 1918. Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte, München 2018. [1] Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass bei der politischen Planung der Seuchenbekämpfung und ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen ein Befragen des bereits geschichtswissenschaftlich Erforschten mitunter hilfreich, wenn nicht gar geboten sein kann – s. dazu etwa Anthony Sheldon, Why every government department needs a resident historian, in: Prospect, 1. Mai 2020, https://www.prospectmagazine.co.uk/politics/government-department-chief-historian-whitehall-number-10-coronavirus-covid-brexit (9.6.2020). Zur Auswirkung militärischer Rhetorik vgl. u. a. Christoph Laucht , Susan T. Jackson, Soldiering a pandemic: the threat of militarized rhetoric in addressing Covid-19, in: History & Policy, 24. April 2020, http://www.historyandpolicy.org/opinion-articles/articles/soldiering-a-pandemic-the-threat-of-militarized-rhetoric-in-addressing-covid-19.
[2] Katharina Kreuder-Sonnen, Wie man Mikroben auf Reisen schickt. Zirkulierendes bakteriologisches Wissen und die polnische Medizin, 1885–1939. Tübingen 2018, hier und zum Folgenden S. 121–139.
[3] Kreuder-Sonnen, Wie man Mikroben auf Reisen schickt, S. 139.
[4] Zur Spanischen Grippe s. Laura Spinney, 1918. Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte, München 2018.
[6] Kreuder-Sonnen, Wie man Mikroben auf Reisen schickt, S. 243–254.
[7] Lesław Portas, Rudolf Weigl – jego szczepionka przeciwtyfusowa a wojna / Rudolf Weigl, sein Flecktyphusimpfstoff und der Krieg, in: Ute Caumanns, Fritz Dross, Anita Magowska (Hg.), Medizin und Krieg in historischer Perpsektive / Medycyna i wojna w perspektywie historycznej, Frankfurt a. M. 2012, S. 173–187.
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Immer, wenn der PiS-Parteivorsitzende und seit Herbst auch stellvertretende Ministerpräsident Jarosław Kaczyński ein Interview gibt – und das kommt nicht so oft vor –, hört die politisch interessierte Öffentlichkeit in Polen sehr genau hin. Denn daraus, welche Themen er aufwirft, welche Namen er nennt, lässt sich in der Regel viel über die Entwicklung der polnischen Politik in den nächsten Wochen und Monaten schließen.Im Internet-Fernsehsender wpolsce.pl, der zum Medienhaus der Brüder Karnowski gehört, einem wichtigen Sprachrohr und Unterstützer regierungsnaher Kreise, hat sich Kaczyński nun von Michał Karnowski interviewen lassen. Das Gespräch, bei dem der Journalist nur als Stichwortgeber fungiert, wurde am 28. Januar ausgestrahlt und sofort von allen wichtigen Medien in Polen aufgegriffen. Im Folgenden werden wichtige Aussagen vorgestellt und kommentiert. Die langen Zitate aus dem originalen Wortlaut sollen auch eine Möglichkeit bieten, die Denkweise Kaczyński nachzuvollziehen.Anlass für das Interview war der Preis "Mensch der Freiheit" der Karnowski-Zeitschrift Sieci, der für das Jahr 2020 Daniel Obajtek verliehen wird, dem Vorstandsvorsitzenden des staatlichen Energiekonzerns Orlen. Die Preisträger der vergangenen Jahre spiegelten die jeweiligen Hoffnungsträger des Regierungslagers wider – für 2019 erhielt der heutige Ministerpräsident Mateusz Morawiecki den Preis, für 2018 Kulturminister Piotr Gliński, im Jahr davor war es die Verfassungsgerichtspräsidentin Julia Przyłębska, 2016 Jarosław Kaczyński selbst und 2015 der frisch gewählte Staatspräsident Andrzej Duda. Die gefährdete FreiheitDie erste Frage gilt – dem Preis geschuldet – der Freiheit in Polen. "Es gibt sehr viele Beispiele für eine Einschränkung der Freiheit", beginnt Kaczyński und verweist auf die USA und die Tatsache, dass "dem amtierenden Präsidenten die Stimme entzogen worden ist". Trumps Verlust seines Twitter-Kontos stellt Kaczyński dann in den Kontext "verschiedener Vorgehensweisen, die darauf abzielen, dass Menschen mit konservativen Ansichten (…) sich nicht sicher äußern können, dass sie negative Konsequenzen (…) ihrer Äußerungen, ihrer Ansichten erfahren." Und dann erläutert er, vor welchen Herausforderungen auch Polen stehe:"Die Begriffe, derer sich hier die Gegner, die Feinde der Freiheit – denn so muss man das bezeichnen – bedienen, sind meist irreführend. Das ist eine gezielt eingesetzte Soziotechnik. Hier steht 'Hassrede' an der Spitze dieser Begriffe und 'Toleranz' an zweiter Stelle. Wobei das Wort 'Toleranz' auf eine Weise verwendet wird, die die ursprüngliche und eigentliche Bedeutung dieses Ausdrucks völlig verdreht. Das hat vielerorts nicht mehr nur den Charakter von Praktiken, besonders Praktiken der Massenmedien, sondern das wird auch in Rechtsnormen mit repressivem Charakter gefasst, und diese Repressionen werden schon angewendet."Kaczyński greift hier eine weithin gebräuchliche Denkfigur rechtspopulistischer Kreise auf, dass nämlich die mediale Vorherrschaft "linksliberaler" Meinungsführer den Raum des Sagbaren unzulässig einschränke. Das ist also kein origineller Gedanke, aber er gewinnt im Kontext der folgenden Passagen des Interviews eine deutlich auf die politische Situation in Polen gemünzte Aussage. Kaczyński erinnert daran, dass er schon vor langem Polen als "eine Art Oase der Freiheit" in Europa bezeichnet habe, was heute umso wahrer sei. "Es gibt Kräfte, die völlig offen danach streben, dass es keine solche Oase mehr ist, dass auch in Polen diese Beschränkungen gelten, und zwar immer offensiver. (…) Das wird direkt durch die Linken erklärt. Wobei heute die 'Linke' ein Begriff ist, der nicht nur die umfasst, die sich selbst so bezeichnen, sondern auch diejenigen, die sich nicht so bezeichnen, die aber in Wahrheit schon so stark auf diese linke Seite übergelaufen sind, dass man nicht mehr von 'Linken' sprechen kann, sondern von (…) extremen Linken. Ich meine die Bürgerplattform." Auch hier bedient Kaczyński eine verbreitete Sichtweise nationalkonservativer Kreise in Polen, die das Land als Bollwerk der wahren europäischen Werte bezeichnet, während ein großer Teil des Kontinents sich von Christentum oder nationalen Identitäten abkehre. Gleichzeitig argumentiert er wie schon häufig in der Vergangenheit: Wer seine (rechte) Meinung nicht teilt, steht im Lager der Bösen (Linken), zu denen er hier auch die größte Oppositionspartei zählt. Dabei lässt sich die Bürgerplattform gewiss nicht als linksradikal bezeichnen – sie versteht sich als gemäßigt liberal und besitzt einen konservativen wie auch einen progressiven Flügel. Einschränkung von Autonomie"Ich möchte daran erinnern, dass die Bürgerplattform, entgegen dem, was sie über die Unterdrückung erzählt, die sie erleide, in Polen einen sehr erheblichen Teil der Macht hat. Ich spreche nicht von ihrem Einfluss auf die Judikative, ich spreche ganz klar von der [kommunalen und regionalen] Selbstverwaltung, aber auch von den selbstverwalteten Berufsständen, insbesondere von der Selbstverwaltung der Hochschulen. Hier gibt es schon sehr viele Schritte, die sich gegen die Freiheit richten."Der Parteivorsitzende benennt hier wesentliche Handlungsfelder, auf denen er in der nächsten Zukunft Handlungsbedarf zu sehen scheint. Während die Koalitionsregierung der PiS die öffentlich-rechtlichen Medien auf Parteilinie gebracht hat und schon seit einigen Jahren bestrebt ist, die Autonomie der gerichtlichen Institutionen zu beschneiden und die Gerichte durch von oben gesteuerte Personalpolitik, die Politisierung des Landesrichterrates, Verfahren gegen einzelne Richter oder öffentliche Verleumdung zu beschneiden, rücken die Verwaltungen der Regionen und Kommunen stärker in den Mittelpunkt: Gerade die Verwaltungen der liberalen, zumeist von der Bürgerplattform dominierten Großstädte haben sich zu den wichtigsten Zentren politischen Widerstands gegen die rechte Zentralregierung entwickelt. Diese Macht hat die PiS bislang nicht brechen können, ebenso wenig wie es ihr gelungen ist, die Universitäten mundtot zu machen. Im Gegenteil, die autonomen Organe zahlreicher Hochschulen (Senate, Fakultätsräte, Hochschulleitungen) haben sich sowohl dezidiert kritisch zu den Justizreformen der Regierung als auch zur Verschärfung der Abtreibungsgesetzgebung geäußert, was gerade in den letzten Monaten den katholisch-fundamentalistischen Gruppierungen verbundenen Bildungsminister zu der Drohung veranlasste, aufmüpfige Hochschulen finanziell zu bestrafen. Auch hier spiegelt sich der nicht nur in Polen, sondern etwa auch in den USA immer wieder erhobene Vorwurf wider, konservative bzw. rechte Meinungen würden vom (links-) liberalen Mainstream ausgegrenzt und marginalisiert. Kaczyński bekräftigt in seinem Interview dann noch einmal: "Es muss so sein, dass jeder, der seine Hand gegen die Freiheit erhebt, zum Beispiel an den Hochschulen, weiß, dass er die Konsequenzen dafür tragen muss". Die Meinungsfreiheit, so Kaczyński weiter, müsse ganz besonders verteidigt werden. Wenn man berücksichtigt, dass Polen auf der Rangliste der Pressefreiheit in den vergangenen Jahren von Platz 18 (2015) auf Platz 62 (2020) gefallen ist, wird offensichtlich, dass der Freiheitsbegriff vom polnischen Regierungslager völlig anders interpretiert wird als von der Organisation "Reporter ohne Grenzen", die diese Rangliste erstellt – Freiheit scheint als die Möglichkeit verstanden zu werden, marginale, kontrafaktische oder ideologisch motivierte Äußerungen ungefiltert und ungebremst veröffentlichen zu können. Der Kampf um die Medien Angesichts dessen gewinnen auch die jüngsten Schritte der Regierung, um größeren Einfluss auf den einheimischen Medienmarkt zu gewinnen, neue Bedeutung. Im Dezember hatte der im Staatsbesitz befindliche, politisch kontrollierte Mineralölkonzern Orlen erklärt, der Passauer Mediengruppe ein großes Netz polnischer Regionalzeitungen und regionaler Internetseiten abzukaufen. Verantwortlich hierfür war niemand anderes als der nun zum "Menschen der Freiheit" gekürte Firmenchef Daniel Obajtek. Kaczyński hierzu:"Ich finde, dass das eine der besten Nachrichten ist, die ich in den letzten Jahren gehört habe. Das ist der erste Schritt in die andere Richtung. Wir hatten in hohem Maße Medien zugunsten von nicht-polnischen, hauptsächlich deutschen Akteuren abgestoßen, mit einem riesigen Verlust für unsere Souveränität, nicht nur für uns als Staat, sondern als Volk". Die Medien in deutschem Besitz hätten in den vergangenen Jahrzehnten "eine gewaltige Rolle bei der Demoralisierung der Jugend gespielt, einer – könnte man sagen – überaus vulgären, primitiven Demoralisierung". Durch die Entscheidung von Obajtek sei nun eine Möglichkeit entstanden, "diese in nationalem Sinne fatale Situation" "gesunden" zu lassen.Ob die von einer überalterten Leserschaft und mit sinkenden Auflagenzahlen kämpfenden Regionalzeitungen tatsächlich die polnische Jugend demoralisiert haben, ist arg zu bezweifeln. Aber schon seit vielen Jahren hat Kaczyński gegen den ausländischen Einfluss auf dem polnischen Medienmarkt gewettert, und zahlreiche Politiker der Rechten haben es ihm nachgemacht. Zuletzt hatte Andrzej Duda im Präsidentschaftswahlkampf die These aufgestellt, deutsche Zeitungen würden die politischen Entscheidungen in Polen beeinflussen wollen.Polen, so Kaczyński weiter, brauche eigene Medien, "nichtpolnische Medien sollten in unserem Land die Ausnahme sein". Der Weg dorthin sei nicht einfach, doch "es ist der einzige Weg zur Verteidigung unserer Freiheit, unserer Souveränität, da die Medien etwas sind, was man mit wichtigen Teilen des Gehirns und des menschlichen Nervensystems vergleichen kann. Wem dies genommen würde, wäre kein Mensch im vollen Wortsinn. Und auch ein Volk, dem dies genommen wird, ist tatsächlich in einer sehr schwierigen Situation."In seiner Argumentation verbindet Kaczyński dies mit der historischen Entwicklung Polens, die den Aufbau einheimischen Kapitals stark erschwert habe, und erklärt, dass Kapital durchaus eine Nationalität besitze. Wenn gesagt werde, dass Beziehungen zwischen Staaten und Nationen nicht mehr wichtig seien, "so sind das Märchen, und zwar Märchen, die ganz absichtlich von den Stärksten erzählt werden, die ganz einfach immer noch eine sehr starke Tendenz haben, die Schwächeren zu dominieren, sie zu beherrschen". Auch wenn er in diesem Abschnitt Deutschland nicht beim Namen nennt, so deckt sich diese Bemerkung doch völlig mit den häufigen Vorwürfen von der rechten Seite in Polen, Deutschland setze als führende Macht in der Europäischen Union alles daran, Polen erneut zu kolonisieren. Angesichts dieser Dämonisierung des Nachbarn sind Schritte wie die "Repolonisierung" der im deutschen Besitz befindlichen Zeitungen wichtige symbolische Handlungen, mit denen die PiS ihrer Wählerschaft gegenüber demonstrieren kann, wie konsequent und erfolgreich man agiert (nach dem Motto: "und wieder haben wir es den Deutschen gezeigt"). Über die "Repolonisierung" bzw. "Dekonzentrierung" weiterer unabhängiger Medien in Polen wird bereits seit Monaten spekuliert. Ein neuer Ministerpräsident?Sehr stark kommentiert wurde in den polnischen Medien Kaczyńskis Lob für Orlen-Chef Daniel Obajtek. Dieser langjährige Bürgermeister der kleinpolnischen Gemeinde Pcim nimmt seit Regierungsantritt der PiS 2015 wichtige Funktionen im Bereich der staatlich kontrollierten Wirtschaftsunternehmen ein. Kaczyński sagt über Obajtek, er habe "Organisationstalent", er sei im Personenreservoir der PiS "eine hervorstechende Persönlichkeit", er habe das Unternehmen Orlen so gut entwickelt, dass es trotz Widerstand gegen den Zusammenschluss mit der Konkurrenzfirma Lotos nun auch von der Europäischen Union ernst genommen werden müsse. "Wer dagegen war, das waren nicht nur Schwergewichte in europäischem Maßstab, sondern globale Schwergewichte". Und schließlich folgt noch ein großes Lob: "Er [Obajtek] ist eine Hoffnung. Eine Hoffnung nicht nur unseres politischen Lagers, nicht nur einer partikularen Gruppe, sondern Polens und aller Polen, die nur das Wohl unserer Nation möchten."Ein unverdrossener Kämpfer gegen die Interessen des Westens, des internationalen Kapitals, ein treuer Parteisoldat – diese Hinweise veranlassten zahlreiche politische Beobachter in Polen, eine baldige Auswechslung von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki gegen niemand anderen als Daniel Obajtek zu vermuten. Während Morawiecki im Kampf gegen die Pandemie Schwächen gezeigt hat und auch im PiS-Lager viele Gegner besitzt, die ihm zum Beispiel vorwerfen, nicht gart genug gegen die Brüsseler Bemühungen gekämpft zu haben, Polens Rechtstaatlichkeit kritisch überprüfen und gegebenenfalls sanktionieren zu lassen, ist Obajtek ein relativ junger, bislang politisch wenig profilierter, aber in der PiS ausgezeichnet vernetzter Manager. Er könnte Kaczyński auch eine große Sorge abnehmen, die ihn seit längerer Zeit umtreibt – wer nämlich nach ihm die Führung der PiS übernimmt. FazitEs dürfte wie oft beim Handeln Kaczyńskis sein: Einige der von ihm angesprochenen Themen werden das politische Geschehen der nächsten Zeit bestimmen, andere weniger. Vieles liegt daran, was von den ihm nahestehenden Akteuren aufgegriffen und zu konkreten Projekten umgeformt wird. Auch die Unwägbarkeiten der Corona-Krise werden eine Rolle spielen. So könnte Mateusz Morawiecki, den Kaczyński Ende 2017 aus dem Ärmel zog, um der Regierung neues Leben einzuflößen, solange noch als Aushängeschild der Regierung dienen, solange die Krise nicht ausgestanden ist, um erst dann einem neuen As aus dem Ärmel Platz zu machen. Die Krise könnte aber auch dazu dienen, unpopuläre oder problematische Vorhaben umzusetzen, etwa weitere Veränderungen auf dem Medienmarkt oder die Beschränkung bestimmter Bereiche der universitären oder berufsständischen Selbstverwaltung. Festzuhalten ist jedenfalls die nach wie vor starke ideologische Fundierung von Kaczyńskis politischen Plänen, die jedoch letztlich – und das ist auch nichts Neues – in erster Linie wie eine Absicherung seines unbedingten Machterhaltungswillens wirken. * Quelle: Das Interview wurde am 28.1.2021 auf wPolsce.pl ausgestrahlt und mehrfach wiederholt. Der vorliegende Text basiert auf einem ausführlichen Bericht der staatlichen Presseagentur PAP, hier in einer vom Internetportal Onet.pl übernommenen Fassung (https://www.onet.pl/informacje/onetwiadomosci/jaroslaw-kaczynski-o-nagrodzie-czlowieka-wolnosci-dla-daniela-obajtka/08ytf65,79cfc278). Die Zitate wurden mit dem Originalinterview verglichen.
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Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank über Hamburgs Aufstieg als Wissenschaftsmetropole, den vermissten Spirit der Ampel-Koalition, die Chancen der grünen Gentechnik – und eine neue Hamburger Wissenschaftskonferenz, die Weltrang bekommen soll.
Katharina Fegebank, 46, ist Grünen-Politikerin und seit 2015 Zweite Bürgermeisterin in Hamburg sowie Senatorin für Wissenschaft, Forschung, Gleichstellung und Bezirke. Foto: BWFGB.
Frau Fegebank, sind Sie als grüne Hamburger Wissenschaftssenatorin eigentlich froh darüber, dass Ihr CSU-Kollege Markus Blume aus Bayern stets das öffentliche Poltern übernimmt, wenn sich die Länder mal wieder über die Zusammenarbeit mit dem BMBF aufregen?
Markige Töne ist man aus Bayern gewohnt, und das nicht nur in der Wissenschaftspolitik. Ich wünsche mir genauso wie der Kollege Blume eine Priorisierung des Zukunftsfelds Wissenschaft durch die Bundesregierung. Mein Weg ist allerdings eher, im vertrauensvollen Dialog darauf zu drängen anstatt in der Öffentlichkeit. Dass es durchaus gerumpelt hat in verschiedenen Bund-Länder-Sitzungen der letzten Zeit, will ich gar nicht verhehlen. Die Ampel ist als Fortschrittskoalition mit großen Hoffnungen gestartet. Und zu diesem Spirit sollte sie zurückkehren.
Hat sich denn Ihre eigene Partei in der Bundesregierung genug gegen die drohenden Kürzungen im Etat des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) eingesetzt?
Der Bund befindet sich in einer schwierigen Haushaltslage, wir Länder tun das auch. Da wäre es etwas wohlfeil, wenn wir als Wissenschaftspolitik einfach sagen würden: Das geht uns alles nichts an, sollen sie überall sonst den Rotstift ansetzen, in der sozialen Infrastruktur, in der Energiepolitik, bei der Mobilitätswende – Hauptsache, in der Wissenschaft bleiben wir auf der Insel der Glückseligen. Doch eines muss uns dabei auch klar sein: Wissenschaft, Forschung und Innovation sind die wichtigsten Quellen für unseren künftigen Wohlstand. Und ich wünsche mir, dass sich die Ampelkoalition von diesem Grundsatz in den anstehenden Haushaltsberatungen leiten lässt.
"Die Forschungsorganisationen bekommen seit vielen Jahren verlässlich ihr Plus, da sollten sie ein gewisses Maß an Vorsorge betrieben haben."
Immerhin hat sich die Bundesregierung zuletzt sehr klar zur weiteren Erhöhung des Pakts für Forschung und Innovation (PFI) bekannt. Wenn Sie in die großen außeruniversitären Forschungsinstitute hineinhorchen, und von denen haben Sie in Hamburg ja reichlich, sagen die jedoch: Drei Prozent mehr pro Jahr reichen vorn und hinten nicht. Angesichts von Inflation und Rekord-Tarifabschlüssen gleiche ein solcher Zuwachs derzeit einem Wissenschaftsabbau-Programm.
Auch das ist kein singuläres Phänomen, das nur die Wissenschaft trifft. Schauen Sie auf die Gehaltssteigerungen, welche die Länder jetzt zum Beispiel für ihre Krankenhäuser stemmen müssen. Aber Sie haben Recht: Der Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst in Bund und Kommunen war hoch, das können die Forschungsorganisationen mit den drei Prozent pro Jahr Aufwuchs nicht stemmen. Ich bin Mitglied im Senat der Helmholtz-Gemeinschaft, ich weiß, welche verheerenden Folgen für Forschungsvorhaben das hat – und für junge Wissenschaftler und die ihnen zur Verfügung stehenden Stellen. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Forschungsorganisationen seit vielen Jahren verlässlich ihr Plus bekommen, da sollten sie in vorausschauender Planung ein gewisses Maß an Vorsorge betrieben haben. Einen solchen Grad an Steuerungsfähigkeit darf man erwarten.
Haben Sie als Land denn selbst Vorsorge getroffen, wenn im Herbst die Tarifverhandlungen für die Landesbeschäftigten, auch die an den Hochschulen, dran sind?
Wir schauen gebannt auf die Verhandlungen und beschäftigen uns natürlich auch schon jetzt damit, wie wir mit den Ergebnissen umgehen. Und ich kann nur sagen: Wenn es am Ende auf Gehaltsteigerungen von sechs oder acht Prozent zulaufen sollte, kann das kein Haushalt einfach so abbilden.
Also hoffen die Länder noch stärker auf Bundesmittel? Man könnte sagen: Es ist etwas durchschaubar, wenn die Länder einerseits dem Bund vorwerfen, er spare zu stark bei Bildung und Wissenschaft – sie selbst aber seit vielen Jahren ihre Hochschulen in einem Zustand der permanenten Unterfinanzierung lassen.
Die Darstellung, wir Länder würden fortlaufend wie Bittsteller Richtung Bund schielen, halte ich dann doch für einseitig. Als Länder tragen wir an vielen Stellen, nicht nur im Wissenschaftsbereich, einen erheblichen Teil, und deshalb gilt es genau zu schauen, wo wer gefordert ist.
"Wir müssen in Zeiten eines bundesweiten
Lehrkräftemangels auch die Debatte über
die Lösungen bundesweit führen."
Beispiel Qualitätsoffensive Lehrerbildung: Bisher hat der Bund sie allein finanziert, jetzt will er sie auslaufen lassen, und die Länder gehen auf die Barrikaden.
Natürlich ist die Ausbildung von Lehrkräften originär Ländersache. Wir würden uns sogar weigern, wenn der Bund uns da zu intensiv mit eigenen Überlegungen und Ideen hineinfunken wollte. Doch ohne pathetisch klingen zu wollen, halte ich es umgekehrt schon für eine nationale Aufgabe, dass wir allen Kindern und Jugendlichen in Deutschland von Anfang an gleichberechtigte Bildungschancen bieten. Darum müssen wir in Zeiten eines bundesweiten Lehrkräftemangels auch die Debatte über die Lösungen bundesweit führen. Und hier sehe ich sehr wohl eine Rolle für den Bund: Er kann den Austausch über Best Practice in der Lehrerbildung führen, er kann den Wettbewerb um die besten Ideen fördern. Er kann das nicht nur, er sollte es tun.
Der Bund pocht darauf, dass die Länder selbst in die Verantwortung gehen sollen.
Über eine anteilige Kofinanzierung müsste man sprechen, außerdem können wir das Programm gern weiterentwickeln mit einem Schwerpunkt auf der Verhinderung von Studienabbruch im Lehramtsstudium, auf der Integration von Quereinsteigern – neben der Frage, die dem BMBF besonders wichtig ist: wie nämlich der Schulalltag für alle digitaler gestaltet werden kann. In jedem Fall müssen wir viel stärker in die Gesellschaft, in die Schulen hineinwirken, um junge Menschen zu begeistern für den Lehrerberuf. Und da haben wir natürlich eine gemeinsame Verantwortung, das haben wir dem BMBF sehr deutlich gemacht. Was mich allerdings sorgt: Wenn sich schon bei verhältnismäßig kleinen Programmen wie der Qualitätsoffensive Lehrerbildung mit einem Volumen von bislang 50 Millionen Euro pro Jahr die Diskussionen mit dem Bund so schwierig gestalten, lässt das nichts Gutes erahnen für die großen Brocken, die anstehen, etwa eine Anpassung des Pakts für Forschung und Innovation, um den Tarifsteigerungen gerecht zu werden.
Was Bayerns Wissenschaftsminister Blume, der dieses Jahr der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz von Bund und Ländern (GWK) vorsitzt, explizit gefordert hat. Schon Anfang des Jahres sagte er im Interview hier im Blog, es gehe nicht an, die Forschungsorganisationen mit einem realen Minus zurückzulassen – Bund und Länder müssten jetzt nachlegen in Form einer "echten Wissenschaftsallianz für den Standort Deutschland".
Ich unterstütze diese Forderung und das Engagement des Kollegen Blume für die Ländergemeinschaft in der Sache. Ich sehe derzeit aber kein Signal des Bundes, dass er hier verhandlungsbereit wäre. Was ich sehe: Dass wir dieses Jahr auch die Fortsetzung des Förderprogramms für die angewandte Forschung an Fachhochschulen verhandeln müssen und dass wir als Länder da ebenfalls mit dem Bund noch weit auseinanderliegen. Ich habe Verständnis dafür, dass der Bund von den Ländern verlangt, sich finanziell daran zu beteiligen. Aber die vom BMBF geforderte 50-50-Finanzierung würde die Last zu stark in unsere Richtung verschieben. 50-50 mag erst mal fair klingen, blendet aber aus, dass wir Länder zusätzlich für die Grundfinanzierung der Hochschulen zuständig sind.
"Ich habe mich explizit eingesetzt, dass auch die größeren Universitäten DATI-Mittel erhalten können. Aber doch nicht auf Kosten der HAW!"
Derweil hat der Bund das aktuelle Budget für die HAW-Forschung bereits in den Haushaltstitel für die geplante Deutsche Agentur für Transfer und Innovation (DATI) verschoben, die auch für Universitäten offenstehen soll. Gleichzeitig scheint es für die DATI kaum frisches Geld zu geben. Müssen sich am Ende die HAW ihre zuletzt nicht einmal 60 Millionen Euro Forschungsförderung pro Jahr auch noch mit den Universitäten teilen – die umgekehrt mehr als 99 Prozent des Milliardenhaushalts der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unter sich allein ausmachen?
Das darf nicht passieren. Ich habe den Ampel-Koalitionsvertrag mitverhandelt und mich in dem Zusammenhang sogar explizit eingesetzt, dass auch die größeren Universitäten DATI-Mittel erhalten können. Aber doch nicht auf Kosten der HAW! Ob eine solche Gefahr konkret besteht, kann ich nicht einschätzen, weil es das vom BMBF lange angekündigte DATI-Gesamtkonzept immer noch nicht gibt, sondern nur einzelne Pilotvorhaben. Als Länder waren und sind wir gesprächsbereit. Wir haben in den vergangenen Jahren mit dem Bund in der Wissenschaftsfinanzierung immer wieder Durchbrüche erzielt, vom Zukunftsvertrag "Studium und Lehre stärken" bis hin zur Erneuerung der Exzellenzstrategie. Das liegt auch an dem besonderen Gesprächsformat, das uns mit der GWK zur Verfügung steht. Zu solchen gemeinsamen Momenten der wissenschaftspolitischen Stärke sollten wir zurückfinden.
Apropos Stärke: Kann Hamburg als Wissenschaftsstandort inzwischen mit Metropolen wie Berlin mithalten?
Wir haben in den vergangenen zehn Jahren einen unglaublichen Sprung gemacht. Das Selbstverständnis der Stadt hat sich verändert, sie begreift sich jetzt selbstbewusst als Wissenschaftsmetropole. Wir sind vielleicht später gestartet als manch andere Stadt oder Region, aber wir holen auf, und alle ziehen mit in der Hamburger Politik und Stadtgesellschaft. Da spiegelt sich der Strukturwandel, den wir als klassische Handels- und Hafenstadt durchlaufen, manchmal weniger sichtbar und disruptiv als andere. Uns hilft, dass wir als Stadt weit über Deutschland hinaus Menschen anziehen, die sich bei uns entfalten wollen, die Freiheit schätzen und sie bei uns finden. Das ist Lebensqualität – womit ich nicht bestreite, dass wir noch besser werden können, etwa indem wir unsere Verwaltung weiter beschleunigen oder alle Dienstleistungen dort auf Englisch anbieten.
"Kommen Sie mal in die Science City Hamburg Bahrenfeld, da können Sie beobachten, wie erstmalig ein Stadtteil um eine gewachsene Forschungslandschaft herum und mit ihm zusammenwächst."
Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten gibt es auch in Berlin. Über die Verwaltung sprechen wir lieber nicht.
Sollten wir aber. Und beim Thema Exzellenz müssen wir uns auch nicht verstecken. Als ich 2015 anfing, hat uns keiner zugetraut, dass die Universität Hamburg innerhalb weniger Jahre Exzellenzuniversität sein würde. Dieser Titel hat uns noch mal einen ordentlichen Schub gegeben, weil die internationale Wissenschaftsszene gesehen hat: Da geht richtig was in Hamburg – an den Hochschulen, aber auch bei den Außeruniversitären. Ich will hier keinen Riesen-Werbeblock einschieben, aber kommen Sie mal in die Science City Hamburg Bahrenfeld, da können Sie beobachten, wie erstmalig ein Stadtteil um eine gewachsene Forschungslandschaft herum und mit ihm zusammenwächst. Forschen, Lernen, Freizeit, Schule, Sport, alles vereint in einer Nachbarschaft. Darum bin ich auch gerade so am Klinkenputzen beim Bund, um die Finanzierung für PETRA IV zu bekommen, die leistungsstärkste Röntgen-Lichtquelle der Welt, die wir in der Science City planen, am DESY. Schon PETRA III sorgt dafür, dass Wissenschaftler aus aller Welt zu uns kommen. Aber wir wissen, dass die USA und China nicht schlafen, wir stellen uns dem Wettbewerb, und die Stimmung in Bahrenfeld ist gut, auch wenn immer das Damoklesschwert der angespannten öffentlichen Haushalte über uns hängt, in Hamburg wie im Bund.
Nur war dieses Damoklesschwert in Hamburg meist noch schärfer als anderswo. Während Berlin seinen Hochschulen pro Jahr schon 3,5 Prozent drauflegte, gab es in Hamburg noch mickrige 0,88 Prozent. Und das über viele Jahre. Berlins neue Koalition hat das jährliche Plus nun sogar auf fünf Prozent erhöht.
Ich schaue mir die Zahlen immer gern sehr genau an und stelle dann fest: Fünf Prozent auf dem Papier sind am Ende nicht immer fünf Prozent, die bei den Hochschulen ankommen. Während wir in Hamburg, wenn ich alles zusammenrechne, auf weit über drei Prozent pro Jahr kommen, die die Hochschulen erreichen. Und wie ich anfangs sagte: Wenn die Tarifabschlüsse da sind, werden wir schauen, was das für die Hochschulfinanzierung bedeutet. Ich weiß aber gar nicht, ob uns dieses innerdeutsche Konkurrenzdenken wirklich weiterbringt. Deutschland sollte als Ganzes europäisch und perspektivisch weltweit punkten in der Wissenschaft. Ich finde es toll, wie sich Berlins Wissenschaft in den vergangenen Jahren entwickelt hat. So wie ich bewundere, wie es in München gelungen ist, namentlich der TUM, ein wirklich herausragendes Innovationsökosystem zu schaffen mit Konzernen, mittelständischen Unternehmen und Start-ups, mit einem spannenden Gründungsumfeld, auch dank dem Engagement einer Großspenderin und vieler anderer, die dann nachgezogen sind. Da wollen wir uns einiges abgucken. Aber wir können nicht alles kopieren. Wir müssen unseren eigenen Weg gehen. Den Hamburg Style halt.
Was ist denn der "Hamburg Style" für Sie?
Der kommt aus der Logik der Stadt heraus. Hamburg ist eines der zentralen Industrie- und Logistikzentren Europas mit seinem Hafen, aber auch drittgrößter Luftfahrtstandort weltweit. Und die großen Zukunftsfelder: Quantencomputing, Forschung an Halbleitern, Materialforschung, Infektionsmedizin oder das deutschlandweit einzigartige Klimacluster – all das kommt in Hamburg interdisziplinär vernetzt zusammen. So profitieren an einem Standort mit kurzen Wegen auch Wissenschaft und Wirtschaft voneinander, so entstehen Innovationen.
Ihre Schwärmerei in allen Ehren: Diese Verschränkung von Stadt und Wissenschaft, die Sie so loben, ist mehr Vision als Realität, oder? Es fehlt nicht nur an Geld, es fehlt auch an Miteinander. Bis heute ist zum Beispiel die Science City durch einen Zaun getrennt vom Stadtteil drumherum.
Aber nicht mehr lange. Der alte Forschungscampus Bahrenfeld war ein Sicherheitsgelände, das war dem Schutz der DESY-Forschungsanlagen geschuldet. Aber wenn dort jetzt ein neuer Stadtteil entsteht mit Familien und Studierenden, die zuziehen, wenn im nächsten Schritt ganze Uni-Fakultäten auch mit dem Lehrbetrieb dort ihre neue Heimat finden, dann hat der Zaun längst seine Funktion verloren, dann kommt er weg. So ist es mit dem DESY verabredet.
"So begeistert wie ich wären alle,
hätten sie wie ich die Gelegenheit,
dieselben Einblicke zu bekommen."
Dass die Gesellschaft Wissenschaft braucht, ist eine triviale Erkenntnis. Drehen wir den Satz um: Wie sehr braucht die Wissenschaft die Gesellschaft?
Da muss ich kurz persönlich werden. Ich bin absoluter Fan vom dem, was unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jeden Tag voranbringen, angefangen mit der Grundlagenforschung bis hin zur Anwendung. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass all unser Fortschritt, unser Zusammenhalt und Wohlstand als Gesellschaft maßgeblich abhängen von Menschen auf der Suche nach Wahrheit und Erkenntnis. Das ist die Grundmotivation meiner Arbeit als Politikerin, und dann denke ich immer: So begeistert wie ich wären alle, hätten sie wie ich die Gelegenheit, dieselben Einblicke zu bekommen. In die faszinierende Forschung an Strahlenquellen. Oder wie es ist, wenn Hamburger Wissenschaftler mit ihren Kollegen aus Mali zusammenarbeiten, um alte Manuskripte zu retten und sie für künftige Generationen wieder zugänglich zu machen. Wie Klimaforscher die Grundlagen der Erderwärmung erforschen und Wege aufzeigen, sie aufzuhalten. Ich finde, dieses Wissen und diese Begeisterung stehen der ganzen Gesellschaft zu. Der Kassiererin bei Lidl genau wie dem Hafenarbeiter bei Blohm+Voss.
Aber was hat die Wissenschaft davon?
Die Gesellschaft finanziert sie. Darum muss die Wissenschaft erklären, wohin all das Geld geht. Noch wichtiger aber ist, dass eine nicht informierte Öffentlichkeit eine Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit bedeutet. Nehmen wir die Ernährungskrise. Ich bin dankbar, dass die Wissenschaft Ansätze entwickelt hat, die eine Versorgung der Menschheit mit genügend Lebensmitteln wahrscheinlicher macht – die sie aber bislang in Deutschland nicht ausprobieren konnte, weil die Haltung in weiten Teilen der Öffentlichkeit gegenüber der neuen Gentechnik zu skeptisch war.
Viele dieser Skeptiker dürften Mitglieder Ihrer Partei sein.
Ja, aber das können und müssen wir ändern! In der Medizin und Gesundheitsforschung hat sich die Wahrnehmung der Gentechnik bereits gewandelt, vor allem seit der Corona-Pandemie – weil die Menschen gesehen haben, welche Rolle gentechnikbasierte Impfstoffe gespielt haben. Jetzt kommt es darauf an, über die Möglichkeiten und den Nutzen der sogenannten grünen Gentechnik aufzuklären. Wie kann ich Pflanzen resistenter machen, so dass sie mit weniger Wasser auskommen, dass sie Dürrephasen und zunehmende Hitzeperioden besser überstehen? Die CRISPR/Cas-Genschere bietet ein enormes Potenzial, und dabei verändert sie die Pflanze nur so, wie sie sich selbst verändern könnte. Die EU-Kommission hat im Juli ihre Pläne für die grüne Gentechnik in der Landwirtschaft vorgestellt. Ich bin davon überzeugt: Wenn die Menschen die Wirkungsweisen, die Möglichkeiten und die Grenzen neuer Forschungszweige und Technologien erfahren, kommen sie raus aus ihrer Abwehrhaltung.
"So viele Fragestellungen gab es während Corona für die Forschung zu bearbeiten, und um es vorsichtig zu formulieren: Die meisten davon wurden nicht durch Forschung aus Deutschland beantwortet."
Währenddessen drängt die Wissenschaft auf einen einfacheren Zugang zu Daten aller Art, um damit forschen zu können. Auch hier gibt es aber massive Widerstände, viele Menschen haben Angst um ihre Privatsphäre.
Datenschutz ist relevant und wichtig. Doch auch hier sollte uns die Corona-Pandemie eigentlich die Augen geöffnet haben. Welche Infektionsgefahr geht von Kindern aus? Müssen die Schulen jetzt geschlossen werden oder nicht? Welche Wirksamkeit haben bestimmte Eindämmungsmaßnahmen, wie zuverlässig ist die Impfung? So viele Fragestellungen galt es für die Forschung zu bearbeiten, und um es vorsichtig zu formulieren: Die meisten davon wurden nicht durch Forschung aus Deutschland beantwortet. Die datenintensiven Studien stammten aus Skandinavien, aus Israel, aus Großbritannien, aus den USA. Und als Politik bekamen wir wöchentlich Mahnungen aus den Unikliniken und Forschungsnetzwerken: Wir geraten ins Hintertreffen, weil uns der Zugang zu den Daten fehlt. Oder weil diese Daten zu einem guten Teil gar nicht erhoben wurden bei uns. Ich finde, das geht nicht mehr in einer Zeit, in der wir ständig darüber reden, dass wir Deutschland und Europa wieder zu Motoren von Modernisierung und Veränderung machen, dass wir unsere Technologiesouveränität wiederherstellen wollen. Dann ist es umso ärgerlicher, wenn Scheinkonflikte aufgebaut werden zwischen der Nutzung von Forschungsdaten und dem Datenschutz. Natürlich geht beides zusammen, wenn man die riesigen Datensätze, auf die es ankommt, entsprechend anonymisiert.
Gerungen wird in der Wissenschaft zurzeit auch um die Beziehung zu China. Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) mahnte wiederholt zur Vorsicht, der Abbruch von Wissenschaftskooperationen steht im Raum. Zu Recht – oder eine weitere Form der Überreaktion?
Spätestens der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat uns gezeigt, wie schädlich es ist, wenn wir uns einseitig abhängig machen von bestimmten Ländern oder Regionen. Wenn dann ein Konflikt ausbricht, ist der Preis, den Deutschland und Europa zahlen, sonst unter Umständen sehr hoch, wie wir in der Energiekrise bemerkt haben. Umgekehrt ist eine Abkehr von China, und sei sie nur in Teilen, für Hamburg besonders zweischneidig, weil ein Großteil unseres Wohlstands über den internationalen Handel generiert wird und da wiederum zu einem großen Teil über den Handel mit Asien und China. Darum halte ich nichts von pauschalen Antworten. Es wäre im Gegenteil ein Ausdruck mangelnder Kompetenz und Urteilsfähigkeit, wenn wir jetzt blind Verbindungen kappen würden. Wir müssen genau hinschauen: Wo und wie profitieren wir von wissenschaftlichen Kooperationen mit China und dem Austausch von Studierenden? Wo droht die Gefahr von Wissenschaftsspionage oder das Abziehen von Daten? Und währenddessen tun wir gut daran, neue Bande zu knüpfen und wissenschaftliche Kooperationen aufzubauen mit anderen Ländern in Asien, Afrika oder Südamerika. Eine spezifisch Hamburger Antwort, die wir in dieser Phase der strategischen Neuorientierung geben werden, ist eine neue internationale Wissenschaftskonferenz, zu der wir nächstes Jahr erstmals einladen werden, zusammen mit der Körber-Stiftung.
"Wer die große Zukunftserzählung von Wissenschaft und Forschung nicht zum zentralen Bestandteil seines Regierungsprogramms macht, hat die Zeichen der Zeit verpasst."
Um was zu tun?
Wir wollen über Technologiesouveränität diskutieren, über Konkurrenz und Kooperation im internationalen Wissenschaftssystem, über den Beitrag von Wissenschaft für unsere Zukunft und dazu wollen wir die Top-Wissenschaftler und Spitzenpolitiker zusammenbringen – aus Deutschland, Europa und aus der Welt. Und dabei auch den Dialog zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlichkeit ermöglichen.
Ein weiterer von zahlreichen Versuchen in Deutschland und anderswo, ein Davos der Wissenschaft ins Leben zu rufen?
Welchen Namen das Kind am Ende bekommt, ist nicht wichtig. Entscheidend ist, dass wir damit starten, einen international sichtbaren und vertrauensvollen Austausch zu etablieren, gern in Kooperation mit anderen Partnern aus Deutschland. Wir wollen einen Ort schaffen, wo die aktuellen Trends diskutiert werden und man die Leute trifft, auf die es ankommt.
2025 wird gewählt in Hamburg. Sollten die Grünen stärkste Bürgerschaftsfraktion werden, handelt man Sie bereits als Erste Bürgermeisterin. Umgekehrt heißt es immer, mit Wissenschaftspolitik gewinnt man keine Wahlen.
Ja, so heißt es immer. Die Wahl ist noch eine Weile hin. Mein Eindruck ist, die Leute haben gerade andere Sorgen als die Frage, wer in anderthalb oder eindreiviertel Jahren welche Partei in den Bürgerschaftswahlkampf führt. Eines ist aber klar: Wer in einen Wahlkampf geht und die große Zukunftserzählung von Wissenschaft und Forschung nicht zu einem zentralen Bestandteil seines Regierungsprogramms macht, der hat die Zeichen der Zeit verpasst.
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Sommer, Sonne, Strand - Zypern ist eine Ferieninsel geworden, auf der viele Touristen Urlaub machen. In Nikosia können Tourist*innen in hippen Läden shoppen gehen, die schöne Altstadt genießen und lecker Essen gehen. Aber aufgepasst! Mitten in der Hauptstadt stehen Friedenstruppen der Vereinten Nationen und überwachen die grüne Linie. Der schöne Schein trügt und erinnert an die vergangenen blutigen Ereignisse zwischen den beiden Volkstruppen. Eine Reise nach Nikosia ist nicht nur mit Urlaub verbunden, sondern auch eine lebendige Geschichtsstunde, denn die Insel ist bis heute geteilt. Dennoch ist die Lage entspannter geworden, die Grenzen sind geöffnet und EU-Bürger*innen können mit ihrem Personalausweis problemlos den Südteil hin zum Nordteil überqueren. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen. Die Friedenssicherung hat sich zu einem zentralen Auftrag der Vereinten Nationen entwickelt und soll am Fallbeispiel Zypern erläutert werden. Dabei gliedert sich die Arbeit in fünf Teile. Zu Beginn wird auf den Kontext der UN-Friedenssicherung im allgemeinen eingegangen. Anschließend wird Bezug auf die Charta der Vereinten Nationen genommen und der Prozess und die Verantwortlichkeit der Friedensmissionen geklärt. Im Folgenden werden die ersten Friedensmissionen beleuchtet und reflektiert. Dabei wird der Zypernkonflikt historisch eingeordnet. Ob die Vereinten Nationen im Fall Zypern richtig gehandelt oder den Konflikt nur auf Eis gelegt haben, ist eine Kontroverse. Um diese zu verstehen, müssen die Hintergründe des Konfliktes beleuchtet werden, welches im nächsten Kapitel geschieht. Weiter wird auf die Mitwirkung der UNO an einer Lösung des Konfliktes eingegangen. Hier sollen die Schwierigkeiten und Erfolge beleuchtet werden. Zum Schluss wird anhand von ausgewählten Praxisbeispielen der UNFICYP gezeigt, wie die Friedensmission vor Ort ablief. Die Probleme und Erfolge der Friedenstruppen werden betrachtet, ebenso werden die Konzepte der Vereinten Nationen, die in die Praxis umgesetzt wurden, auf ihre Standhaftigkeit überprüft. Friedenssicherung durch die Vereinten NationenIm folgenden Abschnitt wird das Konzept der Friedenssicherung vorgestellt und in seinen einzelnen Stufen dargestellt. Die Friedenssicherung ist, zusammen mit der Durchsetzung der Menschenrechte, ein zentraler Auftrag der Vereinten Nationen. Diese Ziele hängen direkt miteinander zusammen (vgl. Mathis, 2013). Es gibt festgeschriebene Grundsätze, die von den Mitgliedern beachten werden sollten; die folgenden stehen in unmittelbarem Zusammenhang der Friedenssicherung der Vereinten Nationen: Die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung, das allgemeine Verbot der Androhung und Anwendung von Gewalt und das Interventionsverbot. Ausnahme beim Gewaltverbot ist die Selbstverteidigung und die vom Sicherheitsrat erlassenen militärischen Zwangsmaßnahmen. Der UN-Sicherheitsrat nimmt hier das Gewaltmonopol ein. Durch das Interventionsverbot dürfen souveräne Staaten sich nicht in innere Angelegenheiten einmischen. Der UN-Sicherheitsrat kann deshalb nicht in innerstaatliche Konflikte und Menschenrechtsverletzungen eingreifen (Ebbing 2012, vgl. S. 3f). Dabei trägt der UN-Sicherheitsrat die Verantwortung für die internationale Sicherheit und den Weltfrieden; dieser kann bindende Entscheidungen für Mitgliedsstaaten treffen (vgl. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V.). Alle UNO-Missionen zur Friedenssicherung und die Entsendung von UN-Soldaten gingen auf die Entscheidung des Sicherheitsrates zurück. Zu betrachten ist, dass durch Menschenrechtsverletzungen Konflikte gestärkt werden und diese in bewaffneten Konflikten und Kriegen enden können. Außerdem kommt es in Kriegen zu Menschenrechtsverletzungen wie z.B. durch Folter, Ermordung von Zivilisten oder sogar Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie Völkermord (vgl. Mathis, 2013). Ein zentrales Gremium für das UN- Konfliktmanagement, welches anhand der UN-Charta entscheidet, ob es sich um einen Friedensbruch oder um einen Bruch der internationalen Sicherheit handelt, ist etabliert. Hier werden Maßnahmen beschlossen, um die internationale Sicherheit und den Weltfrieden wieder herzustellen (vgl. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V.). Mathis zeigt auf, dass die Friedenssicherung eine signifikante Anzahl an Aspekten aufweist und durch das Grundprinzip nicht direkt in bewaffnete Konflikte eingegriffen wird. Zu aller erst gibt es die Prävention, wirtschaftliche Hilfe, Sicherung von Menschenrechten, Verhandlung in Konflikten, Sanktionen gegen Staaten, die völkerrechtswidrig handeln oder völkerrechtliche Vereinbarungen nicht einhalten, wie die Ablehnung von ABC-Waffen. Der Sicherheitsrat kann hierbei Empfehlungen zur friedlichen Streitbeilegung nach Kapitel VI der Charta aussprechen. Darüber hinaus kann es zu Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII kommen. Dabei kann es sich um nicht-militärische, aber auch um militärische Maßnahmen handeln (Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V.). Hinzu kommt, dass der UN-Sicherheitsrat einen Krieg völkerrechtlich legitimieren kann (vgl. Mathis, 2013). Während eines Krieges werden Verhandlungen für einen Waffenstillstand geführt, es wird humanitäre Hilfe geleistet, und die Zivilbevölkerung wird durch UN-Soldaten zu schützen versucht. Selbst nach einem Krieg sorgen die UN-Soldaten für die Sicherung des Waffenstillstandes und die Einhaltung von Friedensvereinbarungen. Dabei steht der Schutz der Zivilbevölkerung permanent im Vordergrund. Ein Wiederaufbau, eine Entwaffnung und Abrüstung wird gefördert und schwere Kriegsverbrechen werden geahndet (vgl. ebd.). In einer Resolution wird vom Sicherheitsrat über die Größe und das Mandat einer Friedensmission entschieden, und anhand regelmäßiger Berichte durch den Generalsekretär kann das Mandat verlängert oder geändert werden (vgl. ebd.). Nun soll geklärt werden, wie genau eine Friedensmission abläuft und wer die Verantwortung trägt. Für die Friedensmissionen ist das Department of Peacekeeping Operations (DPKO) zuständig; dieses plant die Mission und führt diese durch. Dabei werden sie vom Department of Political Affairs (DPA) unterstützt, dieses beteiligt sich vor allem bei diplomatischen Bemühungen. Eine Einsatzleitung (Force Commander) vor Ort wird vom Generalsekretär bestimmt. Dieser verfügt ebenso auch über die ausführende Leitung der Friedensmission (vgl. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V). Aus Kapitel VII der Charta geht eine starke Anteilnahme der Mitgliedstaaten hervor. Diese Staaten sollen auf Grundlage von Sonderabkommen Streitkräfte zu Verfügung stellen. Dabei sollte erwähnt werden, dass noch kein Sonderabkommen zustande gekommen ist. Festzustellen ist, dass die Anforderungen von den Vereinten Nationen zu hoch und den praktischen Möglichkeiten voraus sind (Gareis/Varwick 2014, vgl. S.117). Gareis analysiert, dass das kollektive Interesse der VN-Mitgliedstaaten oft zu gering ist, um ihre Streitkräfte aus der Hand zu geben und das Leben der Soldaten zu riskieren (vgl. ebd.). Daraus folgt, dass die Vereinten Nationen kein schnelles und effektives Sicherheitssystem besitzt. Die Vereinten Nationen sind "eine unvollkommene, reformbedürftige, aber doch in vielen Bereichen eminent wichtige internationale Organisation" (ebd. S. 356). Voraussetzung für den Erfolg der Vereinten Nationen ist, dass die Staaten multilaterale Strategien zur Problemlösung bevorzugen. Nur dann können die Vereinten Nationen eine Rolle in der internationalen Politik spielen. Die Mitgliedstaaten sind in der Praxis selten bereit, ihre Außenpolitik in die Hände der Vereinten Nationen zu legen. Die großen und mächtigen Staaten neigen dazu, unilateral vorzugehen. Staaten wollen alleine und, wenn notwendig, gegen andere Staaten handeln, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen und zu maximieren. Auch wenn nur im Einzelfall unilateral gehandelt wird, entsteht dadurch trotzdem ein Bruch und gegenseitiges Vertrauen wird schwierig (vgl. ebd.). Aufgrund dessen haben sich alternative Formen der Friedenssicherung entwickelt. Diese müssen einerseits dem veränderten Kriegs- und Konfliktgeschehen standhalten und den Souveränitätsansprüchen der Mitgliedsstaaten. Eine eigene UN-Friedenssicherung sind beispielsweise die Blauhelme, welche durch Auslegung von Kapitel VII der Charta vom Sicherheitsrat seit den 1950er Jahren entsendet werden. Dabei bestehen die Blauhelme in der Regel aus unbewaffneten bis leicht bewaffneten Truppen und Beobachtern. Zu ihren Aufgaben gehört unter anderem die Überwachung der Einhaltung von Waffenstillständen oder dem Friedensvertrag. Die Neutralität steht dabei an oberster Stelle (vgl. Gareis 2015). Die ersten Friedensmissionen der Vereinten Nationen Im Mittelpunkt dieses Abschnittes stehen die Anfänge der Friedenssicherung. Dabei wird die Entwicklung beleuchtet und reflektiert. Weiterhin findet eine Einordnung der Friedenssicherung auf Zypern statt. Die Überwachung des Waffenstillstandes nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg 1948 war der erste große Einsatz in der Entstehungsphase der Friedenssicherungen. Die nächste größere Mission bestand aus der Überprüfung des Waffenstillstandes zwischen Indien und Pakistan. Gareis stellt fest, dass es sich ebenfalls um eine zwischenstaatliche Auseinandersetzung handelte. Diese Mission wurde vom VN-Haushalt bezahlt und dauert bis heute an. Daraus entwickelte sich eine zweite Phase der Friedenssicherung, die Behauptungsphase von 1956-1967 mit neun Einsätzen (Gareis/Varwick 2014, vgl. S.127f). In die Behauptungsphase zählte der Einsatz der Friedenstruppen in Zypern, auf den im späteren Abschnitt des Blogbeitrages eingegangen wird. "Erstmals übernahmen die UN zeitweilige Autorität über ein Territorium auf dem Weg zur Unabhängigkeit, ergänzte zivile Polizei zu einer Friedensoperation, wurde in einen Bürgerkrieg verwickelt, führte einen Einsatz im größeren Ausmaß durch und erlaubte den Blauhelmen das Tragen von Waffen." (Jett 2000, S.23f), neue Aufgaben wurden erkannt. Die Vereinten Nationen bekamen zudem immer mehr Macht, aber hatten damals schon mit ersten Problemen zu kämpfen. Das klassische peacekeeping entstand durch die erste Notstandsgruppe der Vereinten Nationen, der United Nations Emergency Force (UNEFI) beim Einsatz in Ägypten. Hier kam es zu Schwierigkeiten, es konnte im Sicherheitsrat keine einstimme Verurteilung der israelischen Aggression und der ägyptischen Verstaatlichung erreicht werden. Durch das Veto von Großbritannien und Frankreich wurde der Sicherheitsrat lahmgelegt. Die Uniting for Peace-Resolution schaltete die Generalversammlung ein, welche auf den Einsatz von Friedenstruppen drängte. Eigentlich wäre laut Kapitel VII Artikel 24 Abs. 1 der UN-Charta der Sicherheitsrat zuständig gewesen, jedoch waren die Konfliktpartien freiwillig mit einem Einsatz einverstanden. Neben Frankreich und der UdSSR verweigerten einige Staaten die finanzielle Unterstützung. Dieses Problem vertiefte sich nochmal beim Einsatz im Kongo; hier wurde die Verantwortung für die Friedenserhaltung beim Sicherheitsrat gesehen. Folglich wurde der Internationale Gerichtshof eingeschaltet, welcher sowohl dem Sicherheitsrat als auch der Generalversammlung eine Zuständigkeit zusprach (vgl. Sucharipa-Behrmann 1999). Die Autoren stellten fest, dass sich aus der Kongo-Krise ein "akzeptiertes Miteinander dieser beiden Organe" (Gareis/Varwick 2014, S.129) entwickelte, wobei "der Sicherheitsrat die Initiative und Entscheidungsbefugnis stärker an sich gezogen hatte"(Gareis/Varwick 2014, S.129). Zu erkennen war außerdem eine zunehmende Bedeutung des Generalsekretärs, welcher über mehr Spielraum verfügte. Die UNEF-Mission ging durch wichtige Grundprinzipen der Notstandsgruppe durch den Generalsekretär in die Geschichte der internationalen Friedenssicherung ein. Hinzu kam der Konsens der Konfliktparteien, welcher beschlossen wurde und besagt, dass klassische Blauhelm-Soldaten nicht gegen den Willen eines Staates eingesetzt werden dürfen. Dadurch wurde eine Toleranz der Truppen gefördert und eine Bereitschaft für eine Zurverfügungstellung der Truppen, durch die Mitgliedstaaten, geschaffen. Dies waren die Grundlagen für das Modell des klassischen peacekeeping vom Generalsekretär Hammarskjöld (vgl. ebd.). Zu diesem Zeitpunkt wurde zudem die Verantwortlichkeit durch die Leitung des Generalsekretärs beschlossen. Aufgrund dessen entstand die DPKO im VN-Sekretariat. Außerdem wurde ein Budget für jede Friedensmission festgelegt, welches durch die Mitgliedstaaten gefüllt wird. Besonders wichtig ist die Unparteilichkeit der eingesetzten Truppen, welche mit dem Konsensprinzip einhergeht. Aus diesem Grund sollten die Truppen eine ausgewogene regionale Zusammenstellung haben (vgl. Auswärtiges Amt). Darüberhinaus wurde der Einsatz von Waffen zur Selbstverteidigung und zur Durchsetzung der Mission erlaubt. Hier besteht eine Problematik, die am folgenden Beispiel gezeigt werden soll: Bei der Kongo-Operation (1960-1964) sollte für den Rückzug belgischer Truppen aus der Republik Kongo gesorgt werden. Es kam zu einer Ausweitung des Mandats, wodurch ein Bürgerkrieg verhindert und die Regierung beim Aufbau ihres Amtes unterstützt werden sollte. Dafür gab es zum ersten Mal die Legitimation der Waffengewalt im Bezug auf das auszuführende Mandat (Gareis/Varwick 2014, vgl. S.131). Das führte dazu, dass die UNEF dadurch selbst zu Konfliktpartei wurde und sich in die innerstaatlichen Konflikte verwickelte. Der Einsatz wurde im Sommer 1964 beendet, aufgrund dessen, dass die Regierung Kongos einer Mandatsverlängerung nicht zustimmte. Dabei sollte man nicht außer Acht lassen, dass die Vereinten Nationen aus diesem Einsatz ihre Konsequenzen zogen. Zum einen wurden keine großen und komplexen Missionen die nächsten drei Jahrzehnte durchgeführt (vgl. ebd.). Zum anderen waren die Ziele der Friedenssicherung fortan bescheidener. Zudem kehrte man zu den Prinzipien von Hammarskjöld zurück und sicherte sich die Zustimmung der Konfliktparteien vor einem Einsatz. Zusätzlich wurden die Friedensmissionen vom Sicherheitsrat nun beobachtet (vgl. ebd.). An dieser Stelle wird nur kurz auf den Zypern-Einsatz eingegangen, um ihn in die Geschichte der Friedenssicherung der Vereinten Nationen einzuordnen. Der Zypern Einsatz gilt als klassisches peacekeeping und hält bis heute an. Nach Bellamy und Williams versteht sich unter klassischem peacekeeping die Phase zwischen einem Waffenstillstand und dem Abschluss einer politischen Konfliktlösung. Hier gibt es eine Unterstützung der zwischenstaatlichen Friedenssicherung (vgl. ebd. S. 127). Durch eine Resolution des Sicherheitsrats wurde im März 1964 die UNFICYP-Mission eingerichtet. Eine Kampfhandlung zwischen der griechisch-zypriotischen und der türkisch-zypriotischen Volksgruppe sollte verhindert werden. Trotz der Friedensmission kam es zur Teilung der Insel, es gab einen Waffenstillstand und zahlreiche Bemühungen zur Vermittlung durch den Generalsekretär. Seit 1974 wird die Pufferzone von der UNFICYP überwacht und das Mandat ab 1964 jedes halbe Jahr verlängert. Kritik an dem Einsatz gibt es durch die permanente Anwesenheit der Soldaten, wodurch der Eindruck erweckt wird, dass es keine Notwendigkeit einer Friedenslösung gibt.Durch den Einsatz der Bewachung des Waffenstillstandes zwischen dem Irak und Iran (UNIIMOG) und dem Abzug der UdSSR Truppen aus Afghanistan (UNGOMAP), wurde "eine Renaissance des peacekeeping eingeleitet" (vgl. ebd. S.132). Gareis verweist darauf, dass diese "Gute-Dienst-Missionen" vom Sicherheitsrat nur gebilligt und nicht mandatiert wurden. Alles in allem zeigt sich ein durchwachsenes Bild der Friedensmissionen in den ersten vier Jahrzehnten. Festzuhalten ist, dass jede Mission ein Einzelfall ist und separat betrachtet werden sollte. Hinzu kommen die Vorstellungen der UN-Charta, welche in der Realität nahezu utopisch umzusetzen sind. Die Blauhelme wurden zum innovativen Instrument. Ihre Aufgabe ist die Konfliktberuhigung und nicht die Konfliktlösung. Diese Aufgabe konnte in vielen Missionen erreicht werden. Bedenklich ist, dass diese häufig nur mit einer dauerpräsenten Lösung, wie in Zypern erreicht wurden (vgl. Mathis). Durch den Brahimi- Bericht von 2000 gab es neue Perspektiven in der Friedenssicherung der Vereinten Nationen. Diese beinhalten die folgenden drei Kategorien: die Konfliktvermeidung, Konfliktmanagement und die Konfliktnachsorge. Dabei gibt es erstens eine Neuorientierung für die politischen und strategischen Rahmenbedingungen. Zweitens muss das DPKO für eine personelle und strukturelle Voraussetzung der Friedensmission sorgen. Zudem gibt es für die Mitgliedstaaten konkrete geforderte Leistungen (vgl. Gareis/Varwick 2014, vgl. S.146). Hintergründe des ZypernkonfliktsUm den Zypernkonflikt verständlicher zu gestalten, werden zunächst die politischen Hintergründe beleuchtet. Der Zypernkonflikt ist die Folge der britischen Kolonialpolitik, denn bis 1960 war Zypern eine britische Kolonie (vgl. Gürbey 2014). Der Wunsch nach "Enosis", die Vereinigung mit Griechenland, wuchs unter den griechischen Zyprioten seit dem 19. Jahrhundert. Auf Grundlage der Tatsache, dass Großbritannien die Ionischen Inseln an Griechenland zurückgab, hofften die griechischen Zyprioten auf einen ähnlichen Ausgang. Dieser Wunsch wurde jedoch nicht erfüllt und deshalb gab es schon seit 1931 größere Unruhen, welche die diktatorische Führung unterdrückte (vgl. ebd.). Großbritannien nutzte Zypern geostrategisch. Zypern wurde zum Royal-Air-Force-Stützpunkt für Atombomber und Ansatzpunkt für Spionageflüge im Kalten Krieg (vgl. ebd.). Auf Grund dieser Entwicklung war Zypern für Großbritannien unverzichtbar. Deshalb begann der Unabhängigkeitskampf, bei dem die orthodoxe Kirche eine bedeutende Rolle einnahm. Der Erzbischof Makarios III. nötigte die griechische Regierung, den Zypern-Fall vor die UNO zu bringen (Gorgé 1986, vgl. S. 130). Der britische Premierminister Eden versuchte "die griechische Ambition [...] durch türkische zu neutralisieren" (Richter 2010), also die Türkei miteinzubeziehen und damit beide Länder gegeneinander auszuspielen (vgl. Gürbey 2014). Die türkische Position war glasklar; falls sich beim Status Zypern etwas ändern würde, wäre der Friedensvertrag von Lausanne ungültig und Zypern würde wieder der Türkei gehören. 1922 wurde Frieden mit den Briten geschlossen und sie erhielten die formelle Anerkennung ihrer Herrschaft über Zypern (vgl. Gründer). Richter beschrieb, dass das taktische Manöver Londons aufging und ein neuer griechisch-türkischer Konflikt ausgelöst wurde. Es kam dazu, dass die "divide et impera" Politik Großbritanniens auf die Volksgruppe ausgeweitet wurde. Daraus folge 1956 der griechisch-türkische Minoritäten Konflikt, wobei die Opfer die Istanbuler Griechen waren. Gleichzeitig misslang das Suez-Abenteuer der Briten und Zypern verlor für sie an strategischem Wert. Des Weiteren kam Druck aus den USA, welche die NATO durch die griechisch-türkischen Streitereien gefährdet sahen. Folglich einigten sich Griechenland und die Türkei 1959 zu einer "Scheinlösung" in Zürich. Gleichzeitig wurde der Konflikt nur zwischen den NATO-Verbündeten beigelegt. Wie schon erwähnt, gelang Zypern 1960 die Unabhängigkeit; der innerzypriotische Konflikt blieb jedoch bestehen und verschärfte sich in den nächsten Jahren noch mehr (vgl. Richter 2009). Im Folgenden wird die Position der Bevölkerung verdeutlicht. Die griechischen Zyprioten fordern "Enosis" und die türkischen Zyprioten "Taksim", die Teilung der Insel. Mit der Unabhängigkeit der Insel begann der griechische und türkische Nationalismus auf Zypern (vgl. ebd.). Problematisch waren die Mütterländer, welche den Zypern-Konflikt als nationale Frage ansahen und deshalb enormen Einfluss hatten. Dieser Einfluss wurde durch den Schutz der eigenen Volksgruppe legitimiert (Gorgé 1986, vgl. S. 130f). Zum einen gab es die Strategie von Griechenland; diese war eine Internationalisierung des Konfliktes, um den Druck gegen die Türkei aufzubauen. Dem gegenüber wollte die Türkei den Teilungsprozess forcieren und in seinem Bestand sichern. Ab 1963 gab es blutige Unruhen, weil die griechisch-zypriotische Führung die Verfassungsrechte der türkischen Zyprioten einschränken ließ. An diesem Punkt griffen die USA und die Vereinten Nationen ein und verhinderten eine Eskalation (vgl. Gürbey 2014). Mitwirkung der Vereinten Nationen an einer Lösung des KonfliktesAb 1964 gab es ein Friedensmandat der Vereinten Nationen, durch das eine Sicherung des Burgfriedens gewährleistet werden sollte. Das Wiederaufflammen von Kämpfen sollte verhindert werden, um die Kommunikation der beiden Volksgruppen zu ermöglichen. Die Friedenstruppe UNFICYP wurde vom Sicherheitsrat gesendet und sollte "nach besten Kräften eine Wiederaufnahme von Kämpfen zu verhindern und, soweit notwendig, zur Erhaltung und Wiederherstellung von Recht und Ordnung und zur Rückkehr normaler Lebensbedingungen [in Zypern] beizutragen" (Menning 1974, S.172). Dabei wurde für die Friedenstruppen die zypriotische Nationalgarde und die reguläre türkische Armee zum Konfliktpartner, nicht die bewaffneten Volksgruppen. Außerdem musste die UNFICYP aufpassen, dass lokale Befreiungsversuche nicht als Einmischungsversuche oder Provokation aufgefasst wurden.Festzuhalten ist, dass von 1964 bis Juni 1974 die UNFICYP ein erfolgreicher Vermittler der beiden Volksgruppen war, sodass 1973 eine Kürzung des Mandats stattfand. Auch weil Griechenland und die Türkei einwilligten, dass sie schlichtend auf ihre Volksgruppe einwirken (Menning 1974, vgl. S.172). Der Konflikt spitze sich jedoch wieder zu, im Halbjahresbericht von 1974 erklärte der Generalsekretär, dass weiterhin Misstrauen und Kampfbereitschaft herrscht. Ein Klima von trügerischer Sicherheit war entstanden, die Friedenstruppen wurden als Friedensersatz wahrgenommen, obwohl das Problem ungelöst blieb (Menning 1974, vgl. S.173). Dabei hatte Waldheim in seinem Jahresbericht 1973/74 darauf hingewiesen, dass Friedenseinsätze nicht als Selbstzweck der Vereinten Nationen dienen sollten und "daß eine Friedenssicherungsaktion nicht zu einem Nachlassen der Bemühungen, eine Lösung zu finden, führen dürfe, denn wenn die Konfliktursachen nicht beseitigt werden, könnten sie schließlich das Fundament, auf dem sich die Friedenssicherung aufbaue, zerstören." (Menning 1974, S.173). So kam es 1974 zu einem Putschversuch der Griechen, um die Insel an Griechenland anzubinden. Dieser wurde von dem griechischen Militär ausgelöst und richtete sich gegen die Regierung unter Präsident Makarios. Es gab Differenzen zwischen ihm und der Militärjunta, weil Makarios linksgerichtet war und einen individuellen Kurs mit Zypern vorhatte. Dabei reagierte die Türkei mit einer Invasion. Die Situation eskalierte und die Türkei eroberte fast 40 Prozent der Insel. Die UNFICYP konnte die Angriffe der türkischen Truppen nicht abwehren. Dennoch konnten einige lokale Angriffe auf die Bevölkerung verhindert werden. Außerdem blieb die "Green Line" bestehen und die Kontrolle der Hauptstadt aufrechterhalten. Zudem wurde auf die Forderung von Waldheim eingegangen, welcher in seinem halbjährlichen Bericht Verstärkung angefordert hatte. Im Jahr 1974 stockte die UNFICYP die Zahl der Soldaten von 2.188 auf 4.400 auf. Die Minimierung seit 1971 bis Mitte 1974 war im Nachhinein ein sicherheitspolitischer Fehler der Vereinten Nationen. Nach dem Krieg legte die UNFICYP zwei separate Waffenstillstandslinien fest. Eine UN-Pufferzone wurde von Morphou bis nach Famagusta eingerichtet (vgl. Lugert 2018). Aufgrund dieser Tatsachen war eine Konsolidierung einer Teilung der Inseln der einzige Ausweg. Von nun an gab es einen griechisch-zypriotischen Süden und einen türkisch-zypriotischen Norden. Die Türkei rief 1983 die Unabhängigkeit Nordzyperns aus, dieser Teil wird immer noch nur von der Türkei als Staat anerkannt und wirtschaftlich und politisch gefördert. Der UN-Sicherheitsrat erklärte die Unabhängigkeitserklärung für ungültig und rief andere Staaten dazu auf, dasselbe zu tun (vgl. Gürbey 2014). Faustmann brachte zum Ausdruck, dass Zypern der Ruf als "Friedhof der Diplomatie" (vgl. Faustmann 2009) zusteht. Wie er zu dieser Aussage kam, wird im Weiteren erklärt. Schon im November 1974 forderte die Vereinten Nationen eine Resolution, welche zunächst einen Rückzug der auswärtigen Truppen und die Rückkehr von Flüchtlingen beinhaltete. Darüber hinaus forderten beide Volksgruppen eine Verhandlung unter dem Schutz der Vereinten Nationen. Faustmann wies darauf hin, dass eine Rückkehr zur Verfassungsordnung von 1960 unmöglich für beide Parteien war (vgl. ebd.). Beide Parteien hatten klare Vorstellungen, so forderten die türkischen Zyprioten eine politische Gleichheit als Grundprinzip, allerdings wollte die griechische Seite auch eine Berücksichtigung ihrer prozentualen Bevölkerungsmehrheit von 82% Prozent (vgl. ebd.). In drei Verhandlungsrunden trafen sich die Konfliktparteien unter der Schutzherrschaft der Vereinten Nationen in New York. Nach zähen Verhandlungen kam es 1977 zu einem Abkommen und 1979 zur Erweiterung des Dokuments (vgl. Gürbey 2014). Das Abkommen umfasst die Grundprinzipien einer Wiedervereinigung, die High Level Agreements. Darin wird postuliert, das Zypern als bizonale, bikommunale Föderation wiedervereinigt und entmilitarisiert werden sollte. Außerdem wurden Grundfreiheiten, wie Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit und ein Recht auf Eigentum bestimmt. Das Abkommen gestand den türkischen Zyprioten dabei ein einheitliches Territorium zu, wobei die Größe strittig blieb (vgl. Faustmann 2009). Die Ergebnisse der Abkommen zusammengefasst, wird deutlich, dass eine Vereinigung mit Griechenland und eine Teilung ausgeschlossen wurde. Trotz der Unterzeichnung des High Level Agreements kam es zum Stillstand der Verhandlungen. Erst durch die Bemühungen der Vereinten Nationen fanden erneute Verhandlungen statt.Der griechisch-zypriotische Präsident Kyprianoú setzte auf die eigene Internationalisierungskampagne und die Vereinten Nationen. Denktaş forderte die Unabhängigkeit Nordzyperns, sein Streben wurde bestärkt, als eine Resolution der Vereinten Nationen zugunsten der griechischen Seite entschied (vgl. ebd.). Erkennbar wird, wie schwer es für die Vereinten Nationen ist, neutral zu bleiben und beiden Seiten gerecht zu werden. Denktaş führte die türkische Lira als Währung ein und errichtete eine Zentralbank, weiterhin blieb er bei seiner Forderung von einer Unabhängigkeit Nordzyperns. Es kam dazu, dass er am 15. November 1983 die Türkische Republik Nordzypern ausrief. Erst als sich die Beziehung zwischen Griechenland und der Türkei verbesserte, konnten 1988 neue Verhandlungen auf Basis der High Level Agreements beginnen (vgl. ebd.). Man erkannte die wichtige Rolle der beiden Mutterländer, die enormen Einfluss auf die Verhandlungen und die Situation nahmen. Außerdem ließ man eine zu große Einmischung der Vereinten Nationen auch nicht zu, mit den "Set of Ideas" von Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali war Denktaş nicht einverstanden. Er forderte Verhandlungen ohne die Vereinten Nationen, weil diese kein Recht für solch umfassende Lösungsvorschläge hätten. Jedoch kam es nie zu Verhandlungen ohne die Vereinten Nationen. Erneute Gespräche endeten 1990, weil die Republik Zypern der EU betreten wollte. Denktaş und die Türkei glaubten, dass die EU keine Konfrontation mit Ankara wollte und der Beitrittsantrag kein Erfolg haben würde, dennoch drohten sie mit einer Annexion des Nordens. Als klar war, die EU würde Zypern auch ohne Lösung des Konflikts aufnehmen, fanden 2002 erneute Verhandlungen unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen statt. Zugunsten kam diesen die neue AKP-Regierung unter dem linken Oppositionspolitiker Mehmet Ali Talat, welche von der status-quo-Politik abwich und auch Denktaş und seine Nachfolger verschwanden mehr und mehr. Auf türkischer-zypriotischer Seite entstand erstmalig eine moderate Politik. Die griechische Seite wählte mit Tassos Papadopoulos einen Hardliner zum Präsidenten (vgl. ebd.). Dennoch wurden erstmals umfassende Kernpunkte eines politischen Lösungsplans erarbeitet, welcher Anfang 2004 freigestellt wurden, der sogenannte Annan-Plan. Dieser beinhaltete folgendes: "Vom Parlament gewählte Regierung, bestehend aus vier griechischen und zwei türkischen Zyprioten; kollektive Führung mit Vetorechten für beide Volksgruppen; Zwei-Kammern-Parlament nach 1978er Modell; 27 Prozent des Territorium für den Norden; Ambivalenz: Gründung eines neuen Staates durch zwei gleichberechtigte Staaten (wie von der türkischen Seite gefordert, von der griechischen Seite aber als möglichen Ausgangspunkt für eine spätere Abspaltung abgelehnt) oder Umwandlung der bestehenden Republik Zypern in einen neuen Staat (wie von der griechischen Seite gefordert); Ambivalenz: Föderation oder Konföderation; Rückkehr von mehr als der Hälfte der Flüchtlinge unter griechisch-zypriotischer Verwaltung und Umsiedelung von mehreren zehntausend türkischen Zyprioten; Staatsangehörigkeit für mehr als 45 000 türkische Einwanderer, erhebliche und dauerhafte Beschränkungen bei der Rückkehr der griechischen Flüchtlinge und der Niederlassungsfreiheit im Norden; Dauerhafte griechische und türkische Militärpräsenz; Griechenland und die Türkei bleiben zusammen mit Großbritannien Garantiemächte mit Interventionsrecht." (ebd.). Im April 2004 stimmten beide Volksgruppen über den Wiedervereinigungsplan ab. Diese Gelegenheit wurde verpasst, denn 76 Prozent der griechischen Zyprioten stimmten dagegen, weil einige von ihnen hofften, durch den Beitritt in die EU ein besseres Abkommen zu erhalten (vgl. Gürbey 2014). Demgegenüber stand allerdings das türkisch zypriotische Ergebnis des Referendums, welches mit 65 Prozent für eine Wiedervereinigung stimmte. Die Vereinigung Zyperns scheiterte und damit auch der Annan-Plan. Trotzdem trat am 1.Mai 2004 der griechisch Zypriotische Teil der EU bei. Allerdings stellt völkerrechtlich gesehen ganz Zypern EU-Territorium dar, wobei der nördliche Teil ausgegrenzt ist (vgl. ebd.). Seitdem werden immer noch Verhandlungsprozesse unter Aufsicht der Vereinten Nationen geführt. Espen Barth Eide ist seit 2014 der Sonderbeauftragten für den Zypernkonflikt,. Durch ihn gab es eine Einigung, dass eine dritte entscheidende Verhandlungsphase geführt werden soll. Dennoch ging die letzte Verhandlungsrunde für eine Lösung des Zypernkonflikts am 07.07.2017 ohne Ergebnis zu Ende. Hier waren auch die Repräsentanten der sogenannten Garantiemächte Griechenland, Großbritanniens und der Türkei mit dabei. Nun sollen auf Empfehlung von VN-Generalskretär Guterres erstmals eigene Vorstellungen betreffend einer Fortführung des Verhandlungsprozesses gebildet werden (vgl. Auswärtiges Amt 2018). UNFICYP- Praxisbeispiel für die Leistungen und Probleme der Friedenssicherung Zypern wird durch eine 180 Kilometer lange grüne Line geteilt, welche auch durch die Hauptstadt Nikosia verläuft. Diese Pufferzone wird von den Friedenstruppen der UNFICYP überwacht. Die Waffenstillstandslinie wurde hart umkämpft, sodass sie vor allem in Nikosia nicht gerade verläuft, sondern vor- und zurückspringt. Dadurch ist die Überwachung des Status quo für die UN-Soldaten noch mehr erschwert (Ehrenberg 1991, vgl. S. 1). Seit dem Bürgerkrieg von 1963/64 gab es auf Zypern lange keinen dauerhaften Frieden. Wie schon beschrieben, haben die Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs schon seit 1964 viele Verhandlungen gestartet, aber immer noch keinen dauerhaften Frieden erreicht. Dabei kam immer wieder der Vorwurf auf, die Vereinten Nationen würden den Kern des Problems nur auf Eis legen und damit könne kein Frieden entstehen (vgl. Gürbey 2014). Unter diesen Umständen versuchen die Friedenstruppen, der Bevölkerung so viel Normalität wie möglich zu gewährleisten. Die Hoffnung, dass durch einen Generationenwechsel sich das Problem von selbst lösen würde, trat nicht ein. Das zeigte sich gerade auf der griechisch-zypriotischen Seite; hier waren die Jugendlichen ernüchtert, weil sich der politische Stillstand nicht überwinden ließ (Ehrenberg 1991, vgl. S.1f). Ein Beispiel hierfür war die Versammlung von 3000 Schülern im November 1988 an der Pufferzone. Sie wollten gegen die türkischen Truppen demonstrieren. Dabei durchbrachen einige von ihnen die grüne Linie, konnten dann aber von UN-Truppen gestoppt werden, bevor sie die türkisch-zypriotischen Truppen erreichten (vgl. ebd. S. 2). Die Jugendlichen bewarfen die UN-Soldaten dabei mit Steinen, Flaschen, Holzstücken und Dachziegeln. Die griechisch-zypriotische Polizei griff erst nach Kommando der UNFICYP-Oberkommandanten ein und räumte mit den UN-Truppen den Platz. Hier ist kritisch anzumerken, dass in der Presse nicht die UN-Soldaten die Helden waren, sondern die Schüler, welche ihr Land zurückerobern wollten. Dabei sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass auch die türkisch-zypriotische Seite der UNFICYP die Schuld gab; diese hätten nicht rechtzeitig reagiert (vgl. ebd. S. 2). Demonstrationen wie diese waren kein Einzelfall zu dieser Zeit, ein halbes Jahr später kam es zu einer Frauendemonstration, bei der die UNFICYP noch machtloser war. Auch hier verhielt sich die griechisch-zypriotische Polizei sehr passiv. Die UN-Soldaten wurden von Männern, die am Rand standen, angegriffen. Zudem hatten sich griechisch-orthodoxe Kirchenmänner unter die Frauen gemischt (vgl. ebd. S. 2). Insgesamt zeigt sich, wie schwierig es die Friedenstruppen hatten. Sie mussten sowohl Blutvergießen verhindern und die Konfliktparteien auseinander halten als auch ihre eigene Akzeptanz aufrechterhalten. An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass die Friedenstruppen ungerechtfertigte Kritik einstecken mussten. Im folgenden Beispiel wird auf den Waffengebrauch eingegangen. Wie kritisch dieser ist, zeigte sich anhand der Todesschüsse in Athienou Ende Mai 1988. Die Waffen dürfen nur zur Selbstverteidigung gebraucht werden, zum Schutz für das Leben anderer UN-Angehöriger oder Personen, die zu verteidigen sind. Dafür ist immer die Zustimmung des ranghöchsten Soldaten vor Ort nötig (Gareis/Varwick 2014, vgl. S. 117). Athienou gehörte zur griechisch-zypriotischen Seite, war zur damaligen Zeit aber ein umstrittenes Gebiet. Ein türkischer Soldat nahm eine Familie in ihrem Haus als Geiseln. Bevor die UN-Soldaten überhaupt eintrafen, bewegten sich zwei Nationalgardisten auf das Haus zu. Der Geiselnehmer schoss auf die beiden, sodass einer schwer verletzt liegen blieb. Die Nationalgardisten forderten Verstärkung an, ohne Rücksprache mit der UNFICYP. Währenddessen bargen die UN-Soldaten den Verletzten. Die türkischen Streitkräfte wurden nicht über die Geiselnahme informiert. Die UN-Soldaten räumten das Feld, als die griechisch-zypriotische Anti-Terror-Einheit eintraf. Diese stürmte das Haus und tötete den türkischen Soldaten gezielt, obwohl die Geiseln zu diesem Zeitpunkt schon geflohen und in Sicherheit waren (Ehrenberg 1991, vgl. S.3). Ehrenberg erklärte, die UNFICYP hätte eingreifen können. Ob es so klug gewesen wäre, die griechischen Zyprioten mit Androhung von Waffengewalt an der Verletzung der Pufferzone zu hindern, stellt er in Frage. Hieraus ergab sich die Konsequenz, dass die Erwartungen an die UNFICYP viel zu hoch waren, nur aufgrund der Tatsache, dass sie bewaffnet waren. Hier stellt sich die Frage, ob der Waffengebrauch die Sicherheit erhöht und dadurch die Funktion der UN-Soldaten entlastet. Außerdem konnte man beobachten, dass die UN-Friedenstruppen oftmals mindestens einer Konfliktpartei unterlegen waren. Dabei sollte kritisch hinterfragt werden, inwiefern militärische Überlegenheit die politischen und diplomatischen Absichten von Friedenstruppen fördern würde. Dies scheint fraglich, denn würde militärische Übermacht diese nicht eher zerstören (vgl. ebd. S.3ff)? FazitFestzuhalten bleibt, dass die Friedenssicherung als zentraler Auftrag der Vereinten Nationen gesehen werden kann. In direktem Zusammenhang mit der Durchsetzung der Menschenrechte, weil diese Ziele untrennbar sind und einander beeinflussen. Durch das Interventionsverbot wird eine Einmischung in innere Konflikte durch die Charta ausgeschlossen. Der Sicherheitsrat kann deshalb nicht in innerstaatliche Konflikte und Menschenrechtsverletzungen eingreifen. Daraus folgt, dass es zu aller erst zu Präventionsmaßnahmen kommt; daneben kann der Sicherheitsrat Empfehlungen zur friedlichen Streitbeilegung nach Kapitel VI der Charta geben. Es kann aber auch zu Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII kommen. Dementsprechend steht der Schutz der Zivilbevölkerung permanent im Vordergrund. Allgemein und in Bezug auf die Friedenssicherung gilt für die Vereinte Nationen, dass das Verhalten der Mitgliedstaaten entscheidend ist. Die Vereinten Nationen bieten zwar einen Rahmen, bei dem sich Staaten und ihre Interessen annähern können, aber die Staaten müssen diesen nutzen, um durch Lernprozesse Fortschritte zu machen. Darüber hinaus dürfen die Vereinten Nationen nicht zu viel versprechen; dies gilt gerade im Punkt der Friedenssicherung. Ihre Ankündigung ist oftmals höher als die Möglichkeiten und Aspiration der Mitgliedsstaaten. Andersherum dürfen die Erwartungen an die Vereinten Nationen nicht abwegig sein, sie sind keine Weltregierung. Dennoch bilden sie einen Rahmen für gemeinsame Lösungsansätze. Ziel der vorliegenden Arbeit war es ebenfalls zu erklären, wer für die Friedenssicherung zuständig ist. Dabei wurde festgestellt, dies geschieht durch das Department of Peacekeeping Operations (DPKO), welches die Missionen plant und durchführt. Unterstützt werden sie vom Department of Political Affairs (DPA), welches sich vor allem um diplomatische Bemühungen kümmert. Durch eine Einsatzleitung (Force Commander) vor Ort gibt es noch eine ausführende Leitung der Friedensmission. Deutlich wird die Problematik, dass die Vereinten Nationen keine eigenen Streitkräfte haben. Es kam noch nie zu einem Sonderabkommen in Bezug auf die Streitkräfte. Hier wird deutlich, dass die Anforderungen der Vereinten Nationen an ihre Mitgliedsstaaten zu hoch und den praktischen Möglichkeiten voraus sind. Dafür entwickelten die Vereinten Nationen alternative Formen, wie z.B. die Blauhelme. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es eine Entwicklung bei der Friedenssicherung der Vereinten Nationen gab. Eine Zuständigkeit für die Friedenserhaltung wurde durch den Internationalen Gerichtshof dem Sicherheitsrat und der Generalversammlung zugesprochen. Durch die vergangenen Einsätze wurde außerdem beschlossen, dass die Friedensmissionen vom Sicherheitsrat beobachtet werden. Und die Bedeutung und Verantwortung des Generalsekretärs nahm immer mehr zu. Durch Generalsekretär Hammarskjöld sind wichtige Grundprinzipen der Notstandsgruppe in die Friedenssicherung eingegangen. Daraus folgt der Konsens der Konfliktparteien, wodurch klassische Blauhelm-Soldaten nicht gegen den Willen eines Staates eingesetzt werden dürfen. Dieser Konsens führt dazu, dass die Mitgliedstaaten ihre Truppen eher bereitstellen und die Toleranz der Blauhelme gestärkt wird. Festgestellt wurde außerdem die Wichtigkeit von einer ausgewogenen regionalen Zusammenstellung der Truppen, damit die Unparteilichkeit gewahrt werden kann. Zielsetzung der vorliegenden Arbeit war es, die Friedenssicherung anhand vom Zypern-Konflikt zu schildern, dafür wurden die die politischen Hintergründe beleuchtet. Hier kann man festhalten, es gab unheimlich viele beteiligte Parteien. Zum einen Großbritannien, weil Zypern bis 1960 eine britische Kolonie war und geostrategisch genutzt wurde. Dann Griechenland, die Türkei und die griechischen und türkischen Zyprioten. Es ist zu erkennen, dass Großbritannien die beiden Mütterländer gegeneinander ausspielte. Sie sahen den Zypern-Konflikt als nationale Frage und übten deshalb enormen Einfluss aus, dieser wurde durch den Schutz der eigenen Volksgruppe legitimiert. Durch die Unabhängigkeit Zyperns ab 1960 wurde der innerzypriotische Konflikt nicht gelöst, sondern noch mehr verschärft; dieser endete in blutigen Unruhen. Seit 1964 gibt es ein Friedensmandat der Vereinten Nationen, wodurch das Wiederaufflammen von Kämpfen verhindert werden soll. Wie dieser Blogbeitrag gezeigt hat, musste die UNFICYP darauf achten, dass lokale Befreiungsversuche nicht als Einmischungsversuche oder Provokation aufgefasst wurden. Von 1964 bis Juni 1974 war die UNFICYP ein erfolgreicher Vermittler der beiden Volksgruppen, sodass es 1973 eine Kürzung des Mandats gab. Diese Kürzung erzeugte aber ein Klima von trügerischer Sicherheit, wobei die Friedenstruppen als Friedensersatz wahrgenommen wurden, obwohl das Problem ungelöst blieb. Hier wirft man den Vereinten Nationen vor, dass es zu einem Nachlass der Friedensbemühungen kam und die Friedenseinsätze als Selbstzweck genutzt wurden. Deshalb kam es für viele überraschend, als die Griechen 1974 durch einen Putschversuch die Insel an Griechenland anbinden wollten. Man stellte fest, dass die Minimierung der Blauhelme seit 1971 bis Mitte 1974 als sicherheitspolitischer Fehler der Vereinten Nationen gesehen werden kann. Offen bleibt die Frage, ob die Vereinten Nationen den Krieg 1974 hätten verhindern können. Nach dem Krieg war eine Konsolidierung, eine Teilung der Insel der einzige Ausweg.Von Faustmann bekommt Zypern den Titel "Friedhof der Diplomatie". Festhalten lässt sich, dass es etliche Verhandlungen durch die Vereinten Nationen gab und der Konflikt bis heute nicht gelöst wurde. Auch ein Grund dafür sind die klaren Vorstellungen der beiden Parteien, so forderten die türkischen Zyprioten eine politische Gleichheit als Grundprinzip und die griechische Seite eine Berücksichtigung ihrer prozentualen Bevölkerungsmehrheit. Ein Abkommen konnte im Jahre 1977 erreicht werden und eine Erweiterung 1979, hier wurden die Grundprinzipien einer Wiedervereinigung, die High Level Agreements festgehalten. Es kam immer wieder zum Stillstand der Verhandlungen, welcher meistens erst durch die Bemühungen der Vereinten Nationen unterbrochen wurde. Die Regierungen der beiden Volksgruppen trugen auch dazu bei, dass sich die Verhandlungen so schwierig gestalteten. Erkennbar wird, wie schwer es für die Vereinten Nationen war, neutral zu bleiben und beiden Seiten gerecht zu werden. Erneute Gespräche brachen 1990 ab, weil die Republik Zypern der EU beitreten wollte. Als klar war, die EU würde Zypern auch ohne Lösung des Konflikts aufnehmen, fanden 2002 erneute Verhandlung unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen statt. Es gab einen Erfolg, denn es wurden erstmals umfassende Kernpunkte eines politischen Lösungsplans erarbeitet, welcher Anfang 2004 fertiggestellt wurde, der sogenannte Annan-Plan. Im April 2004 wurde in den beiden Volksgruppen über den Wiedervereinigungsplan abgestimmt. Diese Gelegenheit verpasste man, weil die griechischen Zyprioten dagegen stimmten. Die Vereinigung Zyperns scheiterte und damit auch der Annan-Plan. Die stille Hoffnung, dass durch ein Generationenwechsel sich das Problem von selbst lösen würde, trat nicht ein. Festzuhalten ist, dass die Friedenstruppen den Zivilisten soviel Normalität wie möglich gewährleisten wollen. Die UN-Soldaten mussten in der Vergangenheit viel einstecken, sie wurden z.B. bei Demonstrationen attackiert oder in der Presse schlecht dargestellt. Insgesamt zeigt sich, wie schwierig es die Friedenstruppen haben. Sie müssen sowohl Blutvergießen verhindern als auch die Konfliktparteien auseinander halten und zum anderen ihre eigene Akzeptanz aufrechterhalten. Ebenso im Zypern-Konflikt wurde die Erlaubnis zum Gebrauch von Waffen zur Selbstverteidigung kontrovers diskutiert. Dadurch waren die Erwartungen an die UNFICYP teilweise zu hoch. Umstritten bleibt, ob der Waffengebrauch die Sicherheit erhöht und dadurch die Funktion der UN-Soldaten entlastet. Hinzu kam die Tatsache, dass die UN-Friedenstruppen oftmals mindestens einer Konfliktpartei unterlegen waren. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern militärische Überlegenheit die politischen und diplomatischen Absichten von Friedenstruppen fördert. Die Vereinten Nationen geben den Konflikt nicht auf und führen immer noch Gespräche, nun auch mit der Beteiligung von den sogenannten Garantiemächten Griechenland, Großbritannien und der Türkei. Wünschenswert wäre eine Lösung des Konfliktes, hierfür reicht nicht allein das Engagement der Vereinten Nationen, sondern der Wille und ein Einsatz auf beiden Seiten ist notwendig. Dennoch gibt es eine Freizügigkeit trotz der Trennung. Die Trennungslinie ist keine Außengrenze, sondern hier wird die Freizügigkeit der Bürger*innen gewährleistet. Dadurch können EU-Bürger*innen und somit auch griechische und türkische Zyprioten*innen diese Linie an sieben Übergängen mit dem Personalausweis passieren. Literaturverzeichnis:Textquellen:Auswärtiges Amt: ABC der Vereinten Nationen. Edition Diplomatie, hg. Von Günther Unser, 7. Auflage, Berlin 2011, S. 57.Ehrenberg, Eckhart (1991): Die UNFICYP: Praxisbeispiel für Leistungen und Probleme der Eriedenssicherung vor Ort, In: Vereinte Nationen 1/1991, vgl. S.1-6.Gareis, Sven Bernhard/ Warwick, Johannes (2014): Die Vereinten Nationen, hg. Verlag Barbara Budrich Opladen & Toronto, 5.Auflage, vgl. S.111-148.Gorge, Remy (1986): Zypern und die Mutterländer, In: Vereinte Nationen 4/86, vgl. S.130-134.Jett, Dennis C. (2000): Why Peacekeeping Fails, In: New York, vol. S.23f.Menning, Gerhard (1974): Zypern-Mitwirkung der UNO an einer Lösung des Konflikts, In: Vereinte Nationen 6/74, vgl. S.172-176.Sucharipa-Behrmann, Lilly (1999): Die friedenserhaltende Operation der Vereinten Nationen, In: Cede/Sucharipa-Behrmann 1999, vgl. S. 232-239.Internetquellen:Auswärtiges Amt (2018): Aktuelle Lage im Zypernkonflikt, unter: https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/zypern-node/-/210292 (eingesehen am 26.09.2020).Auswärtiges Amt (2020): UN-Friedensmissionen und deutsches Engagement, unter: https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/internationale-organisationen/uno/04-friedensmissionen-un/205586 (eingesehen am 26.09.2020).Deutsche Gesellschaft für die Vereinte Nationen: Organe der UN-Friedenssicherung, unter: https://frieden-sichern.dgvn.de/friedenssicherung/organe/ (eingesehen am 26.09.2020).Faustmann, Hubert (2009): Die Verhandlungen zur Wiedervereinigung Zyperns: 1974 - 2008, unter: https://www.bpb.de/apuz/32118/die-verhandlungen-zur-wiedervereinigung-zyperns-1974-2008 (eingesehen am 26.09.2020).Gareis, Sven Bernhard (2015): UNO – Stärken und Schwächen einer Weltorganisation, unter: https://www.bpb.de/izpb/209686/uno-staerken-und-schwaechen-einer-weltorganisation?p=1 (eingesehen am 26.09.2020).Gürbey, Dr. Gülistan (2014): Der Zypernkonflikt, unter: https://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/185876/der-zypernkonflikt (eingesehen am 26.09.2020).Lugert, Alfred (2018): Der Fall Zypern - Teil 3, unter: https://www.truppendienst.com/themen/beitraege/artikel/der-fall-zypern-teil-3/#page-1 (eingesehen am 26.09.2020).Mathis, Edeltraud: Friedenssicherung als zentraler UN Auftrag, unter: https://www.brgdomath.com/politik-wirtschaft/gerechtfertigter-krieg-tk19/uno-und-un-weltsicherheitsrat/ ( eingesehen am 26.09.2020).Mehr zu den Wiedervereinigungs-Verhandlungen (2010), unter: http://friedensbildung.de/inhalt-der-ausstellung/zypern/verhandlungen/ (eingesehen am 26.09.2020).Richter, Heinz (2009): Historische Hintergründe des Zypernkonflikts, unter: https://www.bpb.de/apuz/32116/historische-hintergruende-des-zypernkonflikts?p=all (eingesehen am 26.09.2020).
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Die polnische Stadt Wieluń nach der Bombardierung der deutschen Luftwaffe am 1. September 1939 Am 1. September 1939, vor 81 Jahren, begann der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen. Dass der Beginn des Zweiten Weltkriegs sich nicht aus der Geschichte eines Tages heraus verstehen lässt und dass der Hinweis auf dieses historische Ereignis nur ein bescheidener Anfang sein kann, um sich mit der komplexen Geschichte dieses Krieges zu beschäftigen, ist eine Binsenweisheit. Doch dass es an der ursächlichen Täter-Opfer-Konstellation als solche, bei aller Sensibilität des Themas, Zweifel geben könne, mögen viele für ausgeschlossen halten. Doch seit einiger Zeit erreichen Beiträge die öffentliche Debatte, die anzeigen, dass über den Krieg ein Krieg tobt, ein in Kreisen von Fachhistoriker*innen länger bekannter sogenannter memory war. Der 1. September 2020 kann also Anlass bieten, in aller Kürze und mit Konzentration auf Polen zu erklären, wie sich dieser Streit seit dem Begehen des letzten Jahrestages entwickelt hat.Als Highlight im kurzen Wahlkampf, den er schlussendlich knapp für sich entscheiden sollte, reiste der polnische Präsident Andrzej Duda am 24. Juni 2020, wenige Tage vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, nach Washington zu einem Treffen mit dem US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Die gemeinsame Erklärung beginnt wahltaktisch nachvollziehbar mit einem Bekenntnis zu erweiterter wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Doch noch bevor die ebenfalls im nationalen Interesse äußerst hoch gehandelten Themen militärische Verbundenheit und Energiesicherheit angesprochen werden, heißt es unvermittelt am Ende des ersten Absatzes: "Ebenso werden wir uns im Kampf gegen Desinformation zusammenschließen, insbesondere im Hinblick auf historische Fakten über den Zweiten Weltkrieg."[1] Diese Betonung der Geschichte in den außenpolitischen Beziehungen ist in der polnischen Öffentlichkeit durchaus üblich. Seit Jahren wächst etwa in den Befragungen des Deutsch-Polnischen Barometers der Anteil derjenigen Pol*innen, die der Ansicht sind, man müsse sich vornehmlich der Vergangenheit widmen, weil man sich ohne deren Aufarbeitung gar nicht Gegenwarts- und Zukunftsthemen zuwenden könne.[2] Putin sucht die SchuldigenHintergrund für die Äußerung konkret an diesem Tag war die Nachholung der Militärparade zum 75jährigen Ende des Zweiten Weltkriegs in Moskau auf dem Roten Platz, die pandemiebedingt vom 9. Mai verlegt worden war. Kurz zuvor hatte ein Artikel des russischen Präsidenten Wladimir Putin höchstselbst umfangreich die russische Sicht auf die historische Kriegskonstellation erhellt, erschienen am 18. Juni online im konservativen US-Magazin "The National Interest" und am 19. Juni auf der Regierungsplattform kremlin.ru sowie im Amtsblatt "Rossijskaja gazeta".Der Beitrag Putins greift einige bereits länger kursierende Argumente im Streit um die Deutung der Schuld für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auf. Insgesamt verfestigt sich in der bereits bekannten Argumentation eine "Europäisierung" der Schuld und eine Relativierung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts. Dazu kommt aber als neue, besondere "Zutat" eine deutliche Konzentration auf Polen als Schuldigen nicht nur für das eigene Schicksal, sondern auch für den politischen Weg in den Krieg insgesamt. Der Artikel weist die zentrale Bedeutung des Nichtangriffspakts vom 23. August 1939 und seines geheimen Zusatzprotokolls zurück, in dem die Aufteilung Polens, Litauens, Finnlands, Estland, Lettlands und Bessarabiens unter dem Deutschen Reich und der Sowjetunion vereinbart worden war. Dabei ist es unstrittig, dass dies eine unmittelbare Bedeutung für den Kriegsausbruch und langfristige Folgen für Ostmitteleuropa hatte – ohne den Pakt hätte Hitler sich zumindest auf einen Zwei-Fronten-Krieg vorbereiten müssen.[3]Stattdessen rückt Putin in seinem Beitrag[4] das Münchener Abkommen vom 29./30. September 1938 in den Mittelpunkt. Dies ist zwar in Teilen der Geschichtswissenschaft schon länger als Grund für die Isolierung der Sowjetunion und damit als Motor zum Abschließen des Hitler-Stalin-Pakts gesehen worden. Polen aber hier eine derart zentrale Rolle zu unterstellen, wie Putin es insinuiert, ist neuartig und entbehrt belegbarer Grundlagen (zumal gar keine polnische Delegation zugegen war). Die tatsächliche Okkupation des Teschener Olsagebietes durch Polen direkt nach der deutschen Besetzung des Sudetenlandes im Oktober 1938 (und die Besetzung weiterer Gebiete durch Ungarn) und deren Bedeutung kann nicht über die hauptsächliche Verantwortung Deutschlands für die Zerstörung des tschechoslowakischen Staates hinwegtäuschen. Putins Versuch als solcher, die facettenreiche und keinesfalls schwarz-weiße Geschichte der Diplomatie der 1930er Jahre und ihrer gefährlichen appeasement-Politik gegenüber Nazideutschland von britischer, französischer, aber auch polnischer Seite argumentativ auszunutzen, ist nicht neu, sondern entspricht in großen Teilen durchaus sowjetischer Lesart. Dabei war die Sowjetunion eben keineswegs, wie dargestellt, der letzte Staat, der sich schließlich, mangels Alternativen, in defensiver Absicht auf einen "Deal" mit dem Deutschen Reich einließ, sondern sie war vielmehr recht schnell dabei und mit weitreichenden eigenen Vorstellungen. Doch die Konzentration auf Polen, das der Sowjetunion die Zusammenarbeit verweigert und damit viele Möglichkeiten genommen habe, sollte hellhörig machen. Die Behauptung, die baltischen Länder hätten sich freiwillig als Sowjetrepubliken der Sowjetunion angeschlossen, ist ebenso ein neues Element,[5] wie Wacław Radziwinowicz, ehemaliger Russland-Korrespondent der polnischen Gazeta Wyborcza, betont.Putins Aufsatz ist lang und enthält noch eine ganze Reihe an Argumenten, die weitere komplexe Zusammenhänge berühren, aber von der Schlussfolgerung her in eine ähnliche Richtung gehen. Sie sind bereits gründlich von einschlägigen Osteuropahistoriker*innen seziert worden.[6] Ein Grund, warum auf diese Einlassung bereits mit so viel Expertise reagiert worden ist, ist dabei besonders kurios: Die Forscher*innen und Hochschullehrer*innen bekamen den Aufsatz in ihr Email-Postfach geliefert, begleitet von einen Schreiben der Russischen Botschaft, sie würden dort viel Neues erfahren, auch im Hinblick auf neu erschlossene historische Quellen: "Mit Blick darauf schlagen wir Ihnen vor, den Artikel von Wladimir Putin künftig bei der Vorbereitung von historischen Beiträgen zu nutzen. In jedem Fall ist ein Link auf die ursprüngliche Quelle – Webseite des Präsidenten der Russischen Föderation – obligatorisch." Einer solchen Forderung würde keine ernstzunehmende Historiker*in nachkommen, eher bietet sich der Text als Quelle zum Thema Geschichtspolitik an. Dennoch stimmt diese Grenzüberschreitung von Politik Richtung Wissenschaft, nicht die erste in dem hier skizzierten Streit um die Erinnerung, bedenklich.[7] Indes lässt das Begleitschreiben nicht im Unklaren, worum es eigentlich geht: "Der Beitrag befasst sich mit der internationalen Nachkriegsordnung und den Vorschlägen für eine weitere Kooperation zwischen führenden Ländern der Welt." Diese Nachkriegsordnung wird – ungeachtet des Kalten Kriegs – von Putin als mehr oder minder harmonisches Miteinander der Alliierten beschrieben und dessen Wiederbelebung in veränderter Form vorgeschlagen: als Wirken der fünf Vetomächte des UN-Sicherheitsrates im Sinne von prägenden Großmächten zum Wohl der Weltgemeinschaft. Geteilte europäische Erinnerung und GeschichtspolitikInsgesamt reiht sich der Artikel in die Erzählung der russischen Regierung ein, die baltischen Länder, die Ukraine und vor allem Polen "als reaktionär, nationalistisch und zum großen Teil auch antisemitisch hinzustellen", so der Historiker Karl Schlögel.[8] Erinnert sei hier nur an Putins drastische Äußerungen aus dem Dezember 2019 zum Antisemitismus des polnischen Botschafters in Berlin 1933–1939, Józef Lipski – ebenfalls im Zusammenhang mit einer Relativierung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts.[9] Der Konflikt eskalierte wenige Wochen später, nachdem Putin erneut den Polen eine tragende Schuld am Kriegsausbruch und an der Deportation der Juden zugewiesen hatte. Nachdem der polnische Präsident Duda auf dem offiziellen Welt-Holocaust-Forum in Yad Vashem im Januar 2020 keine Redezeit bekam und befürchtete, dass Putin selbst die Vorwürfe in seiner Rede prominent wiederholen würde, sagte Duda seine Teilnahme ab.[10]Putins geschichtspolitischer Beitrag steht aber auch in einem größeren Zusammenhang als Reaktion auf die Geschichtspolitik der Europäischen Union. Am 19. September 2019 hat das Europäische Parlament einen Entschließungsantrag zur Bedeutung der Erinnerung an die europäische Vergangenheit für die Zukunft Europas angenommen, der eine Neuorientierung der kollektiven Erinnerung in Europa an den Zweiten Weltkrieg fordert. Polen, Estland, Lettland und Litauen haben diese Entschließung entscheidend vorangebracht. Seit ihrem Beitritt 2004 haben die neuen Mitglieder daran gearbeitet, dass ihre Sicht auf die Geschichtspolitik gehört wird. Zentral dabei war und ist die Bedeutung des Hitler-Stalin-Pakts. Im Jahr 2011 schließlich wurde der europäische Gedenktag für die Opfer der beiden durch "Staatsterror und Massenmord geprägten totalitären Systeme" am 23. August eingerichtet. Der Jahrestag findet in Westeuropa kaum Beachtung (wie auch bisher die Entschließung von 2019). Die Historikerin Anke Hilbrenner ordnet dies in den Bedeutungszusammenhang ein, der sich aus der Kluft der Erinnerung in Westeuropa und Ostmitteleuropa ergibt hinsichtlich der Frage, inwieweit es überhaupt legitim sei, die Folgen von Nationalsozialismus und Stalinismus zu vergleichen. Das ostmitteleuropäische Gedächtnis aber, für das diese Frage zentral sei, werde durch dieses Tabu marginalisiert. Indem die ostmitteleuropäischen Diskussionen dergestalt ausgeblendet werden, ergebe sich eine unlautere "hermetische Abschottung des westlichen Geschichtsbildes gegen die ostmitteleuropäische Erfahrung mit den Massenverbrechen von Nationalsozialismus und Stalinismus zur selben Zeit"[11]. Die europäische Entschließung wurde zwei Tage nach dem 80. Jahrestag des sowjetischen Einmarschs in Polen angenommen. Aus gutem Grund steht in Deutschland weiterhin der 1. September und nicht der 17. September ganz vorn unter den für die gemeinsame Erinnerung wichtigen Daten. Vorwürfen von "Desinformation" sollte weiterhin mit fachlicher Expertise entgegengetreten, der Geschichtspolitik der aktuellen polnischen Regierung mit Umsicht begegnet werden. Aber eine kritische Auseinandersetzung mit den langfristigen Koordinaten des Gedächtnisses, die in Polen – und auch in den anderen Staaten Ostmitteleuropas – verhandelt werden, ist ein notwendiges und zukunftsweisendes Projekt. [1] https://tvn24.pl/polska/andrzej-duda-w-usa-wspolna-deklaracja-donalda-trumpa-i-prezydenta-polski-4619480; https://www.whitehouse.gov/briefings-statements/joint-statement-president-donald-j-trump-president-andrzej-duda/.
[2] Jacek Kucharczyk, Agnieszka Łada, Nachbarschaft mit Geschichte: Blicke über Grenzen, Deutsch-Polnisches Barometer 2020, Institut für Öffentliche Angelegenheiten/Konrad-Adenauer-Stiftung/Deutsches Polen-Institut, Warschau/Darmstadt 2020.
[3] S. Claudia Weber, Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz 1939-1941, München 2019. Zur historischen Analyse des Putin-Artikels, auch zum folgenden s. dies. in der Berliner Zeitung vom 7. Juli 2020: https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/putins-sicht-auf-den-zweiten-weltkrieg-ist-es-geschichtspolitik-li.91708 sowie Martin Aust, Anke Hilbrenner und Julia Obertreis, Geschichtspolitik braucht Entspannungspolitik, in L.I.S.A. vom 2. Juli 2020: https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/geschichtspolitik_entspannungspolitik.
[6] Neben den erwähnten Artikeln s. etwa Interviews mit Joachim von Puttkamer und Stefan Rohdewald, 24.06.2020: https://www.mdr.de/zeitreise/putin-aufsatz-zweiter-weltkrieg-wissenschaft-experten-100.html; Interview mit Martin Aust, 25.6.2020: https://www.rferl.org/a/russia-baffles-german-historians-with-request-they-supplement-lectures-with-an-article-by-putin/30690752.html; Beitrag von Joachim von Puttkamer in der FAZ, 03.07.2020: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/was-die-rhetorik-putins-ueber-russlands-machthaber-verraet-16843131.html; außerdem Beitrag von Michael Brettin, 04.07.2020:https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/putin-stalin-und-die-kriegsschuldfrage-li.91141.
[7] S. dazu Aust, Hilbrenner und Obertreis, Geschichtspolitik braucht Entspannungspolitik.
[11] "Eine gemeinsame europäische Erinnerungsarbeit an den Zweiten Weltkrieg ist überfällig." Interview mit Anke Hilbrenner über die Resolution zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, in L.I.S.A. vom 5. November 2019: https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/hitlerstalinpakt_ankehilbrenner.
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Vortrag von Sina Marie Nietz bei Festo am 24.10.2019 (verschriftlichte Form)Der Titel dieses Vortrags beinhaltet mehrere "Riesenbegriffe": Globalisierung und Digitalisierung, zwei Begriffe, die heutzutage geradezu inflationär genutzt werden und dabei ganz unterschiedliche Prozesse und Entwicklungen beschreiben. Autonomer Individualverkehr, Pflege-Roboter, softwaregesteuerte Kundenkorrespondenz und Social Media, Big-Data-Ökonomie, Clever-Bots, Industrie 4.0. Die Digitalisierung hat ökonomische, kulturelle und politische Auswirkungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Die zunehmenden technischen Möglichkeiten vor allem durch KI zwingen uns auch zu einer Auseinandersetzung mit ethischen Fragen und unseren bisherigen Konzepten von Intelligenz. Was zeichnet menschliches Handeln aus? Wie unterscheidet sich menschliche, natürliche Intelligenz von Künstlicher? Die Frage, was menschliches Handeln und menschliche Intelligenz von Maschinen unterscheidet, wird aus einem Alltagsverständnis heraus häufig mit Emotionen wie Empathie, Mitgefühl, Einfühlungsvermögen, Mitmenschlichkeit beantwortet. All diese Begriffe wollen wir nun zunächst einmal unter "emotionaler Intelligenz" zusammenfassen, bevor wir uns zu einem späteren Zeitpunkt näher damit auseinandersetzen werden.Globalisierung – ein weiterer überaus komplexer Begriff, der genutzt wird, um ganz unterschiedliche Prozesse zu beschreiben. Globalisierung meint die Verflechtung von Handelsbeziehungen und Kommunikationstechnologien sowie den Anstieg von Mobilität. Globalisierung umfasst zunehmende transnationale Abhängigkeiten in Form von losen Abkommen, Verträgen und Gesetzen. Globalisierung bedeutet auch, dass Organisationen wie NGOs, transnationale Institutionen, Konzerne und Staaten über Ländergrenzen hinweg agieren und kooperieren. Globalisierung meint jedoch auch globale Herausforderungen wie internationalen Terrorismus und vor allem die Klimakatastrophe. In dieser Zeit zunehmender Verflechtungen und internationaler Abhängigkeiten lassen sich gleichzeitig nationalistische Tendenzen beobachten, die der zunehmenden Öffnung gesellschaftliche Abschottung entgegenzusetzen versuchen. Die Frage nach Öffnung oder Abschottung polarisiert und spaltet. In der Wissenschaft wird von einer neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie, einer cleavage gesprochen. Die cleavage zwischen Öffnung und Abschottung, zwischen Kosmopoliten und Nationalisten, zwischen Rollkoffer und Rasenmäher.Die Ergebnisse der letzten Europawahlen im Mai 2019 haben jene cleavage eindeutig widergespiegelt. Die etablierten Parteien, allen voran CDU/CSU und SPD, haben erneut massiv Wählerstimmen eingebüßt. Wohingegen auf der einen Seite der neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie die AfD mit ihrem Abschottungskurs und auf der anderen Seite die Grünen, die klare Kante für Kosmopolitismus verkörpern, Stimmenzuwächse verzeichnen konnten. Auch in anderen europäischen Ländern sahen die Wahlergebnisse programmatisch vergleichbarer Parteien ähnlich aus.Bereits seit der Wirtschafts- bzw. "Eurokrise" erhalten rechtspopulistische Parteien zunehmend Zuspruch in ganz Europa. Deutschland war mit der AfD in dieser Hinsicht ein Nachzügler. Der Begriff "Rechtspopulismus" ist dabei nicht ganz unproblematisch. Zum einen dient er als sogenannter "battle term", um gegnerische Parteien oder PolitikerInnen zu degradieren. Zum anderen findet er keine einheitliche Verwendung, sondern wird genutzt, um einen Politikstil, eine rhetorische Strategie, eine Mobilisierungsstrategie oder eine politische Ideologie zu bezeichnen. Des Weiteren bildet sich zunehmend der Konsens heraus, dass mit dem Begriff auch die Gefahr der Verharmlosung in Bezug auf Parteien oder Personen einhergeht, die ihrer politischen Gesinnung nach eigentlich als rechtsradikal bis rechtsextrem einzuordnen sind. Trotz dieser Schwierigkeiten hat sich in den vergangenen Jahren durch zahlreiche Publikationen ein wissenschaftlicher Konsens geformt. Im Folgenden soll die Definition von Rechtspopulismus nach Jan Werner Müller, einem der federführenden Populismusforscher in Deutschland, umrissen werden. Populismus leitet sich von dem lateinischen Wort "populus", zu deutsch "Volk", ab. Der Bezug auf das Volk ist für jede Form des Populismus essenziell. In der Logik des Populismus stehen "dem Volk" die "korrupten Eliten", das Establishment gegenüber ("Altparteien", "Eurokraten"…). Es ist prinzipiell variabel, wer zu den Eliten zählt. In diesem Zusammenhang wird häufig das vermeintliche Paradoxon Donald Trump angeführt. Dieser zählt aufgrund seines Vermögens definitiv zu einer finanziellen Elite, kann sich jedoch aufgrund seines Mangels an Politikerfahrung als Politikaußenseiter, als "Mann aus dem Volk" und Sprachrohr des Volkes darstellen.Jan Werner-Müller zufolge sind RechtspopulistInnen immer anti-elitär, doch nicht jeder, der Eliten kritisiert, ist auch automatisch ein Rechtspopulist. Es muss immer noch ein zweites Kriterium gegeben sein, nämlich das des Anti-Pluralismus. In einer pluralistischen Gesellschaft konkurrieren zahlreiche verschiedene Organisationen, gesellschaftliche Gruppierungen und Parteien um wirtschaftliche und politische Macht. Es herrscht außerdem Vielfalt in Form von Meinungen und unterschiedlichen Lebensentwürfen. Rechtspopulismus lehnt diese Vielfalt ab. Es findet demnach nicht nur eine Abgrenzung nach oben zu "den Eliten", sondern auch nach unten ("Sozialschmarotzer") bzw. außen ("der Fremde", "der Islam", "die Flüchtlinge", Homosexuelle) statt. Rechtspopulistische Repräsentanten behaupten, ein homogen gedachtes "wahres Volk" mit einem einheitlichen Volkswillen zu vertreten. So wird ein moralischer Alleinvertretungsanspruch postuliert. Da der homogen konstruierte Volkswille in der Logik des Rechtspopulismus a priori feststeht und RechtspopulistInnen diesen repräsentieren, bedarf es keiner anderen Parteien oder Vertreter. Daraus ergibt sich jedoch ein Logikproblem, wenn sie dann bei Wahlen nicht die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen können. So betrug der Stimmenanteil der AfD bei der Bundestagswahl 2017 12,6%. Um diese Differenz "erklären" zu können, werden verschwörungstheoretische Erklärungsmuster wie das einer "schweigenden Mehrheit" herangezogen. Es werden gezielt Zweifel am politischen System, an den Medien ("Lügenpresse") und der Wissenschaft gesät. Es wird auf vermeintliche Fehler im System und die angebliche Unterdrückung des "eigentlichen Volkswillens" verwiesen. So schaffen RechtspopulistInnen eine Parallelwelt der "alternativen Fakten" und tragen zur Spaltung der Gesellschaft bei.Betrachtet man die verschiedenen rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen in Europa, stößt man auf Unterschiede in deren Inhalten und Strategien. So hat Geert Wilders in den Niederlanden beispielsweise immer eine sehr liberale Gesellschaftspolitik vertreten, etwa in Form liberaler Abtreibungsgesetze und der Befürwortung gleichgeschlechtlicher Ehen. In Polen fährt die PiS-Partei hingegen einen katholisch geprägten konservativen Kurs hinsichtlich gesellschaftspolitischer Themen, wie auch die FPÖ in Österreich. Als gemeinsame Klammer dient allen rechtspopulistischen Parteien ihre ablehnende bis feindliche Haltung gegenüber Migration und "dem Islam". Die ausgrenzende Gesinnung bildet demnach das Kernelement rechtspopulistischer Ideologien. Das bedeutet, dass es keinen Rechtspopulismus ohne Feindbilder gibt.Und damit wären wir bei der ersten These meines heutigen Vortrags: Feindbilder sind das Kernelement von Rechtspopulismus. Rechtspopulistische Parteien greifen gezielt xenophobe Vorurteile, Stereotype und Emotionen wie Angst und Hass auf, schüren diese und verbreiten sie so. Wir werden gleich noch darauf zu sprechen kommen, wie sie dies genau machen. Vorurteile sind eine effektive Strategie, um Ungleichheit oder die Entstehung von Ungleichheit zu legitimieren. Hier dockt der Populismus perfekt an die bereits vorhandene Ungleichheitsideologie unserer meritokratischen Leistungsgesellschaft an. Unsere freie Marktwirtschaft basiert auf der Annahme der Notwendigkeit von Ungleichheit und legitimiert diese durch unterschiedliche Mechanismen. Stichworte in diesem Kontext lauten: survival of the fittest, Leistungsprinzip, Konkurrenzdruck in Zeiten von Outsourcing von Arbeitsplätzen und Zeitarbeit, Selbstoptimierung, Humankapital.Ich würde Sie an dieser Stelle gerne zu einem kurzen Exkurs in die Kognitionswissenschaft einladen, um die Bedeutung von Vorurteilen und Stereotypen für das menschliche Denken und Handeln näher zu erläutern. Der menschliche Verstand benötigt Kategorien zum Denken, zum Einordnen und Verarbeiten von Sinneseindrücken und Informationen. Andernfalls würde der Prozess der Informationsverarbeitung viel zu viel Zeit beanspruchen und wir wären nicht handlungsfähig. Wir ordnen unsere Eindrücke also bestimmten, vorgefertigten Kategorien zu. Innerhalb einer Kategorie erhält nun alles dieselbe Vorstellungs- bzw. Gefühlstönung. Der Grad der Verallgemeinerung hängt mit dem Wissen über die einzuordnende Information zusammen. Auf die rechtspopulistischen Ausgrenzungsstrategien bezogen ergibt sich Folgendes: Es wird das Feindbild "Islam" konstruiert und mit Eigenschaften wie "Gewalt" und "Terror" verknüpft. Dabei wird nicht zwischen verschiedenen Strömungen und Glaubensrichtungen unterschieden, sondern alles zu einem homogenen Gebräu innerhalb derselben Kategorie umgerührt. Individuen, die aufgrund von Herkunft, Religionszugehörigkeit, Ethnie etc. dieser Gruppe zugezählt werden, werden als Teil der Feindgruppe gedacht, nicht als Individuen. Sie werden objektiviert und entmenschlicht. Das Leiden des Einzelnen geht in der Masse unter und Empathie wird verhindert. Einzelne Ausnahmen werden als solche anerkannt, um das Gesamtbild, bzw. die gebildeten Kategorien, aufrechterhalten zu können. Und damit sind wir bei der zweiten These angelangt: Die Verallgemeinerung rechtspopulistischer Ausgrenzungsstrategien verhindert Empathie.Die einfache Zweiteilung des Freund-Feind-Denkens geht mit einer enormen Reduktion von Komplexität einher - ein attraktives Angebot in Zeiten zunehmender Komplexität und Undurchschaubarkeit (Stichwort Globalisierung). Doch wie werden diese Feindbilder nun genau erzeugt und aufrechterhalten? Hierzu bedienen sich rechtspopulistische Akteure unterschiedlicher rhetorischen Strategien.Rechtspopulistische Sprache ist zumeist eine reduktionistische und sehr bildhafte Sprache. Es werden häufig Metaphern verwendet, die Träger einer Botschaft sind. So ist der im Kontext der Migrationsbewegungen ab 2015 oft verwendete Begriff "Flüchtlingswelle" kein neutraler Begriff. Die Zusammensetzung der beiden Worte "Flüchtlinge" und "Welle" impliziert eine unaufhaltsame Naturgewalt, gegenüber der es sich durch Bauen eines Dammes abzuschotten gilt. Zudem finden auch biologistische Metaphern wie "Flüchtlingsschwärme" ihren Einzug in rechtspopulistische Narrative. Die Entlehnung nationalsozialistisch geprägter Begriffe wie beispielsweise "völkisch" durch Akteure der AfD hat nicht nur einmal zu medialer Aufmerksamkeit geführt. Weitere häufig verwendete rhetorische Strategien und Stilmittel sind Wiederholungen, Wortneuschöpfungen, Tabubrüche, kalkulierte Ambivalenz und auch die eingangs erwähnten Verschwörungstheorien. Ich möchte diese Stilmittel nicht im Einzelnen näher ausführen. Aber ich möchte auf die Beziehung zwischen Rechtspopulismus und Medien aufmerksam machen. Es gab in den vergangenen Monaten zahlreiche Beispiele für Tabubrüche seitens der AfD, die nach und nach zu einer Diskursverschiebung geführt hat, die mit einer Normalisierung von Gewalt in der Sprache im öffentlichen Diskurs einhergeht.Medien und Populismus folgen ähnlichen Kommunikationsstrategien wie beispielsweise Personalisierung, Emotionalisierung, Dramatisierung und Komplexitätsreduktion. Trotz der grundlegend feindlichen Einstellung rechtspopulistischer Parteien gegenüber der "Lügenpresse" gehen Populismus und Massenmedien eine Art Symbiose ein. Die Massenmedien sind auf Schlagzeilen angewiesen und die PopulistInnen auf mediale Aufmerksamkeit. Eine besondere Rolle spielen insbesondere seit dem letzten US-Wahlkampf soziale Medien wie Twitter. Trump bezeichnete sich einmal selbst als den "Hemingway der 140 Zeichen". Durch seine kurzen Tweets in einer einfach gehaltenen Sprache vermittelt er Nahbarkeit und inszeniert sich als Sprachrohr des Volkes. Immer in Abgrenzung zu der abgehobenen, korrupten Politikelite mit ihrer "political correctness". Es scheint, als würden "gefühlte Wahrheiten" schwerer wiegen als Fakten, so wird häufig vom Anbruch des postfaktischen Zeitalters gesprochen. Das Leugnen wissenschaftlicher Erkenntnisse bei gleichzeitiger Fokussierung auf "alternative" und "gefühlte Wahrheiten" birgt die Gefahr einer zunehmenden Parallelwelt der Fakten.Durch Echokammern und Filterblasen verfestigen sich eigene Einstellungen und die politische Meinung. Die neue Rechte hat sich zudem die Funktionsweise von Algorithmen und Bots zunutze gemacht und wirkt dadurch in Sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter, aber auch in Foren und Blogs unheimlich präsent. Medien sind hier keine Einrichtungen im Sinne von Organisationseinheiten mit besonderen Rechten, Sach- und Personalmitteln, sondern Räume und Kanäle. Dialogroboter sind zugleich Werkzeug und Medium einer neuen Kommunikationswelt. In den Massenmedien kann man eine stetige Zunahme von dialogischer Kommunikation beobachten. Dialogroboter werden funktional wie Massenmedien eingesetzt, funktionieren strukturell aber nach den Prinzipien interpersoneller Kommunikation.Kehren wir zu den beiden Ausgangsthesen zurück. Erstens: Feindbilder sind ein Kernelement von Rechtspopulismus. Zweitens: Die Verallgemeinerung von Feindbildern verhindert Empathie. Nun stellt sich die Frage nach möglichen Lösungsansätzen. Wie kann der dargelegten Objektivierung von Menschen durch Feindbilder entgegengewirkt werden? Welche Gegenstrategien gibt es? Häufig werden sehr allgemeine Handlungsempfehlungen ausgesprochen oder die Ausführungen zu möglichen Lösungen sehr kurz gehalten, sodass der politikwissenschaftliche Diskurs bisweilen in Bezug auf die Gegenstrategien ungenau und schwammig bleibt.Ich möchte Ihnen heute einen spezifischen Ansatz vorstellen, der darauf abzielt, Empathie als Teil emotionaler Intelligenz zu stärken, um rechtspopulistischen Feindbildern präventiv zu begegnen. Die gezielte Schulung von Empathie als Teil emotionaler Intelligenz. Das Konzept der emotionalen Intelligenz (EQ) kam in den 1990er Jahren auf, federführend unter den Sozialpsychologen John D. Mayer und Peter Salovey. Das gleichnamige Buch veröffentlichte 1995 Daniel Goleman. Bereits damals wurde Empathie als eine "Schlüsselkompetenz" emotionaler Intelligenz gefasst. Hier wurde zum einen der Versuch unternommen, auf die Bedeutung von Gefühlen beim Erreichen beruflicher Ziele und des eigenen Lebensglücks zu verweisen, zum anderen EQ messbar zu machen, sodass bald darauf zahlreiche EQ-Tests folgten. Der Versuch, Intelligenz anhand von Testsituationen oder ähnlichen Verfahren messbar zu machen, geht jedoch mit einigen Aspekten einher, die es kritisch zu betrachten gilt. Vor allem stellt sich, wie auch bei den klassischen IQ-Tests (auf denen im Übrigen unser heutiges Verständnis von Intelligenz beruht) die Frage, ob tatsächlich das gemessen wird, was gemessen werden soll. In einer Leistungsgesellschaft, die dem Diktat der Transparenz und Messbarkeit (PISA, Evaluationen etc.) unterworfen ist, haben es schlecht messbare emotionale Kompetenzen wie Empathie schwer.Die zunehmenden Abhängigkeiten im Kontext der Globalisierung weisen eigentlich in Richtung Kooperation. Die vorherrschende Ideologie unserer Gesellschaft basiert jedoch nach wie vor auf dem Konkurrenzprinzip. Die meritokratische Leistungs- und Wettbewerbsideologie des freien Marktes hat ein empathiefeindliches Umfeld geschaffen. Zudem lässt die Hyperindividualisierung Empathie unwahrscheinlicher werden. Das Wachstum des "Ichs" als Instanz der Nicht-Ähnlichkeit führt zur Kultivierung eines Bewusstseins für Differenzen anstatt für Gemeinsamkeiten. Je mehr wir uns auf die Unterschiede konzentrieren, desto schwieriger werden empathische Empfindungen und Handlungen, da diese eine Identifikation mit dem Anderen voraussetzen. Des Weiteren hat insbesondere im Bildungsdiskurs viele Jahre lang eine einseitige Fokussierung auf Rationalität stattgefunden. Diese impliziert eine künstliche Trennung zwischen Emotionalität und Rationalität. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass verschiedene gesellschaftliche, politische, aber vor allem auch ökonomische Faktoren wie die neoliberale Konkurrenz- und Wettbewerbsideologie, das Diktat der Messbarkeit, die Hyperindividualisierung sowie die einseitige Fokussierung auf Rationalität der Etablierung von Empathie als Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts im Weg standen und noch immer stehen. Doch was bedeutet Empathie eigentlich konkret in einem wissenschaftlichen Verständnis? Empathie stammt von dem griechischen Wort "Pathos", zu deutsch "Leidenschaft". Umgangssprachlich ist mit Empathie die Fähigkeit des Sich-in-jemand-Einfühlens oder Hineinversetzens gemeint. Empathie hat eine kognitive (Wahrnehmung der Interessen des Anderen) und eine affektive (dabei entstehende Gefühle) Komponente. Die Entstehung von Empathie erfolgt in drei Schritten: Soziale Perspektivenübernahme, Identifikation, Empathie. Die Übernahme einer anderen Perspektive erlernen wir bereits im Kleinkindalter. Zunächst anhand der Übernahme räumlicher Perspektiven. Durch den zweiten Schritt, die Identifikation mit einer anderen Person oder einem anderen Lebewesen, entsteht das Potenzial für die empathische Einfühlung in jene Person oder jenes Lebewesen. Aus dieser empathischen Empfindung kann wiederum ein gewisses Aktionspotenzial entstehen, wenn beispielsweise eine Ungerechtigkeit Empörung auslöst und zur Aktion gegen jene Ungerechtigkeit führt.Wir kommen nun zu der dritten These meines Vortrags: Empathie kann gezielt gelehrt und gelernt werden. Jüngste wissenschaftliche Erkenntnisse belegen, dass Empathie eine erlernbare Fähigkeit ist. Die deutsche Neurowissenschaftlerin und Psychologin Tania Singer hat im Rahmen einer großangelegten Untersuchung, dem "ReSource-Projekt" am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften die Wirkung von Meditation auf das Verhalten und die damit verbundenen Veränderungen im Gehirn untersucht. Die Idee, die hinter diesem Forschungsprojekt steht, war die Suche nach einer Möglichkeit, gezielt soziale Fähigkeiten wie Mitgefühl, Empathie und die "Theory of Mind" zu fördern. Die Untersuchung ging über einen Zeitraum von elf Monaten und bestand aus unterschiedlichen Modulen. Im "Präsenzmodul" lag der Schwerpunkt vor allem auf der Achtsamkeit gegenüber geistigen und körperlichen Prozessen. Das Modul "Perspektive" konzentrierte sich auf sozio-kognitive Fähigkeiten, insbesondere die Perspektivenübernahme. Ein drittes Modul "Affekte" sollte den konstruktiven Umgang mit schwierigen Emotionen sowie die Kultivierung positiver Emotionen schulen. Die Probanden führten die entsprechenden Übungen täglich mit ihren zugeordneten Partnern durch Telefonate oder Videoanrufe aus.Das Team um Tania Singer konnte nach den drei Monaten mithilfe von Gehirnscans eine tatsächliche Verbesserung der Kompetenzen der TeilnehmerInnen feststellen, die mit struktureller Gehirnplastizität in den spezifischen neuronalen Netzwerken einhergingen. Das sozio-affektive Modul konnte so tatsächlich zur Verbesserung der Fähigkeit des Mitgefühls beitragen. Das sozio-kognitive Modul hingegen hat die Fähigkeit verbessert, sich gedanklich in die Perspektive eines anderen zu versetzen. Die Studie hat gezeigt, dass Empathie und Mitgefühl erlernbare Kompetenzen sind, die durch entsprechende Übungen gezielt gefördert werden können. Dazu bedarf es jedoch zunächst einer Anerkennung von Empathie als einer erlernbaren Kompetenz.Fassen wir zusammen: Rechtspopulismus agiert immer über Feindbilder. Diese Feindbilder basieren auf der Konstruktion einer homogenen Feindgruppe. Durch Verallgemeinerung werden den Individuen innerhalb dieser Feindgruppe Subjektivität und Individualität abgesprochen und so die Entstehung von Empathie verhindert. Die rechtspopulistische Ungleichheitslogik schließt an die Ungleichheitslogiken unserer kapitalistischen Gesellschaftsordnung an. Die Wettbewerbs- und Konkurrenzideologie hat ein empathiefeindliches Umfeld geschaffen. Zudem hat sich die Bildung zu lange einseitig auf Rationalität konzentriert. Daher gilt es, Empathie als eine soziale und emotionale Fähigkeit mit kognitiven Anteilen im bildungswissenschaftlichen Diskurs zu verankern. So können rechtspopulistische Differenzierungskategorien wie Nationalität oder Religion sowie die Verallgemeinerungen zugunsten einer Fokussierung auf Gemeinsamkeiten und Mitmenschlichkeit überwunden werden. Um in einer vernetzten, globalisierten Welt intelligent handeln zu können, nützt ein Rückzug in nationalistische Freund-Feind-Denkweisen nicht. Vielmehr gilt es, auf Kooperation und Empathie zu setzen, auch wenn diese nicht immer messbar ist. Vielen Dank.Literatur- und Quellenverzeichnis:Allport, Gordon W. (1971): Die Natur des Vorurteils. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Bischof-Köhler, Doris (1989): Spiegelbild und Empathie. Die Anfänge der sozialen Kognition. Hans Huber: Berlin, Stuttgart, Toronto.Decker, Frank (2017): Populismus in Westeuropa. Theoretische Einordnung und vergleichende Perspektiven. In: Diendorfer, Gertraud u.a. (Hrsg.) (2017): Populismus – Gleichheit – Differenz. Herausforderungen für die politische Bildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Wissenschaft, S. 11-28.Holtmann, Everhard (2018): Völkische Feindbilder, Ursprünge und Erscheinungsformen des Rechtspopulismus in Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.Mudde, Cas / Kaltwasser, Cristóbal Rovira (2017): Populism. A Very Short Introduction. New York: Oxford University Press.Müller, Jan-Werner (2016): Was ist Populismus? Ein Essay. Berlin: Edition Suhrkamp.ReSource-Projekt: https://www.resource-project.org/ [10.09.2019]Wodak, Ruth (2016): Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse. Wien/Hamburg: Edition Konturen.
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Es waren Antifaschist:innen, die die italienische Verfassung ausgearbeitet haben. Sie trat 1948 in Kraft und sollte sicherstellen, dass niemand jemals wieder die Kontrolle über die Republik übernehmen konnte, ähnlich wie dies der Diktator Benito Mussolini die Jahre zuvor vollbracht hatte. Seitdem hat Italien bereits 67 Regierungen erlebt, doch die aktuelle Regierung, Nummer 68, ist auch für Italien besonders (Siefert, 2023). Sie wurde mehrfach als "gefährlichste Frau Europas" betitelt (Brandl & Ritter, 2022). Die Rede ist von Giorgia Meloni, die am 22. Oktober 2022 als Vorsitzende der nationalistischen, konservativen und postfaschistischen Partei Fratelli d'Italia (FDI) als Ministerpräsidentin vereidigt wurde.Mit dem Wahlsieg der italienischen Postfaschistin ist ein weiterer Schritt in Richtung einer politischen Entwicklung vollzogen worden, die den autoritären Rechtspopulismus als Regierung zu einem sichtbaren Bestandteil der politischen Realität macht. Ihre politische Gruppierung wird weithin als populistisch, postfaschistisch und weit rechts im politischen Spektrum positioniert, was in weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wurde. Die folgende Seminararbeit versucht nach mehr als einem Jahr an der Macht eine Bilanz zu ziehen, die Auswirkungen der Wahl zu analysieren und die Besonderheiten der italienischen Rechten näher zu beleuchten.Melonis Aufstieg in der politischen Landschaft Italiens: Vom Engagement in der Jugendpolitik über die MSI zur Gründung der Fratelli d'Italia Die am 15. Januar 1977 in Rom geborene Meloni ist nicht nur die erste Frau, die das Amt ausübt, sondern auch die erste Regierungschefin, deren politische Karriere in der postfaschistischen Ära Italiens begann. Sie kandidierte bereits in ihren Jugendjahren für politische Ämter in Italien. Im Jahr 2006 wurde sie zur jüngsten Ministerin Italiens ernannt. Heute ist die Vorsitzende der von ihr mitbegründeten rechtsextremen Partei Fratelli d'Italia (Brüder Italiens, benannt nach der ersten Zeile der Nationalhymne, mit Wurzeln in der postfaschistischen Bewegung) die erste weibliche Premierministerin.Vor 31 Jahren, im Juli 1992, begann Giorgia Meloni ihr politisches Engagement in Rom mit dem Beitritt zur Jugendorganisation des Movimento Sociale Italiano (MSI, Italienische Soziale Bewegung), einer von Faschist:innen gegründeten Partei (Ventura, 2022, S. 8 ). Die italienische Ministerpräsidentin unterstreicht häufig, dass sie aus bescheidenen Verhältnissen stammt und in einer Familie von Angestellten aufgewachsen ist. Dabei verschweigt sie allerdings gerne die Tatsache, dass ihre Mutter, Anna Paratore, der MSI damals angehörte (Feldbauer, 2023, S. 15).Die am 26. Dezember 1946 gegründete Italienische Soziale Bewegung entstand unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Gründer:innen der Partei waren politisch in der Italienischen Sozialen Republik (Repubblica Sociale Italiana, RSI) aktiv, einem Satellitenstaat, der während der deutschen Besatzung von 1943 bis 1945 von Mussolini regiert wurde. Ideologisch bezog sich die Partei auf den "sozialen Faschismus" der RSI (Ventura, 2022, S. 2). Die MSI zeichnete sich nicht nur durch ihre antikapitalistische und antiliberale Ideologie mit korporatistischer Entscheidungsfindung aus, sondern auch durch ihren ausgeprägten Antikommunismus und ihre scharfe Kritik an den etablierten Parteien. Obwohl es innerhalb der MSI von Anfang an eine konservative und pro-westliche Minderheit gab, blieb die Partei bis Anfang der 1990er Jahre unfähig, sich wesentlich zu reformieren und konnte daher keinen nennenswerten Einfluss auf das politische System Italiens ausüben (ebd.).Im Januar 1995 wurde die Partei kurz nach dem Beitritt Melonis aufgelöst und in die "Alleanza Nazionale" (AN, Nationale Allianz) umgewandelt. Die AN fusionierte 2009 mit der Partei "Forza Italia" (FI, Vorwärts Italien) von Silvio Berlusconi zur Partei "Il Popolo della Libertà (PdL, Das Volk der Freiheit). Der damalige Parteivorsitzende Gianfranco Fini wollte den von der AN eingeleiteten liberal-konservativen Rechtsruck erfolgreich zu Ende führen, was jedoch einigen ehemaligen Aktivist:innen und Führungskräften aus den Reihen der MSI missfiel. Diese Unzufriedenheit machte sich später Meloni zunutze. Im Jahr 2006 wurde Meloni ins Parlament gewählt und zwei Jahre später wurde sie die jüngste Ministerin (Jugend und Sport) in der Geschichte Italiens. Die einzige Regierungserfahrung hat sie auf nationaler Ebene (ebd.).Verhältnis zum (Post)Faschismus Eine Woche vor dem hundertsten Jahrestag von Mussolinis "Marsch auf Rom", der Machtübernahme durch den "Duce", übernahm Meloni ihr Amt. Ihr Kabinett, welches hauptsächlich aus Anhänger:innen Mussolinis besteht, wurde in linken Medien als eine Regierung von "reuelosen Faschisten" beschrieben (Feldbauer, 2023, S. 38f). Meloni war im Jahr 2012 Mitbegründerin der Partei FdI, die in der Tradition des italienischen Faschismus steht, und gehört somit zur dritten Generation des Partito della Fiamma (Livi & Jansen, 2023, S. 173). Das Symbol der faschistischen Flamme, das in der Vergangenheit der MSI vorbehalten war, ist im Parteilogo vertreten (Feldbauer, 2023, S. 16f).Im Jahr 1929 wurde das Wort "Faschismus" zum ersten Mal in den Duden aufgenommen. Dies geschah sieben Jahre, nachdem die italienische Partito Nazionale Fascista (PNF) unter Benito Mussolini 1922 in die Regierung Italiens eingetreten war. 1926 entwickelte sie sich zu einer diktatorischen Staatspartei, bevor sie 1943 aufgelöst wurde. Der Begriff "Faschismus" wurde von der PNF als Selbstbezeichnung verwendet und entstammt dem italienischen Wort "fascio", dessen Bedeutung dem Begriff "Bund" gleichgestellt ist (Schütz, 2022). Im heutigen Sprachgebrauch bezeichnet der Terminus eine nationalistische, antidemokratische und rechtsextreme Ideologie, die nach dem Führerprinzip ausgerichtet ist. Seit den Parlamentswahlen in Italien im vergangenen Jahr sind vermehrt Artikel zum Thema "Postfaschismus" verfügbar. Dies hängt mit dem Sieg bei der Parlamentswahl und der FdI zusammen, welche als "postfaschistisch" bezeichnet wird (ebd.).Gianfranco Fini distanzierte sich 2003 offiziell vom Faschismus und bezeichnete ihn als "absolut böse" (Tagesschau, 2022). Giorgia Meloni hat es jedoch bis heute vermieden, eine so eindeutige Aussage über die Wurzeln ihrer Partei zu tätigen. Meloni erhob sogar Vorwürfe gegen Gianfranco Fini, das Erbe der italienischen Rechten zu zersplittern (Ventura, 2022, S. 6). Im Jahr 2014 wurde Meloni zur Vorsitzenden der FdI gewählt. Sie konnte den harten Kern der Faschist:innen um sich versammeln, indem sie sich auf Mussolini bezog. Aufgrund der möglichen Verluste eines Teils ihrer Wählerschaft an die Lega kann sie die Flamme nicht aus dem Parteilogo entfernen. Sie hob wiederholt hervor, wie stolz sie auf das Wappen mit der italienischen Trikolore sei, bezeichnete Mussolini sogar als einen "guten Politiker" (Feldbauer, 2023, S. 16).Froio (2020) stellt fest, dass die FdI ein "emotionales" Verhältnis zu ihrer faschistischen bzw. postfaschistischen Vergangenheit pflegt, mit der sie sich nie wirklich kritisch auseinandergesetzt hat. Dies wird durch die Statements von Giorgia Meloni sowie durch die Aussagen und Handlungen von Vertreter:innen und Führungskräften der FdI deutlich. So trat Meloni am Tag vor der Wahl 2018 bei einer Wahlkampfveranstaltung in Latina, einer von Mussolini gegründeten Stadt südlich von Rom, in Begleitung seiner Enkelin Rachele Mussolini auf. Dabei kündigte sie die Absicht ihrer Partei an, dem Symbolort den ihm gebührenden Platz in der Geschichte der italienischen Rechten wieder zu verschaffen (Latza Nadeau, 2018). Bei ihrem Versuch, sich in ihrer Ansprache vor der Abgeordnetenkammer am 25. Oktober 2022 trotz ihrer früheren Bekenntnisse zum Faschismus Mussolinis zu distanzieren, stieß Meloni angesichts der genannten Tatsachen auf Widerstand. Mit ihrer Partei verkörpert Meloni nach wie vor die "Kontinuität des Faschismus" (Feldbauer, 2023, S. 16f).Auch Tronconi und Baldini (zit. nach POP, 2023) erkennen die Identitätswurzeln der FdI im Neofaschismus, der in Italien jahrzehntelang durch die MSI verkörpert wurde. Ihrer Meinung nach sei es jedoch falsch, die FdI als neofaschistische Partei zu bezeichnen, da wesentliche Merkmale wie die Akzeptanz von Gewalt als Mittel des politischen Wettbewerbs fehlen würden. In der öffentlichen Debatte und in den offiziellen Dokumenten der Partei würden tatsächlich die für die europäische radikale Rechte typischen Themen wie Islamophobie und eine allgemeine Feindseligkeit gegenüber der Einwanderung betont, die als potenzielle Verwässerung der Identität der italienischen Nation angesehen werden.Der Weg einer "Frau, Mutter, Italienierin und Christin" an die MachtMeloni präsentiert sich gerne als Frau, Mutter, gläubige Christin und als hilfsbereite Vertreterin aller Italiener:innen (Feldbauer, 2023, S.70). Diese Worte passen zum allgemeinen Slogan "Gott, Heimat und Familie" (Dio, patria e famiglia), welcher von Melonis Partei und anderen radikalen Rechtsparteien in der Vergangenheit übernommen wurde (De Giorgi et. al, 2022).Im Jahr 2022 wurden mehr als 70 Prozent der parlamentarischen Parteien in den EU-Mitgliedsstaaten von männlichen Führungskräften geleitet (Openpolis, 2022, zit. nach De Giorgi et. al, 2022). In Italien wurde bis zum Jahr 2013 keine Partei, weder aus dem politischen Establishment noch aus dem rechten Spektrum, von einer Frau geführt (De Giorgi et. al, 2022). Studien, die sich auf das weibliche Führungsverhalten konzentrieren, betonen oft, wie Frauen Führungspositionen erreichen können, wenn sie von einem "Legacy Advantage", also sozusagen von einem Vorteil ihres Erbes profitieren, wie als Ehefrau, Witwe, Tochter oder eine andere enge Verwandte eines Schlüsselakteurs in der Politik (Baker & Palmieri, 2021). Diese Praxis ist auch bei rechtsextremen Parteien üblich. Ein bekanntes Beispiel ist Marine Le Pen, die die Führung des Front National (jetzt Rassemblement National) von ihrem Vater übernommen hat. Auch in Italien gibt es rechtsgerichtete Politikerinnen mit starken familiären Bindungen zu ehemaligen Staatsoberhäuptern und prominenten politischen Persönlichkeiten, wie Alessandra Mussolini, die Enkelin des ehemaligen Diktators, die mehrmals als Abgeordnete für die AN gewählt wurde (De Giorgi et. al, 2022). Giorgia Meloni hebt sich von diesem Weg ab. Ihr politisches Engagement begann 1992, als Meloni der Jugendorganisation der MSI beitrat. Im Unterschied zu anderen Oppositionsführer:innen, welche dazu neigen, ihre politische Außenseiterposition zu betonen, hebt Meloni oft ihren beruflichen Werdegang sowie ihr politisches Know-how hervor und verbindet dies mit der Idee der "Kompetenz". Darüber hinaus gibt es in Italien keine weitere politische Partei, die von einer Frau geführt wird, wodurch Meloni zweifellos eine beachtliche Medienpräsenz in dieser Hinsicht erreicht hat (Feo & Lavizzari, 2021).Angesichts der politischen Geschichte Italiens sei der Erfolg der FdI nicht verwunderlich. Die italienischen Rechten sind mit ihren traditionellen Anliegen seit Jahrzehnten erfolgreich. Der Gesamterfolg der FdI-FI-Lega-Koalition im Jahr 2022 kam daher weder überraschend noch sei er außergewöhnlich (POP, 2023). Der Erfolg kann auf die langjährige Dominanz der wechselnden Mitte-Rechts-Koalitionen um Berlusconi zurückgeführt werden, die in den letzten drei Jahrzehnten die Mehrheit der Wahlen gewinnen konnten. Trotz der langen Präsenz der größten kommunistischen Partei des Westens in Italien seit mehr als 50 Jahren war das Land mit Ausnahme einer kurzen Periode in den 1970er Jahren immer strukturell rechts orientiert (Livi & Jansen, 2023, S. 178f).Die Mehrheit der italienischen Gesellschaft war antikommunistisch, prokapitalistisch, katholisch und von konservativen Vorstellungen über die Familie, Geschlechterrollen und soziale Ordnung geprägt. Die Christlich-Demokratische Partei (DC, Democrazia Cristiana), die in der Ersten Republik dominierte, integrierte eine breite konservative Mittelschicht, die sich als antikommunistisch verstand und einem autoritären traditionellen Katholizismus anhing. Diese Schicht bildete die Grundlage für Berlusconis Aufstieg in den 1990er Jahren. So entstand eine neue konservative Rechte. Berlusconi mobilisierte eine bis dahin politisch unsichtbare konservative Strömung in der Gesellschaft, die im Hintergrund agierte (ebd.).Mit 43 Prozent der Stimmen ist die Koalition nicht weit von ähnlichen Prozentsätzen entfernt, die Mitte-Rechts-Koalitionen in den neunziger Jahren oder bei den Wahlen 2001, 2006 und 2008 erzielt haben. Die konservativen Parteien genießen in Italien mehr Unterstützung als die progressiven, und wenn diese aus allgemeinen Wahlen als Sieger hervorgehen, dann vor allem infolge von Spaltungen innerhalb der rechtsgerichteten Parteien (POP, 2023).Neben ihrer eigenen Partei, die bei den Wahlen 26 Prozent der Stimmen erhielt, gehören zur Regierungskoalition der Premierministerin zum einen die Lega, Matteo Salvinis Partei, die mit fremdenfeindlichen und separatistischen Ansichten bis 2018 als Lega Nord bekannt war. Zum anderen die liberal-populistische Partei von Ex-Premier Silvio Berlusconi, Forza Italia. Die Lega kam auf 8,8 Prozent, gefolgt von der Forza Italia mit 8,1 Prozent (Feldbauer, 2023, S.7). Aufgrund der besonderen Regeln des italienischen Wahlrechts verfügen diese drei Regierungsparteien über breite Mehrheiten in beiden Kammern des Parlaments, der Camera und dem Senato (Livi & Jansen, 2023, S.169). Neben der Berufung ihres Schwagers hat die italienische Ministerpräsidentin auch ihre Schwester in die Führungsebene ihrer Partei geholt. Melonis ältere Schwester, Arianna, ist nun verantwortlich für das politische Sekretariat. Ihr Ehemann, Francesco Lollobrigida, Landwirtschaftsminister und Mitglied der FdI, gilt als enger Vertrauter von Meloni (Ventura, 2022, S. 3).Laut Tronconi und Baldini (zit. nach POP, 2023) liegt der interessante Aspekt darin, dass sich die FdI innerhalb der rechten Parteien durchsetzte. Dies könnte vor allem damit begründet werden, dass die Forza Italia eine schon lange schwindende Partei sei, während die Positionen von FdI und Lega in den wesentlichen Punkten übereinstimmen. Dazu gehören feindselige Haltungen gegenüber Migration, die Verteidigung traditioneller Werte, die Unterstützung der wirtschaftlichen Interessen zahlreicher italienischer Kleinunternehmen, der Schutz der traditionellen Familie vor einer angeblichen "Gender-Theorie", die darauf abziele, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu verwischen oder auszulöschen, und die vertikale Abgrenzung zur EU in Form von Skepsis bzw. offener Feindseligkeit gegenüber dem europäischen Integrationsprojekt. Allerdings habe die Persönlichkeit von Giorgia Meloni im Vergleich zu Matteo Salvinis abnehmender Führungsstärke sowie die Glaubhaftigkeit und Beständigkeit der Partei der FdI 2022 den entscheidenden Vorteil gebracht. Salvini habe sich im Vergleich zu Meloni in der Vergangenheit auf Koalitionen, wie zum Beispiel mit der Fünf-Sterne-Bewegung eingelassen, die nicht besonders gut bei den rechten italienischen Wähler:innen ankamen. Meloni war und ist jedoch innerhalb des Rechts-Bündnisses eine überzeugte Hardlinerin (Feldbauer, 2023).WählerschaftDie Partei von Giorgia Meloni übte vor allem eine Anziehungskraft auf ehemalige Lega-Wähler:innen aus, aber auch Wähler:innen der Forza Italia bekundeten Interesse an der FdI. In soziodemografischer Hinsicht ist festzustellen, dass FdI-Anhänger:innen in der Altersgruppe von 50-64 Jahren überrepräsentiert, in der jüngsten Altersgruppe (18-34 Jahre) unterrepräsentiert waren. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass jüngere Wähler:innen ihre Proteststimme eher der Fünf-Sterne-Bewegung ohne postfaschistische Vergangenheit gaben. Die Partei erhielt Unterstützung von verschiedenen Berufsgruppen wie Handwerker:innen, Händler:innen, Selbstständigen sowie Angestellten und Lehrkräften, also weitgehend der (unteren) Mittelschicht.Die geografische Verteilung der Wählerschaft der FdI zeigt nicht nur - wie anfangs in der Parteigeschichte - eine starke Präsenz im Süden Italiens, sondern auch eine landesweite Verbreitung. Die Wählerschaft weist migrationsfeindliche und europaskeptische Tendenzen auf, insbesondere bei langjährigen Anhänger:innen. Neu gewonnene Wähler:innen zeigen eine populistische und anti-elitäre Haltung, bei der die Ablehnung von Migration eine große Rolle spielt (Ventura, 2022, S. 5).Migrationspolitik als Kernthema Bei den Parlamentswahlen stand die Migrationspolitik im Fokus. Es bestanden Bedenken, die neue Regierung unter der Führung der FdI könne in der Asyl- und Migrationspolitik einen äußerst restriktiven und sogar illegalen Weg einschlagen. So hatte Meloni für ihr Amt mit dem Ziel kandidiert, der "illegalen" Einwanderung nach Italien Einhalt zu gebieten. Es wurde auch über die mögliche Errichtung einer Seeblockade vor Nordafrika sowie die Einrichtung von Hotspots auf afrikanischem Territorium diskutiert (Angeli, 2023, S. 4f). Durch ihre Forderungen in der Opposition konnte sie das Thema Migration für sich gewinnen. Dennoch ist die Verwirklichung politischer Versprechen im Wahlkampf und ihre Umsetzung in konkrete Politik keineswegs als selbstverständlich anzusehen. Im Zuge der sogenannten "Flüchtlingskrise" bestimmten nativistische und souveränistische Motive die Haltung der Partei zur Migration. Die auf dem Parteitag 2017 verabschiedeten programmatischen "Thesen von Triest für die patriotische Bewegung" stellten die Migration als existenzielle Bedrohung für den Fortbestand der europäischen Nationalstaaten dar. In diesem Zusammenhang fand auch die Verschwörungstheorie vom "großen Austausch" Eingang in das Parteiprogramm (Baldini et. al, zit. nach Angeli, 2023, S. 6). Die Partei warf der EU vor, aus demografischen Gründen ein "multikulturelles Prinzip" zu verfolgen, woraus angeblich eine Zustimmung zur unkontrollierten Einreise von Menschen aus anderen Kontinenten abgeleitet wurde (FdI, 2017, zit. nach Angeli, 2023, S. 6). Die Partei befürwortete restriktive Maßnahmen im Zusammenhang mit legaler Zuwanderung. Diese sollten nur für Staatsangehörige möglich sein, die sich problemlos integrieren könnten, ohne Sicherheitsprobleme zu verursachen. Dabei wurde die Bedeutung des Grenzschutzes besonders betont, der mit dem Schutz des "Vaterlandes" gleichgesetzt wurde. Die FdI schlugen drastische Maßnahmen, wie eine internationale "Landmission" vor, die Kontrolle über die Häfen übernehmen sollte, sowie die Möglichkeit einer Seeblockade. Der Schwerpunkt lag dabei auf Nationalitäten, die weniger bereit seien, die Gesetze und die Kultur zu akzeptieren, insbesondere wurden damit Muslim:innen gemeint. Darüber hinaus wurde zum ersten Mal die Einrichtung von Hotspots in Nordafrika zur Prüfung von Asylanträgen vorgeschlagen, verbunden mit der Absicht, das Recht auf "humanitären Schutz" abzuschaffen. Die programmatische Entwicklung der Partei im Bereich der Migrationspolitik war von zwei konträren Tendenzen geprägt. Einerseits stand die Partei unter dem Druck, sich dem Mitte-Rechts-Bündnis anzupassen, was zu einem einheitlichen Programm für die Parlamentswahlen 2018 führte, welches jedoch nicht die radikalsten migrationspolitischen Positionen enthielt. Andererseits sorgte die Konkurrenz innerhalb des Rechtsbündnisses für einen Differenzierungsbedarf insbesondere in der Migrationspolitik. Hier konkurrierten die FdI und die Lega darum, sich als die restriktivere und migrationsfeindlichere Partei zu präsentieren (Angeli, 2023, S. 6f).Die FdI hob zunehmend ihr Alleinstellungsmerkmal durch die kompromisslose Verteidigung der italienischen Interessen hervor, insbesondere durch die häufige Verwendung von "Italians first". Dieser Slogan implizierte einen Wettbewerb zwischen Italiener:innen und Menschen mit Migrationshintergrund und wurde zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen verwendet (Ventura, 2022). Im Wahlprogramm für die Europawahl 2019 wurde der Vorrang der italienischen Bevölkerung hervorgehoben und normativ untermauert (ebd.). Das Wahlprogramm für die Parlamentswahlen 2022 markierte eine Abkehr von der Radikalisierung der Partei in der Migrationspolitik, die in den vergangenen Jahren zu beobachten war. Stattdessen kehrte die FdI zu einer sicherheitspolitisch motivierten Migrationsskepsis zurück, ähnlich wie im Wahlmanifest von 2013. Im Gegensatz zu früheren Positionen betonte das Manifest nicht mehr den Grundsatz "Italians first", der das Primat der italienischen Identität und Interessen in der Migrationspolitik hervorhob. Stattdessen verfolgte das Programm einen nüchternen Ansatz zur Migration, ohne aggressive oder aufrührerische Sprache. Dies deutet darauf hin, dass die Partei realistische und machbare Ansätze für eine geregelte Einwanderung und soziale Integration formulieren wollte (Angeli, 2023, S. 6f). In ihrer ersten Regierungserklärung schlug Meloni einen versöhnlichen Ton an, auch in Bezug auf das Thema Migration. Es gab kaum nativistische Elemente. Zwar betonte sie die strategische Rolle Italiens im Mittelmeerraum, doch die Verhinderung irregulärer Einwanderung wurde vor allem mit juristischen oder humanitären Gründen gerechtfertigt, etwa um Schiffbrüche oder Menschenhandel zu verhindern (ebd.).Melonis migrationspolitische Maßnahmen und Entscheidungen in den letzten 12 Monaten könnten auf einen pragmatischen Umschwung hindeuten. Diese Annahme ist jedoch mit Vorbehalten behaftet. Die Entwicklung des migrationspolitischen Programms der FdI zeigte bereits vor den letzten Parlamentswahlen eine Mäßigung bzw. "Entradikalisierung" (Angeli, 2023, S. 9). Das Wahlprogramm 2022 betonte die Förderung der legalen Migration und verstärkte diplomatische Bemühungen mit Herkunfts- und Transitländern irregulärer Migranten. Dennoch hat Meloni wenig getan, um der Kriminalisierung von NGOs entgegenzuwirken, die Rettungsschiffe für Asylsuchende betreiben. Sie argumentiert, diese Schiffe seien ein "Pull-Faktor", der die illegale Migration begünstige. Meloni hat sogar strenge Bedingungen für Rettungsaktionen von NGOs eingeführt, um die Ressentiments ihrer Anti-Migrations-Wählerschaft zu befriedigen. Es bleibt abzuwarten, ob die steigende Zahl von Geflüchteten, die das Mittelmeer überqueren, Meloni dazu veranlassen werden, radikalere Maßnahmen zu ergreifen, um sich die Unterstützung ihrer Anti-Migrations-Wählerschaft zu sichern. Erste Anzeichen für einen Umschwung gab es Mitte September, als Melonis Kabinett unter dem Druck negativer Schlagzeilen eine Verschärfung der Maßnahmen beschloss, darunter die Erhöhung der Höchstdauer der Abschiebehaft und die Einrichtung spezieller Abschiebegefängnisse durch das Militär in dünn besiedelten Regionen des Landes (Angeli, 2023, S. 10).Die politikwissenschaftliche Forschung hat in jüngerer Zeit wiederholt die Diskrepanz zwischen rechtspopulistischen Migrationsdiskursen und der tatsächlichen Migrationspolitik untersucht (Lutz, 2021). Demnach komme es öfters zu Mäßigungen, sobald Rechtspopulisten an der Regierung beteiligt seien. Die Ausprägung dieser Mäßigung kann jedoch stark variieren und von vielen Faktoren beeinflusst werden. Unter anderem sind sie als Regierungspartei institutionellen Zwänge unterworfen, die ihr politisches Agieren limitieren. Aber auch die Notwendigkeit, die bestehenden Verfassungsorgane zu bewahren, veranlasst sie oft dazu, sich von ihren radikalsten Ansätzen im Bereich der Migrationspolitik zu distanzieren. Darüber hinaus stehen rechtspopulistische Parteien vor der Aufgabe, neben ihren eigenen Anhänger:innen auch breitere Gesellschaftsschichten und die Eliten für ihre Ziele zu gewinnen. Aus diesem Grund könnten sie ihre Migrationspolitik entsprechend umgestalten, um weitere wichtige Interessengruppen zu erreichen. Schließlich kann auch internationaler Druck zu einer Kursänderung rechtspopulistischer Parteien führen. Bei der italienischen Regierung betrifft dies vor allem die EU, die finanzielle Hilfe als Druckmittel zur politischen Einflussnahme nutzen kann (Angeli, 2023, S. 4). Das Thema Migration war für die FdI von Anfang an ein zentrales Wahlkampfthema. Allerdings ist diesem Thema nur einer von insgesamt 25 Abschnitten im Wahlprogramm von 2022 gewidmet. Dennoch sollte die Bedeutung dieses Abschnitts keineswegs unterschätzt werden. Die "Gefahr" der irregulären Migration hat der Partei zu politischer Sichtbarkeit verholfen, insbesondere aufgrund des gestiegenen Interesses der italienischen Öffentlichkeit am Thema Migration seit 2013. Der Umgang der Partei mit dem Thema spiegelt somit die Radikalisierungs- und Mäßigungstendenzen wider, welche sie während der letzten zehn Jahre erfahren hat (Angeli, 2023, S. 5f). In einem Artikel mit dem Titel " Das schwarze Jahr " kritisierte die Zeitung "La Repubblica" die Migrationspolitik von Giorgia Meloni als gescheitert. Meloni selbst gab in einem Interview mit der RAI zu, dass die erzielten Ergebnisse nicht den Erwartungen entsprechen. Daraufhin kündigte sie erneut härtere Maßnahmen an, darunter die Verlängerung der möglichen Abschiebehaft auf die EU-Höchstdauer von 18 Monaten und den Bau weiterer Abschiebezentren. Sie forderte die Vereinten Nationen auf, den Menschenhändler:innen einen "globalen Krieg" zu erklären (ZEIT ONLINE, 2023).Wirtschafts- und SozialpolitikBesonders frauenpolitische Themen spielten eine wichtige Rolle in und für Melonis Partei. Es wird davon ausgegangen, dass die Parteivorsitzende Meloni eine wichtige Rolle für die weibliche Wählerschaft spielt. Sie setzt sich für einen Imagewandel der männerdominierten Partei ein und engagiert sich insbesondere für Frauen und Mütter, zumindest im Hinblick auf den Schutz vor potenziellen "Bedrohungen", wie dem Zuwachs an Migration, der Islamisierung und sozialer Unsicherheit, wie von der Kommilitonin Schmidt bereits beschrieben wurden (Feo & Lavizzari, 2021, S. 13). Zusätzlich engagiert sie sich entschlossen in der Verteidigung der Frauenrechte, wobei der Fokus jedoch auf anti-immigrationspolitischen Zielen liegt. In Bezug auf frauenrelevante Themen hat Giorgia Meloni niemals ihre anti-abtreibungsorientierten Überzeugungen verschleiert. Diese basieren auf ihrem katholischen Glauben sowie persönlichen Erfahrungen. In ihrer Biografie wird dargelegt, dass ihre Mutter in Erwägung zog, die Schwangerschaft abzubrechen (Meloni, 2021, zit. nach De Giorgi et. al, 2022). Meloni strebt vor allem eine breite Unterstützung in katholischen Kreisen an, indem sie sich gegen Abtreibung und Leihmutterschaft aussprach. Nachdem sie dort jedoch auf erheblichen Widerstand stieß, versuchte sie ihre Position zu mildern, indem sie betonte, das Recht auf Abtreibung nicht abschaffen zu wollen. Im Unterschied dazu blieb sie gegenüber Homosexuellen und sexuellen Minderheiten unverändert kompromisslos (Feldbauer, 2023, S. 70)."Wir wollen eine Nation, in der es kein Skandal mehr ist, zu sagen, dass – unabhängig von legitimen Entscheidungen und Neigungen jedes einzelnen – wir alle geboren sind durch einen Mann und eine Frau. Eine Nation, in der es kein Tabu mehr gibt. Es heißt, dass es die Mutterschaft nicht zu kaufen gibt, dass die Gebärmutter nicht zu mieten ist, dass Kinder keine Produkte sind, die man aus dem Regal kauft, als wäre man im Supermarkt. Wir wollen neu beginnen beim Respekt der Würde." (Meloni, 2022, zit. nach Seisselberg, 2023)Wie aus dem Zitat hervorgeht, betont die Politikerin ausdrücklich ihre Unterstützung der sogenannten natürlichen Familie, um die traditionellen Werte zu bewahren. Mit der Verteidigung dieser Werte und dem klassischen Vater-Mutter-Kind-Bild erfolgt eine Ablehnung der LGBTQ+-Gemeinschaft, die von Meloni als "LGBT-Lobby" bezeichnet wird (De Giorgi et. al, 2022). Die Ministerpräsidentin zeigt kein Interesse an einer feministischen Agenda, sondern strebt weiterhin ein traditionelles Familienmodell an (POP, 2023). Frauenrechte und Geschlechtergleichheit wurden von Meloni und ihrer Partei mehr für femonationalistische Argumente instrumentalisiert (De Giorgi et. al, 2022).In wirtschaftspolitischer Hinsicht herrscht in Italien eine Unzufriedenheit, da verschiedene Wahlversprechen nicht umgesetzt wurden. Dies ist auf das Schrumpfen der italienischen Wirtschaft im zweiten Quartal sowie der hohen Inflation zurückzuführen. Zudem wurde noch kein Mindestlohn eingeführt. Die Regierung unter Giorgia Meloni wurde auch dafür kritisiert, dass knapp 170.000 Menschen per SMS darüber informiert wurden, dass sie ab sofort keinen Anspruch mehr auf die Sozialleistung reddito di cittadinanza, auch Bürgergeld genannt, haben. Dies wurde von Gewerkschaften als "soziale Bombe" bezeichnet (ZEIT ONLINE, 2023). Es sei jedoch absehbar gewesen, dass die Umstrukturierung des Staatshaushalts wesentlich auf Kosten der ärmeren Bevölkerung erfolgen würde. Dennoch glaubten die meisten Menschen, dass die postfaschistische Regierung in den Augen der Weltöffentlichkeit nicht so weit gehen würde, wie ihre Rhetorik des "Runter vom Sofa" suggerierte, mit der sie ihren Geldgebern in Industrie, Landwirtschaft und Tourismus billige Arbeitskräfte zur Verfügung stellen wollten (Seeßlen, 2023).EU und Außenpolitik Der Zuwachs an Migration wurde von Meloni vor allem dazu genutzt, um das Thema der irregulären Migration auf die europäische Tagesordnung zu setzen. Sie war auch maßgeblich am Zustandekommen des Europäischen Migrationspaktes beteiligt, gegen den Widerstand ihrer einstigen Verbündeten aus Polen und Ungarn. Durch diese diplomatischen Bemühungen wird Meloni nun nicht mehr als internationale Außenseiterin in Bezug auf die europäische Migrationspolitik betrachtet. Im Gegensatz zu einigen früheren Verbündeten, wie Viktor Orbán, steht sie nicht mehr auf der Seite der Visegrád-Staaten (Angeli, 2023, S. 8f). Melonis Wandlung zu einer gemäßigten Politikerin findet nicht nur national, sondern auch im internationalen Kontext innerhalb und außerhalb der EU statt. Trotz ihrer Position als Präsidentin der EU-Parlamentsgruppe der Europäischen Konservativen und Reformer (ECR) hat Meloni ihre frühere euroskeptische Haltung zurückgefahren. Die Entscheidung, von der Leyen in Rom zu empfangen, wird als Versuch der Anbahnung einer Zusammenarbeit zwischen der ECR (unter Melonis Führung) und der Europäischen Volkspartei (EVP) bewertet. Die FdI hat einen moderaten Kurswechsel von radikalen Positionen gegenüber der EU hin zur Mitte vor den Wahlen 2022 vollzogen. Ziel dieses Kurswechsels sei der Aufbau eines guten Rufs im Ausland und die Sicherung vorteilhafter internationaler Abkommen (Griffini, 2023). Giorgia Meloni hat ihre gemäßigte politische Ausrichtung durch das Einhalten ihres Wahlversprechens im Hinblick auf Atlantizismus und Unterstützung für die Ukraine gegenüber dem russischen Eindringling weiter gestärkt. Ihre diplomatischen Beziehungen zur Ukraine und das Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew untermauern dies. Im Gegensatz zu Salvini, der im Bezug auf die russische Invasion in der Ukraine uneindeutige Standpunkte vertrat, zeigte sich Meloni klar positioniert. Der Unterschied in ihrer Haltung zum Krieg in der Ukraine führte zu Spannungen innerhalb der Regierungskoalition und betonte Melonis gemäßigte Position in dieser Angelegenheit (ebd.). Manche sagten für Italien einen heißen Herbst voraus, aber nicht in Hinblick auf die außenpolitische Lage. Meloni verfolgte in diesem Bereich einen äußerst pragmatischen Ansatz. Der schrille Ton des Wahlkampfes, in dem sie die EU für fast alle Probleme verantwortlich gemacht hat, ist vorbei. Das hat auch mit der prekären Finanzlage des Staates zu tun, denn Italien braucht dringend die fast 200 Milliarden Euro, die ihr von der EU zur Bewältigung der Folgen des Coronavirus versprochen wurden (ZEIT ONLINE, 2023).Meloni in den Medien"Melonis Politik, anders als die einiger ihrer Vasallen, besteht auch darin, die innere Faschisierung nicht allzu sehr als ein internationales lesbares Bild zu präsentieren. Die Giorgia Meloni, die erscheint, wo man unter sich ist, und die Giorgia Meloni, die vor internationalen Kameras spricht, unterscheiden sich gewaltig" (Seeßlen, 2023).Durch die Stärkung des Kerns der Partei ist es Meloni gelungen, mit einem breiteren Publikum zu interagieren, wobei ihr geschickter Einsatz von Social-Media-Plattformen eine Schlüsselrolle spielte. Dies führte dazu, dass sie als das neue Gesicht der italienischen Politik wahrgenommen wird. Ihre einzigartige Position als erste weibliche Ministerpräsidentin in Italien hat zweifellos dazu beigetragen. Außerdem hat sie bewiesen, dass sie in der Lage ist, die Herausforderungen zu meistern, mit denen populistische Politiker:innen konfrontiert sind (POP, 2023).Der Erfolg der FdI wäre ohne die entschlossene und konsequente Führungsperson, die dem Volk sehr nahe steht, unvorstellbar. Durch ihre Ansprachen an das Volk im römischen Dialekt kommt sie den Italiener:innen sehr nahe. Schon kurz nach der Gründung und dem Vorsitz der FdI war die charismatische Führerin ein gern gesehener Gast in den wichtigsten Talkshows. Sie zeichnete sich durch Jugend, Attraktivität, Selbstbewusstsein, außergewöhnliche Eloquenz und eine kompromisslose Haltung aus und scheute keine Konfrontation. Man kann behaupten, Meloni brachte frischen Wind ins Fernsehen und erfreut sich auch heute noch großer Beliebtheit in diesem Medium (Ventura, 2022, S.6).Im Laufe der Zeit hat ihre Medienpräsenz stetig zugenommen, insbesondere in den letzten Jahren, als sie eine immer bedeutendere Funktion im Mitte-Rechts-Lager einnahm. Meloni macht ausgiebigen Gebrauch von sozialen Medien wie Facebook, Twitter und Instagram, in denen sie ihre politischen Inhalte darstellt und gleichzeitig ihr öffentliches Image zu pflegen versucht. Unter den italienischen Politiker:innen war sie Vorreiterin bei der Einrichtung eines Instagram-Profils. Darauf veröffentlichte sie in erster Linie Bilder, die Botschaften von Stärke und Entschlossenheit vermitteln und in der Popkultur verwurzelt sind. Parallel dazu zieht sie informative, institutionelle und ereignisbezogene Nachrichten vor (Moroni, 2019).Bis vor wenigen Jahren versuchte Meloni, ihr Privatleben aus der Öffentlichkeit weitestgehend herauszuhalten. Doch in letzter Zeit begann sie damit, ihr Privatleben zu inszenieren und sehr persönliche Einblicke zu gewähren, was auch als "intimate politics" beschrieben werden kann. Vor allem in ihrer 2021 erschienenen Autobiografie präsentiert sie sich als Tochter, Mutter und Partnerin. Diese Inszenierung wird von den Medien in zahlreichen Interviews und im Fernsehen aufgegriffen, wobei vor allem Infotainment- und Unterhaltungssendungen erneut die Aufmerksamkeit auf Melonis Pop- und Privatseite lenken. Dabei geraten viele der eigentlichen politischen Botschaften des Buches in den Hintergrund (Ventura, 2022, S. 6).Auf ihrem Popkanal präsentiert Giorgia Meloni ein attraktives Bild von sich selbst, das ihre kulturellen und politischen Ansichten in den Hintergrund drängt. Diese Ansichten spiegeln u.a. ein ambivalentes Verhältnis zum italienischen Faschismus und Postfaschismus wider. Laut Ventura (2022, S. 6) propagiert sie die Idee einer illiberalen und organisierten Gesellschaft, die auf einer reaktionären Auslegung der individuellen Rechte beruht, wobei das Individuum stets der Familie und der Gemeinschaft verpflichtet ist. Sie vertritt auch einen essentialistischen und ethnozentrischen Nationalismus und relativiert die Werte, die nach dem Sieg über den nationalsozialistischen Totalitarismus entstanden sind. Trotz ihres reaktionären Weltbildes, welches einen stark vereinfachenden Gegensatz zwischen Volk und Elite sowie eine verschwörungstheoretische Interpretation der Realität beinhaltet, kann ihre Kommunikation als erfolgreich bewertet werden (ebd.).Die laufende Legislaturperiode erstreckt sich über weitere vier Jahre, was normalerweise keine typische Amtszeit für italienische Regierungschefs ist. Diese Ausdauer wird der Rechtsnationalistin jedoch zugute gehalten. Berichte über die verschiedenen Angriffe der Regierung auf die Pressefreiheit zeigen auf, dass es Verleumdungsklagen und Versuche gibt, die öffentliche Rundfunkanstalt RAI auf Linie zu bringen, indem sie ihre eigenen Leute in der Leitung beruft und kritische Programme streicht (Braun, 2023). Sie habe den staatlichen Fernsehsender RAI weitgehend unter ihre Kontrolle gebracht. Einige Leute würden bereits über "Tele-Meloni" spotten, allerdings stellen Privatsender keine große Bedrohung dar, da viele von ihnen der Familie von Silvio Berlusconi gehören (ZEIT ONLINE, 2023). Ein weiteres Beispiel dafür ist die Streichung des Programms des prominenten Anti-Mafia-Journalisten und Aktivisten Roberto Saviano (Braun, 2023).Melonis Umgestaltung hat für die Frage nach der Kontinuität, Mäßigung oder Radikalisierung der Partei in der Regierung eine doppelte Bedeutung. Einerseits zeigt Meloni ihre "Nähe zum Volk", was ein typisches Merkmal populistischer Parteien ist. Auf diese Weise betont sie ihre anti-elitäre und volkszentrierte Haltung, die seit der Gründung der FdI besteht. Auf der anderen Seite zeichnet sich ihre Rhetorik durch eine bürgerliche Aura aus, die durch Werte wie den Respekt vor der EU, der Rechtsstaatlichkeit, der nationalen Sicherheit und den Rechten der Frauen unterstrichen wird. Diese Betonung von Gewöhnlichkeit und Bürgersinn verbirgt jedoch radikalere ideologische Aspekte der neuen Regierung unter Meloni. Es handelt sich um eine Strategie, die darauf abzielt, eine bürgerliche Fassade zu schaffen. Diese Strategie ist von radikalen populistischen Rechtsparteien in Europa als Versuch bekannt, Ideologie und Politik zu mäßigen und sich selbst in führende Machtpositionen zu bringen (Griffini, 2023).Deutlicher Rechtsruck?"Es hätte schlimmer kommen können" – so lautete nicht nur der Titel eines Beitrags im Deutschlandfunk Kultur über das erste Jahr von Giorgia Meloni als Regierungschefin in Italien. Dieser Tenor stand im Mittelpunkt vieler Analysen zu ihrem Jahrestag als Ministerpräsidentin. In zahlreichen Medien wurde bezeugt, dass sie sich in ihrem ersten Amtsjahr weitaus gemäßigter verhalten hat als erwartet. "Die gefährlichste Frau Europas" sei sie keinesfalls (Seisselberg & Kolar, 2023, zit. nach Galetti, 20230). Die Grundaussage war, dass die Faschisten nicht so besorgniserregend seien wie befürchtet. Es scheint, als hätte Giorgia Meloni den inneren Frieden in Italien bisher nicht gefährdet und als bleibe das Land eine "stabile" parlamentarische Demokratie mit intakten Institutionen. Insbesondere in grundlegenden Bereichen wie der Außenpolitik und der Wirtschaft wird betont, dass Melonis Regierung nicht als Bedrohung für die Europäische Union gesehen wird. Die bisherige Amtszeit Melonis wird als eher konventionelles Regieren bezeichnet (Reisin, 2023). Sie sei "gekommen, um zu bleiben" und innerhalb weniger Monate zu einer "festen Größe" geworden (ZEIT ONLINE, 2023).Andere Journalist:innen sind jedoch der Meinung, dass die Gefahr in den Details liege. Sie argumentieren, dass Meloni sehr geschickt agiere und es fraglich sei, ob sich ihre politische Haltung überhaupt geändert habe (Reisin, 2023). Seeßlen (2023) warnt davor, Italien als eine Demokratie mit einer rechten Regierung zu betrachten. Stattdessen beschreibt er das Land als einen Ort, an dem die Verbindung von neoliberaler Postdemokratie und funktionalem Postfaschismus exemplarisch erprobt werde. Die Gesamtheit dieser Transformation könnte übersehen werden, da es der Regierung unter Meloni noch gelingt, nicht alle Aspekte ihrer Machtübernahme deutlich erkennbar zu machen. Die Rhetorik von Populisten ist bekanntermaßen darauf ausgerichtet, extreme Positionen vor der allgemeinen Öffentlichkeit zu verbergen. Auch das kommunistische Online-Portal Contropiano (zit. nach Feldbauer, 2023, S. 81) hat vor der Gefahr gewarnt, Meloni zu unterschätzen, da sie ihr reaktionäres Weltbild mit rechtsextremen, nationalistischen, fremdenfeindlichen und homophoben Positionen gegenüber der EU mit der Inszenierung als vernünftige und verantwortungsbewusste Politikerin kaschiere. Die Frage nach einem möglichen Rechtsruck in Italien wird kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite wird der Wahlsieg Melonis als Teil einer allgemeinen europäischen Tendenz hin zum rechten Spektrum gedeutet. Auf der anderen Seite wird betont, dass die Regierung unter Meloni eine gewisse Kontinuität mit den politischen Entwicklungen der letzten 30 Jahre in Italien aufweist und somit nicht als radikaler Neuanfang zu interpretieren ist. Melonis Erfolg wurde vor allem auch durch die Enttäuschung über etablierte politische Figuren begünstigt (Livi & Jansen, 2023).FazitAls Giorgia Meloni mit ihrer postfaschistischen Partei Fratelli d'Italia die Wahlen gewann, stellte sich in ganz Europa die Frage, wie mit ihr umgegangen werden sollte. Ob diese Frage nun vollständig geklärt ist, erscheint ungewiss. Für viele macht Meloni bisher jedoch einen relativ gemäßigten Eindruck. Die Zusammenarbeit mit der EU wirkt jedoch eher zweckorientiert als von tiefer Überzeugung getragen. Obwohl Meloni eine pro-europäische Haltung einnimmt, kann man sie nicht uneingeschränkt als überzeugte Verfechterin der EU bezeichnen. Während sie eine gemäßigte Außenpolitik verfolgt, engt sie im Inneren die Freiheit der Medien ein, limitiert die Rechte von Minderheiten und stellt die Elternschaft gleichgeschlechtlicher Eltern in Frage. Trotz der Befürchtungen über eine mögliche Radikalisierung der FdI deuten die gegenwärtigen Anhaltspunkte in eine andere Richtung. Angesichts dieser Erkenntnisse lässt sich ableiten, dass die FdI zweifellos als populistisch-radikale Rechtspartei agiert, die zur Mäßigung tendiert. Weite Teile zeigen die Kontinuität der Partei mit den Wahlaussagen von 2022, obwohl einige Schwankungen in Richtung Radikalisierung erkennbar sind. Es bleibt abzuwarten, ob sie diesen gemäßigten Ansatz in der Migrationsdebatte langfristig beibehalten wird, oder ob sie angesichts der steigenden Zahlen von Geflüchteten zu einer aggressiveren Rhetorik und Politik zurückkehrt. Obwohl eine Legislatur auf dem Papier fünf Jahre dauert, liegt die durchschnittliche Dauer italienischer Regierungen bei 18 Monaten (Siefert, 2023). Die Prognosen bezüglich Melonis politischer Zukunft sind vorsichtig optimistisch, wobei einige spekulieren, dass sie eine längere Amtszeit haben und sogar zur Galionsfigur der "neuen Rechten" in Europa werden könnte. Die Vergangenheit hat jedoch gezeigt, dass sich solche Vorhersagen als irreführend erweisen können (ZEIT ONLINE, 2023).Insgesamt scheint es, als fehle es in Italien an Diskursen und Ideen sowie Kraft für Widerstand. Die italienische Gesellschaft, die aus widersprüchlichen Lagern der Linken und der katholischen Gemeinschaft sowie aus den nördlichen, mittleren und südlichen Teilen besteht, ist zersplittert. Von der Opposition kommt wenig Kritik an der aktuellen Regierung und es scheint, als ob ihr die Herausforderungen, vor denen Italien steht, noch weniger zugetraut werden. Bei vielen sozialen Fortschritten der letzten Jahre, einschließlich der Errungenschaften im Kampf gegen die Mafia, der Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder auch Maßnahmen gegen Verfall von Bildung und Infrastruktur deutet sich ein Rückschritt an. Der Weg in Richtung einer offenen und toleranten Gesellschaft wird unter Melonis Führung stark gehemmt. Mit der Postfaschistin an der Macht wird in Italien eine rückwärtsgerichtete Umkehr angestrebt, ganz im Sinne eines reaktionären Katholizismus. Literatur Angeli, O. 2023: Giorgia Meloni und die Migrationsfrage. Rückblick auf ein Jahr Regierung, MIDEM-Policy Paper 2023-4, Dresden. Baker, K. & Palmieri, S. (2023). Können weibliche Politiker die gesellschaftlichen Normen der politischen Führung stören? Eine vorgeschlagene Typologie des normativen Wandels. International Political Science Review, 44(1), 122–136. https://doi.org/10.1177/01925121211048298 Brandl, L. & Ritter, A. (2022). Wenn Italien wackelt, schwankt die EU: Darum ist Giorgia Meloni die gefährlichste Frau Europas. https://www.stern.de/politik/ausland/wahlen-in-italien--ist-giorgia-meloni-die-gefaehrlichste-frau-europas--32742572.html De Giorgi, E., Cavalieri, A. & Feo, F. (2023). Vom Oppositionsführer zum Premierminister: Giorgia Meloni und Frauenfragen in der italienischen radikalen Rechten. Politik und Governance, 11(1). https://doi.org/10.17645/pag.v11i1.6042 Feo, F. & Lavizzari, A. (2021): Fallstudie Italien; in: Triumph der Frauen? Das weibliche Antlitz des Rechtspopulismus und -extremismus in ausgewählten Ländern, Heft 06, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) - Forum Politik und Gesellschaft, online unter: https://www.fes.de/themenportal-gender-jugend-senioren/ gender-matters/artikelseite/fallstudie-italien. Finchelstein, F. (2017). Populismus als Postfaschismus – Essay. BPB.de. https://www.bpb.de /shop/zeitschriften/apuz/257672/populismus-als-postfaschismus-essay/ Griffini, M. (2023). Auf dem Grat zwischen Mäßigung und Radikalisierung: Die ersten 100 Tage der Meloni-Regierung. Quaderni dell Osservatorio elettorale QOE - IJES. https://doi.org/10.36253/qoe-14413 Latza Nadeau, B. (2018): Femme Fascista: Wie Giorgia Meloni zum Star der extremen Rechten Italiens wurde, in: World Policy Journal, 35, 2, 2018. Livi, M. & Jansen, C. (2023). Giorgia Meloni und der Rechtsruck in Italien: Eine Analyse fünf Monate nach der Wahl. Leviathan, 51(2), 169–185. https://doi.org/10.5771 /0340-0425-2023-2-169 Lutz, Philip (2021): Neubewertung der Gap-Hypothese: Hartes Reden und schwaches Handeln in der Migrationspolitik? In: Party Politics, 27(1), S. 174–186. Verfügbar unter: https://doi. org/10.1177/1354068819840776Moroni, C. (2019): La politica si fa immagine: la narrazione visual del Leader politico, in: H-ermes. Zeitschrift für Kommunikation, 15. 2019.Oliviero, A. (2023). Giorgia Meloni und die Migrationsfrage. 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