Wann, wo, wie, für wen und warum macht man Theater? Fünf leitende W-Fragen stecken in der aktuellen Buchpublikation von Eugenio Barba und Nicola Savarese die titelgebenden fünf Kontinente des Theaters ab. Das vorliegende Resultat – ein umfassender, großformatiger und an Bildmaterial reicher Band – der jahrzehntelangen Zusammenarbeit und intellektuellen Komplizenschaft zwischen dem Gründer des Odin Teatret und dem Theaterwissenschaftler erschien 2017 auf Italienisch und liegt inzwischen in englischer, französischer, rumänischer und spanischer Übersetzung vor. Ein Zitat von Eugenio Barba auf dem Umschlag der 2020 erschienenen französischsprachigen Ausgabe, das mit einem impliziten Verweis auf Paul Gauguins gleichnamiges Gemälde beginnt, lässt Ziele und Struktur der Publikation erahnen: "Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir die unzähligen Formen, Erfahrungen, Überreste und Rätsel, die uns die Geschichte unseres Berufs vermacht hat, aus einer anderen Perspektive betrachten. Nur auf diese Weise können wir einen persönlichen Kompass bauen, um die fünf Kontinente unseres Berufs zu durchqueren […]". (Übers. LB) Die Beitragenden des Buchs stammen allesamt aus der italienischen Theaterwissenschaft und dem Umfeld des Odin Teatret, der ISTA bzw. der Fachzeitschrift Teatro e Storia. Neben den Herausgebern exemplarisch zu erwähnen sind Fabrizio Cruciani († 1992), Ferruccio Marotti, Ariane Mnouchkine, Franco Ruffini, Mirella Schino (die 2008 das Odin Teatret Archive gegründet hat), Ferdinando Taviani († 2020) und Julia Varley (seit 1976 Truppenmitglied des Odin Teatret). Savarese zeichnet in seinem Vorwort den über 20 Jahre umspannenden Entstehungsprozess des vorliegenden Buchs nach. 1996 wurde in Gesprächen mit italienischen Theaterforschenden der Wunsch ausgedrückt, das strukturelle und gestalterische Prinzip der seit 1983 mehrfach wiederaufgelegten, überarbeiteten und in zahlreiche Sprachen übersetzten Anatomia del teatro von 1983 (dessen erneuerte Version den Titel L'arte segreta dell'attore. Un dizionario di antropologia teatrale trägt) aufzugreifen, um wiederum die Techniken von Akteur*innen zu studieren, allerdings unter einem veränderten Blickwinkel: Standen im Theateranthropologie-Lexikon körperlich-mentale Techniken und prä-expressive Qualitäten im Zentrum, widmet sich Les cinq continents du théâtre der Geschichte und Gegenwart von Theater aus der Perspektive der "techniques auxiliaires" (S. 7) der materiellen Kultur von Akteur*innen. Welche sind aber diese Hilfs- bzw. Nebentechniken? Es handelt sich um die strukturellen, organisatorischen, sozialen, räumlichen, ökonomischen, politischen Faktoren von Theaterarbeit, die im Buch auf transhistorische und transkulturelle Weise präsentiert werden. Les cinq continents du théâtre ist ein eigenwilliges Buch. Mit seinen ca. 1400 Abbildungen, seiner Gleichwertigkeit von aufeinander Bezug nehmenden Bild- und Textelementen, seiner Bibliografie, seinem Namens- und Stichwortverzeichnis ist das Ergebnis weder ein Lexikon noch ein Bildband oder ein theatergeschichtliches Handbuch. Raimondo Guarino wählt in seiner auf dem Buchdeckel zitierten Rezension den stimmigen Begriff Almanach, um die Zusammenstellung aus verschiedensten Textsorten, wissenschaftlichen Analysen, Dialogen, Chronologien, Anekdoten, Bildern und vielsagenden Bildlegenden zu kategorisieren. Sechs Kapitel ("Quand", "Ou", "Comment", "Pour qui", "Pourquoi", "Théâtre et histoire") und ihre insgesamt über 130 durchnummerierten Unterkapitel präsentieren auf mäandernde Weise Aspekte des Theaterschaffens weltweit. Das konsequent heterogene Bildmaterial im Buch umfasst u. a. Satellitenaufnahmen von Sonneneruptionen, Buster-Keaton-Filmstandbilder, Hoffest-Kupferstiche, Saalpläne, japanische Holzschnitte, historische und zeitgenössische Fotografien von (Toten-)Masken, prähistorischen Skulpturen, Lipizzaner-Dressur, balinesischen Neujahrsfesten, Eintrittskarten, Butoh-Tänzer*innen, Theaterbränden, Fronttheater, sowie Gemälde und Grafiken zu Publikums-Krawall, Schausteller*innen, Hinrichtungen, römischen Zirkuselefanten, sowie acht Seiten mit Sonderbriefmarken zu Ehren von Schauspieler*innen und Dramatiker*innen. Die Lektüre eines konventionellen theatergeschichtlichen Buchs suggeriere, so die Herausgeber, dass alles klar, quantifizierbar und in Form von Ursachen und Wirkungen beschreibbar sei, "[m]ais sous cette évidence rassurante coule une histoire souterraine que ne se laisse pas enfermer dans les interprétations linéaires élaborées a posteriori." (S. 10) Das erste Kapitel des Buchs widmet sich textuell und bildlich dieser unterirdischen Geschichte aus der Perspektive der Zeitlichkeit: Wann wurde und wird Theater gemacht? Markante Momente von zeitlicher Gebundenheit in der europäischen und internationalen Theatergeschichte werden skizziert, religiös-politisch motivierte Festkalender mit ihren kleinen oder größeren Zeitfenstern für Theaterpraxis beschrieben. Gemeinschaftliche Feste als Unterbrechung des gewöhnlichen Zeitverlaufs – Dionysien, Karneval, Narrenfeste – mit ihrem Simulakrum sozialer Unordnung finden im ersten Kapitel ihren Platz, sowie ein Panorama diverser Ursprungsmythen (Europa, Indien, China etc.) von Theater. Wann haben Menschen begonnen zu tanzen, zu repräsentieren, sich zu kostümieren und zu maskieren? Inwiefern sind Theater und Schamanismus, Halluzinationen, Trancezustände historisch miteinander verbunden? Der vermutliche "Bocksgesang" der antiken griechischen Tragödie wird im Sinne einer theateranthropologisch interessierten, alternativen Etymologie nach Vittore Pisani auf die illyrischen Wurzeln trg (Markt) und oide (Gesang) zurückgeführt. Diese Herleitung verknüpft die Ursprünge des westlichen Theaters mit einem konkreten Beruf – der Straßendichter, Rhapsoden, fahrenden Sänger – und bietet eine Verbindung zu den buddhistischen Erzählkünstlern zur Entstehungszeit dramatischer Kunst im asiatischen Raum. Es folgen historische Abrisse zur Entwicklung des Mäzenatentums, hin zum Bezahltheater (mit Verweis auf Raufereien um Gratis-Theaterkarten) und der Funktion von Impresarios (u. a. Domenico Barbaja, Lewis Morrison, Sergei P. Djagilew, Loïe Fuller, Max Reinhardt). Vier farbig unterlegte Seiten bieten eine "petite anthologie de la censure" (S. 44) mit Schlaglichtern auf ausgewählte Fälle, darunter Auftrittsverbote für Frauen, der Theatrical Licensing Act (1737), die Theaterzensur in Frankreich von der Revolution bis zu Napoleon, die kirchliche Zensur in Lateinamerika ab der frühen Neuzeit, das Kabuki-Verbot in Japan unter US-amerikanischer Besatzung nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Sinne der antimilitaristischen Umerziehungsideologie und die Anekdote der Rettung des Kabuki durch den US-Amerikaner Faubion Bowers. Das zweite Kapitel streift erneut die bereits erwähnten Genese-Mythen, die Entwicklungen von Berufsschauspiel und von Theater in Innenräumen, allerdings aus der Perspektive der Orte und Räume für Theaterpraxis. Wo finden Akteur*innen ihren Platz? In Baracken, Kellern, sogenannten Laboratorien und Ateliers, unter freiem Himmel, in Theaterarchitekturen, auf Straßen etc. Die erste Doppelseite des Kapitels zeigt eine suggestive Bilder-Montage, bestehend aus einer Saalansicht des Teatro San Carlo in Neapel, dem (bescheiden-funktionalen) Saal des Teatro Experimental de Alta Floresta sowie dem (repräsentativen) Teatro Amazonas in Brasilien, das laut Bildlegende 1896 eröffnet wurde, mit importierten Dachschindeln aus dem Elsass, französischen Textilien, Stahl aus England, Marmorsäulen und -statuen aus Italien. Die Autor*innen der folgenden Unterkapitel nehmen die Kreisform zum Anlass für Überlegungen und Bebilderungen zu Genese-Mythen, Stadtentwicklung, frühen Publikums-Konstellationen, Rundtänzen, antiken Theaterbauten. Mittels Freilufttheater, Bänkelsängern und Scharlatanerie wird die Entwicklung vom Verkauf von Produkten zum Verkauf von Aufführungen illustriert, gefolgt von Rückgriffen auf die Spielorte der frühen Neuzeit durch Vertreter*innen der historischen Avantgarden (u. a. Wsewolod Meyerhold, Jacques Copeau). In einer theaterhistorisch internationalen Rundumschau werden in Kürze die Spielorte mittelalterlicher Aufführungspraktiken sowie erste Theaterbauten in England, Frankreich, Spanien, Indien, Japan, China, den USA, Lateinamerika, Italien thematisiert, bis hin zur Entwicklung der Konvention der Guckkastenbühne bzw. des Rang-Logen-Theaters, basierend auf Renaissance-Interpretationen antiker Theaterbauten, und nicht auf den Spielpraktiken von Akteur*innen. Mirella Schino argumentiert, dass "das Theater im italienischen Stil [das Rang-Logen-Theater mit Guckkastenbühne, Anm. LB] als autonomes Denkmal seine Entstehung dem abstrakten Wunsch verdankt, bedeutungsvolle Orte für die ideale Stadt zu schaffen. Es entstand als eine Reflexion in Verbindung mit der Architektur – mit der Nostalgie eines Ursprungs im griechischen und römischen Theater – und nicht in Verbindung mit der Aufführung und der materiellen Kultur der Schauspieler" (S. 132, Übers. LB). "[l]e théâtre à l'italienne, en tant que monument autonome, doit sa naissance à un désir abstrait de créer des lieux signifiants pour la ville idéale. Il naît comme une réflexion liée à l'architecture et non au spectacle et à la culture matérielle des acteurs, avec la nostalgie d'une origine dans le théâtre grec et romain." (S. 132) Das dritte Kapitel fragt nach dem Wie. Wie wird man Akteur*in? Wie wird theatral agiert? Bücher für Akteur*innen, über Trainings- und Arbeitsmethoden seien "compagnons de voyage" (S. 158) und böten manchmal, wie z. B. Antonin Artauds Das Theater und sein Double, "des mots-talismans" (S. 158) die auf intuitive Weise bei der Orientierung helfen. Acht farbig unterlegte Seiten bieten eine Gegenüberstellung von "acculturation" und "inculturation" (S. 160) als mögliche Wege zum Theaterberuf, sowie einen Überblick zu Ausbildungsarten (Meister, Gurus, gegenwärtige Schauspielschulen und Theaterlaboratorien), Techniken und theateranthropologischen Ansätzen. Der Wandel der Techniken der Akteur*innen seit dem 19. Jahrhundert wird unter dem – in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft wenig geläufigen – Begriff der "Grande Réforme" (erste Phase 1876–1939, zweite Phase 1945–1975) bearbeitet und illustriert. Eine umfassende Chronologie historischer Ereignisse und theatergeschichtlicher Wegmarken zeichnet Entwicklungen ab Richard Wagners Gesamtkunstwerk-Konzept nach, über die "fondateurs de traditions" (S. 169) zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zu experimentellen Truppengründungen und Praktiken der 1970er-Jahre, im Zeichen eines Neuauslotens von retheatralisiertem, von der Literatur emanzipiertem, gattungsübergreifendem Theater. Das Kapitel befasst sich aber ebenso mit dem Naheverhältnis von technischem und ästhetischem Wandel, etwa im Fall des Bühnenlichts, sowie mit diversen Spielmodi (Clowns, Puppentheater, Maskentheater) und dem Spiel mit Requisiten (wobei das Taschentuch und der Stuhl jeweils eine eigene Bilder-Doppelseite in Anspruch nehmen), denn "[l]es objets possèdent l'acteur", sie sind "seine Prothesen, seine Auswüchse, seine Fesseln, die den Akteur dazu zwingen zu reagieren, das Gleichgewicht zu verlieren, zu übertreiben, zu vereinfachen" (S. 216, Übers. LB). Das Publikum steht im Zentrum des vierten Kapitels. Zuschauer*innen in allen Aggregatszuständen werden bildlich dekliniert: wartend vor der Aufführung, Schlange stehend, raufend, gähnend, weinend, enthusiastisch, als Attentäter. Verschiedene soziale Schichten als Zuschauer*innen und ihre jeweilige Sitzordnung (z. B. im Kolosseum, in einem Teehaus in Peking) werden beschrieben, sowie Verhaltensweisen von teilnehmendem Publikum im Karneval und als "spect-acteurs" (S. 288) bei Augusto Boal, aber auch die Sonderform des unfreiwilligen Publikums, etwa von Performances im öffentlichen Raum. Ein Exkurs zu Epidemien und Theaterpublikum – mit Verweis auf Pestepidemien zur Zeit der Entstehung von Berufsschauspiel in Europa – präsentiert das Foto eines Mundschutz-tragenden Publikums einer Aufführung in Taipei im Kontext der SARS-Epidemie 2003. Auch die Frage nach dem Theaterpublikum in politischen und sozialen Ausnahmezuständen wird beleuchtet, vom Fronttheater, Aufführungen in Gefangenenlagern, Gefängnissen, NS-Konzentrationslagern, bis zu aktuellen Fällen, u. a. 2015 im türkischen Flüchtlingslager Midyat und anlässlich einer Hamlet-Aufführung im Flüchtlingslager "La Jungle" in Calais 2016. Warum überhaupt Theater machen? Was ist der Motor dieses anstrengenden Tuns? Das fünfte Kapitel, eines der lesenswertesten des vorliegenden Buchs, beginnt mit dem Gemälde Die Gärtner von Gustave Caillebotte nebst Fotografien der mutwilligen Zerstörung von Theaterbauten und der Rekonstruktion von historischen Theatergebäuden, begleitet von einer Überlegung zur Gärtner-Metapher in Shakespeares Othello (der Körper als Garten, der Wille als Gärtner) und bei Rudyard Kipling (Gärtnerarbeit müsse oft kniend gemacht werden). Die ökonomische Begründung wird nahegelegt – denn europäisches Theater sei nicht aus dem griechischen Ritual entstanden, sondern auf italienischen Märkten des 16. Jahrhunderts. Hinweise auf ästhetische und vor allem ethische Beweggründe für Theaterschaffen im Zuge der "Grande Réforme" und die Utopie des "éternel premier pas" (S. 299) bilden die Basis für das umfangreichere Unterkapitel "Petite encyclopédie sur l'honneur de l'acteur" (S. 300), in welchem Individuen präsentiert werden, die inmitten von und trotz Diskriminierung, Sklaverei, politischer Unterdrückung und Verfolgung, sozialer Missstände als Theaterakteur*innen aktiv waren bzw. sind, u. a. Ira Aldridge, Patricia Ariza, Josephine Baker, Wsewolod Meyerhold, Norodom Bopha Devi, Hedy Crilla, die Moustache Brothers. Die Autor*innen gehen ebenfalls in Kürze auf Verbindungen von Sexarbeit und Tanz bzw. Schauspiel in verschiedenen Ländern ein, sowie auf Theater "in der Hölle" (Gulag, NS-Konzentrationslager), auf kolonialistische "Menschenzoos". Zwölf farbig unterlegte Seiten, betitelt als "Florilège sur la valeur du théâtre" (S. 324), überlassen schließlich Theaterleuten das Wort und geben Textauszüge von Adolphe Appia, Antonin Artaud, Julian Beck, Walter Benjamin, Augusto Boal, Bertolt Brecht, Peter Brook, Enrique Buenaventura, Jacques Copeau, Isadora Duncan, Hideo Kanze, Sarah Kane, Jewgeni B. Wachtangow, Ariane Mnouchkine und anderen wieder. Das Reise-Motiv bestimmt die anschließenden Unterkapitel, von den Fahrzeugen und Gepäckstücken reisender Truppen über die geografischen und kulturellen Reisen von Theatermasken, bis hin zu Reisen von Körpertechniken mittels Tourneen, Exkursionen, internationaler Streuung durch ehemalige Schüler*innen bzw. Flucht und Exil (illustriert durch eine Karte der zahlreichen Exil-Stationen Brechts 1933–1947). Beerdigungsprozessionen als letzte Reise sowie die Weitergabe und Übersetzung von Theatertechniken in Form von Büchern, Zeitschriften, Spiel- und Dokumentarfilmen beenden das Warum-Kapitel. Das sechste Kapitel, "Théâtre et histoire. Pages tombées du carnet de Bouvard et Pécuchet" (S. 370), dient primär der Wiedergabe von Bildmaterial, das durch seine Anordnung und Kontrastierung zum Sprechen gebracht wird: Internationale Briefmarken und (Presse-)Fotografien bilden die Basis für Doppelseiten zu Theater und Aufständen, Protestbewegungen, Kriegen, Theatermasken und Schutzmasken (Gasmasken, Sturmmasken, Maskierung als Anonymisierung bei Demonstrationen), Theatergebäuden und massiver Zerstörung durch Tsunamis oder Bomben. Theaterbrände, ikonografische und mediale Inszenierungen von Hinrichtungen, die Thematisierung des Holocaust auf der Bühne folgen. Anstelle von Theatergeschichte werden im Abschlusskapitel Theater und Geschichte (im Sinne von Teatro e storia) als Montage präsentiert. Die letzte Doppelseite ist schwarz unterlegt: Links ist ein Foto von Frauen mit Schminkmasken in El Salvador zu sehen, die gegen das herrschende Abtreibungsverbot protestieren, rechts ein Porträtfoto von Pjotr A. Pawlenski mit zugenähtem Mund, begleitet von einem Abschlusszitat von Barba. Es werde immer einige Personen geben, die Theater als Mittel praktizieren, um ihre eigene Revolte auf nicht zerstörerische Weise zu kanalisieren; Personen "die den scheinbaren Widerspruch einer Rebellion erleben werden, die sich in ein Gefühl der Brüderlichkeit verwandelt, und eines einsamen Berufes, der Verbindungen schafft" (S. 395, Übers. LB). Jedes Kapitel des Buchs wird eingeleitet von einem Dialog zwischen zwei Stellvertreter-Figuren von Barba und Savarese: Bouvard und Pécuchet. Es handelt sich um die Protagonisten eines posthum veröffentlichten satirischen Romanfragments von Gustave Flaubert – zwei Pariser Kopisten, die sich zufällig auf einer Parkbank kennenlernen und voller Enthusiasmus und Naivität ein gemeinsames Projekt in Angriff nehmen: aufs Land ziehen und Landwirtschaft betreiben. Als frenetische Leser wollen sie immer mehr erkunden und kultivieren ihr zerebrales und oberflächliches Wissen in den Bereichen Gärtnerei, Schnapsbrennerei, Chemie, Zoologie, Medizin, Archäologie, Politik, Gymnastik, Religion, Theater etc. Die Wahl dieser Stellvertreter durch die Herausgeber bringt eine durchaus sympathische Ironisierung ihrer Positionen und künstlerisch-wissenschaftlichen Biografien mit sich, aber auch eine verbesserte Zugänglichkeit für Leser*innen mittels der lockeren und teils amüsanten Dialoge. Die niederschwellige und im Konkreten fußende Methode der fünf W-Fragen als roter Faden für die Arbeitsweise am Inhalt und an der Struktur des Buchs, sowie die Wertschätzung von heterogenem Bildmaterial für die Erkundung von Theaterpraktiken machen Les cinq continents du théâtre für Forschende (insbesondere für jene, die mit Ansätzen von Barba/Savarese noch nicht eng vertraut sind), für Theaterpraktiker*innen und für Studierende zu einem ausgezeichneten Entdeckungs- und Orientierungsband.
Der Klimawandel ist wahrscheinlich die größte Herausforderung, mit der die Menschheit je konfrontiert war, da die Ernährungssicherheit von Milliarden Menschen bedroht ist. Extreme klimatische Ereignisse beeinflussen die Nahrungsmittelproduktion auf der ganzen Welt. Insbesondere kleine, auf marginalen Flächen in Südasien ansässige Landwirte sind vom Klimawandel betroffen und in ihrer empfindlichen Lebensgrundlage stark beeinträchtigt. Diese Dissertation entwickelt Strategien und Empfehlungen, um die sozioökonomischen und ökologischen Auswirkungen des Klimawandels zu mildern. Die Forschungsarbeit bietet politischen Entscheidungsträgern Erkenntnisse über Optionen, die Widerstandsfähigkeit der durch Klimawandel gefährdeten Bauerngemeinschaften in der nordöstlichen Region Indiens (NEI) zu fördern. Um die sozioökonomischen Dimensionen der betroffenen Interessengruppen im NEI Agrarsektor für die Bewältigung der Auswirkungen des Klimawandels zu untersuchen, werden mehrere sozialwissenschaftliche Methoden kombiniert. Diese Dissertation analysiert Wahrnehmungen, Prioritäten und Perspektiven (der zukünftigen Entwicklung) von Interessensgruppen aus dem Agrarsektor und präsentiert die gewonnenen Erkenntnisse in sieben Kapiteln. Das erste Kapitel liefert Hintergrundinformationen zur Motivation dieser Doktorarbeit, zum Studiengebiet sowie zu den Forschungsfragen und den verwendeten Methoden um diese Fragen zu beantworten. Diese Dissertation konzentriert sich vor allem auf die nordöstliche Region Indiens, welche in acht Bundesstaaten gegliedert ist. Obwohl diese acht Bundesstaaten eine enorme kulturelle und topografische Vielfalt aufweisen, wird die gesamte Region in nur eine agroklimatische Zone eingestuft. Für diese Studie wurden 797 landwirtschaftliche Haushalte durch Leitfadeninterviews befragt. Darüber hinaus wurden 21 Brainstorming-Sitzungen durchgeführt, um Daten von Feldforschern und landwirtschaftlichen Beratern (aus Krishi-Vigyan-Kendra-Zentren) zu erfassen und damit die Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken des Landwirtschaftlichen Forschungs- und Beratungssystems (Agricultural Research and Extension System, ARES) im Nordosten Indiens zu analysieren. Außerdem nahmen 21 Experten der Institute des Indian Council of Agricultural Research (ICAR) sowie die Leiter von 14 Krishi-Vigyan-Kendra-Zentren an drei Runden eines Delphi-Experiments teil, um mögliche Strategien und Politikmaßnahmen zu bestimmen, welche die klimatische Widerstandsfähigkeit im NEI Agrarsektor verbessern. Das zweite Kapitel analysiert die durch die Befragung von 797 landwirtschaftlichen Haushalten gesammelten Daten, um zu bewerten wie der Klimawandel, seine Auswirkungen und Anpassungsmaßnahmen durch die Landwirte wahrgenommen werden. Die Ergebnisse zeigen, dass die untersuchten Landwirte sich des Klimawandels durchaus bewusst sind und wissenschaftlich unterstützte Maßnahmen zur Sicherung ihrer Lebensgrundlage für notwendig halten. Die Landwirte verzeichneten wiederkehrende Ertragsverluste aufgrund von Niederschlagsschwankungen und Temperaturerhöhungen. Außerdem beobachteten die Landwirte einen Rückgang der Wasserressourcen für die Landwirtschaft und eine Verschlechterung der allgemeinen landwirtschaftlichen Produktivität aufgrund von klimatischen Veränderungen. Berichtete Anpassungen der Landwirte umfassen den Anbau von Mischkulturen, Sortenwechsel, Bodenschutz, Errichtung von Tierunterständen, Impfungen, Einführung moderner Tierfütterungssysteme sowie weitere Maßnahmen zur Aufrechterhaltung ihres Betriebseinkommens. Diese Maßnahmen sind allerdings nur bedingt geeignet, um die Landwirte nachhaltig gegen die Wirkungen des Klimawandels zu schützen. Mangelndes Bewusstsein für Änderungen, kostspielige Inputs, fehlende Kredite, schlechte Bodenfruchtbarkeit und Transportprobleme in hügeligen Gebieten beeinträchtigen eine wirksamere Anpassung der Landwirte. Das dritte Kapitel der Dissertation untersucht Einflussgrößen der Wahrnehmung des Klimawandels durch Landwirte. Mit einem logistischen Regressionsmodell werden die Einflüsse von 36 sozioökonomischen und biophysikalischen Faktoren untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass insbesondere das Geschlecht des Hausherrn (männlich), Rinderbesitz, Wahrnehmung ungleichmäßiger Niederschläge, Realisierung von Veränderungen bei Waldprodukten und längere Entfernungen zu Märkten die Wahrnehmung des Klimawandels durch die Landwirte signifikant beeinflussen. Die Ergebnisse zeigen auch, dass die Landwirte den Klimawandel mit Entwaldung, Umweltverschmutzung und übermäßiger Fahrzeugnutzung in Verbindung bringen. Die Mehrheit der Landwirte sieht den Klimawandel durch eigene Beobachtungen bestätigt und ist empfänglich für Interventionen, um durch wissenschaftliche Beratung und Unterstützung (in Form von Technologien und Finanzierung) zukünftige Auswirkungen zu minimieren. Die Landwirte im NEI Agrarsektor empfinden im Rahmen des Klimawandels eine Mischung aus Ackerbau und Viehzucht als verhältnismäßig profitabel. Das vierte Kapitel analysiert Stärken, Schwächen, Chancen und Bedrohungen von ARES (mittels einer Strengths-Weaknesses-Opportunities-Threats-Analyse ) und stellt fest, dass externe Chancen nicht vollständig genutzt werden und interne, auf Organisationsmanagement beruhende Schwächen dominieren. Die Ergebnisse zeigen auch, dass viele Distrikte eine defensive Strategie wählen müssen, da die meisten von ihnen einen höheren Anteil an internen Schwächen und externen Bedrohungen aufweisen. Das System (ARES) sollte deshalb entschlossene Korrekturmaßnahmen ergreifen, um die Bürokratie zu minimieren und die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter zu erhöhen, indem es gleiche Wachstumschancen, Anerkennung und Anreize für die Leistungsträger bietet und eine Unternehmenskultur schafft, die die Würde des Einzelnen respektiert. Das fünfte und sechste Kapitel der Dissertation verwenden die Delphi-Technik, um mögliche Strategien zur Verbesserung der Widerstandsfähigkeit gegen Klimawandel zu bestimmen. Das fünfte Kapitel zeigt, dass (i) regenabhängige, wissenschaftsferne Landwirtschaft (ii) unzureichendes Angebot an Produktionsfaktoren (iii) geringe landwirtschaftliche Mechanisierung und Lebensmittelverarbeitung und (iv) geringe gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit kritische Herausforderungen im NEI Agrarsektor sind. Experten empfehlen massive Investitionen in die Nachernteverarbeitung und den Einsatz von integrierten Agrarsystemen, um die Widerstandsfähigkeit gegen Klimaeinflüsse und die Nachhaltigkeit im NEI Agrarsektor zu fördern. Das sechste Kapitel untersucht den Bedarf an notwendigen Kompetenzen sowohl für Change Agents als auch für indigene Bauern. Die Ergebnisse zeigen, dass Change Agents ihre Managementkompetenzen (d.h. die Verknüpfung der Landwirte mit dem Markt, Aufgeschlossenheit, Innovation bei der Problemlösung) verbessern sollten. Die Landwirte benötigen Kompetenzen in den Bereichen umweltfreundliche Landwirtschaft, Schutz der biologischen Vielfalt und Problemlösung auf Gemeindeebene. Experten empfehlen auch, dass Krishi-Vigyan-Kendra-Zentren bei der Umsetzung klimaschonender Strategien eine zentrale Rolle spielen sollten, da sie eine institutionelle Verbindung von Behörden zu landwirtschaftlichen Haushalten darstellen. Schließlich fasst das letzte und siebte Kapitel die wichtigsten Ergebnisse der Dissertation zusammen und empfiehlt politische Maßnahmen, um den Bedürfnissen der indigenen Landbevölkerung im Rahmen des Klimawandels gerecht zu werden und Politiken umzusetzen, welche die Klimabeständigkeit im Agrarsektor von NEI fördern. ; Climate change is probably the most alarming challenge ever faced by humankind as food security of billions is threatened. Extreme climatic events continue to affect food grain production across the world. Notably, the small, marginal and natural resource dependent farmers residing in South Asia are highly exposed to impacts of climate change as their fragile livelihood is severely affected. Therefore, this dissertation is designed to formulate and recommend strategies to mitigate the socio-economic and environmental impacts of climate change. This dissertation provides insights and options to policymakers that may foster the climate-resilience among vulnerable farming communities in the Northeastern region of India. This dissertation utilizes a multi-method approach to investigate the socio-economic dimensions of associated stakeholders to manage climate change impacts in the agricultural sector. This dissertation examines perceptions, priorities, and prospects (of future development) of stakeholders sampled from the agricultural sector of NER, which are presented across seven chapters. The first chapter briefly provides background information on the motivation for this study, the study area, the objectives and research questions, and the employed methods to answer these questions. This dissertation is primarily focused on the Northeastern region of India (NER), which is a cluster of eight states. Though, eight Northeastern states of India exhibit enormous cultural and topographical diversity, this entire region is categorized as a single agro-climatic zone. In this study, 797 farm households participated through semi-structured interviews. Further, 21 brainstorming sessions were also conducted to collect data from field level researchers/extension professionals (from Krishi Vigyan Kendras), to analyze strengths, weaknesses, opportunities and threats of Agricultural Research and Extension System (ARES) of NER. Also, 21 experts from ICAR institutes and Heads of 14 Krishi Vigyan Kendras, participated in three rounds of Delphi experiment to forecast strategies/strategy options that would shape policies to foster climate-resilience in the agricultural sector of NER. The second chapter analyses the data collected through the interviews of 797 farm households to assess farmers' perception of climate change, its impacts and adaptation actions. Results showed that sampled farmers were aware of climate change and expressed the need for scientific interventions to support their livelihood. Farmers experienced recurring losses in agricultural yield due to rainfall variability and increased temperature. Farmers also reported a decline in water resource for farming and deterioration of farm fertility because of changes in climate pattern. Farmers have adopted basic adaptations like mixed cropping, change of crop varieties, soil conservation, shelters for livestock, vaccination and scientific feeding of livestock, and similar practices to maintain their farm income that may not provide climate-resilience for a longer time. However, farmers are unable to succeed due to prominent constraints like unawareness of adaptations, costly inputs, lack of credit, poor soil fertility and transportation issues in hilly areas. The third chapter of the dissertation investigated determinants of farmers' perception of climate change using a logistic regression model by analyzing 36 socio-economic and biophysical attributes. Results showed that gender of head of farm household (male), cattle ownership, the perception of uneven rainfall, the realization of changes in forest produce and longer farm to market distance significantly shapes the farmers' perception of climate change. Results also revealed that farmers associate climate change to deforestation, pollution, and excessive vehicle use. Majority of farmers realized climate change through their experience and are potentially receptive to scientific interventions to minimize future impacts for which advisory services and assistance (in the form of technologies and funding) is recommended. Farmers of NER find a combination of crop farming with livestock relatively profitable in climate change scenario. The fourth chapter analyzed strengths, weaknesses, opportunities, and threats of ARES of NER (using SWOT analysis) and found that external opportunities are not fully exploited due to the over dominance of internal weakness, which are arising from organizational management issues. Results also revealed that many districts would need to adapt to defensive strategy as the majority of them exhibit a higher proportion of internal weaknesses along with external threats. The system (ARES) must undertake firm corrective measures to minimize the bureaucracy and to enhance the job satisfaction among employees by providing equal growth opportunities, recognition, and incentives for performers, as well as by creating an organizational culture that respects individuals' dignity. The fifth and sixth chapter of the dissertation utilized the Delphi technique to forecast the strategies/strategy options for enhancing climate-resilience. The fourth chapter revealed that (i) rainfall dependent unscientific farming (ii) inadequate input supply (iii) low extent of farm mechanization and food processing and (iv) low societal resilience are critical challenges for the agricultural sector of NER. Experts recommended massive investment for post-harvest processing and integrated farming systems to foster climate-resilience as well as sustainability in the agricultural sector of NER. The sixth chapter investigated the competency development needs for change agents as well as indigenous farmers. Results showed that upgradation of managerial competencies (i.e., linking farmers with the market, being open-minded, innovative in problem-solving) are required among change agents. Farmers need to be competent in the areas of eco-friendly farming, biodiversity conservation, and problem-solving at the community level. Experts also recommended that Krishi Vigyan Kendras have a pivotal role to play while implementing climate-smart strategies, as they are the institutional link to farm households. Finally, the last chapter (i.e., seventh chapter) summarized the key findings of the dissertation and recommended policy measures to cater the needs of indigenous farming communities in climate change scenario by implementing policies that foster climate-resilience in the agricultural sector of NER.
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1. EinleitungStädtereisen stehen derzeit hoch im Kurs. Dies wird unter anderem durch das schnelle Wachstum dieser Tourismusform deutlich. So verzeichneten die 33 wichtigsten städtetouristischen Destinationen zwischen den Jahren 2008 und 2017 in Bezug auf die Übernachtungsaufenthalte ein Wachstum von durchschnittlich 57 Prozent. Die große Beliebtheit spiegelt sich darüber hinaus in der Tatsache wider, dass gegenwärtig mehr als 45 Prozent der internationalen Reisen in Städte führen (vgl. Neumair/Schlesinger 2021: 210f.).Obwohl der Tourismus vielerorts ein willkommener Wachstumsmotor ist (vgl. Vogel 2020: 97f.), werden besonders große städtische Destinationen mit der Kehrseite des Tourismus, dem sogenannten Overtourism, konfrontiert (vgl. Neumair/Schlesinger 2021: 210). Die Folgen: Eine von Instagram-Touristen überschwemmte Wohnstraße in Paris, vermüllte Gassen in Florenz, picknickende Besucher in Rom, nächtlicher Partylärm in Barcelona, immer mehr Kreuzfahrtschiffe in Dubrovnik, lärmende Rollkoffer in Venedig, kiffende Touristen in Amsterdam, steigende Mieten in Lissabon, von Reisebussen verstopfte Plätze in Salzburg, Gefühle der touristischen Überfremdung auf Mallorca (Neumair/Schlesinger 2021: 201).Besonders deutlich werden die negativen Effekte des Besucherandrangs in der katalanischen Hauptstadt Barcelona, die neben Venedig als Aushängeschild des Overtourism gilt (vgl. ebd.: 211). So wendet sich die lokale Bevölkerung Barcelonas zunehmend gegen die Tourismusentwicklung und fordert im Rahmen von diversen Protestaktionen eine Regulierung und Begrenzung des Tourismus in der Stadt (vgl. Freytag/Glatter 2017: 165).Inwiefern eine solche Regulierung des Städtetourismus unvermeidbar ist, soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden. Hierfür wird im Anschluss an eine begriffliche Einführung (Kapitel 2) zunächst die Entwicklung Barcelonas zu einer führenden städtetouristischen Destination skizziert (Kapitel 3.1 und 3.2). Daraufhin werden die aus der starken touristischen Prägung Barcelonas resultierenden Effekte (Kapitel 3.3) und die damit einhergehende Kritik der Bewohner*innen (Kapitel 3.4) beschrieben. Inwieweit die Stadtverwaltung die von der Lokalbevölkerung geforderte Begrenzung des Tourismus realisiert und welche Herausforderungen hierbei bestehen, ist Thema des vierten Kapitels. Abschließend soll aufgezeigt werden, welche Problematik eine Begrenzung des Tourismus mit sich bringt (Kapitel 5).2. Begriffliche Grundlagen 2.1 StädtetourismusDie grundlegende Definition des Begriffs "Tourismus" (auch Fremdenverkehr, Reiseverkehr oder Touristik) stammt von der Welttourismusorganisation (UNWTO) aus dem Jahr 1993 (vgl. Freyer 2015: 2). Demnach umfasst Tourismus"die Aktivitäten von Personen, die an Orte außerhalb ihrer gewohnten Umgebung reisen und sich dort zu Freizeit-, Geschäfts- oder bestimmten anderen Zwecken nicht länger als ein Jahr ohne Unterbrechung aufhalten" (UNWTO 1993: 2).Je nach Reisedauer, Entfernung des Reiseziels und Motiv der Reise kann darüber hinaus zwischen diversen Tourismusformen differenziert werden (vgl. Freyer 2018: 2670). Eine Tourismusform, die in den letzten drei Jahrzehnten immer bedeutender wurde, ist der Städtetourismus (vgl. Krajewski 2022: 423). Sowohl neue Mobilitätsoptionen (z.B. Billigflüge) als auch die Veränderung des Reiseverhaltens begünstigen das städtetouristische Wachstum (vgl. Freytag/Popp 2009: 5; Gebhardt 2017: 226).So entscheiden sich immer mehr Reisende in Ergänzung zum Jahresurlaub für zusätzliche Kurzreisen, die häufig in Städte führen (vgl. Freytag/Propp 2009: 5). Weiterhin eröffnen Städtereisen die Möglichkeit, verschiedenste Reisemotive und Aktivitäten auf engem Raum miteinander zu verbinden (vgl. ebd.: 5–7). Somit kommt es zu einer Überlagerung von Urlaubs-, Vergnügungs-, Kultur- und Bildungsmotiven sowie geschäftlichen Motiven (vgl. Kagermeier 2008: 16).Aufgrund dieser Motiv-Gemengelage und Multioptionalität existiert keine allgemeingültige Definition für den Städtetourismus (vgl. Krajewski 2022: 426). Typisch ist jedoch die gleichzeitige Nutzung von städtischen Räumen durch die lokale Bewohnerschaft und Reisenden (vgl. Gebhardt 2017: 226). Grundlegend muss zwischen verschiedenen Formen des Städtetourismus unterschieden werden (vgl. ebd.: 427). In diesem Zusammenhang grenzt der Deutsche Tourismusverband (DTV) den primären vom sekundären Städtetourismus ab (vgl. Kagermeier 2008: 16). Beim primären oder kulturorientierten Städtetourismus"wird die Stadt aufgrund ihrer städtebaulichen Attraktivität ("Sightseeing") oder ihrer Kunst- und Kulturangebote besucht und besichtigt, was mit oder ohne Übernachtung erfolgen kann" (Krajewski 2022: 427).Hierbei ist der Besuch von kulturellen Veranstaltungen inkludiert (vgl. ebd.: 427). Das Hauptbesuchsmotiv bildet somit die Stadtbesichtigung bzw. das Stadterlebnis (vgl. Kagermeier 2008: 17). Demgegenüber ist beim sekundären Städtetourismus"nicht die Stadt selbst das Reisemotiv, sondern […] die dort verorteten Funktionen wie z.B. Einkaufs-, Veranstaltungs- oder Tagungsorte" (Krajewski 2022: 427).Zu den Hauptmotiven zählen in diesem Zusammenhang geschäftliche Gründe, Shopping oder der Besuch von Verwandten und Bekannten (vgl. Kagermeier 2008: 17). Allerdings ist hervorzuheben, dass aufgrund der hybriden Reisemotive in der Praxis keine klare Trennung zwischen diesen beiden Formen möglich ist (vgl. Freytag/Popp 2009: 7). 2.2 OvertourismIm Kontext der negativen Auswirkungen des Städtetourismus wird häufig von "Overtourism" (auch Overtourismus, Übertourismus) gesprochen (vgl. Krajewski 2022: 423). Paradigmatisch für dieses Phänomen stehen unter anderem die europäischen Städte Venedig und Barcelona, in denen wiederum bestimmte Bereiche, wie z.B. die Promenade La Rambla in Barcelona, besonders betroffen sind (vgl. Neumair/Schlesinger 2021: 210f.).Bevor der Begriff im Jahr 2017 in die breite Öffentlichkeit und Fachkreise gelang, war er primär unter dem Hashtag #overtourism auf dem Social-Media-Kanal Twitter präsent. Heute existieren zahlreiche Medienbeiträge, die die Problematik des Overtourism zum Gegenstand haben. Als exemplarisch gelten die folgenden Schlagzeilen: "Invasion der Touristen", "Tourist, du bist Terrorist", "Tourist go home! Proteste in Spanien werden aggressiver" (vgl. ebd.: 202). Trotz der vielfachen Thematisierung des Phänomens gibt es hinsichtlich des Begriffs Overtourism keine einheitlich anerkannte Definition. Eine vielfach geteilte Definition bezeichnet Overtourism jedoch als"the excessive growth of visitors leading to overcrowding in areas where residents suffer the consequences of temporary and seasonal tourism peaks, which have enforced permanent changes to their lifestyles, access to amenities and general well-being" (Milano et al. 2018).Hierbei ist allerdings nicht nur die negative Wahrnehmung von Besuchermengen und die Beeinträchtigung der Lebensqualität der Bereisten, sondern auch eine Schmälerung der Aufenthaltsqualität für die Reisenden prägend (vgl. Neumair/Schlesinger 2021: 203). Inwiefern die Lebensqualität der Einwohner*innen allerdings geschmälert wird, hängt von diversen stadtspezifischen Faktoren, wie der Größe der Stadt oder der Lage der Attraktionen, ab (vgl. Hospers 2019: 20).Ob das Stadium des Overtourism erreicht ist, wird von der Überschreitung ökonomischer, ökologischer, physischer, sozialer und psychischer Tragfähigkeiten bestimmt (vgl. Reif 2019: 264). Tragfähigkeit beschreibt in diesem Zusammenhang"the maximum number of people that may visit a tourist destination at the same time, without causing destruction of the physical, economic and sociocultural environment and an unacceptable decrease in the quality of visitors' satisfaction" (UNWTO 2018: 3).So ist die Unzufriedenheit der Einwohner*innen aufgrund von touristischer Aktivität ein Indiz für die Überschreitung der sozialen Tragfähigkeit, während steigende Miet- und Immobilienpreise und damit einhergehende Verdrängungsprozesse auf eine Überschreitung der ökonomischen Tragfähigkeit hinweisen (vgl. Reif 2019: 264). 3. Tourismusentwicklung in Barcelona 3.1 Die Anfänge des TourismusBarcelona befindet sich im Nordosten Spaniens und ist die Hauptstadt der Region Katalonien (Catalunya) (vgl. Goodwin 2019a: 126). Ausgangspunkt für die Entwicklung Barcelonas zu einer führenden städtetouristischen Destination ist die Ausrichtung der Olympischen Spiele im Jahr 1992 (vgl. Freytag/Glatter 2017: 165; Gebhardt 2017: 229). Im Rahmen der Vorbereitungen auf dieses Großereignis vollzog sich eine große Umgestaltung der ehemaligen Industriestadt mit dem Ziel, die Stadt für den Tourismus attraktiv zu machen (vgl. Gebhardt 2017: 229–232). Hierzu zählten die Verbesserung der Infrastruktur (z.B. Anlage der Ringstraßen), die Schaffung von Stränden und neuer Museen sowie die Erbauung des Olympischen Hafens (Port Olímpic) (vgl. ebd.: 229).Infolge der entstandenen Schulden und dem Wunsch, Barcelona zu einer Dienstleistungsmetropole zu transformieren, wurde im Anschluss an die Olympischen Spiele verstärkt mit privatwirtschaftlichen Akteuren kooperiert und diverse öffentliche Dienstleistungen wurden privatisiert. Die Olympischen Spiele markierten somit die Abkehr vom sogenannten "Modell Barcelona", das sich durch eine konsensorientierte Kooperation zwischen öffentlicher Verwaltung, Privatwirtschaft und Nachbarschaftsvereinigungen kennzeichnete (vgl. ebd.: 229f.). 3.2 Die Tourismus-Wachstumskoalition und externe BeschleunigungFür die Stadtverwaltung und privatwirtschaftlichen Akteure war der Tourismus ein willkommener Wachstumsmotor, der zur Wiederbelebung der Wirtschaft beitrug (vgl. Freytag/Glatter 2017: 165; Hospers 2019: 21). Im Zuge dessen kam es im postolympischen Zeitraum zur Entwicklung einer Tourismus-Wachstumskoalition, die sich primär aus Unternehmen der Hotellerie, Gastronomie sowie Reiseveranstaltern zusammensetzte. Gemeinsam mit der Stadtverwaltung teilte die Tourismus-Wachstumskoalition die Überzeugung, dass der Tourismus in Barcelona gefördert werden müsse (vgl. Gebhardt 2017: 230).Jene Wachstumskoalition wurde in den 1990er Jahren durch die Gründung der Organisation Turisme de Barcelona institutionell in den Organen der Stadt- und Tourismusentwicklung verankert, was eine unmittelbare Beteiligung dieser Akteursgruppe an der Steuerung des Tourismus implizierte (vgl. ebd.: 230–232). Die Aufgaben der Tourismussteuerung wurden somit aufgeteilt (vgl. Goodwin 2019b: 2). Während das Tourismusmanagement der Stadtverwaltung (Ajuntament de Barcelona) zugewiesen wurde, fiel das Marketing in das Aufgabengebiet von Turisme de Barcelona (vgl. ebd.). Somit erfolgte eine gemeinsame Förderung der touristischen Erschließung Barcelonas durch Politik und Privatwirtschaft, wobei die ökonomischen Akteure während dieser Zeit mit Leichtigkeit ihre Interessen durchsetzen konnten (vgl. Gebhardt 2017: 232).Das touristische Wachstum im postolympischen Barcelona, für das Turisme de Barcelona eine zentrale Rolle spielte, wurde im Laufe der Zeit durch zwei externe Faktoren verstärkt (vgl. Freytag/Glatter 2017: 165; Gebhardt 2017: 231). So erfolgte sowohl eine Zunahme internationaler Investitionen in Tourismusunterkünfte als auch eine Steigerung von Kurzzeitvermietungen von Wohnungen an Reisende, was vor allem auf Online-Plattformen wie Airbnb zurückzuführen ist (vgl. Gebhardt 2017: 235–237). 3.3 TourismuseffekteInfolge der starken Förderung durch politische und ökonomische Akteure verzeichnete der Tourismus in Barcelona ein spektakuläres Wachstum, wodurch Barcelona in Bezug auf die Hotelübernachtungen heute auf Platz sieben der europäischen Städte liegt (vgl. Goodwin 2019a: 125–126; Observatori del Turisme a Barcelona 2019: 139).So vollzog sich in den 1990er Jahren erstmals eine Verdoppelung der Hotelübernachtungen, wobei sich dieser Trend durch das kontinuierliche Wachstum im neuen Jahrzehnt fortsetzte (siehe Abbildung 1) (vgl. Gebhardt 2017: 232f.). Heute zählt Barcelona jährlich knapp 20 Millionen Hotelübernachtungen, was mehr als das Fünffache im Vergleich zum Jahr 1990 darstellt (vgl. Observatori del Turisme a Barcelona 2021: 48). In diesem Punkt unterscheidet sich die Tourismusentwicklung Barcelonas von der in anderen europäischen Städten (vgl. Goodwin 2019a: 126). Denn während bspw. der Tourismus in London zwischen 2005 und 2013 um 16 Prozent zunahm, wuchs der Tourismus in Barcelona in dieser Zeit um mehr als 54 Prozent (vgl. ebd.). Abbildung 1: Übernachtungen und Übernachtungsgäste in Hotels in BarcelonaQuelle: In Anlehnung an Observatori del Tourisme a Barcelona (2021: 48)Verschärft wird diese Problematik durch die geringe Größe der Stadt (vgl. ebd.). So kommen auf ca. 1,6 Millionen Einwohner*innen derzeit jährlich knapp 30 Millionen Reisende (vgl. Barcelona Activa o. D.), wovon ca. die Hälfte Tagesausflügler*innen sind, die vor allem über den Kreuzfahrttourismus Barcelona erreichen (vgl. Gebhardt 2017: 233).Das Wachstumstempo und die daraus resultierende starke touristische Prägung Barcelonas ziehen weitreichende Folgen nach sich, von denen die wichtigsten im Folgenden beschrieben werden. Während das Tourismusmarketing primär die positiven ökonomischen und strukturellen Synergieeffekte in den Vordergrund rückt, bekommen vor allem die Bewohner*innen Barcelonas die zahlreichen negativen Effekte des Overtourism zu spüren (vgl. Freytag/Glatter 2017: 163).So konstatiert Vogel (2020: 97f.), dass manche Städte durch ein zu hohes Touristenaufkommen schlicht überlaufen sind, wodurch in bestimmten Bereichen ein Durchkommen kaum möglich ist (siehe Abbildung 2). Die damit einhergehenden negativen "Crowding-Effekte" bekommen sowohl Reisende als auch Bereiste zu spüren (vgl. Neumair/Schlesinger 2021: 303). So vermindern bspw. das subjektive Gefühl von Enge sowie erhebliche Wartezeiten an touristischen Attraktionen die Aufenthaltsqualität für die Reisenden (vgl. Freytag/Popp 2009: 10).Auf der anderen Seite bedeutet die massive Präsenz von Reisenden für viele Einwohner*innen eine Einschränkung ihrer außerhäuslichen Mobilität (vgl. ebd.). Gekoppelt mit dem dadurch entstehenden Lärm und dem Fehlverhalten einiger Reisenden, kommt es im Extremfall dazu, dass sich die Bewohner*innen wie Statist*innen in einer Ferienlandschaft fühlen (vgl. Vogel 2020: 98). Dieses Gefühl der Überfremdung geht häufig mit einer zunehmenden Ablehnung der einheimischen Bevölkerung gegenüber dem Tourismus einher (vgl. Neumair/Schlesinger 2021: 206).Abbildung 2: Menschenmassen auf der La RamblaFoto: Lea KoppNeben das Gefühl der Überfremdung tritt die ökonomische Verdrängung der Bewohner*innen (vgl. Vogel 2020: 98). So vernachlässigt der Einzelhandel bspw. den Bedarf der Lokalbevölkerung, indem der Fokus auf die Bereitstellung tourismusspezifischer Angebote gerichtet wird (vgl. ebd.). Ein ausschlaggebender Punkt ist die Kurzzeitvermietung von Zimmern oder von ganzen Wohnungen an Reisende via Übernachtungsplattformen wie Airbnb (vgl. Gebhardt 2017: 237).Laut der aktivistischen Plattform "Inside Airbnb" betrifft dies derzeit knapp 9.500 Wohnungen und 6000 Zimmer in Barcelona, wobei 71,5 Prozent der Anbieter*innen mehrere Wohnungen gleichzeitig vermieten (vgl. Inside Airbnb 2022). Nach Angaben der Stadtverwaltung aus dem Jahr 2017 werden bis zu 40 Prozent aller Wohnungen legal an Reisende vermietet, wobei die Dunkelziffer an illegal genutzten Wohnungen die Lage noch weiter verschärft (vgl. Gebhardt 2017: 237f.).Die Folgen: Lärmbelästigung, sinkende Gewinne im Hotelgewerbe, Immobilienspekulation und vor allem Mietpreissteigerungen (vgl. Goodwin 2019a: 134). Durch die steigenden Mietpreise kommt es zur Verdrängung einkommensschwacher Bewohner*innen und somit zur Veränderung der soziodemografischen Zusammensetzung (vgl. ebd.). Ada Colau, einstige stadtpolitische Aktivistin und heutige Bürgermeisterin von Barcelona, thematisierte diesen Zusammenhang bereits 2014:Any city that sacrifices itself on the altar of mass tourism will be abandoned by its people when they can no longer afford the cost of housing, food, and basic everyday necessities. (Colau 2014)Des Weiteren kommt es durch den Tourismus und die Veränderung der Form und Intensität des Wohnens zu einer Erhöhung des Wasser- und Energieverbrauchs sowie der Abfallproduktion (vgl. Goodwin 2019a: 134). Jedoch beginnt die ökologische Belastung bereits mit der Anreise (vgl. Freytag/Popp 2009: 10), die im Fall von Barcelona zu ca. 80 Prozent mit dem Flugzeug erfolgt (vgl. Observatori del Turisme a Barcelona 2019: 75). Dabei trägt jede Flugreise mit ihrem CO2-Ausstoß zum Klimawandel und somit zur Zerstörung von Ökosystemen bei (vgl. Vogel 2020: 96f.).Es kann festgehalten werden, dass während der touristischen Entwicklung Barcelonas psychische, soziale, ökonomische und ökologische Tragfähigkeitsgrenzen überschritten wurden, was sich anhand der diversen negativen Effekte zeigt. Hierzu zählen unter anderem die Minderung der Aufenthaltsqualität für Reisende, die Schmälerung der Lebensqualität der Bewohner*innen, die Veränderung der Einzelhandelsstruktur, die Umnutzung von Wohnungen und die damit einhergehende ökonomische Verdrängung der Lokalbevölkerung sowie ökologische Belastungen durch die touristische Mobilität. Wie die Lokalbevölkerung Barcelonas auf die Effekte des Overtourism reagiert, wird im folgenden Kapitel näher beleuchtet. 3.4 TourismuskritikMit der Überschreitung der Tragfähigkeitsgrenzen änderte sich die Einstellung der ortsansässigen Bevölkerung gegenüber dem Tourismus (vgl. Neumair/Schlesinger 2021: 205). Diese veränderte Wahrnehmung lässt sich anhand des "irritation index" veranschaulichen. Hierbei handelt es sich um ein Modell, das die Entwicklung der lokalen Reaktionen auf den Tourismus anhand von vier aufeinanderfolgenden Stadien darstellt:Während anfangs vor allem über die ökonomischen Vorzüge des Tourismus Euphorie herrscht (Stadium 1: euphoria), gewöhnen sich die Einwohner*innen im Laufe der Zeit an die Reisenden und entwickeln eine gleichgültige Einstellung (Stadium 2: apathy). Diese Gleichgültigkeit schlägt jedoch in eine ablehnende Haltung um, falls die Tragfähigkeitsgrenzen überschritten werden (Stadium 3: irritation), was im schlimmsten Fall zu einer feindseligen Haltung gegenüber Reisenden führen kann (Stadium 4: antagonism) (vgl. Hospers 2019: 20).Eine Abkehr von der Begeisterung über den Tourismus zeigte sich in Barcelona erstmals im Jahr 2004, als tourismuskritische Kommentare während des Internationalen Forums der Kulturen geäußert wurden (vgl. Goodwin 2019a: 128). Ab dem Jahr 2005 kritisierten Nachbarschaftsvereinigungen zunehmend die "masificación", sprich die Überfüllung des öffentlichen Raums, die mit einer Einschränkung der außerhäuslichen Mobilität der Einwohner*innen einherging.Infolge der Vervielfachung neuer Hotelbauten und touristisch genutzter Wohnungen kam es zu einer Multiplizierung von Protestbündnissen. So traten neben die Nachbarschaftsvereinigungen tourismusspezifische lokale Bündnisse (z.B. "Barceloneta sagt es reicht!", "Die Altstadt ist nicht zu verkaufen") sowie Initiativen gegen spezifische Hotelprojekte (z.B. "kein Hotel am Rec Comtal") (vgl. Gebhardt 2017: 233–238).Eine von vielen Protestaktionen vollzog sich im Dezember 2009, als Einwohner*innen und Händler*innen aus dem Stadtteil El Raval über 500 Weihnachtskarten an die barcelonische Stadtverwaltung schickten. Auf diesen befanden sich Fotos von Prostituierten, Drogenhändler*innen sowie Reisenden, die in der Öffentlichkeit urinierten und Geschlechtsverkehr hatten. Zudem kam es im Jahr 2009 zu einem Anstieg der negativen Berichterstattung in den Medien (vgl. Goodwin 2019a: 128). Dies verwundert jedoch kaum, da die Tourismuskritik mit den Aufmerksamkeitsregeln der Medien besonders kompatibel ist (vgl. Gebhardt 2017: 240).Dass die Kritik den gesellschaftlichen Mainstream erreicht hat, zeigte sich ebenfalls in den städtischen Meinungsumfragen, die halbjährlich durchgeführt werden (vgl. ebd.: 238). So zählte die Bevölkerung erstmals im Juni 2013 den Tourismus zu den größten Problemen der Stadt, wobei sich die Lage aus Sicht der Einwohner*innen weiter verschärfte (vgl. Ajuntament de Barcelona 2013: 9). Denn während der Tourismus im Juni 2013 noch den zehnten Platz belegte, stellte er im Dezember 2016 aus Sicht der Bevölkerung das zweitgrößte Problem der Stadt dar (vgl. ebd.; Ajuntament de Barcelona 2016: 9).Zudem war im Jahr 2016 die Mehrheit der Bevölkerung Barcelonas erstmals der Meinung, dass die touristische Kapazitätsgrenze Barcelonas erreicht sei (siehe Abbildung 3, Seite 127 oben) (vgl. Observatori del Turisme a Barcelona 2019: 127). Abbildung 3 zeigt allerdings auch, dass die Bevölkerung Barcelonas nicht als homogene Gruppe betrachtet werden kann. So variiert die Meinung der Einheimischen in Bezug auf den Tourismus, was von diversen Faktoren, wie bspw. der Entfernung des Wohnorts vom Tourismusgebiet oder soziodemografischen Merkmalen, beeinflusst wird (vgl. Hospers 2019: 21f.). Neumair/Schlesinger (2021: 201) heben hervor, dass"sich die Kritik nicht nur gegen die Touristen, sondern vor allem die politischen Entscheidungsträger richtet, denen vielerorts vorgeworfen wird, […] zu spät und zu wenig energisch dagegen vorgegangen zu sein". Dies verdeutlichen die Proteste im August 2014, die als "Barceloneta Krise" bezeichnet werden. Im Rahmen dieser Demonstrationen forderten die Bewohner*innen ein neues Tourismusmodell, das strikter gegen die illegale Vermietung von Wohnungen an Reisende vorgehen sollte. Das daraufhin vom damaligen Bürgermeister getätigte Versprechen, stärker gegen die illegal genutzten Wohnungen im Stadtviertel La Barceloneta vorzugehen, wurde jedoch nicht eingehalten, weshalb der Tourismus bei den Kommunalwahlen im Jahr 2015 zum Thema wurde (vgl. Goodwin 2019a: 128).Mit dem Wahlsieg von "Barcelona en Comú" ("Barcelona gemeinsam") im Mai 2015 institutionalisierte sich der Widerstand gegen das bislang dominierende tourismusbasierte Wachstumsmodell im Stadtparlament. So griff das Programm von Barcelona en Comú diverse Forderungen der Nachbarschaftsverbände auf, wie z.B. ein Moratorium für Hotellizenzen, den Schutz des traditionellen Einzelhandels sowie die Regulierung touristisch genutzter Wohnungen (vgl. Gebhardt 2017: 239–241).Insgesamt reagieren die Einwohner*innen Barcelonas auf die Effekte des Overtourism (Kapitel 3.3) mit der Infragestellung des am Tourismus ausgerichteten Wachstums (vgl. Gebhardt 2017: 226). So wendet sich "die in den besonders stark touristifizierten Quartieren ansässige Bevölkerung und deren Nachbarschaftsinitiativen […] zunehmend gegen die fortschreitende Tourismusentwicklung" (Freytag/Glatter 2017: 165).Aus der Sicht des Großteils der Bewohnerschaft ist aufgrund der Erreichung der touristischen Kapazitätsgrenze Barcelonas und den damit einhergehenden Folgen eine Regulierung und Begrenzung des Tourismus in der Stadt unvermeidbar (vgl. Gebhardt 2017: 226; Freytag/Glatter 2017: 165). Nachfolgend werden einige der praktizierten Maßnahmen zur Regulierung des Tourismus in Barcelona vorgestellt. 4. Regulierung des Städtetourismus in Barcelona 4.1 Der strategische Tourismusplan 2010–2015Nachdem der Overtourism in Barcelona im Jahr 2004 offiziell als Problem erkannt wurde, entwickelte die Stadtverwaltung im Jahr 2008 erste Ansätze, um die Effekte des Overtourism einzudämmen (vgl. Goodwin 2019a: 125). Hierzu zählt vor allem der von der Stadtverwaltung und Turisme de Barcelona in den Jahren 2008 bis 2010 entwickelte strategische Tourismusplan (vgl. ebd.: 129). Im Fokus dieses im Jahr 2010 verabschiedeten Plans steht die Förderung eines Tourismusmodells, das "das Gleichgewicht zwischen Einheimischen und Touristen stärkt" (Ajuntament de Barcelona/Barcelona Turisme 2010: 5). Dazu solle der Tourismus in der Altstadt reguliert, das Wachstum auf Gebiete außerhalb des Stadtzentrums verlagert und die Bevölkerung stärker für den Nutzen des Tourismus sensibilisiert werden (vgl. Gebhardt 2017: 243).Allerdings wurde dieses Vorhaben bis zum Jahr 2015 nicht realisiert. Gebhardt (2017: 234) führt dies auf die Beteiligung von Turisme de Barcelona als eine Institution, die primär Vertreter*innen der Tourismusindustrie vereint, sowie das geringe Interesse an einer Regulierung aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise zurück. 4.2 Strategie 2020Mit 30 Aktionslinien und 85 Maßnahmen verabschiedete die Stadtverwaltung im Jahr 2017 die Strategie 2020, die sich an die Hauptziele des strategischen Tourismusplans anlehnt. Im Zentrum der Tourismuspolitik stehen hierbei die folgenden fünf Kriterien: Nachhaltigkeit, Verantwortung, Umverteilung, Zusammenhalt und Innovation (vgl. Goodwin 2019a: 130f.).So zielen die Maßnahmen unter anderem auf die Stärkung des Tourismusmanagements sowie die Wissensgenerierung, die als Basis für eine effektive Entscheidungsfindung erachtet wird (vgl. ebd.: 133). Des Weiteren enthält die Strategie 2020 Überlegungen zur Besucherlenkung ("Visitor Management") (vgl. ebd.). Hierunter fallen "Maßnahmen zur Beeinflussung von Besuchern bezüglich ihrer räumlichen, zeitlichen oder quantitativen Verteilung sowie deren Verhaltensweisen" (Freyer 2018: 628). Auch in Bezug auf die illegale Vermietung von Wohnungen an Reisende werden Maßnahmen präsentiert (vgl. Goodwin 2019a: 133). Laut einer Evaluation aus dem Jahr 2022 wurden 67 der 85 Maßnahmen bis zum Jahr 2020 realisiert (vgl. Ajuntament de Barcelona 2022: 2). 4.3 Konkrete MaßnahmenAuf Basis der Strategie 2020 entwickelte die Stadtverwaltung Barcelonas diverse Maßnahmen zur Regulierung des Städtetourismus (vgl. Gebhardt 2017: 245). Vor allem die derzeitige Bürgermeisterin Barcelonas, Ada Colau, ist in diesem Kontext für Gegenmaßnahmen bekannt (vgl. Vogel 2020: 98). Im Folgenden werden exemplarisch einige der Maßnahmen vorgestellt, die die Stadtverwaltung Barcelonas zur Begrenzung des Tourismus ergriffen hat.Reduzierung der BesucherzahlEine häufig praktizierte Maßnahme, um die Besucherzahl zu reduzieren, ist die Beschränkung bzw. Kontingentierung des Zugangs zu touristischen Attraktionen (vgl. Neumair/Schlesinger 2021: 216). So wurde bspw. im Jahr 2013 der Zugang zum Park Güell, einer der berühmtesten Sehenswürdigkeiten Barcelonas, für Reisende eingeschränkt (vgl. Goodwin 2019b: 20). Während die gesamte Parkanlage für die Einwohner*innen Barcelonas frei zugänglich ist, erhalten demnach maximal 800 Besucher*innen pro Stunde Zugang zur sogenannten monumentalen Zone, die knapp acht Prozent der Gesamtfläche des Parks ausmacht (vgl. ebd.).Darüber hinaus können Reisende von bestimmten Attraktionen ausgeschlossen werden (vgl. Neumair/Schlesinger 2021: 216). Diesen Schritt vollzog die Stadtverwaltung im Jahr 2015 in Bezug auf die berühmte Markthalle La Boquería, indem an Freitagen und Samstagen Touristengruppen ab 15 Personen zeitweise der Zugang zum Markt untersagt wurde (vgl. ebd.: 216f.). Hierdurch sollte den Einwohner*innen Barcelonas wieder ein ungestörtes Einkaufen ermöglicht werden (vgl. ebd.).Zur Reduzierung der Besucherzahl sind weiterhin die Einführung bzw. die Erhöhung von Steuern auf touristische Leistungen (z.B. Übernachtungs- und Beherbergungsleistungen) sowie die Einführung von Eintrittspreisen auf touristische Attraktionen mögliche Maßnahmen (vgl. Neumair/Schlesinger 2021: 217). So wurde der Zugang zur monumentalen Zone im Park Güell nicht nur beschränkt, sondern auch an Eintrittstickets gebunden, wodurch die Zahl der Besucher*innen von neun auf ca. zwei Millionen sank (vgl. Goodwin 2019b: 20).Darüber hinaus besteht die Option, Übernachtungsmöglichkeiten in Hotels oder Privatunterkünften wie Airbnb zu limitieren (vgl. Neumair/Schlesinger 2021: 217). So reguliert die Stadtverwaltung Barcelonas touristische Unterkünfte durch den im Jahr 2017 eingeführten "Besonderen Stadtentwicklungsplan für touristische Unterkünfte" (Plan especial urbanístico de alojamientos turísticos, PEUAT) (vgl. Gebhardt 2017: 241).Dieser legt eine Beschränkung und Dekonzentration des Wachstums von touristischen Unterkünften sowie ein Nullwachstum für touristisch genutzte Wohnungen fest (vgl. ebd.). Eine Eröffnung von neuen Privatunterkünften ist somit nur möglich, wenn andere schließen (vgl. Goodwin 2019a: 135). Ob eine Wohnung über eine für die touristische Nutzung notwendige Lizenz verfügt, können Reisende sowie Einwohner*innen auf einer von der Stadtverwaltung geschaffenen Webseite überprüfen (vgl. ebd.).DispersionNeumair/Schlesinger (2021: 218) sehen allerdings in der Dispersion, "der räumlichen und zeitlichen Entzerrung der Touristenströme", die vielversprechendste Strategie im Umgang mit den Effekten des Overtourism. Auch Barcelona strebt eine Dezentralisierung der Touristenströme an (vgl. Maier-Albang 2022). Hierfür sollen Besucherströme auch in die benachbarten Gemeinden der Provinz Barcelona umgelenkt werden (vgl. Goodwin 2019b: 20).Des Weiteren sollen Touristenströme vor allem durch die Nutzung von Big Data entzerrt werden (vgl. ebd.: 19). Hierfür wurde bspw. die App "Check Barcelona" entwickelt, die unter anderem Informationen über aktuelle Besucherzahlen und Wartezeiten bei Sehenswürdigkeiten sowie Mobilitätsempfehlungen bereitstellt (vgl. Maier-Albang 2022; Barcelona Turisme o. D.).4.4 Schwierigkeiten bei der Regulierung des Städtetourismus in BarcelonaHäufig wird im Kampf gegen den Overtourism vorgeschlagen, an den touristischen Verkehrsmitteln anzusetzen (vgl. Neumair/Schlesinger 2021: 218). In diesem Zusammenhang stehen Maßnahmen wie bspw. Anlegestopps für Kreuzfahrtschiffe, die Erhöhung von Steuern auf Kerosin oder Landegebühren auf Flughäfen, die darauf zielen, Billigfluglinien abzuhalten (vgl. ebd.: 218; Vogel 2020: 101).Allerdings entziehen sich sowohl der Flughafen "El Prat" als auch der Hafen Barcelonas weitgehend dem Einfluss der Stadtverwaltung (vgl. Goodwin 2019a: 132f.). Dies gilt ebenfalls für die große Zahl an Reisenden, die im nahegelegenen Girona oder an der Costa Brava ihren Urlaub verbringen und Barcelona im Rahmen von Tagesausflügen besuchen (vgl. ebd.). Somit hat "die Stadtverwaltung von Barcelona praktisch keine Möglichkeit, die Zahl der Touristen und Tagesausflügler per Flugzeug, Bahn, Straße oder Schiff zu begrenzen" (Goodwin 2019a: 133).Insgesamt hat Barcelona jedoch ein umfassendes Programm zur Regulierung des Tourismus entwickelt, das weitaus mehr als die in diesem Kapitel vorgestellten Maßnahmen beinhaltet und als Inspirationsquelle für andere Städte dienen kann (vgl. Goodwin 2019a: 136). Hierbei gilt es allerdings zu beachten, dass es sich um keine allgemeingültigen Lösungen handelt und die Wirksamkeit der Maßnahmen stets kontextabhängig ist (vgl. UNWTO 2018: 7). 5. Problematik von RegulierungsmaßnahmenIn der Diskussion über die Regulierung des Tourismus wird häufig, vor allem von der Wachstumskoalition, auf die Abhängigkeit der lokalen Ökonomie vom Tourismus verwiesen und aus diesem Grund eine Regulierung abgelehnt (vgl. Gebhardt 2017: 234f.). In diesem Zusammenhang generiert der Tourismus in Barcelona knapp 150.000 Arbeitsplätze, was in etwa 14 Prozent der Gesamtbeschäftigung darstellt (vgl. Observatori del Turisme a Barcelona 2019: 154). Darüber hinaus macht der Tourismus rund 14 Prozent des Bruttoinlandprodukts von Barcelona aus (vgl. Barcelona Activa o. D.). Dass der Tourismus wirtschaftliche Vorteile mit sich bringt, steht somit außer Frage (vgl. Milano et al.).Allerdings müssen politische Entscheidungsträger erkennen, dass dem touristischen Wachstum Grenzen gesetzt sind und dass durch eine Überschreitung dieser Grenzen Overtourism entsteht, was diverse Effekte und Kritik nach sich zieht (Kapitel 3.3 und 3.4) (vgl. ebd.). Dass "mehr" immer "besser" bedeutet, ist in diesem Zusammenhang ein Trugschluss (vgl. Hospers 2019: 21). Ist eine Stadt bereits vom Overtourism betroffen, können die genannten Gegenmaßnahmen (Kapitel 4.3) die Lage entlasten. Allerdings wird dieses Programm das Fernweh der Reisenden insgesamt nicht bremsen können (vgl. Vogel 2020: 99).Außerdem bringt die Regulierung des Tourismus eine weitere Problematik mit sich, die Vogel (2020: 101f.) als "demokratisches Paradox" beschreibt. Auf der einen Seite würde demnach die Beschränkung des Tourismus mit dem demokratischen Anspruch, allen das Reisen zu ermöglichen, kollidieren. Die meist mit der Begrenzung des Tourismus einhergehende Verknappung und Verteuerung des Angebots würde demzufolge dazu führen, dass das Reisen erneut zu einem Privileg der Eliten werden würde.Auf der anderen Seite führt die fundamentale Demokratisierung des Reisens dazu, dass die Einheimischen aufgrund der diversen Tourismuseffekte (Kapitel 3.3) verdrängt werden, wodurch "der Anspruch, jedem das Reisen zu ermöglichen, mit einem mindestens ebenso […] demokratischen Bestreben, den […] Tourismus zu begrenzen" kollidiert. Insgesamt lässt sich dieses demokratische Paradox nur schwer auflösen, weshalb Vogel (2020: 102) dafür plädiert, weniger das Reisen an sich, sondern vielmehr das Reisen in seiner derzeitigen Form in Frage zu stellen. 6. FazitZusammenfassend entwickelte sich Barcelona seit der Ausrichtung der Olympischen Spiele im Jahr 1992 zu einer führenden städtetouristischen Destination, die heute knapp 30 Millionen Reisende pro Jahr anzieht. Einen erheblichen Beitrag hierzu leistete die Tourismus-Wachstumskoalition und die damaligen politischen Entscheidungsträger*innen, für die der Tourismus ein willkommener Wachstumsmotor darstellte. Zudem beschleunigten externe Faktoren wie die Zunahme an internationalen Investitionen und die Entstehung von Online-Vermietungsplattformen das Wachstumstempo.Im Rahmen dieser Entwicklung wurden jedoch psychische, soziale, ökonomische und ökologische Tragfähigkeitsgrenzen überschritten, was sich anhand der negativen Effekte des Overtourism äußert. Neben der Verminderung der Zufriedenheit von Gästen und Einwohner*innen zählen hierzu unter anderem tourismusinduzierte Gentrifizierungsprozesse sowie ökologische Belastungen durch die touristische Mobilität. Diese Überschreitung der Tragfähigkeitsgrenzen markierte für die Bewohner*innen entsprechend des irritation index den Wendepunkt von der anfänglichen Euphorie hin zur Irritation und Ablehnung des Tourismus. Exemplarisch steht hierfür die Aufforderung "Tourist go home", die durch zahlreiche Protestaktionen zum Ausdruck gebracht wurde.Für den Großteil der Bewohnerschaft Barcelonas ist demnach eine Regulierung des Städtetourismus notwendig. Nach einer zunächst zögerlichen Begrenzung präsentierte die Stadtverwaltung vor allem mit der Strategie 2020 ein Arsenal an Maßnahmen zur Steuerung des Tourismus, von denen der Großteil bereits realisiert wurde. Neben Maßnahmen, die auf eine Reduzierung der Besucherzahl zielen, gilt vor allem die räumliche und zeitliche Entzerrung der Touristenströme als ein vielversprechender Ansatz.Dass eine Regulierung des Tourismus aus Sicht der Bewohnerschaft und aktuellen Stadtverwaltung unvermeidbar ist, liegt somit auf der Hand. Allerdings kollidiert das demokratische Anliegen, den Tourismus zu begrenzen, mit dem ebenso demokratischen Anspruch, allen das Reisen zu ermöglichen. Somit ist eine Regulierung des Städtetourismus auf der einen Seite notwendig, auf der anderen Seite vertieft diese jedoch Ungleichheiten. Inwiefern eine neue Form des Reisens wie z.B. "Slow Travelling" eine Alternative zur Beschränkung des Tourismus darstellt, bleibt offen.LiteraturAjuntament de Barcelona (2013): Baròmetre semestral de Barcelona: Resum de Resultats, [online] https://bcnroc.ajuntament.barcelona.cat/jspui/bitstream/11703/86695/1/11539.pdf [abgerufen am 18.03.2023].Ajuntament de Barcelona (2016): Baròmetre semestral de Barcelona: Resum de Resultats, [online] https://bcnroc.ajuntament.barcelona.cat/jspui/bitstream/11703/99553/1/r_16037_Resum%20de%20resultats.pdf [abgerufen am 18.03.2023].Ajuntament de Barcelona (2022): Avaluació del Pla Estratègic de Turisme 2020, [online] https://ajuntament.barcelona.cat/turisme/sites/default/files/220208_avaluaciopet20_v2_0.pdf [abgerufen am 11.03.2023].Ajuntament de Barcelona/Barcelona Turisme (2010): City of Barcelona Strategic Tourism Plan: Diagnosis and strategic proposal, [online] https://bcnroc.ajuntament.barcelona.cat/jspui/bitstream/11703/86343/1/4064.pdf [abgerufen am 08.03.2023].Barcelona Activa (o. 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Vortrag von Sina Marie Nietz bei Festo am 24.10.2019 (verschriftlichte Form)Der Titel dieses Vortrags beinhaltet mehrere "Riesenbegriffe": Globalisierung und Digitalisierung, zwei Begriffe, die heutzutage geradezu inflationär genutzt werden und dabei ganz unterschiedliche Prozesse und Entwicklungen beschreiben. Autonomer Individualverkehr, Pflege-Roboter, softwaregesteuerte Kundenkorrespondenz und Social Media, Big-Data-Ökonomie, Clever-Bots, Industrie 4.0. Die Digitalisierung hat ökonomische, kulturelle und politische Auswirkungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Die zunehmenden technischen Möglichkeiten vor allem durch KI zwingen uns auch zu einer Auseinandersetzung mit ethischen Fragen und unseren bisherigen Konzepten von Intelligenz. Was zeichnet menschliches Handeln aus? Wie unterscheidet sich menschliche, natürliche Intelligenz von Künstlicher? Die Frage, was menschliches Handeln und menschliche Intelligenz von Maschinen unterscheidet, wird aus einem Alltagsverständnis heraus häufig mit Emotionen wie Empathie, Mitgefühl, Einfühlungsvermögen, Mitmenschlichkeit beantwortet. All diese Begriffe wollen wir nun zunächst einmal unter "emotionaler Intelligenz" zusammenfassen, bevor wir uns zu einem späteren Zeitpunkt näher damit auseinandersetzen werden.Globalisierung – ein weiterer überaus komplexer Begriff, der genutzt wird, um ganz unterschiedliche Prozesse zu beschreiben. Globalisierung meint die Verflechtung von Handelsbeziehungen und Kommunikationstechnologien sowie den Anstieg von Mobilität. Globalisierung umfasst zunehmende transnationale Abhängigkeiten in Form von losen Abkommen, Verträgen und Gesetzen. Globalisierung bedeutet auch, dass Organisationen wie NGOs, transnationale Institutionen, Konzerne und Staaten über Ländergrenzen hinweg agieren und kooperieren. Globalisierung meint jedoch auch globale Herausforderungen wie internationalen Terrorismus und vor allem die Klimakatastrophe. In dieser Zeit zunehmender Verflechtungen und internationaler Abhängigkeiten lassen sich gleichzeitig nationalistische Tendenzen beobachten, die der zunehmenden Öffnung gesellschaftliche Abschottung entgegenzusetzen versuchen. Die Frage nach Öffnung oder Abschottung polarisiert und spaltet. In der Wissenschaft wird von einer neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie, einer cleavage gesprochen. Die cleavage zwischen Öffnung und Abschottung, zwischen Kosmopoliten und Nationalisten, zwischen Rollkoffer und Rasenmäher.Die Ergebnisse der letzten Europawahlen im Mai 2019 haben jene cleavage eindeutig widergespiegelt. Die etablierten Parteien, allen voran CDU/CSU und SPD, haben erneut massiv Wählerstimmen eingebüßt. Wohingegen auf der einen Seite der neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie die AfD mit ihrem Abschottungskurs und auf der anderen Seite die Grünen, die klare Kante für Kosmopolitismus verkörpern, Stimmenzuwächse verzeichnen konnten. Auch in anderen europäischen Ländern sahen die Wahlergebnisse programmatisch vergleichbarer Parteien ähnlich aus.Bereits seit der Wirtschafts- bzw. "Eurokrise" erhalten rechtspopulistische Parteien zunehmend Zuspruch in ganz Europa. Deutschland war mit der AfD in dieser Hinsicht ein Nachzügler. Der Begriff "Rechtspopulismus" ist dabei nicht ganz unproblematisch. Zum einen dient er als sogenannter "battle term", um gegnerische Parteien oder PolitikerInnen zu degradieren. Zum anderen findet er keine einheitliche Verwendung, sondern wird genutzt, um einen Politikstil, eine rhetorische Strategie, eine Mobilisierungsstrategie oder eine politische Ideologie zu bezeichnen. Des Weiteren bildet sich zunehmend der Konsens heraus, dass mit dem Begriff auch die Gefahr der Verharmlosung in Bezug auf Parteien oder Personen einhergeht, die ihrer politischen Gesinnung nach eigentlich als rechtsradikal bis rechtsextrem einzuordnen sind. Trotz dieser Schwierigkeiten hat sich in den vergangenen Jahren durch zahlreiche Publikationen ein wissenschaftlicher Konsens geformt. Im Folgenden soll die Definition von Rechtspopulismus nach Jan Werner Müller, einem der federführenden Populismusforscher in Deutschland, umrissen werden. Populismus leitet sich von dem lateinischen Wort "populus", zu deutsch "Volk", ab. Der Bezug auf das Volk ist für jede Form des Populismus essenziell. In der Logik des Populismus stehen "dem Volk" die "korrupten Eliten", das Establishment gegenüber ("Altparteien", "Eurokraten"…). Es ist prinzipiell variabel, wer zu den Eliten zählt. In diesem Zusammenhang wird häufig das vermeintliche Paradoxon Donald Trump angeführt. Dieser zählt aufgrund seines Vermögens definitiv zu einer finanziellen Elite, kann sich jedoch aufgrund seines Mangels an Politikerfahrung als Politikaußenseiter, als "Mann aus dem Volk" und Sprachrohr des Volkes darstellen.Jan Werner-Müller zufolge sind RechtspopulistInnen immer anti-elitär, doch nicht jeder, der Eliten kritisiert, ist auch automatisch ein Rechtspopulist. Es muss immer noch ein zweites Kriterium gegeben sein, nämlich das des Anti-Pluralismus. In einer pluralistischen Gesellschaft konkurrieren zahlreiche verschiedene Organisationen, gesellschaftliche Gruppierungen und Parteien um wirtschaftliche und politische Macht. Es herrscht außerdem Vielfalt in Form von Meinungen und unterschiedlichen Lebensentwürfen. Rechtspopulismus lehnt diese Vielfalt ab. Es findet demnach nicht nur eine Abgrenzung nach oben zu "den Eliten", sondern auch nach unten ("Sozialschmarotzer") bzw. außen ("der Fremde", "der Islam", "die Flüchtlinge", Homosexuelle) statt. Rechtspopulistische Repräsentanten behaupten, ein homogen gedachtes "wahres Volk" mit einem einheitlichen Volkswillen zu vertreten. So wird ein moralischer Alleinvertretungsanspruch postuliert. Da der homogen konstruierte Volkswille in der Logik des Rechtspopulismus a priori feststeht und RechtspopulistInnen diesen repräsentieren, bedarf es keiner anderen Parteien oder Vertreter. Daraus ergibt sich jedoch ein Logikproblem, wenn sie dann bei Wahlen nicht die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen können. So betrug der Stimmenanteil der AfD bei der Bundestagswahl 2017 12,6%. Um diese Differenz "erklären" zu können, werden verschwörungstheoretische Erklärungsmuster wie das einer "schweigenden Mehrheit" herangezogen. Es werden gezielt Zweifel am politischen System, an den Medien ("Lügenpresse") und der Wissenschaft gesät. Es wird auf vermeintliche Fehler im System und die angebliche Unterdrückung des "eigentlichen Volkswillens" verwiesen. So schaffen RechtspopulistInnen eine Parallelwelt der "alternativen Fakten" und tragen zur Spaltung der Gesellschaft bei.Betrachtet man die verschiedenen rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen in Europa, stößt man auf Unterschiede in deren Inhalten und Strategien. So hat Geert Wilders in den Niederlanden beispielsweise immer eine sehr liberale Gesellschaftspolitik vertreten, etwa in Form liberaler Abtreibungsgesetze und der Befürwortung gleichgeschlechtlicher Ehen. In Polen fährt die PiS-Partei hingegen einen katholisch geprägten konservativen Kurs hinsichtlich gesellschaftspolitischer Themen, wie auch die FPÖ in Österreich. Als gemeinsame Klammer dient allen rechtspopulistischen Parteien ihre ablehnende bis feindliche Haltung gegenüber Migration und "dem Islam". Die ausgrenzende Gesinnung bildet demnach das Kernelement rechtspopulistischer Ideologien. Das bedeutet, dass es keinen Rechtspopulismus ohne Feindbilder gibt.Und damit wären wir bei der ersten These meines heutigen Vortrags: Feindbilder sind das Kernelement von Rechtspopulismus. Rechtspopulistische Parteien greifen gezielt xenophobe Vorurteile, Stereotype und Emotionen wie Angst und Hass auf, schüren diese und verbreiten sie so. Wir werden gleich noch darauf zu sprechen kommen, wie sie dies genau machen. Vorurteile sind eine effektive Strategie, um Ungleichheit oder die Entstehung von Ungleichheit zu legitimieren. Hier dockt der Populismus perfekt an die bereits vorhandene Ungleichheitsideologie unserer meritokratischen Leistungsgesellschaft an. Unsere freie Marktwirtschaft basiert auf der Annahme der Notwendigkeit von Ungleichheit und legitimiert diese durch unterschiedliche Mechanismen. Stichworte in diesem Kontext lauten: survival of the fittest, Leistungsprinzip, Konkurrenzdruck in Zeiten von Outsourcing von Arbeitsplätzen und Zeitarbeit, Selbstoptimierung, Humankapital.Ich würde Sie an dieser Stelle gerne zu einem kurzen Exkurs in die Kognitionswissenschaft einladen, um die Bedeutung von Vorurteilen und Stereotypen für das menschliche Denken und Handeln näher zu erläutern. Der menschliche Verstand benötigt Kategorien zum Denken, zum Einordnen und Verarbeiten von Sinneseindrücken und Informationen. Andernfalls würde der Prozess der Informationsverarbeitung viel zu viel Zeit beanspruchen und wir wären nicht handlungsfähig. Wir ordnen unsere Eindrücke also bestimmten, vorgefertigten Kategorien zu. Innerhalb einer Kategorie erhält nun alles dieselbe Vorstellungs- bzw. Gefühlstönung. Der Grad der Verallgemeinerung hängt mit dem Wissen über die einzuordnende Information zusammen. Auf die rechtspopulistischen Ausgrenzungsstrategien bezogen ergibt sich Folgendes: Es wird das Feindbild "Islam" konstruiert und mit Eigenschaften wie "Gewalt" und "Terror" verknüpft. Dabei wird nicht zwischen verschiedenen Strömungen und Glaubensrichtungen unterschieden, sondern alles zu einem homogenen Gebräu innerhalb derselben Kategorie umgerührt. Individuen, die aufgrund von Herkunft, Religionszugehörigkeit, Ethnie etc. dieser Gruppe zugezählt werden, werden als Teil der Feindgruppe gedacht, nicht als Individuen. Sie werden objektiviert und entmenschlicht. Das Leiden des Einzelnen geht in der Masse unter und Empathie wird verhindert. Einzelne Ausnahmen werden als solche anerkannt, um das Gesamtbild, bzw. die gebildeten Kategorien, aufrechterhalten zu können. Und damit sind wir bei der zweiten These angelangt: Die Verallgemeinerung rechtspopulistischer Ausgrenzungsstrategien verhindert Empathie.Die einfache Zweiteilung des Freund-Feind-Denkens geht mit einer enormen Reduktion von Komplexität einher - ein attraktives Angebot in Zeiten zunehmender Komplexität und Undurchschaubarkeit (Stichwort Globalisierung). Doch wie werden diese Feindbilder nun genau erzeugt und aufrechterhalten? Hierzu bedienen sich rechtspopulistische Akteure unterschiedlicher rhetorischen Strategien.Rechtspopulistische Sprache ist zumeist eine reduktionistische und sehr bildhafte Sprache. Es werden häufig Metaphern verwendet, die Träger einer Botschaft sind. So ist der im Kontext der Migrationsbewegungen ab 2015 oft verwendete Begriff "Flüchtlingswelle" kein neutraler Begriff. Die Zusammensetzung der beiden Worte "Flüchtlinge" und "Welle" impliziert eine unaufhaltsame Naturgewalt, gegenüber der es sich durch Bauen eines Dammes abzuschotten gilt. Zudem finden auch biologistische Metaphern wie "Flüchtlingsschwärme" ihren Einzug in rechtspopulistische Narrative. Die Entlehnung nationalsozialistisch geprägter Begriffe wie beispielsweise "völkisch" durch Akteure der AfD hat nicht nur einmal zu medialer Aufmerksamkeit geführt. Weitere häufig verwendete rhetorische Strategien und Stilmittel sind Wiederholungen, Wortneuschöpfungen, Tabubrüche, kalkulierte Ambivalenz und auch die eingangs erwähnten Verschwörungstheorien. Ich möchte diese Stilmittel nicht im Einzelnen näher ausführen. Aber ich möchte auf die Beziehung zwischen Rechtspopulismus und Medien aufmerksam machen. Es gab in den vergangenen Monaten zahlreiche Beispiele für Tabubrüche seitens der AfD, die nach und nach zu einer Diskursverschiebung geführt hat, die mit einer Normalisierung von Gewalt in der Sprache im öffentlichen Diskurs einhergeht.Medien und Populismus folgen ähnlichen Kommunikationsstrategien wie beispielsweise Personalisierung, Emotionalisierung, Dramatisierung und Komplexitätsreduktion. Trotz der grundlegend feindlichen Einstellung rechtspopulistischer Parteien gegenüber der "Lügenpresse" gehen Populismus und Massenmedien eine Art Symbiose ein. Die Massenmedien sind auf Schlagzeilen angewiesen und die PopulistInnen auf mediale Aufmerksamkeit. Eine besondere Rolle spielen insbesondere seit dem letzten US-Wahlkampf soziale Medien wie Twitter. Trump bezeichnete sich einmal selbst als den "Hemingway der 140 Zeichen". Durch seine kurzen Tweets in einer einfach gehaltenen Sprache vermittelt er Nahbarkeit und inszeniert sich als Sprachrohr des Volkes. Immer in Abgrenzung zu der abgehobenen, korrupten Politikelite mit ihrer "political correctness". Es scheint, als würden "gefühlte Wahrheiten" schwerer wiegen als Fakten, so wird häufig vom Anbruch des postfaktischen Zeitalters gesprochen. Das Leugnen wissenschaftlicher Erkenntnisse bei gleichzeitiger Fokussierung auf "alternative" und "gefühlte Wahrheiten" birgt die Gefahr einer zunehmenden Parallelwelt der Fakten.Durch Echokammern und Filterblasen verfestigen sich eigene Einstellungen und die politische Meinung. Die neue Rechte hat sich zudem die Funktionsweise von Algorithmen und Bots zunutze gemacht und wirkt dadurch in Sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter, aber auch in Foren und Blogs unheimlich präsent. Medien sind hier keine Einrichtungen im Sinne von Organisationseinheiten mit besonderen Rechten, Sach- und Personalmitteln, sondern Räume und Kanäle. Dialogroboter sind zugleich Werkzeug und Medium einer neuen Kommunikationswelt. In den Massenmedien kann man eine stetige Zunahme von dialogischer Kommunikation beobachten. Dialogroboter werden funktional wie Massenmedien eingesetzt, funktionieren strukturell aber nach den Prinzipien interpersoneller Kommunikation.Kehren wir zu den beiden Ausgangsthesen zurück. Erstens: Feindbilder sind ein Kernelement von Rechtspopulismus. Zweitens: Die Verallgemeinerung von Feindbildern verhindert Empathie. Nun stellt sich die Frage nach möglichen Lösungsansätzen. Wie kann der dargelegten Objektivierung von Menschen durch Feindbilder entgegengewirkt werden? Welche Gegenstrategien gibt es? Häufig werden sehr allgemeine Handlungsempfehlungen ausgesprochen oder die Ausführungen zu möglichen Lösungen sehr kurz gehalten, sodass der politikwissenschaftliche Diskurs bisweilen in Bezug auf die Gegenstrategien ungenau und schwammig bleibt.Ich möchte Ihnen heute einen spezifischen Ansatz vorstellen, der darauf abzielt, Empathie als Teil emotionaler Intelligenz zu stärken, um rechtspopulistischen Feindbildern präventiv zu begegnen. Die gezielte Schulung von Empathie als Teil emotionaler Intelligenz. Das Konzept der emotionalen Intelligenz (EQ) kam in den 1990er Jahren auf, federführend unter den Sozialpsychologen John D. Mayer und Peter Salovey. Das gleichnamige Buch veröffentlichte 1995 Daniel Goleman. Bereits damals wurde Empathie als eine "Schlüsselkompetenz" emotionaler Intelligenz gefasst. Hier wurde zum einen der Versuch unternommen, auf die Bedeutung von Gefühlen beim Erreichen beruflicher Ziele und des eigenen Lebensglücks zu verweisen, zum anderen EQ messbar zu machen, sodass bald darauf zahlreiche EQ-Tests folgten. Der Versuch, Intelligenz anhand von Testsituationen oder ähnlichen Verfahren messbar zu machen, geht jedoch mit einigen Aspekten einher, die es kritisch zu betrachten gilt. Vor allem stellt sich, wie auch bei den klassischen IQ-Tests (auf denen im Übrigen unser heutiges Verständnis von Intelligenz beruht) die Frage, ob tatsächlich das gemessen wird, was gemessen werden soll. In einer Leistungsgesellschaft, die dem Diktat der Transparenz und Messbarkeit (PISA, Evaluationen etc.) unterworfen ist, haben es schlecht messbare emotionale Kompetenzen wie Empathie schwer.Die zunehmenden Abhängigkeiten im Kontext der Globalisierung weisen eigentlich in Richtung Kooperation. Die vorherrschende Ideologie unserer Gesellschaft basiert jedoch nach wie vor auf dem Konkurrenzprinzip. Die meritokratische Leistungs- und Wettbewerbsideologie des freien Marktes hat ein empathiefeindliches Umfeld geschaffen. Zudem lässt die Hyperindividualisierung Empathie unwahrscheinlicher werden. Das Wachstum des "Ichs" als Instanz der Nicht-Ähnlichkeit führt zur Kultivierung eines Bewusstseins für Differenzen anstatt für Gemeinsamkeiten. Je mehr wir uns auf die Unterschiede konzentrieren, desto schwieriger werden empathische Empfindungen und Handlungen, da diese eine Identifikation mit dem Anderen voraussetzen. Des Weiteren hat insbesondere im Bildungsdiskurs viele Jahre lang eine einseitige Fokussierung auf Rationalität stattgefunden. Diese impliziert eine künstliche Trennung zwischen Emotionalität und Rationalität. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass verschiedene gesellschaftliche, politische, aber vor allem auch ökonomische Faktoren wie die neoliberale Konkurrenz- und Wettbewerbsideologie, das Diktat der Messbarkeit, die Hyperindividualisierung sowie die einseitige Fokussierung auf Rationalität der Etablierung von Empathie als Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts im Weg standen und noch immer stehen. Doch was bedeutet Empathie eigentlich konkret in einem wissenschaftlichen Verständnis? Empathie stammt von dem griechischen Wort "Pathos", zu deutsch "Leidenschaft". Umgangssprachlich ist mit Empathie die Fähigkeit des Sich-in-jemand-Einfühlens oder Hineinversetzens gemeint. Empathie hat eine kognitive (Wahrnehmung der Interessen des Anderen) und eine affektive (dabei entstehende Gefühle) Komponente. Die Entstehung von Empathie erfolgt in drei Schritten: Soziale Perspektivenübernahme, Identifikation, Empathie. Die Übernahme einer anderen Perspektive erlernen wir bereits im Kleinkindalter. Zunächst anhand der Übernahme räumlicher Perspektiven. Durch den zweiten Schritt, die Identifikation mit einer anderen Person oder einem anderen Lebewesen, entsteht das Potenzial für die empathische Einfühlung in jene Person oder jenes Lebewesen. Aus dieser empathischen Empfindung kann wiederum ein gewisses Aktionspotenzial entstehen, wenn beispielsweise eine Ungerechtigkeit Empörung auslöst und zur Aktion gegen jene Ungerechtigkeit führt.Wir kommen nun zu der dritten These meines Vortrags: Empathie kann gezielt gelehrt und gelernt werden. Jüngste wissenschaftliche Erkenntnisse belegen, dass Empathie eine erlernbare Fähigkeit ist. Die deutsche Neurowissenschaftlerin und Psychologin Tania Singer hat im Rahmen einer großangelegten Untersuchung, dem "ReSource-Projekt" am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften die Wirkung von Meditation auf das Verhalten und die damit verbundenen Veränderungen im Gehirn untersucht. Die Idee, die hinter diesem Forschungsprojekt steht, war die Suche nach einer Möglichkeit, gezielt soziale Fähigkeiten wie Mitgefühl, Empathie und die "Theory of Mind" zu fördern. Die Untersuchung ging über einen Zeitraum von elf Monaten und bestand aus unterschiedlichen Modulen. Im "Präsenzmodul" lag der Schwerpunkt vor allem auf der Achtsamkeit gegenüber geistigen und körperlichen Prozessen. Das Modul "Perspektive" konzentrierte sich auf sozio-kognitive Fähigkeiten, insbesondere die Perspektivenübernahme. Ein drittes Modul "Affekte" sollte den konstruktiven Umgang mit schwierigen Emotionen sowie die Kultivierung positiver Emotionen schulen. Die Probanden führten die entsprechenden Übungen täglich mit ihren zugeordneten Partnern durch Telefonate oder Videoanrufe aus.Das Team um Tania Singer konnte nach den drei Monaten mithilfe von Gehirnscans eine tatsächliche Verbesserung der Kompetenzen der TeilnehmerInnen feststellen, die mit struktureller Gehirnplastizität in den spezifischen neuronalen Netzwerken einhergingen. Das sozio-affektive Modul konnte so tatsächlich zur Verbesserung der Fähigkeit des Mitgefühls beitragen. Das sozio-kognitive Modul hingegen hat die Fähigkeit verbessert, sich gedanklich in die Perspektive eines anderen zu versetzen. Die Studie hat gezeigt, dass Empathie und Mitgefühl erlernbare Kompetenzen sind, die durch entsprechende Übungen gezielt gefördert werden können. Dazu bedarf es jedoch zunächst einer Anerkennung von Empathie als einer erlernbaren Kompetenz.Fassen wir zusammen: Rechtspopulismus agiert immer über Feindbilder. Diese Feindbilder basieren auf der Konstruktion einer homogenen Feindgruppe. Durch Verallgemeinerung werden den Individuen innerhalb dieser Feindgruppe Subjektivität und Individualität abgesprochen und so die Entstehung von Empathie verhindert. Die rechtspopulistische Ungleichheitslogik schließt an die Ungleichheitslogiken unserer kapitalistischen Gesellschaftsordnung an. Die Wettbewerbs- und Konkurrenzideologie hat ein empathiefeindliches Umfeld geschaffen. Zudem hat sich die Bildung zu lange einseitig auf Rationalität konzentriert. Daher gilt es, Empathie als eine soziale und emotionale Fähigkeit mit kognitiven Anteilen im bildungswissenschaftlichen Diskurs zu verankern. So können rechtspopulistische Differenzierungskategorien wie Nationalität oder Religion sowie die Verallgemeinerungen zugunsten einer Fokussierung auf Gemeinsamkeiten und Mitmenschlichkeit überwunden werden. Um in einer vernetzten, globalisierten Welt intelligent handeln zu können, nützt ein Rückzug in nationalistische Freund-Feind-Denkweisen nicht. Vielmehr gilt es, auf Kooperation und Empathie zu setzen, auch wenn diese nicht immer messbar ist. Vielen Dank.Literatur- und Quellenverzeichnis:Allport, Gordon W. (1971): Die Natur des Vorurteils. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Bischof-Köhler, Doris (1989): Spiegelbild und Empathie. Die Anfänge der sozialen Kognition. Hans Huber: Berlin, Stuttgart, Toronto.Decker, Frank (2017): Populismus in Westeuropa. Theoretische Einordnung und vergleichende Perspektiven. In: Diendorfer, Gertraud u.a. (Hrsg.) (2017): Populismus – Gleichheit – Differenz. Herausforderungen für die politische Bildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Wissenschaft, S. 11-28.Holtmann, Everhard (2018): Völkische Feindbilder, Ursprünge und Erscheinungsformen des Rechtspopulismus in Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.Mudde, Cas / Kaltwasser, Cristóbal Rovira (2017): Populism. A Very Short Introduction. New York: Oxford University Press.Müller, Jan-Werner (2016): Was ist Populismus? Ein Essay. Berlin: Edition Suhrkamp.ReSource-Projekt: https://www.resource-project.org/ [10.09.2019]Wodak, Ruth (2016): Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse. Wien/Hamburg: Edition Konturen.
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Deutschland braucht mehr internationale Fachkräfte. Leisten die Hochschulen bereits, was sie können? Ein Interview mit Muriel Helbig und Andreas Zaby über politische Rahmenbedingungen, die öffentliche Willkommenskultur und die gesellschaftliche Verantwortung der HAWs.
Muriel Helbig ist seit 2014 Präsidentin der Technischen Hochschule Lübeck und ist seit 2020 Vizepräsidentin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Andreas Zaby ist seit 2016 Präsident der HWR Berlin und ebenso lange Vorsitzender des HAW-Verbunds UAS7. Ende März verlässt er die HWR und wechselt zur Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND). Fotos: TH Lübeck/Oana Popa-Costea.
Frau Helbig, Herr Zaby, Deutschland zieht mehr internationale Studierende an denn je, die Zahl der Wissenschaftler aus dem Ausland liegt ebenfalls auf Rekordniveau. Die Hochschulen der Bundesrepublik sind also weltweit beliebt und offen wie nie?
Muriel Helbig: Natürlich bin ich als Vizepräsidentin des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) hocherfreut, dass Deutschland bei den Gastländern für internationale Studierende erstmals auf Platz drei liegt und mit Australien sogar ein englischsprachiges Land hinter sich gelassen hat.
Andreas Zaby: Angesichts der herausragend guten rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen für internationale Studierende ist es umgekehrt fast schon erstaunlich, dass nicht längst noch viel mehr zu uns kommen – und anschließend bei uns als Fachkräfte bleiben.
Wie meinen Sie das?
Zaby: Für Studierende aus Nicht-EU-Staaten gelten bei uns sehr liberale Regeln für den Arbeitsmarkt, und sie werden zum 1. März noch liberaler. Künftig dürfen internationale Studierende 140 Tage im Jahr arbeiten, was 50 Prozent Teilzeit entspricht, die Studierenden-Jobs an Hochschulen werden nicht einmal angerechnet. Und schon während sie einen Studienplatz suchen, dürfen sie sich für neun Monate in Deutschland aufhalten und bis zu 20 Stunden die Woche jobben. Nach dem Studienabschluss dürfen sie weitere 18 Monate in Deutschland bleiben, um sich um eine Festanstellung zu bewerben. Vergleichen Sie das einmal mit den rigorosen Bestimmungen in den USA oder anderswo! Und da haben wir noch gar nicht darüber gesprochen, dass bei uns keinerlei Studiengebühren anfallen, während Sie in Amerika, in Australien oder dem Vereinigten Königreich enorme Summen zahlen müssen.
"Wir erliegen der Illusion, dass unsere Hochschulen inzwischen so kosmopolitisch seien, dass man überall mit Englisch durchkommen könne."
Vielleicht bieten die Hochschulen in diesen Ländern dafür den Studierenden mehr?
Zaby: Das Studium ist bei uns qualitativ auch sehr hochwertig. Doch wir vergessen manchmal, dass die Sprachbarriere immer noch eine große Rolle spielt. Wir erliegen der Illusion, dass unsere Hochschulen inzwischen so kosmopolitisch seien, dass man überall mit Englisch durchkommen könne. Tatsächlich aber ist es so, dass sie Ihren Alltag in Deutschland nur dann auf Dauer bewältigen, erfolgreich studieren und anschließend auf Jobsuche gehen, wenn Sie halbwegs Deutsch sprechen.
Handelt es sich nur um eine Sprachbarriere, die verhindert, dass noch mehr junge hochqualifizierte Menschen nach Deutschland kommen? Bei Umfragen unter Expats landet die Bundesrepublik immer wieder auf den hinteren Plätzen. Besonders schlecht werden Willkommenskultur, Wohnen, digitale Infrastruktur, aber auch die Verwaltung bewertet.
Helbig: Wir müssen hier differenzieren. Die deutsche Wissenschaft, die deutschen Hochschulen haben einen enorm guten Ruf, und dass das Studium hier gebührenfrei ist, wollen viele, wenn sie es zum ersten Mal hören, gar nicht glauben. Außerdem gilt Deutschland als sicheres Land, ein Vorteil, den man nicht unterschätzen darf. Auch die fairen Arbeitsbedingungen und guten Löhne werden gelobt, da kommt ein ganzes Konglomerat an positiven Anziehungspunkten zusammen.
Aber?
Helbig: Es gibt einige Themen, die es uns schwer machen. Das Eine ist die Sprache. Das Andere ist, dass wir zwar rechtlich Vieles liberalisiert und sehr gute Voraussetzungen geschaffen haben, damit Menschen aus dem Ausland bei uns studieren können, dass wir bei der Umsetzung aber nicht überall hinterherkommen. Der Zeitraum der Visavergabe ist oftmals ein Thema, viele Ausländerbehörden sind personell unterbesetzt, und unsere Wirtschaftsstruktur besteht aus vielen kleinen und mittleren Unternehmen, die sich schwertun, internationale Studierende für Praktika zu betreuen oder später als Absolventen einzustellen. Erst recht, wenn sie nicht fließend Deutsch sprechen. Ich würde das aber nicht vorrangig als kulturelles Problem oder mangelnde Offenheit der Gesellschaft sehen.
Tatsächlich nicht? Studierende berichten online von frustrierenden und diskriminierenden Erfahrungen mit den Behörden, und dass in Deutschland Rechtsradikalismus und Antisemitismus im Aufstieg begriffen sind, wird international aufmerksam wahrgenommen.
Zaby: Natürlich haben solche Entwicklungen Auswirkungen, das gilt in Frankreich und anderswo genauso, wenn dort rechtsextreme Parteien Wahlerfolge einfahren. Wir hören von deutschen Studierenden, die ins Ausland wollen, dass sie ihrerseits genau auf die politische Situation schauen.
"Es frustriert mich sehr, dass bestimmte Wahlergebnisse und politische Äußerungen all die harte Arbeit, die wir leisten, wieder kaputt machen."
Helbig: Aber gerade in Deutschland mit unserer Geschichte haben wir die Aufgabe, jeden Tag für gesellschaftliche Offenheit einzutreten. Zudem, und jetzt rede ich als Präsidentin einer Technischen Hochschule: Es frustriert mich sehr, dass bestimmte Wahlergebnisse und politische Äußerungen all die harte Arbeit, die wir leisten, wieder kaputt machen. Da müssen wir uns dagegenstemmen. Die Hochschulen, Wirtschaftsverbände und viele andere tun das jetzt, und überall in Deutschland gehen die Menschen auf die Straße. Auch das, da bin ich mir sicher, wird im Ausland wahrgenommen.
Zaby: Wir müssen aber feststellen, dass wir im Vergleich zu klassischen Einwanderungsländern wie den USA oder Australien längst nicht so gut aufgestellt sind, wo die Einwanderung von Hochqualifizierten ganz klar priorisiert und gefördert wird. Unsere Konsulate und Ausländerbehörden müssen viel aktiver unterstützen, auch die Hochschulen müssen noch offener werden, ich möchte uns da gar nicht ausnehmen. Allerdings ist die Motivationslage einer amerikanischen Hochschulleitung schon deshalb eine andere, weil dort jeder Student und jede Studentin aus dem Ausland 30.000, 40.000 oder 50.000 Dollar pro Jahr bringt.
Bei der Tagung der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) in der Hochschulrektorenkonferenz haben Sie neulich zusammen in einem Workshop die These aufgestellt, dass HAWs besonders gut geeignet seien, um mehr internationale Fachkräfte nach Deutschland zu holen. Außer dass Sie beide eine HAW leiten, was macht Sie da so sicher? In Wirklichkeit gehen die allermeisten Studierenden aus dem Ausland an Universitäten.
Helbig: Der Abstand ist nicht groß. An den HAWs sind es neun Prozent internationale Studierende mit Abschlussabsicht, an den Universitäten knapp 13 Prozent.
Zaby: Und die Lücke schließt sich weiter. Der Fachkräftemangel ist in MINT-Berufen am größten. Gleichzeitig wollen internationale Studierende besonders häufig MINT-Fächer studieren, und HAWs bieten abseits der Naturwissenschaften besonders viele solcher Studiengänge an, vor allem in den Ingenieurwissenschaften und in der Informatik. Das können wir nutzen, indem wir noch deutlicher machen: An HAWs brechen weniger Menschen ihr Studium ab als an Universitäten, und gerade bei internationalen Studierenden sind die viel zu hohen Abbruchquoten ein drängendes Problem.
Ist die Abbrecherquote unter den internationalen Studierenden wirklich nachweislich geringer an den HAWs?
Zaby: Diese Daten liegen mir nicht vor. Ich denke aber, dass es eine valide Hypothese für eine empirische Untersuchung wäre, denn es gibt aus wissenschaftlichen Studien Hinweise darauf, dass einzelne Vorteile des typischen HAW-Studienmodells sich positiv auf den Studienerfolg bei deutschen und ausländischen Studierenden auswirken.
Woran liegt das?
Zaby: Besonders internationale Studierende stehen immer in der Gefahr, in den Massen unterzugehen. Da hilft es, dass wir an den HAWs das Kleingruppen-Prinzip verfolgen und eine erhöhte Interaktion der Studierenden mit den Lehrenden ermöglichen. Hinzu kommt, dass HAWs in ihren Regionen oft sehr nah dran sind an den örtlichen Arbeitgebern, was den Übergang ihrer Absolventen in den Arbeitsmarkt erleichtert. Gerade duale Studiengänge sind sehr geeignet, mit den zwei Lernorten Hochschule und Betrieb vom ersten Tag an, diese können und sollten wir im Ausland stärker bewerben. Erste solche Initiativen der deutschen Wirtschaft und der Hochschulen gibt es bereits.
"Die Schnittstelle zum Arbeitsmarkt müssen wir gerade für internationale Studierende weiter ausbauen."
Helbig: Unsere gesellschaftliche Verantwortung als Hochschulen besteht ja nicht nur darin, die Leute zu immatrikulieren, sondern ihnen dabei zu helfen, das für sie richtige Studium zu wählen und es dann auch zum Abschluss zu bringen. Und auch wenn sie ihr Abschlusszeugnis in der Hand halten, ist noch nicht Schluss. Die Schnittstelle zum Arbeitsmarkt, von der Andreas Zaby spricht, müssen wir gerade für internationale Studierende weiter ausbauen.
Zaby: Dabei helfen uns zum Glück neue Programme des DAAD, indem sie die Karriereservices der Hochschulen speziell für internationale Studierende unterstützen, intensive Sprachtrainings finanzieren, solche Dinge, um sie für den Arbeitsmarkt fitzumachen.
Helbig: Was mich sehr freut, ist die hohe Beteiligung an der DAAD "Campus-Initiative Internationale Fachkräfte", die offen ist für alle Hochschultypen. Ob Sie das neue Programm "FIT" – Förderung internationaler Talente zur Integration in Studium und Arbeitsmarkt nehmen oder "Profi plus“ – Akademische Anpassungsqualifizierung für den deutschen Arbeitsmarkt" – bei beiden Ausschreibungen haben die HAWs überproportional häufig mitgemacht. Und dann gibt es noch das Programm "HAW.International", das beispielsweise Auslandsaufenthalte von HAW-Studierenden finanziert und Hochschulen beim Ausbau ihrer Kooperationen mit ausländischen Partnern unterstützt, genau zugeschnitten auf die typische Praxisorientierung an HAWs. Dadurch werden die HAW insgesamt verändert, ihre Atmosphäre wird internationaler.
Sie sprechen von der gesellschaftlichen Verantwortung der Hochschulen, vom Wohlergehen der Studierenden und dem Schließen der Fachkräftelücke. Hand aufs Herz: Ganz so selbstlos ist das alles nicht, oder? Dass viele Hochschulen verschärft auf internationale Studierende schielen, liegt auch daran, dass die inländischen Studienanfänger weniger werden.
Zaby: Ich glaube schon, dass die Hochschulleitungen aus Überzeugung handeln. Das Hochschulbarometer von Stifterverband und Heinz-Nixdorf-Stiftung zeigt, dass überwältigende 99 Prozent der Rektorate und Präsidien über alle Hochschultypen hinweg sagen, dass sie die Bekämpfung des Fachkräftemangels als ihre Aufgabe ansehen. Als HAWs hören wir ja jeden Tag aus den KMUs, wie groß deren Not ist. Der limitierende Faktor fürs Wirtschaftswachstum sind die Menschen. Es gibt zu wenige, ob in der Industrie, in der Verwaltung oder in der Pflege. Auch wenn wir als Hochschule eine Professur ausschreiben, bekommen wir mitunter kaum noch Bewerbungen. Was ich aber nicht sehen kann: dass die Hochschulen jetzt einfach anfangen, blind ihre Studiengänge in den MINT-Fächern mit Menschen aus Nicht-EU-Ländern aufzufüllen. Sondern sie bemühen sich, ihre Studienangebote attraktiver zu gestalten, damit sich mehr junge Leute für sie entscheiden. Aus dem Inland und aus dem Ausland.
Helbig: Alles Andere wäre überhaupt nicht zu verantworten. Das sind Individuen, junge und kompetente Menschen, über die wir hier sprechen. Wenn sie sich entscheiden, nach Deutschland zu kommen und nach dem Studium zu bleiben, ist das wunderbar. Sie sind eine Bereicherung für unseren Campus und für unsere Gesellschaft – und kein Mittel zum Zweck.
Zugleich ist ihr Bleiben bei uns ein Verlust für ihre Heimatländer. Eine Frage, die in Zeiten des Fachkräftemangels kaum noch gestellt wird: Haben wir überhaupt das Recht, anderen Staaten ihre jungen Talente wegzufischen?
Zaby: Das ist eine uralte Frage. Wir sollten ihre Antwort nicht moralisieren, sondern eine utilitaristische Perspektive einnehmen: Wir machen Angebote zur Bildungsmigration, über die wir hier reden. Wir freuen uns, wenn sie von Studienanfängern aus dem Ausland angenommen werden und wenn diese nach ihrem Abschluss bleiben. Umgekehrt entscheiden sich viele Menschen auch zu einer Rückkehr, vielleicht nicht sofort, aber nach ein paar Jahren Berufserfahrung. Diese nehmen sie mit und werden zu wertvollen Brückenbauern zwischen Deutschland und ihren Heimatländern.
Helbig: Es gibt Regionen und Länder auf der Welt, da haben selbst sehr gut Qualifizierte – beispielsweise aus den Bereichen Medizin oder Ingenieurswissenschaften – keine Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Deren Regierungen sagen uns oftmals: Wir sind froh, wenn unsere jungen Leute für zehn oder 20 Jahre bei euch arbeiten können, und dann können wir sie wieder gut in unseren Arbeitsmarkt integrieren.
"Die Menschen müssen sich bei uns innerhalb und außerhalb ihres Studiums wohl, angenommen und integriert fühlen."
Zaby: Bitter finde ich, wenn junge Menschen zu uns kommen, ihr gesamtes Studium bei uns absolvieren und dann in die USA gehen und dort einen Job annehmen. Das sollten wir als Lerngelegenheit verstehen, womit wir wieder am Anfang sind: Die Menschen müssen sich bei uns innerhalb und außerhalb ihres Studiums wohl, angenommen und integriert fühlen.
Was wünschen Sie sich von der Politik?
Zaby: Die Integration von internationalen Studierenden ist eine Daueraufgabe. Wenn wir die Bildungsmigration stärken wollen als Weg, um den Fachkräftemangel zu lindern, dann können die Unterstützungsprogramme für die Hochschulen, so gut sie sind, nicht befristet sein. Sonst entstehen daraus in den Welcome Offices und Karriereservices keine nachhaltigen Strukturen. Zumal die neuen DAAD-Programme nicht so gut finanziert wurden seitens der Politik, wie die Hochschulen das gebraucht hätten – was schon die große Zahl der Förderanträge zeigt.
Helbig: Für einen gewichtigen Hinderungsgrund halte ich das studentische Wohnen. In Lübeck haben wir jetzt zum ersten Mal erlebt, dass Studierende aus dem Ausland, die bereits immatrikuliert waren, wieder gehen, weil sie keinen Platz zum Wohnen finden. Hier haben Hochschulen in anderen Ländern einen großen Wettbewerbsvorteil, wenn sie den Studienplatz gleich zusammen mit einem Wohnheimplatz anbieten können. Wenn wir Vergleichbares hätten, wäre das ein Game Changer.
Zaby: In Berlin haben wir die geringste Wohnheimquote aller Bundesländer und einen Riesenzustrom ausländischer Studierender. Selbst die 5000 Wohnheimplätze, die der ehemalige Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit einst versprach, sind noch nicht gebaut worden, und ich sehe keine Besserung, wenn der eigentlich auf unserem Campus vorgesehene Wohnheimbau gerade aus dem Landesinvestitionsplan gestrichen wurde. Dafür entstehen umso mehr privatfinanzierte und entsprechend teure Studentenapartments.
Helbig: Wir dürfen auch innerhalb der Hochschulen bestimmte Diskussionen nicht länger scheuen. Jetzt spreche ich wieder als TH-Präsidentin. Wir haben an den Hochschulen viele englischsprachige Studiengänge eingeführt, das ist gut so. Aber wenn wir es mit der Integration und der Begleitung in den Arbeitsmarkt ernst meinen, müssen wir das Erlernen der deutschen Sprache in den Curricula verbindlicher machen. Da drücken wir uns derzeit an vielen Stellen drumherum.
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Aus der Einleitung: 'Zusammenkommen ist ein Beginn, Zusammenbleiben ein Fortschritt, Zusammenarbeiten ein Erfolg.' (Henry Ford, amerikanischer Industrieller, 1863 – 1947). 1.1., Problemstellung: Mit diesem Zitat von Henry Ford möchte ich die vorliegende Arbeit eröffnen. Es ist sinnbildlich für die Abschnitte einer Fusion und verkörpert die wichtigen Meilensteine, die bis zum erfolgreichen Abschluss eines solchen Vorhabens erreicht werden müssen. Die Liste gescheiterter Fusionen ist lang. Beispielhaft sind hier Daimler und Chrysler, Time Warner und AOL, oder nicht zuletzt BMW und Rover zu nennen. Es ist die Wichtigkeit dieser Meilensteine 'zusammenkommen', 'zusammenbleiben' und 'zusammenarbeiten', die oftmals unterschätzt wird und aufgrund deren eine Fusion scheitern kann und somit unter Umständen nicht nur existenzielle Probleme hervorrufen kann. (Im Original Grafik) In der global vernetzten Wirtschaftswelt von heute stehen Fusionen an der Tagesordnung. Zwar stagniert die Anzahl der Fusionen in den vergangenen Jahren. Bei der immens hohen Anzahl an Wettbewerbern erscheint der Gedanke jedoch häufig als strategisch sinnvoll, einen direkten oder indirekten Wettbewerber zu übernehmen. Die Ziele einer Fusion reichen hierbei von der sinnvollen Nutzung von Synergieeffekten bis zu persönlichen Machtmotiven. (Im Original Grafik) Die Problematik einer Fusion besteht darin, dass der Prozess nicht einfach unternommen werden kann und sich der Erfolg bei weitem nicht von selbst einstellt. Es werden verschiedene Phasen durchlaufen, in denen jedem einzelnen Kriterium ein hohes Maß an Wichtigkeit zugemessen werden muss. In der Praxis scheitern Fusionen oft bereits vor Beginn oder während des eigentlichen Merger-Prozesses an vermeintlichen soft skill Faktoren, wie zum Beispiel an unterschiedlichen, vorherrschenden Unternehmenskulturen, die als Erfolgsfaktor von nicht zu unterschätzender Bedeutung sein können. Diese entwickeln sich individuell durch das Kollektiv der Mitarbeiter. Fusionierende Unternehmen unterschätzen die Kulturproblematik und gehen nur in ungenügendem Umfang auf diese ein. Unterschiedlichen Wertesystemen und Unternehmenskulturen wird also zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Beispielhaft hierfür ist die Tatsache, dass im Rahmen einer Fusion zwei verschiedene Belegschaften aufeinander treffen. Aus einem Unternehmen A und einem Unternehmen B soll nun das Unternehmen C gebildet werden. Beide sind jedoch in ihrer eigenen, individuellen Unternehmenskultur verankert. Das Ziel des Top-Managements jedoch ist, dass die beiden fusionierenden Unternehmen auch gemeinsam harmonieren und gemeinschaftlich miteinander arbeiten. Allerdings treffen nun zum ersten Mal im Rahmen der Integration zwei unterschiedliche Kulturauffassungen aufeinander und man stellt oftmals fest, dass sich eine grundsätzlich vorherrschende Abneigung gegenüber steht. Für ein Unternehmen können hieraus Konflikte entstehen. Beim Zusammenbringen zweier Unternehmenskulturen geschieht dies aus verschiedensten Gründen: zum einen beispielsweise aufgrund von Verteilungskämpfen. Hierbei geht es um die persönlichen Ressourcen, also um die Anzahl der Mitarbeiter, die Zuteilung von Arbeitsgütern und Betriebsstoffen. Weiterer Auslöser für einen Konflikt im Rahmen der Zusammenführung zweier Unternehmenskulturen stellt die neue Machtverteilung dar. Man stelle sich vor, das eine Unternehmen besitzt eine 6-Ebenen-Hierarchie, das andere zu fusionierende Unternehmen eine 9-Ebenen-Hierarchie und daraus soll nun eine neue Hierarchiestruktur mit lediglich noch vier Ebenen entstehen. Hierbei wird jedes Individuum, also jedes Mitglied der Organisation, versuchen seine persönlichen Ziele und den jeweiligen Status im Unternehmen zu behaupten und zu unterstreichen. Da jeder sein persönliches Ziel verfolgt, liegt es auf der Hand, dass es zwangsläufig zu Konflikten kommen wird. Für fusionierende Unternehmen stellt diese persönliche Komponente eine äußerst ungünstige Konstellation dar, da Konflikte für ein Unternehmen der Verlust von barem Geld darstellt. Anstatt sich auf die Kernkompetenzen und –aufgaben des Unternehmens zu konzentrieren, beschäftigen sich die Mitarbeiter eher mit der Sicherung ihrer persönlichen Egoismen. Diese Egoismen sind auch der Grund für die Tatsache, dass sich die Mitarbeiter der fusionierenden Unternehmen nicht aufeinander einlassen und versuchen, gemeinsam – zum Wohle des Unternehmens – zusammen arbeiten. Ein weiterer Grund ist die mangelnde Kommunikation zwischen dem Top-Management und den Mitarbeitern eines Unternehmens. Unterschiedliche herrschende Informationspolitiken führen so gegebenenfalls zu falschen Versprechungen gegenüber Kunden und Mitarbeitern. Zudem werden Letztere teilweise nicht in den Fusions-Prozess einbezogen, was zum Verlust von Erfahrungswerten und Know-How führen kann. Ausschlaggebend für das Scheitern einer Fusion ist meist die mangelnde Erfahrung mit einem solchen Veränderungsprozess. Unternehmen neigen zur Überschätzung des eigenen Know-Hows und unterschätzen zudem den hohen Umfang an Aufgaben, sowie die Wichtigkeit der detaillierten Informationen über das Unternehmen, mit dem eine Fusion angestrebt wird. Die Folgen dieser Aufzählung führen für ein Unternehmen meist zu einer Schmälerung des Gewinnes und gefährden somit dessen Hauptziele: Das Überleben am Markt, die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit und die Weiterentwicklung des Unternehmens. Es wird also deutlich, dass eine Integration der Unternehmen, ihrer unterschiedlichen Bereiche und ihrer u. U. verschiedenen Unternehmenskulturen wichtig ist. Neben der Integration dieser Bereiche, bedarf es zusätzlich der Integration der Informationstechnologie. Fusionen finden mitunter Länder übergreifend statt. Um an dieser Stelle eine, für das operative Geschäft äußerst wichtige, Vernetzung zu gewährleisten, muss auch dieser Bereich möglichst schnell und umfänglich integriert werden. Oftmals findet eine Integration (gemäß der theoretischen Literatur) im Rahmen der Post-Merger-Integration, der dritten Phase einer Fusion statt. Durch die späte Initiierung des Integrationsprozesses können jedoch unerwartete Probleme entstehen, die eine Fusion und die dazugehörige Integration scheitern lassen. Diese Nennung von Gründen, die zu einem Scheitern von Fusionen führen können ist beispielhaft und kann beliebig erweitert und ergänzt werden. Es soll somit gleichwohl ein erster Eindruck der Komplexität eines solchen Fusionsprozesses vermittelt werden. Es ist notwendig, eine Integration frühzeitig zu planen und zu initiieren. Vor welchen Herausforderungen Unternehmen bei einer Integration stehen und welche Ziele mit ihr verfolgt werden, soll hier verdeutlicht werden, um die Wichtigkeit der rechtzeitigen Planung und Durchführung der Integration zu unterstreichen. 1.2, Ziel der Arbeit und Vorgehensweise: Was muss unternommen werden, um den komplexen Prozess einer Fusion erfolgreich zu gestalten? Welche Einflussgrößen spielen bei Fusionen und der Integration eine wichtige Rolle und welche Bereiche werden von der Integration erfasst? Welche Methoden gibt es für das Top-Management, um eine Integration zu ermöglichen und diese erfolgreich umzusetzen? Gibt es integrationsfördernde Maßnahmen? Um passende Antworten auf diese Fragen zu finden, bedarf es einer umfassenden Beleuchtung des gesamten Merger-Prozesses. Ausgangspunkt hierbei ist die Frage, welche Ziele mit einer Fusion verfolgt werden und welche Teilschritte zunächst unternommen werden müssen, um eine Fusion anzukurbeln. Dabei werden die unterschiedlichen Meilensteine veranschaulicht und auf die Bedeutung der Unternehmenskultur eingegangen. Wie bereits dargestellt, spielt diese eine nicht hoch genug einzuschätzende Rolle für das Scheitern oder den Erfolg einer Fusion. Folglich wird der Begriff der Unternehmenskultur ausführlich beschrieben und die unterschiedlichen Formen beleuchtet. Des Weiteren werden verschiedene Instrumente vorgestellt und bewertet, die das Scheitern eines Zusammenschlusses bereits frühzeitig verhindern können und mit einem Katalog geeigneter Maßnahmen ein solcher erfolgreich gestaltet und der Erfolg nachhaltig gesichert werden kann. Kapitel 2 befasst sich zunächst mit der Bestimmung der Begriffe Fusion, Integration und Integrationsmanagement. Hierzu werden die allgemeinen Definitionen gemäß dem Wortlaut herangezogen, sowie der Gebrauch der Begriffe in den verschiedenen Bereichen erläutert. Zudem wird verdeutlicht welche Formen von Fusionen möglich sind. Anschließend wird die Bedeutung des Wortes Fusion begrifflich abgegrenzt, da die Literatur bisher weitestgehend lediglich von sog. MA-Transaktionen spricht, jedoch den Bereich der Fusionen nicht ausreichend abgegrenzt behandelt. In Kapitel 3 werden die Gründe, Motive und Ziele einer Fusion dargestellt. Gemäß den Motivtheorien nach Trautwein, werden den sieben Theorien die möglichen Motive zu einer Fusion zugeordnet. Es sollen die Ansätze beleuchtet werden, die das Top-Management dazu bewegen, die Entscheidung zu einer Fusion zu fällen. Hierzu werden zudem die konkreten Ziele einer Fusion, die gleichzeitig als Ausgangspunkt für die erfolgreiche Gestaltung des Fusionsprozesses zu betrachten sind, entwickelt. Kapitel 4 befasst sich mit dem wichtigen Thema der Unternehmenskulturen. Hierzu wird zunächst eine begriffliche Annäherung unternommen um schließlich eine Definition zu erhalten. Da Unternehmenskulturen ganz verschiedene Merkmale aufweisen, sollen diese dargestellt werde. Dazu gehören sogleich auch die unterschiedlichen Typologien von Unternehmenskulturen. Im weiteren Verlauf werden Instrumente zur Bestimmung der Kulturen zunächst kurz definiert und anschließend evaluiert. Anhand des Ergebnisses der Auswertung, werden sodann die relevantesten Instrumente erläutert. Zudem wird an-schließend noch das Thema der Kulturkollision, speziell bei Fusionen, erläutert und hierzu die Akkulturation näher thematisiert. Abschließend wird kurz dargestellt, warum die Unternehmenskultur zu einem Erfolgsfaktor werden kann. Kapitel 5 behandelt den gesamten Ablauf einer Fusion. Hierbei werden die einzelnen Schritte der drei Phasen erläutert und veranschaulicht. Der erste Abschnitt befasst sich mit der Vision einer Fusion, also der ausgehenden Frage, welche Vor- oder Nachteile eine Fusion zur Folge haben könnte. Abschnitt zwei – die sog. Merger-Phase – wird in zwei Sub-Phasen untergliedert. Notwendigerweise werden hier die jeweiligen Arbeitsschritte entsprechend zugeordnet und erläutert. Abschließend wird im dritten Abschnitt die Post-Merger-Phase beleuchtet. Sie ist für diese Arbeit von großer Bedeutung, da sie als Integrationsphase bezeichnet wird und die Hauptaktivitäten des Integrationsmanagements liegen. An dieser Stelle soll allerdings gleich erwähnt sein, dass im Rahmen dieses Kapitels eine prozessuale Darstellung anhand der gängigen Literatur erfolgt. Unterschieden wird im Rahmen der Erläuterung der Phasen zwischen den tatsächlichen Aktivitäten, die für eine erfolgreiche Fusion grundlegend sind und den eigentlichen Ergebnisse, die aus solchen Aktivitäten resultieren. Kapitel 6 beschäftigt sich mit den Einflussgrößen, die die Integration grundsätzlich, aber auch im Rahmen einer Fusion, prägen können. Zu diesem Zweck werden kurz die stärksten Einflussfaktoren und deren Auswirkungen erläutert. Ausgehend von den vorangegangenen Kapiteln wird in Kapitel 7 beleuchtet, wo das Integrationsmanagement seinen Ansatz findet und vor welcher konkreten Herausforderung es steht. Hierfür erfolgen zunächst einige Grundlagen, die bzgl. des Integrationsmanagements und des Integrationsprozesses berücksichtigt werden sollten. Zu diesem Zweck werden die allgemeinen Integrationsziele im Rahmen einer Fusion erläutert und im weiteren Verlauf dargestellt, welche Aufgaben erfüllt werden müssen, um eine Fusion erfolgreich durchführen und abschließen zu können und welche Bereiche vom Integrationsprozess erfasst werden. Zudem werden Ansätze entwickelt, mit denen eine Integration erleichtert wird und bereits präventiv Spannungen vermieden werden können. Des Weiteren wird beschrieben, welche Maßnahmen konkret die Integration fördern und wie Akzeptanz geschaffen werden kann. Um diese Fragen ausführlich zu beantworten, werden zusätzlich eigene Gedanken und Ansatzpunkte entwickelt. Abschließend werden die erarbeiteten Erkenntnisse nochmals überprüft und in Kapitel 8, als Fazit, zusammengefasst.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: Eidesstattliche ErklärungII InhaltsverzeichnisIV AbbildungsverzeichnisVIII TabellenverzeichnisIX AbkürzungsverzeichnisX 1Einführung1 1.1Problemstellung1 1.2Ziel der Arbeit und Vorgehensweise5 2Begriffsbestimmung und -abgrenzung8 2.1Fusion, Integration, Integrationsmanagement8 2.2Arten von Fusionen11 2.2.1Horizontale Fusionen11 2.2.2Vertikale Fusionen12 2.2.3Laterale / Diagonale Fusionen12 2.3Abgrenzung12 3Motive, Gründe, Ziele14 4Unternehmenskultur20 4.1Definition20 4.1.1Unternehmen20 4.1.2Kultur20 4.1.3Unternehmenskultur21 4.2Elemente und Merkmale22 4.2.1Artefakte23 4.2.1.1 Machtkultur24 4.2.1.2 Rollenkultur25 4.2.1.3 Aufgabenkultur25 4.2.1.4 Personenkultur25 4.2.2Werte und Normen26 4.2.3Grundannahmen26 4.2.4Weitere auftretende Unternehmenskulturen27 4.2.4.1 Unterstützungsorientierte Unternehmenskultur27 4.2.4.2 Regelorientierente Unternehmenskultur27 4.2.4.3 Innovationsorientierente Unternehmenskultur27 4.2.4.4 Zielorientierte Unternehmenskultur28 4.2.4.5 Traditionsorientierte Unternehmenskultur28 4.2.4.6 Reaktionsorientierte Unternehmenskultur28 4.2.4.7 Stagnationskultur29 4.3Bestimmung der Unternehmenskulturen30 4.3.1Ziele der Kulturbestimmung31 4.3.2Gesprächspartner31 4.3.3Methoden zur Bestimmung von Unternehmenskulturen32 4.3.4Auswertung35 4.3.4.1 Fragebögen36 4.3.4.2 Gruppeninterviews37 4.3.4.3 Persönliche Interviews37 4.3.4.4 Beobachtung38 4.3.4.5 Facettenmodell nach Köbi und Wüthrich39 4.3.4.6 Firmenrundgang40 4.4Kulturkollision bei Fusionen41 4.4.1Akkulturation42 4.4.2Phasen der Akkulturation42 4.4.3Formen der Akkulturation45 4.5Unternehmenskultur als Erfolgsfaktor für Integrationen46 5Prozessuale Phasen einer Fusion50 5.1Pre-Merger (Planungsphase)50 5.1.1Entscheidungsrelevante Fragen51 5.1.1.1 Das 'Ob'51 5.1.1.2 Das 'Wann'52 5.1.1.3 Das 'Wie'52 5.1.2Pre-Merger-Instrumente53 5.1.2.1 Screening53 5.1.2.2 Vorfeldsondierung54 5.1.2.3 Transaktionsstruktur55 5.1.2.4 Simulation55 5.1.2.5 Grobbewertung55 5.1.3Geheimhaltungsvereinbarungen56 5.1.4Verhandlungsprotokolle57 5.1.5Letter of Intent (LoI)57 5.1.6Vorvertrag59 5.2Merger (Durchführungsphase)60 5.2.1Due Diligence und Pre-Acquisition Audit60 5.2.1.1 Legal Due Diligence (Rechtliche Due Diligence)61 5.2.1.2 Financial Due Diligence (Finanzielle Due Diligence)62 5.2.1.3 Marketing Due Diligence62 5.2.1.4 Tax Due Diligence(Steuerliche Due Diligence)63 5.2.1.5 Strategic und Market Due Diligence64 5.2.1.6 Environmental Due Diligence (Umwelt Due Diligence)66 5.2.1.7 Human Resource Due Diligence67 5.2.1.8 Cultural Due Diligence (Kulturelle Due Diligence)68 5.2.1.9 Organizational und IT Due Diligence70 5.2.2Signing (Vertragsabschluss)70 5.2.3Closing (Eigentumsübertragung)71 5.3Post-Merger (Integrationsphase)72 5.3.1Initiierung der Integration72 5.3.1.1 Integrationsteam72 5.3.1.2 Kommunikation73 5.3.2Verknüpfung der Unternehmensführung74 5.3.3Festlegung der Unternehmensstrategie74 5.3.4Besetzung der Führungsebene75 5.3.5Personalwirtschaftliche Ausrichtung76 5.3.6Operatives Geschäft koordinieren76 6Einflussgrößen auf die Integration77 6.1Einflussgröße Unternehmenskultur77 6.1.1Distanz der Unternehmenskulturen77 6.1.2Stärke der Unternehmenskulturen78 6.1.3Dominanz einer Unternehmenskultur79 6.2Einflussgröße Unternehmensstruktur79 6.2.1Ausmaß der organisatorischen Zusammenlegung79 6.2.2Größe der Unternehmen80 6.3Einflussgröße Mensch81 6.3.1Angst als individueller Faktor81 6.3.1.1 Angst vor Arbeitsplatzverlust81 6.3.1.2 Angst vor finanziellen Einbußen82 6.3.2Angst als strukturbedingter Faktor82 6.3.2.1 Angst vor Ressourcenverteilung82 6.3.2.2 Angst vor Machtverlust82 7Integrationsmanagement84 7.1Die Herausforderung84 7.2Integrationsziele85 7.3Grundlagen der Integration86 7.3.1Integrationsgrad87 7.3.2Zuständigkeiten im Rahmen der Integration88 7.3.2.1 Integrationsführung88 7.3.2.2 Integrationsmanager88 7.3.2.3 Integrationsteams89 7.4Integrationsbereiche90 7.4.1Strategische Integration91 7.4.2Strukturelle Integration91 7.4.3Operative Integration92 7.4.3.1 Integration des Bereichs Einkaufs93 7.4.3.2 Integration des Bereichs Produktion93 7.4.3.3 Integration des Bereichs Vertrieb94 7.4.3.4 Integration des Wissensmanagements94 7.4.3.5 Integration der Verwaltung95 7.4.4Technologische Integration95 7.4.5Personelle Integration95 7.4.6Kulturelle Integration96 7.4.7Externe Integration97 7.5Integration in den Fusionsphasen98 7.5.1Pre-Merger99 7.5.1.1 Bildung einer Vision100 7.5.1.2 Machbarkeitsstudie und Szenario-Entwicklung100 7.5.1.3 Strategieentwicklung und Umsetzungsplan102 7.5.1.4 Relationship-Management104 7.5.2Merger105 7.5.2.1 Kommunikation105 7.5.2.2 Personalwirtschaftliche Maßnahmen durchführen111 7.5.2.3 Umgestaltung der Aufbau- und Ablauforganisation113 7.5.2.4 Verknüpfung der IT117 7.5.3Post-Merger117 7.5.3.1 Integration der Kulturen118 7.5.3.2 Akzeptanzmanagement119 7.5.4Öffentlichkeitsarbeit119 7.6Integrationscontrolling120 8Fazit122 LiteraturverzeichnisXII InternetverzeichnisXIX AnhangverzeichnisXXITextprobe:Textprobe: Kapitel 4.3.4.1, Fragebögen: Bei der durchgeführten Untersuchung bzgl. der Methoden zur Bestimmung von Unternehmenskulturen, erhielt die Methode Fragebögen einzusetzen mit '17' den höchsten Wert der Untersuchung. Fragebögen gehören zur Gattung quantitativer Befragungen. Grundlage eines Fragebogens sind eine vorherige Dokumentenanalyse, sowie ein Firmenrundgang und die Durchführung einer Beobachtung. Auf den ersten Eindruck erscheint diese Methode somit sehr zeit- und kostenintensiv, jedoch wird hier lediglich die Durchführung einer Befragung mittels Fragebögen betrachtet. Um die Ergebnisse qualitativer Befragungen statistisch abzusichern, besteht die Möglichkeit eine quantitative Befragung durchzuführen. Hierzu wird ein Fragebogen schriftlich festgelegt, anhand dessen (vorab strukturierte) Antworten beispielsweise angekreuzt werden können. Die Auswertung solcher quantitativen Befragungen gibt Aufschluss über die Meinungsverteilung und kann prozentual genau bestimmt werden. Mit nur durchschnittlichem Zeitaufwand und eher geringen Kosten wird dieses Modell vor allem aufgrund seiner Befragungstiefe sehr interessant und findet in der Praxis häufig Anwendung. Quantitative Befragungen als Analysemethode zur Erfassung von Unternehmenskulturen stellen sich als äußerst hilfreiches Mittel dar. Sie erfassen unter Berücksichtigung der Ergebnisse der qualitativen Befragungen wichtige Kulturmerkmale und liefern wichtige Erkenntnisse bezüglich der Verhaltensmuster, Werte und Normen der Organisationsmitglieder. Durch die Auswertung und Interpretation der Ergebnisse erhält man ein exakteres Bild der herrschenden Unternehmenskultur und kann zugleich erkennen, 'welche Aspekte der Kulturveränderung für das Unternehmen die größte Bedeutung haben oder in welchen Bereichen […] der größte Handlungsbedarf besteht'. 4.3.4.2, Gruppeninterviews: Eine weitere Methode ist die Anwendung von Gruppeninterviews. In diesen werden mehrere Organisationsmitglieder gemeinsam interviewt. Unter der Annahme, dass Unternehmenskultur ein gemeinsamer Lernprozess ist und gleichzeitig durch diesen entwickelt wird, können hier wichtige Erkenntnisse, z.B. zur Ausprägung der Kommunikation entnommen werden. Mit einem Ergebniswert von '16' im Rahmen der durchgeführten Untersuchung unterstreicht diese Methode ihre Einsetzbarkeit. Vor allem hinsichtlich der Befragungstiefe dieses Instruments ist zu erkennen, dass hieraus weitreichende Erkenntnisse zu ziehen sind. Dennoch ist bei kritischer Würdigung dieser Anwendungsmethode festzustellen, dass vor allem durch die Gruppeninterviews subjektive und unter Umständen irrelevante Einzelmeinungen ausgeblendet werden. Auch hier ist auf die Unternehmenskultur, die durch einen gemeinsamen Lernprozess entsteht, abzustellen. 4.3.4.3, Persönliche Interviews: Neben den Gruppeninterviews stellen persönliche Interviews zusätzliche Informationen bereit. Als zugehörige methodische Ansätze stehen hierzu Gruppen-interviews und Fragebögen in Form von quantitativen Befragungen zur Verfügung. Bei der Untersuchung der Methoden zur Bestimmung von Unternehmenskulturen erhielten persönlichen Interviews einen Wert von '15'. Es ist hierbei vor allem wieder auf das Kriterium der Befragungstiefe hinzuweisen. Dieser Bestwert zeigt, dass neben den Gruppeninterviews und dem Einsatz von Fragebögen sich die Durchführung persönlicher Interviews hinsichtlich der Befragungstiefe am meisten lohnt. Im Rahmen der persönlichen Interviews (qualitative Befragung) werden Organisationsmitglieder zu möglichst vielen relevanten Themen befragt. Zwar wird die Befragung anhand eines Interviewkataloges organisiert, dennoch besteht aber die Möglichkeit, die Befragung nicht statisch, sondern flexibel und variabel durchzuführen. Hiermit wird sichergestellt, dass ein breites Spektrum an Informationen durch das jeweilige Organisationsmitglied bereitgestellt wird und über alle relevanten Bereiche Auskünfte zur Verfügung gestellt werden. Bei genauerer Betrachtung der qualitativen Befragungsmethode wird deutlich, dass diese Alternative ebenfalls äußerst gewinnbringend eingesetzt werden kann. Durch die Filterung der Informationen, die während des Einzelgesprächs preisgegeben werden, können Rückschlüsse auf die Unternehmenskultur gezogen werden. Dies ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass jedes einzelne Organisationsmitglied für die Unternehmenskultur von prägendem Charakter ist. 4.3.4.4, Beobachtung: Eine Methode zur Erfassung der Unternehmenskultur ist die Beobachtung. In der oben durchgeführten Untersuchung erhält sie einen Wert von '15'. Ähnlich wie bei der bereits vorgestellten Methode der Fragebögen, befinden sich Zeitaufwand und Kosten in einem moderaten und annehmbaren Bereich. Dennoch können gerade bei dieser Methode große Rückschlüsse auf die Organisationsmitglieder und ihr Verhalten gezogen werden. Hierbei werden vor allem die von den Organisationsmitgliedern angewendeten Problemlösungsmethoden betrachtet und das Ermitteln der herrschenden Unternehmenskultur als Lernpro-zess verstanden. Es wird hinterfragt, aus welchen Gründen bei der individuellen Problemlösung jeweils unterschiedliche Handlungsalternativen gewählt werden und warum diese zugleich innerhalb des Unternehmenskollektivs akzeptiert werden. Zudem wird die Methode der Beobachtung im Rahmen von Sitzungen eingesetzt. Hierbei kann eine sich entwickelnde Dynamik erfasst, sowie vorherrschende Werte analysiert werden. Voraussetzung für diese Beobachtungsmethode ist zum einen Beobachtungskompetenz. Das bedeutet, dass in den Prozessabläufen Beobachter (also die handelnden Organisationsmitglieder) beobachtet werden. Daher wird die Beobachtungskompetenz auch als 'Kompetenz der Beobachtung zweiter Ordnung' bezeichnet. Eine weitere Voraussetzung ist auf der anderen Seite das Vorliegen von Beobachtungstoleranz. Diese spiegelt sich in der Akzeptanz der Beobachtung durch Beobachter seitens der agierenden Organisationsmitglieder wieder. Unterzieht man diese Methode einer kritischen Würdigung, ist jedoch festzustellen, dass nicht nur diese zwei Voraussetzungen alleine ausschlaggebend für die Bestimmung der Unternehmenskultur sind. Vielmehr ist zusätzlich die Tatsache zu berücksichtigen, dass interne Beobachter ebenfalls von der herrschenden Unternehmenskultur geprägt sind und diese entsprechend bewerten. Wird die Unternehmenskultur allerdings durch externe Experten ermittelt, so wenden diese die in ihrem externen Unternehmen vorherrschende Unternehmenskultur an.
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Lebensmittelverluste sind größtenteils unbeabsichtigt und werden unter anderem durch Ineffizienz im Lebensmittelsystem verursacht (vgl. FAO 2017, S. 4). Ein großer Anteil des Lebensmittelabfalls entsteht bei Verbraucher*innen in Privathaushalten. Das sorgt für einen Anteil von etwa einem Drittel an Lebensmitteln, die vom Anbau beziehungsweise der Schlachtung bis zu unseren Tellern verlorengehen. In Deutschland sind das ungefähr elf Millionen Tonnen verschwendete Lebensmittel pro Jahr (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2023b). Welche Auswirkungen hat das und was wird dagegen getan?In diesem Blogbeitrag wird es um die komplexen Ursachen der Lebensmittelverschwendung gehen, genauso wie um die Auswirkungen, die die Lebensmittelverluste sowohl auf die Umwelt als auch auf die Gesellschaft haben. Es soll dargestellt werden, welche Strategien Deutschland beschlossen hat, um die Lebensmittelverschwendung zu verringern. Die Initiative "Zu gut für die Tonne" (https://www.zugutfuerdietonne.de) kann ein Tipp für alle Blogleser*innen sein. Welchen Beitrag die Umweltbildung in der Schule leisten sollte, soll als letztes kurz angeschnitten werden.In diesem Blogbeitrag sollen Lebensmittel nach der Definition der Europäischen Verordnung (EG) Nr. 178/2002 verstanden werden. Laut dieser sind Lebensmittel"alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden" (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2019).Dazu zählen auch alle Stoffe, die bei der Produktion zugesetzt werden. Tiere und Pflanzen sind erst nach der Schlachtung bzw. Ernte Lebensmittel (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2019).Die FAO (vgl. 2011, S. 2) definiert Lebensmittelverluste als Abnahme der essbaren Lebensmittelmasse in dem Teil der Lieferkette, der speziell zu essbaren Lebensmitteln für den menschlichen Verzehr führt. Diese treten in Produktions-, Ernte-, Nachernte- und Verarbeitungsstufen der Lebensmittelversorgungskette auf. Als Lebensmittelverschwendung werden Lebensmittelverluste bezeichnet, die am Ende der Lebensmittelkette auftreten und für die Händler und Verbraucher verantwortlich sind (vgl. FAO 2011, S. 2).In einer weiteren Definition wird hinzugefügt, dass Lebensmittelverluste entlang der gesamten Versorgungskette auftreten, neben Produktions-, (Nach-)Ernte- und Verarbeitungsstufen betrifft das demnach auch Lagerung und Transport. Lebensmittelverluste oder -verschwendung werden stets als Abnahme der Menge und/oder Qualität von Lebensmitteln gesehen, die für den menschlichen Verzehr bestimmt waren (vgl. FAO 2017, S. 4).Ursachen der LebensmittelverschwendungLebensmittelverschwendung findet an allen Stellen der Lebensmittelwertschöpfungskette (auch Lebensmittelversorgungskette) statt (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2021). Diese umfasst nach dem Bundeszentrum für Ernährung (vgl. 2023) verschiedene Stufen. Die erste Stufe besteht aus der Produktion und der Erzeugung und beinhaltet Agrarproduktion und Viehzucht. Die zweite Stufe betrifft die Weiterverarbeitung, demnach die Herstellung der Lebensmittel. Die dritte Stufe, Handel und Vermarktung, betrifft den Groß- und Einzelhandel. Als letztes folgt der finale Konsum, sowohl im Bewirtungssektor als auch in den Privathaushalten. Lebensmittelverluste entstehen nicht nur in den Stufen der Versorgungskette, sondern gerade auch bei Transport und Lagerung zwischen und nach den einzelnen Stufen (vgl. Bundeszentrum für Ernährung 2023).Durch die globale Vernetzung in den letzten Jahrzehnten wurde auch der Ernährungssektor vernetzt. Strukturelle Veränderungen sowie der gesellschaftliche Wandel haben die Lebensmittelversorgungskette demnach verlängert (vgl. FAO 2009, S. 18 f.).Weltweit gehen durch die verschiedenen Stufen der Lebensmittelwertschöpfungskette ein Drittel der produzierten Lebensmittel verloren. Nach Schätzungen der Welternährungsorganisation sind das jedes Jahr 1,3 Milliarden Tonnen (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2021). Dafür verantwortlich sind vor allem Industrie, Handel, Großverbraucher und Privathaushalte. Letztere verursachen den größten Anteil an Müll. Laut Eyerund/ Neligan (vgl. 2017, S. 2) wirft jede*r Bundesbürger*in im Jahr rund 82 kg Nahrungsmittel in den Müll, davon wäre ein großer Teil, zum Beispiel Speisereste, vermeidbar. Ein kleiner Teil, zum Beispiel Knochen und Bananenschalen, müssen tatsächlich entsorgt werden.Seit ungefähr 1870 ist die Herstellung von Lebensmitteln stärker wissensbasiert und Fortschritte ermöglichen, dass aus wenigen Rohstoffen eine große Vielfalt an Lebensmitteln produziert werden kann (vgl. Hamatschek 2021, S. 351). Allerdings sorgen eine weniger effiziente Ernte sowie neue Transport-, Lagerungs- und Verarbeitungstechniken für größere Verluste. Dazu gehören Ernteverluste, Überproduktion auf dem Feld und Verluste in der Produktion, weil beispielsweise fehlerhaft geplant wurde oder es technische Störungen gab (vgl. Hamatschek 2021, S. 356f.).Die ersten Verluste entstehen in der landwirtschaftlichen Produktion, wenn beispielsweise das Obst und Gemüse nicht den Standards entspricht, von Schädlingen befallen oder auf andere Art und Weise verunreinigt ist. In der Verarbeitung entstehen Abfälle, weil nur Teile eines Lebensmittels gebraucht werden können oder maschinell bedingt Reste entstehen. Auch Etikettierungsfehler können dazu führen, dass Lebensmittel ganz aussortiert werden müssen (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2020).Im Groß- und Einzelhandel kann es passieren, dass Bestellmengen nicht der Nachfrage entsprechen oder die Ware falsch gelagert und gekühlt wurde. Auch bei fehlerhaften Logistikprozessen kann es zu unnötigem Abfall kommen. Wenn Lebensmittel zu lange gelagert wurden und überreif sind beziehungsweise das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, kann es auch so zu Lebensmittelverschwendung kommen (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2020).In der sogenannten Außer-Haus-Verpflegung, mit welcher die Gemeinschaftsverpflegung in Betriebskantinen, Schulen, Kindergärten oder der Gastronomie gemeint ist, kommt es zu Lebensmittelverschwendung durch eine schwankende Nachfrage, zu großen Portionsgrößen oder fehlerhaften Einschätzungen (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2020).Haushalte sind für zwei Drittel der Abfallmenge verantwortlich. Häufige Gründe für die hohe Lebensmittelverschwendung in Privathaushalten sind unüberlegte Einkäufe, zu große Portionspackungen im Supermarkt, ein falsches Verständnis für das Mindesthaltbarkeitsdatum oder unzureichendes Wissen über die richtige Lagerung von Lebensmitteln (vgl. Hamatschek 2021, S. 356f.). Dazu kommen in der Regel andere individuelle Gründe, die sehr vielfältig sein können (vgl. Universität Stuttgart/ Institut für Siedlungswasserabbau, Wassergüte- und Abfallwirtschaft 2012, S. 216) und von den Lebensumständen, der Lebensweise der Haushalte und bestimmten Situationen abhängig sind (vgl. ebda., S. 219).Des Weiteren liegt bei der Ermittlung von Ursachen der Lebensmittelverschwendung eine besondere Schwierigkeit vor. Die Haushalte müssen mitmachen und Gründe für ihren Lebensmittelabfall angeben. Dazu müssen sie in der Lage sein, den Grund anzugeben und diesen auch angeben zu wollen, denn das Ergebnis wird verfälscht, wenn Personen anfangen, im Sinne sozialer Erwünschtheit zu antworten (vgl. ebda., S. 219).Es ließ sich feststellen, dass Personen, die Lebensmittelknappheit im Zweiten Weltkrieg erlebt haben, deutlich weniger Lebensmittel verschwenden als heutige Generationen (vgl. Eyerund/ Neligan 2017, S. 3). Neben individuellen Gründen kommen außerdem gesellschaftliche Ursachen hinzu. Die heutige westliche Welt lebt in einer Konsum-, Überfluss- und Wegwerfgesellschaft, welche das Wegwerfen von Lebensmitteln begünstigt.In den Supermärkten herrscht ein Überangebot an Lebensmitteln. Durch eine zunehmende Mobilisierung und Flexibilisierung der Gesellschaft sind die meisten Lebensmittel immer vorhanden. Dazu kommen soziographische Veränderung wie die Zunahme an Ein-Personen-Haushalten oder die Verstädterung (vgl. Universität Stuttgart/ Institut für Siedlungswasserabbau, Wassergüte- und Abfallwirtschaft 2012, S. 216).Durch die Zunahme des ökonomischen Wohlstands ist auch der Konsum von Fleisch seit Mitte des 20. Jahrhunderts gestiegen (vgl. Dräger de Teran 2013, S. 11). Soziale Faktoren bestimmen die gesellschaftlich-kulturellen Essgewohnheiten. Die Industrialisierung sorgte für eine Entfremdung von Nahrungsmitteln durch die Nahrungsmittelproduktion, die immer komplexer wurde. Vor allem bei den Menschen, die keine Lebensmittelknappheit erlebt haben, führte das zu einer verminderten Wertschätzung der Lebensmittel, weil die Herkunft der Lebensmittel zunehmend unbekannt wurde (vgl. Universität Stuttgart/ Institut für Siedlungswasserabbau, Wassergüte- und Abfallwirtschaft 2012, S. 217).AuswirkungenAuf die UmweltJährlich wird für verschwendete Lebensmittel eine Fläche bearbeitet und geerntet, die so groß ist wie Mecklenburg-Vorpommern. Von diesen 2,4 Millionen Hektar, die gespart werden könnten, werden 1,4 Millionen Hektar für die Produktion von tierischen Produkten benötigt (vgl. Dräger de Teran 2013, S. 13). Würden alle Lebensmittel gegessen werden, die auch hergestellt wurden, würde demnach eine Fläche von 2,4 Millionen Hektar für andere Zwecke frei werden. Diese Fläche könnte beispielsweise als Grünfläche genutzt werden und beim Kampf gegen den Verlust der Biodiversität helfen (vgl. Noleppa 2012, S. 7).Von den jährlich rund 6,5 Millionen Tonnen Lebensmittelabfall aus Privathaushalten in Deutschland sind ungefähr ein Drittel Obst und Gemüse, am zweithäufigsten werden Speisereste weggeworfen und am dritthäufigsten Brot und Backwaren. Ein kleiner Teil ist unvermeidbar (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2023c). Im Pro-Kopf-Vergleich der Lebensmittelverschwendung der EU liegt Deutschland mit seinem Lebensmittelabfall im EU-Durchschnitt, genauso wie Frankreich oder Österreich (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2020).Folgeprobleme dieser Lebensmittelverschwendung werden seit Jahrzehnten immer größer. Dazu gehört beispielsweise die Erzeugung von Treibhausgasemissionen (vgl. Brunner 2009, S. 33). Noleppa (vgl. 2012, S. 25) unterscheidet zwischen direkten Treibhausgasemissionen von Lebensmitteln, die während der Lebensmittelwertschöpfungskette zu Stande kommen, und indirekten Treibhausgasemissionen, die aus Landnutzungsänderungen entstehen.CO2-Emissionen bilden sich bei der Erzeugung, Produktion und Weiterverarbeitung von Lebensmitteln, während Lachgas-Emissionen durch anorganische und organische Stickstoffdüngung gebildet werden. Methan-Emissionen sind die Folge einer Wiederkäuerverdauung sowie der Nutzung von organischem Dünger und Reisanbau (vgl. Dräger de Teran 2013, S. 14). In internationalen Inventaren und unterschiedlichen Standards werden die indirekten Emissionen im Vergleich zu den direkten Emissionen allerdings häufig nicht berücksichtigt.Von 2009 bis 2010 wurde ein leichter Anstieg der Lebensmittelnutzung der Deutschen von 667 kg auf 677 kg verzeichnet. Dieser gering wirkende Anstieg sorgte allerdings für einen Mehrausstoß an indirekten Emissionen von ungefähr 40 Millionen Tonnen. Da die landwirtschaftliche Nutzfläche Deutschlands irgendwann seine Grenze erreicht hat, müssen zusätzlich Flächen im Ausland in Anspruch genommen werden (vgl. Dräger de Teran 2013, S. 14).Es wird ein weiteres Problem des hohen Lebensmittelverbrauchs sichtbar: die Flächennutzung. Die von Deutschland in anderen, meist ärmeren Ländern genutzten Flächen fehlen anschließend beim Anbau von Nahrungsmitteln für die Ernährung der einheimischen Bevölkerung (vgl. Verbraucherzentrale 2022). Um diese ethische Problemsituation soll es weiter unten gehen.Des Weiteren sorgen eine hohe Materialnutzung, ein hoher Energieverbrauch, Bodenkontamination und eine Reduktion der Artenvielfalt für Umweltproblematiken aufgrund der Lebensmittelherstellung (vgl. Brunner 2009, S. 33). Laut Brunner (vgl. 2009, S. 34) hat besonders die Industrialisierung die Landwirtschaft produktiv gemacht, wodurch die oben genannten Umweltproblematiken gestiegen sind, besonders die schädigenden Emissionen."Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich die moderne Landwirtschaft vom Energielieferanten zum Energieverbraucher entwickelt" (Brunner 2009, S. 34).Nach Angaben der OECD führen energieintensive Produkte, wie zum Beispiel Fertigmahlzeiten und der Konsum von tierischen Lebensmitteln, insbesondere Fleisch, zu höheren Umweltbelastungen. Deshalb lässt sich sagen, dass die Konsument*innen durch ihr Nachfrageverhalten einen Einfluss haben, jede*r Bürger*in entscheidet selbst, was gekauft und gegessen wird (vgl. Brunner 2009, S. 34). Ein Beispiel dafür wäre der Vergleich zwischen dem Kauf einer Tomate aus der eigenen Region, welche weniger Umweltschäden verursacht und dem Kauf eines abgepackten Tomatensalats, der höhere Emissionen mit sich bringt. Die Lebensmittelversorgungskette sorgt nicht nur für Umweltbelastungen, sondern hat auch Auswirkungen auf die Menschheit, was im Folgenden gezeigt werden soll.Auf den MenschenDer Weltagrarbericht (IAASTD) hat 2009 durch das Menschenrecht auf Nahrung gefordert, dass kein Mensch mangelernährt sein darf. Laut Hamatschek (vgl. 2021, S. 355) wird damit Realität und Anspruch gegenübergestellt. Der globale Welthunger-Index (WHI)-Wert von 2022 zeigt, dass die Fortschritte gegen die Hungersnot stagnieren. Im Jahr 2021 ist die Zahl der chronisch Hungerleidenden auf fast 828 Millionen gestiegen, die Zahl der akut Hungernden lag bei ungefähr 192 Millionen (vgl. Von Grebmer et al. 2022, S. 3).Ursachen für diese dramatische Situation sind die "strukturelle Ungleichheit und Macht-Asymmetrien im Ernährungssystem" (vgl. Deutsche Welthungerhilfe e.V. 2022). Aufgrund globaler Krisen und fehlendem politischem Willen soll sich die Hungersnot laut der Deutschen Welthungerhilfe e.V. (vgl. 2022) noch weiter verstärken. Die COVID-19-Pandemie hat die Problematik bereits verstärkt (vgl. Möhle 2023, S. 87). Das ethische Problem zeigt: die Weltproduktion von Lebensmittel reicht theoretisch, um die Menschheit zu ernähren, wenn Lebensmittel fair verteilt und weniger verschwendet werden würden (vgl. Deutsche Welthungerhilfe e.V. 2022).Nicht nur die Hungersnot ist ein Problem, sondern auch soziale, ökonomische und gesundheitliche Folgen des Ernährungssystems. Beispiele dafür sind die Konzentration der Marktmacht in den reicheren Gebieten, die Zunahme an Krankheiten durch die Ernährung, Bauernhofsterben, Übergewicht als Gegensatz zur Ernährungsarmut und (Umwelt-)Kosten, die auf die Allgemeinheit abgewälzt werden (vgl. Brunner 2009, S. 33).Des Weiteren entstehen allein in Privathaushalten pro Jahr finanzielle Verluste von rund 25 Milliarden Euro durch weggeschmissene Lebensmittel. Anschließend entsteht dadurch eine Menge an Abfall, der entsorgt werden muss. Das führt zu weiteren Kosten und Umweltbelastungen (vgl. Dräger de Teran 2013, S. 15).Die Problematik der Flächennutzung sorgt gerade in den armen Ländern, in denen typischerweise Ackerflächen für die Ernährung in den wohlhabenderen Ländern genutzt werden, für Probleme. Der dortigen Bevölkerung fehlen die für Lebensmittelexporte genutzten Flächen anschließend für die eigene Ernährung (vgl. Verbraucherzentrale 2022). Häufig werden Futtermittel für tierische Lebensmittel angebaut.Durch ein Überangebot und eine Überproduktion entsteht in den Industriestaaten ein leichtfertiger Umgang mit Lebensmitteln. Die dadurch entstehenden Lebensmittelverluste erhöhen laut der Verbraucherzentrale (2022) wieder die Nachfrage nach Rohstoffen wie zum Beispiel Getreide. Das sorgt für einen Preisanstieg von Grundnahrungsmitteln, worunter arme Länder besonders leiden.Zu einer Knappheit an Anbauflächen und einem Preisanstieg kommen meistens eine unzureichende Versorgung und Infrastruktur hinzu. Die Lebensmittel, die ärmere Länder besitzen, können manchmal nicht transportiert, gelagert oder gekühlt werden und gehen deshalb auch auf diese Art verloren (vgl. Verbraucherzentrale 2022). Deshalb ist es wichtig, dass die FAO jedes Jahr einen Bericht zur Nahrungsmittelsicherheit (The State of Food Security and Nutrition in the World) vorlegt. Die drei wichtigsten Indikatoren sind dabei die Prävalenz der Unterernährung (PoU), das Befragungselement, die Food Inequality Experience Scale (FIES), und der Welthungerindex (WHI) (vgl. Möhle 2023, S. 91).GegenstrategienNachhaltiger Konsum lässt sich folgendermaßen definieren:"'Nachhaltig' ist ein Konsumverhalten dann zu nennen, wenn es die Bedürfnisse der Konsumenten in einer Weise erfüllt, die die Absorptions- und Regenerationsfähigkeit der natürlichen Mitwelt nicht überfordert" (Brunner 2014, S.5, zit. n. Scherhorn et al. 1997, S. 7).Daraus lässt sich schließen, dass das momentane Ernährungssystem gemeinsam mit der Lebensmittelwertschöpfungskette in großen Teilen nicht nachhaltig sein kann. Schon auf der UN-Konferenz in Rio 1992 wurde über nachhaltige Entwicklung in Verbindung mit dem Abbau nicht-nachhaltiger Konsum- und Produktionsweisen gesprochen. Beim Weltgipfel in Johannesburg 2002 wurde das Ziel einer "weltweiten Förderung nachhaltiger Konsum- und Produktionsmuster" (Brunner 2009, S. 31) beschlossen. Mittlerweile weiß man, dass ein Konsummuster nicht weltweit zu verallgemeinern ist, sondern sich je nach Region und Wohlstand unterscheidet. Es wird deshalb ein besseres Verständnis für Konsummuster gesucht und versucht, Lebensstile und Konsummuster in Richtung Nachhaltigkeit zu lenken (vgl. Brunner 2009, S. 31, zit. n. Wuppertal Institut 2005).Laut Brunner (vgl. 2009, S. 45) sind Lebens- und Ernährungsstile eng mit der Identität der Menschen verknüpft und von sozialen, kulturellen und ökonomischen Kontexten beeinflusst. Damit sich das Konsument*innenverhalten ändert, müssen sich zuerst kontextuelle Rahmenbedingungen ändern. Dazu gehören Angebote und Anreizsysteme sowie kommunikative Maßnahmen. Auch die Voraussetzungen der Konsument*innen müssen sich ändern.Ein geringerer Fleischkonsum wird durch die Ernährungsökologie eingefordert. Genauso wie die Wahl von ökologisch produzierten und wenig verarbeiteten Lebensmitteln oder regional und saisonal erzeugten Produkten. Ein veränderter Fleischkonsum sowie die Zunahme wenig verarbeiteter Lebensmittel haben längerfristig gesundheitlich und ökologisch eine positive Wirkung (vgl. Brunner 2009, S. 34). Hier sind kommunikative Maßnahmen besonders wichtig. Die Wertschätzung für Lebensmittel sollte gesteigert werden (vgl. Universität Stuttgart/ Institut für Siedlungswasserabbau, Wassergüte- und Abfallwirtschaft 2012, S. 280).Ein sorgsamerer Umgang mit Lebensmitteln führt in der Regel zu weniger Lebensmittelverschwendung. Eine gesündere, fleischärmere Ernährung sorgt für weniger Umweltbelastungen in der Lebensmittelversorgungskette sowie bei der Flächennutzung. Flächen, die frei werden, weil beispielsweise weniger Futtermittel angebaut werden muss, könnten für den Schutz von Ökosystemen genutzt werden oder positiv zur Welternährung beitragen.Denn bei der Lebensmittelverschwendung entstehen nicht nur viele Tonnen an Müll, sondern auch die verwendeten Ressourcen wurden verschwendet. Dazu gehören wertvoller Ackerboden, Wasser und Dünger, was gerade heute, in Zeiten einer kommenden Wasserknappheit, zum Problem werden könnte. Auch die bereitgestellte Energie für Verarbeitung und Verbrauch wurde damit umsonst erzeugt. Treibhausgasemissionen wie CO2 werden umsonst freigesetzt. Die nationale Strategie Deutschlands will deshalb dafür sorgen, dass unnötige Abfälle erst gar nicht entstehen (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2023c). Laut der FAO ist die"Verringerung von Lebensmittelverlusten und -verschwendung […] ein wichtiger Hebel für umfassendere Verbesserungen unserer Lebensmittelsysteme zur Verbesserung der Lebensmittelsicherheit, der Qualität und der Nachhaltigkeit sowie zur Steigerung der Effizienz" (FAO 2018).Die Agenda 2030, die 2015 von den Vereinten Nationen beschlossen wurde, enthält 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung. Zwei Ziele sprechen die Lebensmittelverschwendung an. Das zweite Ziel, welches "Kein Hunger" heißt und gegen die dramatische Hungersnot vorgehen soll, will eine Ernährungssicherheit erreichen und die nachhaltige Landwirtschaft fördern. Das zwölfte Ziel heißt "Nachhaltige/r Konsum und Produktion". Es soll die Nutzung natürlicher Ressourcen fördern und einer hohen Nahrungsmittelverschwendung entgegenwirken (vgl. Bertelsmann Stiftung o. J.).Jedoch muss die Politik die formulierten Ziele anhand von Maßnahmen durchsetzen (vgl. Universität Stuttgart/ Institut für Siedlungswasserabbau, Wassergüte- und Abfallwirtschaft 2012, S. 280). Dafür ist eine gute Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft der Landwirtschaft, der Lebensmittelindustrie, des Einzelhandels, der Wissenschaft und der Politik notwendig (vgl. ebda., S. 282). Um diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu bewältigen, wurde im Februar 2019 die Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) beschlossen.Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung Im Koalitionsvertrag wurde das Ziel gesetzt, die Lebensmittelverschwendung branchenspezifisch zu reduzieren. Diesen Auftrag will die Nationale Strategie (siehe hier) nach und nach durchsetzen, denn in Zeiten von Krisen wie dem Russland-Ukraine-Krieg, der Klimakrise und steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen wird dies immer dringender (vgl. Die Bundesregierung 2022).Die Lebensmittelabfälle und -verluste sollen in allen Stufen der Lebensmittelwertschöpfungskette verringert werden mit besonderem Augenmerk auf den Schnittstellen zwischen den Sektoren (vgl. Bundeszentrum für Ernährung 2023c). Das große Ziel ist, die Lebensmittelverschwendung bis 2030 um 50% zu reduzieren (vgl. Die Bundesregierung 2022). Dazu wurden vier Handlungsfelder geschaffen: der Politische Rahmen, die Prozessoptimierung der Wirtschaft, eine Verhaltensänderung bei allen Akteur*innen und Potenziale durch Forschung und Digitalisierung (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2021b).Durch den Politischen Rahmen wurden verschiedene Gremien gebildet. Beispielsweise wurde das Bund-Länder-Gremium gebildet, um ressort- und länderübergreifend die Strategie zu steuern und weitere Handlungsfelder zu identifizieren. Die Arbeitsgruppe AG Indikator SDG 12.3 besteht aus Vertreter*innen des BMEL, des Verbraucherschutzes, des Thünen-Instituts und weiteren und koordiniert die Berichterstattung (vgl. Bundeszentrum für Ernährung 2023c). Weil alle Akteure entlang der Lebensmittelversorgungskette vernetzt sein müssen, wurde ein Nationales Dialogforum geschaffen."Vertreter:innen aus Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Organisationen arbeiten in den fünf sektorspezifischen Dialogforen Primärproduktion, Verarbeitung, Groß- und Einzelhandel, Außer-Haus-Verpflegung und Private Haushalte zusammen" (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2021b).Das zweite Handlungsfeld, die Prozessoptimierung der Wirtschaft, hat Maßnahmen geschaffen, mit denen Unternehmen eigenverantwortlich Ziele gegen die Lebensmittelverschwendung umsetzen sollen. Ein Beispiel wäre die Überprüfung von Werbeaussagen auf Produkten hinsichtlich der Wertschätzung von Lebensmitteln.Das dritte Handlungsfeld, die Verhaltensänderung bei allen Akteur*innen, ist für die Informations- und Kommunikationsarbeit zuständig, um eine Verhaltensänderung gegenüber Lebensmitteln zu schaffen. Dafür wurde die Initiative "Zu gut für die Tonne!" geschaffen, um die es weiter unten gehen wird. Des Weiteren sollten Informations- und Lehrmaterialien zur Sensibilisierung von Kindern und jungen Erwachsenen erstellt werden, in denen es um die Vorteile einer Reduzierung der Lebensmittelverschwendung geht (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2021b).Das letzte Handlungsfeld, Potenziale durch Forschung und Digitalisierung, steht für die Erforschung und Entwicklung innovativer digitaler Möglichkeiten. Beispiele wären intelligente Verpackungen oder Systeme zur Erstellung von Nachfrageprognosen (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2021b). Die Bundesregierung hat deshalb 16 Millionen Euro bereitgestellt, um Forschungsprojekte zu ermöglichen (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2019, S. 9f.). So soll die Strategie immer weiterentwickelt werden.Eine große Rolle spielt des Weiteren die Erfassung von Lebensmitteln, denn nur mit dem Wissen, wo, wie viele und warum Lebensmittel weggeworfen werden, kann die Lebensmittelverschwendung reduziert werden (vgl. Bundeszentrum für Ernährung 2023c).Weitere Maßnahmen sollen die Umsetzung der Strategie fördern: die Erleichterung der Weitergabe von Lebensmitteln oder eine strafrechtliche Neubewertung des Containers soll überdacht werden (vgl. Bundeszentrum für Ernährung 2023c); für ein gesamtgesellschaftliches Umdenken in Richtung mehr Wertschätzung gegenüber Lebensmitteln wurde 2016 der Tag der Lebensmittelverschwendung durch den WWF geschaffen. Am 2. Mai landet statistisch gesehen die Menge an Lebensmitteln, die von Januar bis Mai produziert wurde, im Müll (vgl. Die Bundesregierung 2022). Initiative "Zu gut für die Tonne!"Durch die Initiative (https://www.zugutfuerdietonne.de) soll das Thema Lebensmittelverschwendung stärker in die Öffentlichkeit gebracht werden. Sie hat das Ziel, Verbraucher*innen für den Prozess der Lebensmittelproduktion und die notwenige Wertschätzung zu sensibilisieren (vgl. Bundeszentrum für Ernährung 2023c). "Zu gut für die Tonne!" wird vom BMEL durchgeführt und informiert Bürger*innen durch eine Website über Ursachen der Lebensmittelverschwendung und Möglichkeiten, bei der Reduzierung zu helfen (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2019, S. 9).Die Bundesregierung will alle Stufen der Lebensmittelkette miteinbeziehen. Auch die Länder spielen eine wichtige Rolle, denn Länder und Kommunen sind für das Abfallmanagement zuständig, und auch hier wurden einige Aktionen und Initiativen gestartet. Die Wirtschaft erarbeitet Nachhaltigkeitsstrategien, während die Wissenschaft in Forschungseinrichtungen neue Methoden und Techniken entwickelt (vgl. ebda.). Besonders wichtig ist, dass neben diesen Bereichen gerade auch die Zivilgesellschaft die Lebensmittelverschwendung reduziert."Zahlreiche Vereine und Organisationen tragen dazu bei, dass nicht mehr marktgängige Lebensmittel, die noch für den Verzehr geeignet sind, als Lebensmittel verwendet werden" (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2019, S. 8).Tafeln, foodsharing und Brot für die Welt sind Beispiel dafür. Spendensysteme, Internetforen und sogenannte fairTeiler helfen bei der Verteilung von Lebensmitteln, die noch brauchbar sind, aber sonst weggeschmissen werden würden.Verbraucher*innen, die über den Prozess der Herstellung und beispielsweise den Ressourceneinsatz bei der Produktion der Lebensmittel Bescheid wissen, erkennen eher den Wert der Lebensmittel und die Wichtigkeit, den Umgang damit nachhaltiger zu gestalten (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2023b). Die Website der Initiative stellt deshalb ein großes Angebot an Informations-, Bildungs- und Werbematerial bereit.Bürger*innen bekommen Tipps zur Lagerung von Lebensmitteln und Rezepte sowie Tutorials zur Resteverwertung. Auch ein Thema ist das bedarfsgerechte Einkaufen und Zubereiten. Ein langfristiges Ziel der Initiative ist es, Bürger*innen zu zeigen, wie man das eigene Verhalten im Alltag ändert, um so wenig Lebensmittel wie möglich wegzuwerfen (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2023b).Veranstaltungen wie die "Aktionswoche Deutschland rettet Lebensmittel!" (https://www.zugutfuerdietonne.de/unsere-aktivitaeten/aktionswoche-deutschland-rettet-lebensmittel) soll Bürger*innen bei der Umsetzung helfen. Am 29. September ist der International Day of Awareness of Food Loss and Waste der FAO. Aus diesem Grund startet die Initiative des BMEL eine bundesweite Aktionswoche mit Aktionen zum Thema Lebensmittelverschwendung. Sowohl digital als auch vor Ort können Bürger*innen teilnehmen. 2023 liegt der Schwerpunkt auf dem Thema "Kochen und Essen nach Maß" (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2023d).Bewusstseinsförderung & Umweltbildung zum Thema LebensmittelverschwendungDie Deutsche UNESCO-Kommission sieht einen direkten Zusammenhang zwischen den Handlungsfeldern Lebensstil, Konsum, Klimawandel, globaler Gerechtigkeit und Ernährung. Diese sind entscheidend für eine nachhaltige Entwicklung (vgl. Innemann 2013, S. 66). Daraus entsteht die Anforderung einer Ernährungsbildung, die praxisorientiert stattfindet und eine alltägliche und individuelle Umsetzung fördert (vgl. ebda., S. 75). Für eine entsprechende Kompetenzförderung müssen laut Innemann (S. 66) Lehr-Lern-Arrangements geschaffen werden, was der Bildung in der Schule eine besondere Rolle zuschreibt.Laut Schlegel-Matthies (2005) ist die Ernährungsbildung in der Schule ein "unverzichtbarer Bestandteil der Vermittlung zentraler Kompetenzen für die Lebensgestaltung und insbesondere [für die] […] Gesundheitsförderung". Sie hat nicht nur Einfluss auf das Individuum, sondern auf die ganze Gesellschaft. Ziel ist, einen lebenslangen, selbstbestimmten und verantwortlichen Umgang mit Lebensmitteln und der eigenen Ernährung zu schaffen (vgl. Schlegel-Matthies 2005). Der erste Schritt ist deshalb die Vermittlung von natur-, sozial- und kulturwissenschaftlichem Basiswissen (vgl. ebda.).Weil einfaches Wissen über Ernährung in den meisten Fällen nicht ausreicht, um sich gesund und nachhaltig zu ernähren, ist es wichtig, dass neben der Vermittlung von theoretischem Fachwissen ein Diskurs in der Klasse stattfindet, bei dem über förderliche gesellschaftliche Strukturen und die Motivation sowie Bereitschaft und Kompetenzen für eine Ernährungswende in der Gesellschaft gesprochen wird (vgl. Schlehufer/ Goetz 2014, S. 9).Eine besondere Herausforderung für Lehrkräfte und für Schüler*innen stellt die Ernährungsbildung deshalb dar, weil das meist persönlich und emotional besetzte Bedürfnisfeld Ernährung mit einem komplexen, normativen Leitbild der Nachhaltigkeit verbunden werden muss (vgl. Innemann 2013, S. 66f.). Schulnahe Projekte können bei der Vermittlung nachhaltiger Ernährung helfen, weil sie besonders praxisorientiert sind (vgl. ebda., S. 74).Der Bildungsanspruch einer Ernährungs- und Verbraucherbildung durch die Vermittlung von Kompetenzen zur "Bewältigung von Anforderungen im Rahmen der alltäglichen Lebensführung und für eine aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben" (Schlegel et al. 2022, S. 109) besteht bereits von Anfang an. Der Sachunterricht in der Primarstufe und der weiterführende Unterricht in der Sekundarstufe soll die Bildungsziele durchgängig erreichbar machen.Da die derzeitigen Bildungspläne den Anforderungen der notwendigen Ernährungsbildung nicht entsprechen, haben Schlegel et al. (vgl. 2022, S. 110) zehn wichtige Bildungsziele formuliert, die lebenswelt-, kompetenz-, problem- und handlungsorientiert sein sollen. Durch diese sollen individuelle und gesellschaftliche Bezüge hergestellt und notwendige Kenntnisse und Fähigkeiten erworben werden (vgl. ebda., S. 111). Im Folgenden sollen einige davon kurz aufgeführt werden.Es soll sich mit den Chancen und Risiken einer nachhaltigen Lebensführung und den dafür notwendigen Ressourcen auseinandergesetzt werden. Dabei soll klar werden, inwiefern Individuen bei ihrem Verhalten oder Handeln voneinander abhängig sind. Die Auswirkungen der Konsumentscheidungen von Konsument*innen müssen reflektiert und analysiert werden und dabei gesellschaftliche Verhältnisse betrachtet werden.Es ist wichtig, dass die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Gesundheit sowie der eigenen Identität verstanden werden. Praxisnah sollen deshalb Einflussfaktoren, Begrenzungen und Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen, individuellen Handels betrachtet werden. Unterschiedliche Konzepte und gerade die Organisation der eigenen Lebensführung müssen außerdem behandelt werden (vgl. Schlegel et al. 2022, S. 110). Mithilfe dieser Ziele sollen die Schüler*innen bei der Entwicklung eines nachhaltigen Lebensstils inklusive einer nachhaltigen Ernährung unterstützt werden. Gerade in der heutigen Welt, in der global mehr Nahrungsmittel zur Verfügung stehen als notwendig wären, ist ein nachhaltiger Umgang besonders wichtig (vgl. Kofahl/Ferdaouss 2013, S. 6).FazitEine vollständige Vermeidung von Lebensmittelverlusten ist nicht möglich, eine deutliche Verringerung jedoch schon, wenn Maßnahmen ergriffen und Strategien umgesetzt werden (vgl. Verbraucherzentrale 2022, S. 283). Dies ist außerdem notwendig, um die Nachhaltigkeitsziele der UN von 2015 durchzusetzen. Die Lebensmittelverluste sollen nicht nur in der Lebensmittelversorgungskette während und zwischen den einzelnen Stufen reduziert werden, sondern gerade auch beim finalen Konsum in der heutigen Wegwerfgesellschaft (vgl. Eyerund/ Neligan 2017, S. 4).Aufgrund der schwerwiegenden Auswirkungen auf die Umwelt, wie beispielsweise der Ausstoß von Treibhausgasemissionen und ein hoher Landverbrauch sowie eine Gefährdung der Biodiversität, sollten Maßnahmen schnell umgesetzt werden. Auch aufgrund unethischer Dilemmasituationen, wie der dramatischen Hungersnot, muss dringend gehandelt werden. Die Umsetzung von Strategien stellt die Lebensmittelindustrie sowie die Konsument*innen vor Herausforderungen (vgl. Hamatschek 2021, S. 355). Ein besonderes Augenmerk wurde auf die Sensibilisierung der Bevölkerung gelegt, weswegen die Initiative "Zu gut für die Tonne!" geschaffen wurde (vgl. Eyerund/ Neligan 2017, S. 4). Weil die Sensibilisierung für einen nachhaltigen Umgang mit Lebensmitteln schon früh beginnen sollte, muss die Umweltbildung in der Schule praxisorientiert und alltagsnah sein.QuellenBertelsmann Stiftung (o. J.): SDG-Portal. Die Agenda mit den 17 SDGs. URL: https://sdg-portal.de/de/ueber-das-projekt/17-ziele (Zugriff am 08.09.2023).Brunner, K.-M. (2009): Nachhaltiger Konsum - am Beispiel des Essens. In: SWS-Rundschau, 49(1), S. 29-49. URL: https://nbn- resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-250335 (Zugriff am 11.09.2023).Brunner, K.-M. (2014): Nachhaltiger Konsum und soziale Ungleichheit. In: Working Papers. Verbraucherpolitik, Verbraucherforschung. Wien: AK-Wien. URL: https://www.arbeiterkammer.at/infopool/akportal/Working_Paper_Nachhaltiger_Konsum.pdf (Zugriff am 16.09.2023). Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2019): Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung. URL: https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Ernaehrung/Lebensmittelverschwendung/Nationale_Strategie_Lebensmittelverschwendung_2019.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (Zugriff am 08.09.2023). Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2021): Zu gut für die Tonne! Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung. Hintergrund. URL: https://www.zugutfuerdietonne.de/strategie/hintergrund (Zugriff am 09.09.2023). Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2021b): Zu gut für die Tonne! Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung. Handlungsfelder. URL: https://www.zugutfuerdietonne.de/strategie/handlungsfelder (Zugriff am 17.09.2023). Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2023a): Fragen und Antworten zum Pakt gegen Lebensmittelverschwendung. URL: https://www.bmel.de/SharedDocs/FAQs/DE/faq-pakt-lmv/FAQList.html#f104622(Zugriff am 06.09.2023) Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2023b): Zu gut für die Tonne! Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung. URL: https://www.zugutfuerdietonne.de/strategie (Zugriff am 08.09.2023). Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2023c): Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung. 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Der Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) und Rektor der Universität zu Köln, Joybrato Mukherjee, über den Wohnungsmangel für internationale Studierende, den Kampf der Hochschulen gegen Antisemitismus und die Rolle des DAAD in einer Welt von Kriegen und Krisen.
Joybrato Mukherjee, 50, ist seit dem 1. Januar 2020 Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD). Seit 2023 ist er zudem Rektor der Universität zu Köln, davor war er von 2009 bis 2023 Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen. Foto: Kay Herschelmann.
Herr Mukherjee, Deutschland ist zur weltweiten Nummer 3 der beliebtesten Ziele internationaler Studierender aufgestiegen. Begegne ich einem glückli- chen DAAD-Präsidenten?
380.000 internationale Studierende,Australien überholt,den Ruf als leistungsstarkes Wissenschaftssystem gestärkt – natürlich ist das eine schöne Momentaufnahme und Ausdruck dessen, was unsere Hochschulen in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren geleistet haben. Aber es ist eben eine Momentaufnahme, und auf der dürfen wir uns nicht ausruhen.
Sehen Sie die Gefahr?
Ich sehe in Umfragen unter internationalen Studierenden und Studieninteressierten, an welchen Stellen wir besser werden müssen. Es gibt heute viel mehr englischspra- chige Studiengänge als früher, aber die Internationalisierung des Lehr- und Lernan- gebots bleibt eine Dauerherausforderung, bei der es um mehr geht als nur die Sprache. Wir müssen uns – Stichwort Willkommenskultur – fragen, ob wir abseits der Hochschulen als Gesellschaft in allen Regionen darauf vorbereitet sind, Studierende aus dem Ausland so zu empfangen, wie sie es erwarten dürfen.
Und, sind wir es?
Ich stelle zum Beispiel fest, dass Ausländerbehörden in einigen Kommunen nicht das Personal zur Verfügung haben, das sie bräuchten. Es ergibt sich ein Spannungsver- hältnis, wenn wir einerseits ein international attraktiver Studienstandort sein wollen, andererseits aber nicht flächendeckend die nötigen Ressourcen dafür zur Verfügung stellen.
Ist Willkommenskultur nur eine Frage der Ressourcen oder auch der Mentalität?
Die Mentalität spielt sicher auch eine Rolle. Ich würde mich aber davor hüten, in der Hinsicht pauschale Aussagen zu treffen. Dafür sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Städten und Regionen und je nach Verortung der Menschen im politischen Spektrum zu groß. Was man konstatieren muss: Obwohl wir uns in Zeiten des Fachkräftemangels befinden, gibt es in bestimmten Regionen bei manchen Betrieben nicht die Bereitschaft, Menschen ausländischer Herkunft einzustellen – selbst nachdem sie einen deutschen Studienabschluss erworben haben. Hier können wir als DAAD allein wenig ausrichten, es handelt sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
"Wir brauchen eine Sprachenpolitik, die dem Fachkräftemangel und dem verschärften internationalen Wettbewerb um Studierende angemessen ist. Ich benutze hier bewusst die Mehrzahl 'Sprachen'".
Womöglich liegt ein Problem doch auch in den Hochschulen selbst. Wenn mehr englischsprachige Studiengänge dazu führen, dass mehr internationale Studierende angezogen werden, die dann am Ende ihres Studiums nicht fließend Deutsch sprechen, werden viele von ihnen in der mittelständisch geprägten Wirtschaft keine Chance auf einen Job erhalten.
Darum müssen wir beides hinbekommen. Wir brauchen eine Sprachenpolitik, die dem Fachkräftemangel und dem verschärften internationalen Wettbewerb um Studierende angemessen ist. Ich benutze hier bewusst die Mehrzahl "Sprachen": Ja, wir brauchen mehr international ausgerichtete Studienangebote, in englischer Sprache, möglicherweise auch in anderen modernen Fremdsprachen. Internationalisierung ist nicht zwangsläufig gleich Anglisierung. Auf jeden Fall sind wir durch solche Studiengänge attraktiv für junge Talente, die noch nicht über die nötigen Deutschkompetenzen verfügen. Zum anderen müssen wir als deutschsprachiges Land sicherstellen, dass wir im Laufe des Studiums Stück für Stück die nötigen Deutschkenntnisse vermitteln, die in der Regel für den Arbeitsmarkt gebraucht werden – und ohne die man sich auf Dauer bei uns kaum heimisch fühlen wird. Wenn wir beides schaffen, wird eine vernünftige Sprachenpolitik daraus.
Also viel Englisch, Spanisch, Französisch in den unteren Semestern und ein verpflichtender Deutschanteil, der in höheren Semestern immer weiter ansteigt?
Das ist ein mögliches Modell. Ein anderes besteht darin, Studierende für englischsprachige Masterstudiengänge zu gewinnen und parallel zum Studium die Deutschkenntnisse, die viele schon aus ihren Heimatländern mitbringen, durch intensive Deutschkurse zu perfektionieren. Wichtig ist, dass man die Englischsprachigkeit oder jede andere Fremdsprache nicht gegen den Erwerb der deutschen Sprache ausspielt.
Fast noch drängender als die Fragen von Bürokratie,Willkommenskultur und Sprache scheinen derzeit die Sorgen vieler internationaler Studierender auf dem Wohnungsmarkt zu sein. Entsteht da ein ernstlicher Wettbewerbsnachteil für Deutschlands Hochschulen?
In den großen Metropolen wie Berlin, Hamburg, München und Köln ist der studentische Wohnungsmarkt extrem angespannt, natürlich trifft das insbesondere auch die internationalen Studierenden. Ich kann aber nicht erkennen, dass die Lage in anderen Ländern durchweg rosiger ist. Die Niederlande etwa fahren ihr internationales Studierendenmarketing genau deshalb massiv zurück, nämlich nicht aus irgendwelchen rechtspopulistischen Motiven, sondern weil der Mietmarkt so umkämpft ist – was auch mit der stark gestiegenen Zahl internationaler Studierender und Forscher*innen zusammenhängt.
Was fordern Sie von Bund und Ländern?
Wir sehen, dass im gesamten deutschen Immobilienmarkt zu wenig neu gebaut wird. Daraus kann man folgern, dass die schon stark gestiegenen Mietpreise weiter durch die Decke schießen werden, zunehmend auch in den kleineren und mittelgroßen Städten. Wir brauchen also viel mehr bezahlbaren Wohnraum, insbesondere auch viel mehr bezahlbaren studentischen Wohnraum. Die diesbezüglichen Investitionen sind dringend nötig. Ich sehe dazu auch die politische Bereitschaft, das Thema ist nicht umsonst prominent im Koalitionsvertrag vertreten.
Sehen Sie auch das politische Handeln?
Dass gehandelt wird, ist meine Erwartung und meine Hoffnung. In haushalterisch schwierigen Zeiten verlangt dies aber von den politischen Entscheidungsträgern, die entsprechenden Prioritäten zu setzen, und zwar auf allen Ebenen, von den Kommunen über die Länder bis hinauf zum Bund. In vielen anderen Staaten liegt die Bewirtschaftung studentischen Wohnraums in der Hand der Hochschulen, in Deutschland haben wir dafür zumeist die Studierendenwerke. Damit diese international ungewöhnliche Arbeitsteilung kein limitierender Faktor ist, müssen Bund und Länder die Studierendenwerke hinreichend unterstützen. Das Bund-Länder-Programm "Junges Wohnen" ist ein Anfang.
Die Abbrecherquoten von internationalen Studierenden liegen deutlich über denen ihrer einheimischen Kommilitonen. Das ist seit vielen Jahren bekannt, doch tun die Hochschulen genug, um das zu ändern?
In der Regel haben internationale Studierende, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, einen Nachteil, den man nicht wegdiskutieren kann. Wir sehen aber, dass es Unterschiede etwa zwischen Bachelor- und Masterstudierenden gibt. Im Masterbereich liegt der Studienerfolg viel höher, was mit der anderen Klientel, aber auch mit dem kompensatorischen Effekt zusammenzuhängen scheint, den die im Master sehr viel häufigeren englischsprachigen Studiengänge erzeugen. In jedem Fall müssen wir über die Rahmenbedingungen nachdenken, die mehr sind als die Sprache und die auch die kulturellen Besonderheiten eines Wissenschaftssystems umfassen. So wird im deutschen System mit seinen zum Teil sehr großen Hochschulen das selbstständige Arbeiten viel stärker abverlangt, verbunden mit deutlich schlechteren Betreuungsrelationen, als die meisten Studierenden es etwa in den USA oder in Australien antreffen würden. Deshalb legen wir als DAAD bei unserer großen Fachkräfteoffensive so viel Wert auf die Betreuung als ein wichtiges Element.
"In den meisten Teilen Deutschlands
fehlt der politische Konsens, das Thema
Bezahlstudium erneut anzugehen."
Eine bessere Betreuung ist aufwendig und teuer. Die TU München macht es den von Ihnen genannten Staaten nach und erhebt Studiengebühren für Studierende aus Drittländern – in einer international eher unterdurchschnittlichen, für Deutschland aber bislang ungekannten Höhe. Was sagen Sie als Rektor der Universität zu Köln dazu: nachahmenswert?
Anders als in Bayern hätten wir in NRW die rechtlichen Möglichkeiten dazu gar nicht. Und das einzige Bundesland, in dem die Hochschulen sogar Studienbeiträge für Studierende aus Drittstaaten erheben mussten, Baden-Württemberg, will diese wieder abschaffen. Was zeigt: In den meisten Teilen Deutschlands fehlt der politische Konsens, das Thema Bezahlstudium erneut anzugehen. Abgesehen davon bin ich gespannt auf die weitere Entwicklung an der TUM. Allerdings – und das meine ich als Kompliment – kann man die TUM nicht zum Maßstab machen, weil sie eine über viele Jahre aufgebaute internationale Marke besitzt wie keine andere deutsche Hochschule. Insofern kann sich die TUM am ehesten leisten, solche Studienbeiträge zu erheben. Als DAAD-Präsident wiederum möchte ich anmerken, dass es zum international wahrgenommenen Markenkern des deutschen Hochschulsystems gehört, hohe Qualität in der Breite anzubieten, und das eben individuell gebührenfrei.
Was macht es eigentlich mit diesem Markenkern, wenn Deutschland seit dem 7. Oktober immer wieder mit antisemitischen Vorfällen von sich reden macht und in Potsdam ein Geheimtreffen stattfand, auf dem über die "Remigration von Millionen Menschen" weg aus Deutschland schwadroniert wurde?
Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit sind ja leider keine neuen Themen, sie begleiten auch die Hochschulen, die Teil der Gesellschaft sind, seit Jahren. Ich würde hier aber abschichten wollen: Wir dürfen eine rationale, argumentationsbasierte Diskussion über Migration nicht tabuisieren. Für mich ist die Grenze da überschritten, wo Menschen definieren, wer "richtiger" Deutscher sein darf und wer, um einen Kampfbegriff von rechts außen zu nehmen, nur "Passdeutscher" sei. Das erinnert an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte, in denen plötzlich Teile des deutschen Volkes für nicht deutsch erklärt wurden. Um auf Ihre Frage zurückzukommen, welchen Einfluss die aktuellen Ereignisse und Entwicklungen auf das Image Deutschlands bei internationalen Studierenden haben: Das werden wir erst mit Zeitverzug sehen. In Gesprächen mit unseren weltweiten Partnern hören wir jedenfalls von Sorgen angesichts des um sich greifenden Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus. Wir hören aber auch, dass die großen Demonstrationen gegen diese Umtriebe, wie wir sie überall in Deutschland erlebt haben, genauso wahrgenommen werden. Das stimmt mich hoffnungsvoll.
Der DAAD stellt jetzt Fördermittel gegen Antisemitismus und Rassismus zur Verfügung – allerdings nur eine Million Euro. Ist das mehr als Symbolik?
Das ist ein klares Zeichen, das wir mit Unterstützung des Auswärtigen Amts setzen – dem ich hierfür herzlich danke. Natürlich hoffen wir, dass die Hochschulen zu diesem Zweck noch von anderer Seite Geld erhalten. In Köln nehmen wir eigene Mittel in die Hand, um öffentliche Veranstaltungen zu organisieren, neulich zum Beispiel in Anwesenheit des israelischen Botschafters Ron Prosor. Der Sicherheitsaufwand war, leider, immens, aber es war uns wichtig, deutlich zu machen: Es ist in diesem Land eine Selbstverständlichkeit, dass der Botschafter des Staates Israel eine deutsche Universität besucht, um mit Studierenden zu diskutieren.
In Berlin war es neulich keine Selbstverständlichkeit mehr, dass eine Richterin des Obersten Gerichtshofs Israels nicht niedergeschrien wurde an einer deutschen Universität.
Ich bin froh, dass wir in Köln eine anregende, auch kritische Diskussion führen konnten, in einem vollen Hörsaal mit über 300 Studierenden. Es wurde beispielsweise explizit danach gefragt, ob die Selbstverteidigungsmaßnahmen Israels im Gaza-Streifen angemessen sind; es wurden die zivilen Opfer der Militäroperation thematisiert, und Botschafter Prosor hat sich allen Fragen gestellt. Ein solcher Diskurs ist unmöglich, wenn man sich gegenseitig niederschreit. Alle Mitglieder unserer Hochschulen tragen die Verantwortung, ihn möglich zu machen. Was meine Kolleg*innen in den Hochschulleitungen anbetrifft, so habe ich keinen Zweifel daran, dass sie alle ihnen möglichen Maßnahmen ergreifen, sobald es nötig wird.
Im Januar hat Ihre zweite Amtszeit als DAAD- Präsident begonnen, Herr Mukherjee. Was wird Ihr Leitmotiv sein, um in dieser so schwierigen Phase internationaler Konflikte Wissenschaftskooperationen zu gestalten?
Sie haben die entscheidende Vokabel gerade selbst benutzt: Gestalten.Angesichts einer Verkrisung der geopolitischen Rahmenbedingungen müssen wir vom Reagieren wieder zum Gestalten kommen. Für uns als DAAD kann ich in Anspruch nehmen, dass wir in den vergangenen Jahren mit einer Vielzahl von Strategiepapieren, mit Vorschlägen für neue Programme und Initiativen und mit der praktischen Weiterentwicklung unserer Austauschformate unseren Beitrag zu dieser Gestaltung geleistet haben. Das, was wir gerade erleben, ist kein Übergangsstadium, es wird nicht von Zauberhand eine neue Stabilität entstehen; Spannungen, Krisen und Interessenkonflikte werden allgegenwärtig bleiben und eher noch zunehmen.
Ist für wissenschaftliche Kooperationen aber nicht das Vertrauen ins Gegenüber konstitutiv? Wie kann man wissenschaftlich zusammenarbeiten,wenn man seinem Partner misstraut?
Die Antwort kann nicht binär sein – Vertrauen oder Misstrauen. Wie überall in der Politik und in den Beziehungen zwischen Staaten haben wir es mit Gradienten zu tun. Der Begriff "Wertegemeinschaft" wird weiter seine Berechtigung haben, weil es immer eine Gruppe von Staaten, Kulturen und Wissenschaftssystemen geben wird, zwischen denen eine vertrauensvolle und intensive Kooperation auf ähnlichem Wertefundament möglich ist. Es wird aber Systemrivalen geben, mit denen die Zusammenarbeit herausfordernd ist, die man trotzdem nicht ignorieren kann und mit denen man sich auf gemeinsame Spielregeln einigen muss. Beide Seiten müssen definieren, was für sie vertretbar und verantwortbar ist. Und zwischen beiden Extremen – um aus dem binären Denken herauszukommen – wird es viele Abstufungen geben, auch in den internationalen Wissenschaftsbeziehungen – mit Partnern, die sich weder der einen noch der anderen Gruppe zuordnen lassen, auch nicht zuordnen lassen wollen. So ein Beispiel ist etwa Vietnam: ein kommunistischer Staat, der aber seine eigenen Konfliktlinien zu seinem großen Nachbarn, der Volksrepublik China, hat. Es ist in unserem Interesse, die Beziehungen zu Vietnam aktiv zu gestalten.
"Ich plädiere dafür, dass wir in einer
turbulenten Welt mit ihren sehr
unterschiedlichen Interessenlagen unsere
eigenen Überzeugungen zwar sehr klar
kommunizieren, aber aufhören, die Gegenseite
stets belehren zu wollen."
Vor ein paar Jahren sprachen Sie in Interviews noch von "schwierigen Partnerländern", jetzt sprechen Sie von Systemrivalen. Ist China von Ersterem zu Letzterem geworden?
China ist für Deutschland und die EU immer mehreres gleichzeitig: Partner, Wettbewerber, Systemrivale, je nach Kontext flackern die verschiedenen Attribute unterschiedlich stark auf. Den Begriff "schwierige Partner" haben wir im DAAD durch "herausfordernde Partner" ersetzt, denn es geht um den richtigen Umgang mit den Herausforderungen in den Beziehungen. Ich plädiere dafür, dass wir in einer turbulenten Welt mit ihren sehr unterschiedlichen Interessenlagen unsere eigenen Überzeugungen zwar sehr klar kommunizieren, aber aufhören, die Gegenseite stets belehren zu wollen. Jedes Land ist anders, selbst EU-Mitglieder können je nach ihrem innenpolitischen Zustand herausfordernde Partner sein, deshalb müssen wir mit jedem Land die richtige Umgangsweise finden.
Was ist die richtige Umgangsweise mit China?
Wir wollen auch künftig eng mit der chinesischen Wissenschaft zusammenarbeiten, das müssen wir auch. Aber natürlich gibt es Bereiche, in denen wir unsere eigenen Sicherheitsinteressen haben, in denen wir uns genau überlegen: Unter welchen Bedingungen können wir kooperieren, ohne ein zu hohes Risiko einzugehen? Im Zweifel muss das bedeuten, dass bestimmte Kooperationen unterbleiben. Umgekehrt pflegen wir seit vielen Jahren eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit in vielen Wissenschaftsfeldern, die wir problemlos fortführen können, so etwa in den Geisteswissenschaften.
Und in welchen Feldern sollten Kooperationen unterbleiben?
In unserem neuen China-Papier machen wir als DAAD deutlich: Es ist die Aufgabe jeder einzelnen Hochschule, diejenigen Bereiche in ihrem Portfolio zu benennen, die so starken Dual-use-Risiken ausgesetzt sind, die so stark unsere nationalen Sicherheitsinteressen berühren, dass man eine Zusammenarbeit lieber lässt. Das sind Diskursräume – Stichwort Zeitenwende –, die wir so vor zehn Jahren sicher nicht ausgeleuchtet hätten.
Haben Sie diese Entscheidung für Köln bereits getroffen?
Möglicherweise gibt es auch in Köln solche Bereiche, ja.Aber im Umgang mit herausfordernden Partnern sollte man nicht alle Fragen auf öffentlichen Marktplätzen besprechen. Das macht die andere Seite auch nicht.
So viel zum Thema Vertrauen zwischen wissenschaftlichen Kooperationspartnern.
So viel vor dem Hintergrund jüngster Ereignisse, wenn sogar die Bundeswehr abgehört wird. Wir haben in unserem China-Papier die drei Begriffe "interessengeleitet, risikoreflexiv und kompetenzbasiert" geprägt, und diese Begriffe sollten Leitmotiv sein für die Beziehungen zu China, aber auch zu anderen Staaten, die wir als herausfordernd ansehen. Wir müssen stärker als in der Vergangenheit unsere eigenen Interessen klar und deutlich artikulieren. Das ist vor dem Hintergrund unserer Geschichte nicht einfach, aber notwendig. Diese Artikulation wird übrigens von unseren chinesischen Partnern sogar begrüßt. Das Ziel in der Gestaltung von internationalen Wissenschaftskooperationen ist es ja nicht, dieselben Interessen wie die andere Seite zu haben, sondern die Interessen gegenseitig abzugleichen. Daraus ergibt sich die erwähnte Reflexion über die Risiken. Und alle Entscheidungen über Zusammenarbeit und Nicht-Zusammenarbeit, die daraus folgen, können wir sinnvoll nur mithilfe echter Kompetenz und mit fundiertem Wissen über das jeweilige Land treffen – und nicht auf der Basis irgendwelcher Anekdoten. Dies ist uns beim DAAD besonders wichtig.
Haben Sie den Eindruck, dass die öffentlichen Äußerungen der Bundesregierung zu China Ihren gerade formulierten Ansprüchen gerecht werden?
Ich habe das Privileg, an der Spitze einer Wissenschaftsorganisation zu stehen und insofern immer wieder die nötige Differenzierung anmahnen zu können. In der Politik herrschen mitunter andere Gesetzmäßigkeiten und Zwänge zur Zuspitzung. Wir sollten uns als Wissenschaft aber nicht in eine zu starke Zurückhaltung im Austausch mit China hineindrängen lassen. Es ist notwendig, die Beziehungen zu China differenziert und kritisch zu gestalten, aber die wissenschaftliche Kooperation an sich ist ohne Alternative. Die Volksrepublik hat das größte Wissenschaftssystem, das schon jetzt extrem leistungsfähig ist und beständig weiter an Bedeutung gewinnt. Wir dürfen auf keinen Fall in eine Spirale des Abschottens geraten. Das selbstbewusste Gestalten von Beziehungen – mit Risikobewusstsein, aber ohne Angst – ist das Gegenteil von Abschottung. Zugleich müssen und können wir als Wissenschaft Zuversicht vermitteln. Denn durch eine regelgeleitete internationale Zusammenarbeit werden die Dinge besser – das war immer so, das bleibt auch so.
"Wenn wir an der Universität Köln jetzt bei 45.000 Studierenden stehen, Tendenz weiter fallend, ist das eine positive und aus meiner Sicht alles andere als besorgniserregende Entwicklung."
Der Wissenschaftsratsvorsitzende Wolfgang Wick rechnet mit deutschlandweit stagnierenden bis zurückgehenden Studierendenzahlen. Gehört es künftig zu einer gelungenen Internationalisierungsstrategie, die freien Studienplätze mit noch mehr Studienanfängern aus dem Ausland aufzufüllen?
So habe ich das noch nicht betrachtet. Als Rektor einer der größten deutschen Universitäten, die vor wenigen Jahren noch bei weit über 50.000 Studierenden lag, kann ich nur sagen: Wenn wir jetzt bei 45.000 stehen, Tendenz weiter fallend, ist das eine positive und aus meiner Sicht alles andere als besorgniserregende Entwicklung. Wir kehren damit zu normalen, halbwegs vertretbaren Verhältnissen zurück – nach einer langen Phase des quantitativen Wachstums, die wir als Hochschulen gut verkraftet haben. Wir können jetzt aber den Hebel umlegen hin zu mehr Studienqualität und zu besseren Betreuungsrelationen. Da sind wir nämlich, ich sagte es anfangs, im internationalen Vergleich schlecht aufgestellt.
Vielleicht ergeht es Ihnen in Köln da einfach anders als in manch ländlicher Region, wo ganze Studiengänge und Fächer vor der Existenzfrage stehen?
Das mag sein, aber auch als DAAD-Präsident würde ich diese Aspekte wirklich trennen wollen. Wir gewinnen internationale Studierende und Promovierende aus einer gesellschaftlichen Verantwortung heraus, weil wir einen grassierenden Fachkräftemangel haben; weil wir mehr Talente aus dem Ausland brauchen für unseren Arbeitsmarkt; weil wir über diese Art des Austauschs internationale Wissenschaftskooperation betreiben. Wir rekrutieren sie nicht, um einfach unsere Studienplätze zu füllen.
Sie sprechen von gesellschaftlicher Verantwortung und meinen das Stopfen der Fachkräftelücke. Was ist eigentlich aus Deutschlands Verantwortung wirtschaftsschwächeren Ländern gegenüber geworden, denen wir ihre jungen Talente streitig machen?
Richtig ist, dass wir vor zehn Jahren beim DAAD wahrscheinlich kein Programm zur Fachkräftegewinnung aufgelegt hätten. Aber wir erkennen an, dass wir unseren Teil leisten müssen für die wirtschaftliche Prosperität unseres Landes, das erwarten auch unsere Geldgeber aus den verschiedenen Bundesministerien. Wobei das Auswärtige Amt oder das Bundesbildungsministerium bei der Frage naturgemäß unterschiedliche Perspektiven einnehmen als das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, das mit guten Gründen auf die Gefahren eines Braindrains hinweist und die Bedeutung von fairer Migration in den Vordergrund rückt. Allerdings sollten wir auch diese Themen differenziert betrachten. In Gesprächen mit Botschafter*innen anderer Staaten höre ich immer wieder, dass sie unser Fachkräfte-Programm oftmals begrüßen. Zitat: "Machen Sie sich keine Sorgen, wir haben so viele junge Talente, wir sind froh, wenn Sie ihnen eine Perspektive bieten". Am Ende ist es wie immer eine Frage der richtigen Dosierung.
Dieses Interview erschien zuerst im DSW-Journal, Ausgabe 1/2024.
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Es waren Antifaschist:innen, die die italienische Verfassung ausgearbeitet haben. Sie trat 1948 in Kraft und sollte sicherstellen, dass niemand jemals wieder die Kontrolle über die Republik übernehmen konnte, ähnlich wie dies der Diktator Benito Mussolini die Jahre zuvor vollbracht hatte. Seitdem hat Italien bereits 67 Regierungen erlebt, doch die aktuelle Regierung, Nummer 68, ist auch für Italien besonders (Siefert, 2023). Sie wurde mehrfach als "gefährlichste Frau Europas" betitelt (Brandl & Ritter, 2022). Die Rede ist von Giorgia Meloni, die am 22. Oktober 2022 als Vorsitzende der nationalistischen, konservativen und postfaschistischen Partei Fratelli d'Italia (FDI) als Ministerpräsidentin vereidigt wurde.Mit dem Wahlsieg der italienischen Postfaschistin ist ein weiterer Schritt in Richtung einer politischen Entwicklung vollzogen worden, die den autoritären Rechtspopulismus als Regierung zu einem sichtbaren Bestandteil der politischen Realität macht. Ihre politische Gruppierung wird weithin als populistisch, postfaschistisch und weit rechts im politischen Spektrum positioniert, was in weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wurde. Die folgende Seminararbeit versucht nach mehr als einem Jahr an der Macht eine Bilanz zu ziehen, die Auswirkungen der Wahl zu analysieren und die Besonderheiten der italienischen Rechten näher zu beleuchten.Melonis Aufstieg in der politischen Landschaft Italiens: Vom Engagement in der Jugendpolitik über die MSI zur Gründung der Fratelli d'Italia Die am 15. Januar 1977 in Rom geborene Meloni ist nicht nur die erste Frau, die das Amt ausübt, sondern auch die erste Regierungschefin, deren politische Karriere in der postfaschistischen Ära Italiens begann. Sie kandidierte bereits in ihren Jugendjahren für politische Ämter in Italien. Im Jahr 2006 wurde sie zur jüngsten Ministerin Italiens ernannt. Heute ist die Vorsitzende der von ihr mitbegründeten rechtsextremen Partei Fratelli d'Italia (Brüder Italiens, benannt nach der ersten Zeile der Nationalhymne, mit Wurzeln in der postfaschistischen Bewegung) die erste weibliche Premierministerin.Vor 31 Jahren, im Juli 1992, begann Giorgia Meloni ihr politisches Engagement in Rom mit dem Beitritt zur Jugendorganisation des Movimento Sociale Italiano (MSI, Italienische Soziale Bewegung), einer von Faschist:innen gegründeten Partei (Ventura, 2022, S. 8 ). Die italienische Ministerpräsidentin unterstreicht häufig, dass sie aus bescheidenen Verhältnissen stammt und in einer Familie von Angestellten aufgewachsen ist. Dabei verschweigt sie allerdings gerne die Tatsache, dass ihre Mutter, Anna Paratore, der MSI damals angehörte (Feldbauer, 2023, S. 15).Die am 26. Dezember 1946 gegründete Italienische Soziale Bewegung entstand unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Gründer:innen der Partei waren politisch in der Italienischen Sozialen Republik (Repubblica Sociale Italiana, RSI) aktiv, einem Satellitenstaat, der während der deutschen Besatzung von 1943 bis 1945 von Mussolini regiert wurde. Ideologisch bezog sich die Partei auf den "sozialen Faschismus" der RSI (Ventura, 2022, S. 2). Die MSI zeichnete sich nicht nur durch ihre antikapitalistische und antiliberale Ideologie mit korporatistischer Entscheidungsfindung aus, sondern auch durch ihren ausgeprägten Antikommunismus und ihre scharfe Kritik an den etablierten Parteien. Obwohl es innerhalb der MSI von Anfang an eine konservative und pro-westliche Minderheit gab, blieb die Partei bis Anfang der 1990er Jahre unfähig, sich wesentlich zu reformieren und konnte daher keinen nennenswerten Einfluss auf das politische System Italiens ausüben (ebd.).Im Januar 1995 wurde die Partei kurz nach dem Beitritt Melonis aufgelöst und in die "Alleanza Nazionale" (AN, Nationale Allianz) umgewandelt. Die AN fusionierte 2009 mit der Partei "Forza Italia" (FI, Vorwärts Italien) von Silvio Berlusconi zur Partei "Il Popolo della Libertà (PdL, Das Volk der Freiheit). Der damalige Parteivorsitzende Gianfranco Fini wollte den von der AN eingeleiteten liberal-konservativen Rechtsruck erfolgreich zu Ende führen, was jedoch einigen ehemaligen Aktivist:innen und Führungskräften aus den Reihen der MSI missfiel. Diese Unzufriedenheit machte sich später Meloni zunutze. Im Jahr 2006 wurde Meloni ins Parlament gewählt und zwei Jahre später wurde sie die jüngste Ministerin (Jugend und Sport) in der Geschichte Italiens. Die einzige Regierungserfahrung hat sie auf nationaler Ebene (ebd.).Verhältnis zum (Post)Faschismus Eine Woche vor dem hundertsten Jahrestag von Mussolinis "Marsch auf Rom", der Machtübernahme durch den "Duce", übernahm Meloni ihr Amt. Ihr Kabinett, welches hauptsächlich aus Anhänger:innen Mussolinis besteht, wurde in linken Medien als eine Regierung von "reuelosen Faschisten" beschrieben (Feldbauer, 2023, S. 38f). Meloni war im Jahr 2012 Mitbegründerin der Partei FdI, die in der Tradition des italienischen Faschismus steht, und gehört somit zur dritten Generation des Partito della Fiamma (Livi & Jansen, 2023, S. 173). Das Symbol der faschistischen Flamme, das in der Vergangenheit der MSI vorbehalten war, ist im Parteilogo vertreten (Feldbauer, 2023, S. 16f).Im Jahr 1929 wurde das Wort "Faschismus" zum ersten Mal in den Duden aufgenommen. Dies geschah sieben Jahre, nachdem die italienische Partito Nazionale Fascista (PNF) unter Benito Mussolini 1922 in die Regierung Italiens eingetreten war. 1926 entwickelte sie sich zu einer diktatorischen Staatspartei, bevor sie 1943 aufgelöst wurde. Der Begriff "Faschismus" wurde von der PNF als Selbstbezeichnung verwendet und entstammt dem italienischen Wort "fascio", dessen Bedeutung dem Begriff "Bund" gleichgestellt ist (Schütz, 2022). Im heutigen Sprachgebrauch bezeichnet der Terminus eine nationalistische, antidemokratische und rechtsextreme Ideologie, die nach dem Führerprinzip ausgerichtet ist. Seit den Parlamentswahlen in Italien im vergangenen Jahr sind vermehrt Artikel zum Thema "Postfaschismus" verfügbar. Dies hängt mit dem Sieg bei der Parlamentswahl und der FdI zusammen, welche als "postfaschistisch" bezeichnet wird (ebd.).Gianfranco Fini distanzierte sich 2003 offiziell vom Faschismus und bezeichnete ihn als "absolut böse" (Tagesschau, 2022). Giorgia Meloni hat es jedoch bis heute vermieden, eine so eindeutige Aussage über die Wurzeln ihrer Partei zu tätigen. Meloni erhob sogar Vorwürfe gegen Gianfranco Fini, das Erbe der italienischen Rechten zu zersplittern (Ventura, 2022, S. 6). Im Jahr 2014 wurde Meloni zur Vorsitzenden der FdI gewählt. Sie konnte den harten Kern der Faschist:innen um sich versammeln, indem sie sich auf Mussolini bezog. Aufgrund der möglichen Verluste eines Teils ihrer Wählerschaft an die Lega kann sie die Flamme nicht aus dem Parteilogo entfernen. Sie hob wiederholt hervor, wie stolz sie auf das Wappen mit der italienischen Trikolore sei, bezeichnete Mussolini sogar als einen "guten Politiker" (Feldbauer, 2023, S. 16).Froio (2020) stellt fest, dass die FdI ein "emotionales" Verhältnis zu ihrer faschistischen bzw. postfaschistischen Vergangenheit pflegt, mit der sie sich nie wirklich kritisch auseinandergesetzt hat. Dies wird durch die Statements von Giorgia Meloni sowie durch die Aussagen und Handlungen von Vertreter:innen und Führungskräften der FdI deutlich. So trat Meloni am Tag vor der Wahl 2018 bei einer Wahlkampfveranstaltung in Latina, einer von Mussolini gegründeten Stadt südlich von Rom, in Begleitung seiner Enkelin Rachele Mussolini auf. Dabei kündigte sie die Absicht ihrer Partei an, dem Symbolort den ihm gebührenden Platz in der Geschichte der italienischen Rechten wieder zu verschaffen (Latza Nadeau, 2018). Bei ihrem Versuch, sich in ihrer Ansprache vor der Abgeordnetenkammer am 25. Oktober 2022 trotz ihrer früheren Bekenntnisse zum Faschismus Mussolinis zu distanzieren, stieß Meloni angesichts der genannten Tatsachen auf Widerstand. Mit ihrer Partei verkörpert Meloni nach wie vor die "Kontinuität des Faschismus" (Feldbauer, 2023, S. 16f).Auch Tronconi und Baldini (zit. nach POP, 2023) erkennen die Identitätswurzeln der FdI im Neofaschismus, der in Italien jahrzehntelang durch die MSI verkörpert wurde. Ihrer Meinung nach sei es jedoch falsch, die FdI als neofaschistische Partei zu bezeichnen, da wesentliche Merkmale wie die Akzeptanz von Gewalt als Mittel des politischen Wettbewerbs fehlen würden. In der öffentlichen Debatte und in den offiziellen Dokumenten der Partei würden tatsächlich die für die europäische radikale Rechte typischen Themen wie Islamophobie und eine allgemeine Feindseligkeit gegenüber der Einwanderung betont, die als potenzielle Verwässerung der Identität der italienischen Nation angesehen werden.Der Weg einer "Frau, Mutter, Italienierin und Christin" an die MachtMeloni präsentiert sich gerne als Frau, Mutter, gläubige Christin und als hilfsbereite Vertreterin aller Italiener:innen (Feldbauer, 2023, S.70). Diese Worte passen zum allgemeinen Slogan "Gott, Heimat und Familie" (Dio, patria e famiglia), welcher von Melonis Partei und anderen radikalen Rechtsparteien in der Vergangenheit übernommen wurde (De Giorgi et. al, 2022).Im Jahr 2022 wurden mehr als 70 Prozent der parlamentarischen Parteien in den EU-Mitgliedsstaaten von männlichen Führungskräften geleitet (Openpolis, 2022, zit. nach De Giorgi et. al, 2022). In Italien wurde bis zum Jahr 2013 keine Partei, weder aus dem politischen Establishment noch aus dem rechten Spektrum, von einer Frau geführt (De Giorgi et. al, 2022). Studien, die sich auf das weibliche Führungsverhalten konzentrieren, betonen oft, wie Frauen Führungspositionen erreichen können, wenn sie von einem "Legacy Advantage", also sozusagen von einem Vorteil ihres Erbes profitieren, wie als Ehefrau, Witwe, Tochter oder eine andere enge Verwandte eines Schlüsselakteurs in der Politik (Baker & Palmieri, 2021). Diese Praxis ist auch bei rechtsextremen Parteien üblich. Ein bekanntes Beispiel ist Marine Le Pen, die die Führung des Front National (jetzt Rassemblement National) von ihrem Vater übernommen hat. Auch in Italien gibt es rechtsgerichtete Politikerinnen mit starken familiären Bindungen zu ehemaligen Staatsoberhäuptern und prominenten politischen Persönlichkeiten, wie Alessandra Mussolini, die Enkelin des ehemaligen Diktators, die mehrmals als Abgeordnete für die AN gewählt wurde (De Giorgi et. al, 2022). Giorgia Meloni hebt sich von diesem Weg ab. Ihr politisches Engagement begann 1992, als Meloni der Jugendorganisation der MSI beitrat. Im Unterschied zu anderen Oppositionsführer:innen, welche dazu neigen, ihre politische Außenseiterposition zu betonen, hebt Meloni oft ihren beruflichen Werdegang sowie ihr politisches Know-how hervor und verbindet dies mit der Idee der "Kompetenz". Darüber hinaus gibt es in Italien keine weitere politische Partei, die von einer Frau geführt wird, wodurch Meloni zweifellos eine beachtliche Medienpräsenz in dieser Hinsicht erreicht hat (Feo & Lavizzari, 2021).Angesichts der politischen Geschichte Italiens sei der Erfolg der FdI nicht verwunderlich. Die italienischen Rechten sind mit ihren traditionellen Anliegen seit Jahrzehnten erfolgreich. Der Gesamterfolg der FdI-FI-Lega-Koalition im Jahr 2022 kam daher weder überraschend noch sei er außergewöhnlich (POP, 2023). Der Erfolg kann auf die langjährige Dominanz der wechselnden Mitte-Rechts-Koalitionen um Berlusconi zurückgeführt werden, die in den letzten drei Jahrzehnten die Mehrheit der Wahlen gewinnen konnten. Trotz der langen Präsenz der größten kommunistischen Partei des Westens in Italien seit mehr als 50 Jahren war das Land mit Ausnahme einer kurzen Periode in den 1970er Jahren immer strukturell rechts orientiert (Livi & Jansen, 2023, S. 178f).Die Mehrheit der italienischen Gesellschaft war antikommunistisch, prokapitalistisch, katholisch und von konservativen Vorstellungen über die Familie, Geschlechterrollen und soziale Ordnung geprägt. Die Christlich-Demokratische Partei (DC, Democrazia Cristiana), die in der Ersten Republik dominierte, integrierte eine breite konservative Mittelschicht, die sich als antikommunistisch verstand und einem autoritären traditionellen Katholizismus anhing. Diese Schicht bildete die Grundlage für Berlusconis Aufstieg in den 1990er Jahren. So entstand eine neue konservative Rechte. Berlusconi mobilisierte eine bis dahin politisch unsichtbare konservative Strömung in der Gesellschaft, die im Hintergrund agierte (ebd.).Mit 43 Prozent der Stimmen ist die Koalition nicht weit von ähnlichen Prozentsätzen entfernt, die Mitte-Rechts-Koalitionen in den neunziger Jahren oder bei den Wahlen 2001, 2006 und 2008 erzielt haben. Die konservativen Parteien genießen in Italien mehr Unterstützung als die progressiven, und wenn diese aus allgemeinen Wahlen als Sieger hervorgehen, dann vor allem infolge von Spaltungen innerhalb der rechtsgerichteten Parteien (POP, 2023).Neben ihrer eigenen Partei, die bei den Wahlen 26 Prozent der Stimmen erhielt, gehören zur Regierungskoalition der Premierministerin zum einen die Lega, Matteo Salvinis Partei, die mit fremdenfeindlichen und separatistischen Ansichten bis 2018 als Lega Nord bekannt war. Zum anderen die liberal-populistische Partei von Ex-Premier Silvio Berlusconi, Forza Italia. Die Lega kam auf 8,8 Prozent, gefolgt von der Forza Italia mit 8,1 Prozent (Feldbauer, 2023, S.7). Aufgrund der besonderen Regeln des italienischen Wahlrechts verfügen diese drei Regierungsparteien über breite Mehrheiten in beiden Kammern des Parlaments, der Camera und dem Senato (Livi & Jansen, 2023, S.169). Neben der Berufung ihres Schwagers hat die italienische Ministerpräsidentin auch ihre Schwester in die Führungsebene ihrer Partei geholt. Melonis ältere Schwester, Arianna, ist nun verantwortlich für das politische Sekretariat. Ihr Ehemann, Francesco Lollobrigida, Landwirtschaftsminister und Mitglied der FdI, gilt als enger Vertrauter von Meloni (Ventura, 2022, S. 3).Laut Tronconi und Baldini (zit. nach POP, 2023) liegt der interessante Aspekt darin, dass sich die FdI innerhalb der rechten Parteien durchsetzte. Dies könnte vor allem damit begründet werden, dass die Forza Italia eine schon lange schwindende Partei sei, während die Positionen von FdI und Lega in den wesentlichen Punkten übereinstimmen. Dazu gehören feindselige Haltungen gegenüber Migration, die Verteidigung traditioneller Werte, die Unterstützung der wirtschaftlichen Interessen zahlreicher italienischer Kleinunternehmen, der Schutz der traditionellen Familie vor einer angeblichen "Gender-Theorie", die darauf abziele, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu verwischen oder auszulöschen, und die vertikale Abgrenzung zur EU in Form von Skepsis bzw. offener Feindseligkeit gegenüber dem europäischen Integrationsprojekt. Allerdings habe die Persönlichkeit von Giorgia Meloni im Vergleich zu Matteo Salvinis abnehmender Führungsstärke sowie die Glaubhaftigkeit und Beständigkeit der Partei der FdI 2022 den entscheidenden Vorteil gebracht. Salvini habe sich im Vergleich zu Meloni in der Vergangenheit auf Koalitionen, wie zum Beispiel mit der Fünf-Sterne-Bewegung eingelassen, die nicht besonders gut bei den rechten italienischen Wähler:innen ankamen. Meloni war und ist jedoch innerhalb des Rechts-Bündnisses eine überzeugte Hardlinerin (Feldbauer, 2023).WählerschaftDie Partei von Giorgia Meloni übte vor allem eine Anziehungskraft auf ehemalige Lega-Wähler:innen aus, aber auch Wähler:innen der Forza Italia bekundeten Interesse an der FdI. In soziodemografischer Hinsicht ist festzustellen, dass FdI-Anhänger:innen in der Altersgruppe von 50-64 Jahren überrepräsentiert, in der jüngsten Altersgruppe (18-34 Jahre) unterrepräsentiert waren. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass jüngere Wähler:innen ihre Proteststimme eher der Fünf-Sterne-Bewegung ohne postfaschistische Vergangenheit gaben. Die Partei erhielt Unterstützung von verschiedenen Berufsgruppen wie Handwerker:innen, Händler:innen, Selbstständigen sowie Angestellten und Lehrkräften, also weitgehend der (unteren) Mittelschicht.Die geografische Verteilung der Wählerschaft der FdI zeigt nicht nur - wie anfangs in der Parteigeschichte - eine starke Präsenz im Süden Italiens, sondern auch eine landesweite Verbreitung. Die Wählerschaft weist migrationsfeindliche und europaskeptische Tendenzen auf, insbesondere bei langjährigen Anhänger:innen. Neu gewonnene Wähler:innen zeigen eine populistische und anti-elitäre Haltung, bei der die Ablehnung von Migration eine große Rolle spielt (Ventura, 2022, S. 5).Migrationspolitik als Kernthema Bei den Parlamentswahlen stand die Migrationspolitik im Fokus. Es bestanden Bedenken, die neue Regierung unter der Führung der FdI könne in der Asyl- und Migrationspolitik einen äußerst restriktiven und sogar illegalen Weg einschlagen. So hatte Meloni für ihr Amt mit dem Ziel kandidiert, der "illegalen" Einwanderung nach Italien Einhalt zu gebieten. Es wurde auch über die mögliche Errichtung einer Seeblockade vor Nordafrika sowie die Einrichtung von Hotspots auf afrikanischem Territorium diskutiert (Angeli, 2023, S. 4f). Durch ihre Forderungen in der Opposition konnte sie das Thema Migration für sich gewinnen. Dennoch ist die Verwirklichung politischer Versprechen im Wahlkampf und ihre Umsetzung in konkrete Politik keineswegs als selbstverständlich anzusehen. Im Zuge der sogenannten "Flüchtlingskrise" bestimmten nativistische und souveränistische Motive die Haltung der Partei zur Migration. Die auf dem Parteitag 2017 verabschiedeten programmatischen "Thesen von Triest für die patriotische Bewegung" stellten die Migration als existenzielle Bedrohung für den Fortbestand der europäischen Nationalstaaten dar. In diesem Zusammenhang fand auch die Verschwörungstheorie vom "großen Austausch" Eingang in das Parteiprogramm (Baldini et. al, zit. nach Angeli, 2023, S. 6). Die Partei warf der EU vor, aus demografischen Gründen ein "multikulturelles Prinzip" zu verfolgen, woraus angeblich eine Zustimmung zur unkontrollierten Einreise von Menschen aus anderen Kontinenten abgeleitet wurde (FdI, 2017, zit. nach Angeli, 2023, S. 6). Die Partei befürwortete restriktive Maßnahmen im Zusammenhang mit legaler Zuwanderung. Diese sollten nur für Staatsangehörige möglich sein, die sich problemlos integrieren könnten, ohne Sicherheitsprobleme zu verursachen. Dabei wurde die Bedeutung des Grenzschutzes besonders betont, der mit dem Schutz des "Vaterlandes" gleichgesetzt wurde. Die FdI schlugen drastische Maßnahmen, wie eine internationale "Landmission" vor, die Kontrolle über die Häfen übernehmen sollte, sowie die Möglichkeit einer Seeblockade. Der Schwerpunkt lag dabei auf Nationalitäten, die weniger bereit seien, die Gesetze und die Kultur zu akzeptieren, insbesondere wurden damit Muslim:innen gemeint. Darüber hinaus wurde zum ersten Mal die Einrichtung von Hotspots in Nordafrika zur Prüfung von Asylanträgen vorgeschlagen, verbunden mit der Absicht, das Recht auf "humanitären Schutz" abzuschaffen. Die programmatische Entwicklung der Partei im Bereich der Migrationspolitik war von zwei konträren Tendenzen geprägt. Einerseits stand die Partei unter dem Druck, sich dem Mitte-Rechts-Bündnis anzupassen, was zu einem einheitlichen Programm für die Parlamentswahlen 2018 führte, welches jedoch nicht die radikalsten migrationspolitischen Positionen enthielt. Andererseits sorgte die Konkurrenz innerhalb des Rechtsbündnisses für einen Differenzierungsbedarf insbesondere in der Migrationspolitik. Hier konkurrierten die FdI und die Lega darum, sich als die restriktivere und migrationsfeindlichere Partei zu präsentieren (Angeli, 2023, S. 6f).Die FdI hob zunehmend ihr Alleinstellungsmerkmal durch die kompromisslose Verteidigung der italienischen Interessen hervor, insbesondere durch die häufige Verwendung von "Italians first". Dieser Slogan implizierte einen Wettbewerb zwischen Italiener:innen und Menschen mit Migrationshintergrund und wurde zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen verwendet (Ventura, 2022). Im Wahlprogramm für die Europawahl 2019 wurde der Vorrang der italienischen Bevölkerung hervorgehoben und normativ untermauert (ebd.). Das Wahlprogramm für die Parlamentswahlen 2022 markierte eine Abkehr von der Radikalisierung der Partei in der Migrationspolitik, die in den vergangenen Jahren zu beobachten war. Stattdessen kehrte die FdI zu einer sicherheitspolitisch motivierten Migrationsskepsis zurück, ähnlich wie im Wahlmanifest von 2013. Im Gegensatz zu früheren Positionen betonte das Manifest nicht mehr den Grundsatz "Italians first", der das Primat der italienischen Identität und Interessen in der Migrationspolitik hervorhob. Stattdessen verfolgte das Programm einen nüchternen Ansatz zur Migration, ohne aggressive oder aufrührerische Sprache. Dies deutet darauf hin, dass die Partei realistische und machbare Ansätze für eine geregelte Einwanderung und soziale Integration formulieren wollte (Angeli, 2023, S. 6f). In ihrer ersten Regierungserklärung schlug Meloni einen versöhnlichen Ton an, auch in Bezug auf das Thema Migration. Es gab kaum nativistische Elemente. Zwar betonte sie die strategische Rolle Italiens im Mittelmeerraum, doch die Verhinderung irregulärer Einwanderung wurde vor allem mit juristischen oder humanitären Gründen gerechtfertigt, etwa um Schiffbrüche oder Menschenhandel zu verhindern (ebd.).Melonis migrationspolitische Maßnahmen und Entscheidungen in den letzten 12 Monaten könnten auf einen pragmatischen Umschwung hindeuten. Diese Annahme ist jedoch mit Vorbehalten behaftet. Die Entwicklung des migrationspolitischen Programms der FdI zeigte bereits vor den letzten Parlamentswahlen eine Mäßigung bzw. "Entradikalisierung" (Angeli, 2023, S. 9). Das Wahlprogramm 2022 betonte die Förderung der legalen Migration und verstärkte diplomatische Bemühungen mit Herkunfts- und Transitländern irregulärer Migranten. Dennoch hat Meloni wenig getan, um der Kriminalisierung von NGOs entgegenzuwirken, die Rettungsschiffe für Asylsuchende betreiben. Sie argumentiert, diese Schiffe seien ein "Pull-Faktor", der die illegale Migration begünstige. Meloni hat sogar strenge Bedingungen für Rettungsaktionen von NGOs eingeführt, um die Ressentiments ihrer Anti-Migrations-Wählerschaft zu befriedigen. Es bleibt abzuwarten, ob die steigende Zahl von Geflüchteten, die das Mittelmeer überqueren, Meloni dazu veranlassen werden, radikalere Maßnahmen zu ergreifen, um sich die Unterstützung ihrer Anti-Migrations-Wählerschaft zu sichern. Erste Anzeichen für einen Umschwung gab es Mitte September, als Melonis Kabinett unter dem Druck negativer Schlagzeilen eine Verschärfung der Maßnahmen beschloss, darunter die Erhöhung der Höchstdauer der Abschiebehaft und die Einrichtung spezieller Abschiebegefängnisse durch das Militär in dünn besiedelten Regionen des Landes (Angeli, 2023, S. 10).Die politikwissenschaftliche Forschung hat in jüngerer Zeit wiederholt die Diskrepanz zwischen rechtspopulistischen Migrationsdiskursen und der tatsächlichen Migrationspolitik untersucht (Lutz, 2021). Demnach komme es öfters zu Mäßigungen, sobald Rechtspopulisten an der Regierung beteiligt seien. Die Ausprägung dieser Mäßigung kann jedoch stark variieren und von vielen Faktoren beeinflusst werden. Unter anderem sind sie als Regierungspartei institutionellen Zwänge unterworfen, die ihr politisches Agieren limitieren. Aber auch die Notwendigkeit, die bestehenden Verfassungsorgane zu bewahren, veranlasst sie oft dazu, sich von ihren radikalsten Ansätzen im Bereich der Migrationspolitik zu distanzieren. Darüber hinaus stehen rechtspopulistische Parteien vor der Aufgabe, neben ihren eigenen Anhänger:innen auch breitere Gesellschaftsschichten und die Eliten für ihre Ziele zu gewinnen. Aus diesem Grund könnten sie ihre Migrationspolitik entsprechend umgestalten, um weitere wichtige Interessengruppen zu erreichen. Schließlich kann auch internationaler Druck zu einer Kursänderung rechtspopulistischer Parteien führen. Bei der italienischen Regierung betrifft dies vor allem die EU, die finanzielle Hilfe als Druckmittel zur politischen Einflussnahme nutzen kann (Angeli, 2023, S. 4). Das Thema Migration war für die FdI von Anfang an ein zentrales Wahlkampfthema. Allerdings ist diesem Thema nur einer von insgesamt 25 Abschnitten im Wahlprogramm von 2022 gewidmet. Dennoch sollte die Bedeutung dieses Abschnitts keineswegs unterschätzt werden. Die "Gefahr" der irregulären Migration hat der Partei zu politischer Sichtbarkeit verholfen, insbesondere aufgrund des gestiegenen Interesses der italienischen Öffentlichkeit am Thema Migration seit 2013. Der Umgang der Partei mit dem Thema spiegelt somit die Radikalisierungs- und Mäßigungstendenzen wider, welche sie während der letzten zehn Jahre erfahren hat (Angeli, 2023, S. 5f). In einem Artikel mit dem Titel " Das schwarze Jahr " kritisierte die Zeitung "La Repubblica" die Migrationspolitik von Giorgia Meloni als gescheitert. Meloni selbst gab in einem Interview mit der RAI zu, dass die erzielten Ergebnisse nicht den Erwartungen entsprechen. Daraufhin kündigte sie erneut härtere Maßnahmen an, darunter die Verlängerung der möglichen Abschiebehaft auf die EU-Höchstdauer von 18 Monaten und den Bau weiterer Abschiebezentren. Sie forderte die Vereinten Nationen auf, den Menschenhändler:innen einen "globalen Krieg" zu erklären (ZEIT ONLINE, 2023).Wirtschafts- und SozialpolitikBesonders frauenpolitische Themen spielten eine wichtige Rolle in und für Melonis Partei. Es wird davon ausgegangen, dass die Parteivorsitzende Meloni eine wichtige Rolle für die weibliche Wählerschaft spielt. Sie setzt sich für einen Imagewandel der männerdominierten Partei ein und engagiert sich insbesondere für Frauen und Mütter, zumindest im Hinblick auf den Schutz vor potenziellen "Bedrohungen", wie dem Zuwachs an Migration, der Islamisierung und sozialer Unsicherheit, wie von der Kommilitonin Schmidt bereits beschrieben wurden (Feo & Lavizzari, 2021, S. 13). Zusätzlich engagiert sie sich entschlossen in der Verteidigung der Frauenrechte, wobei der Fokus jedoch auf anti-immigrationspolitischen Zielen liegt. In Bezug auf frauenrelevante Themen hat Giorgia Meloni niemals ihre anti-abtreibungsorientierten Überzeugungen verschleiert. Diese basieren auf ihrem katholischen Glauben sowie persönlichen Erfahrungen. In ihrer Biografie wird dargelegt, dass ihre Mutter in Erwägung zog, die Schwangerschaft abzubrechen (Meloni, 2021, zit. nach De Giorgi et. al, 2022). Meloni strebt vor allem eine breite Unterstützung in katholischen Kreisen an, indem sie sich gegen Abtreibung und Leihmutterschaft aussprach. Nachdem sie dort jedoch auf erheblichen Widerstand stieß, versuchte sie ihre Position zu mildern, indem sie betonte, das Recht auf Abtreibung nicht abschaffen zu wollen. Im Unterschied dazu blieb sie gegenüber Homosexuellen und sexuellen Minderheiten unverändert kompromisslos (Feldbauer, 2023, S. 70)."Wir wollen eine Nation, in der es kein Skandal mehr ist, zu sagen, dass – unabhängig von legitimen Entscheidungen und Neigungen jedes einzelnen – wir alle geboren sind durch einen Mann und eine Frau. Eine Nation, in der es kein Tabu mehr gibt. Es heißt, dass es die Mutterschaft nicht zu kaufen gibt, dass die Gebärmutter nicht zu mieten ist, dass Kinder keine Produkte sind, die man aus dem Regal kauft, als wäre man im Supermarkt. Wir wollen neu beginnen beim Respekt der Würde." (Meloni, 2022, zit. nach Seisselberg, 2023)Wie aus dem Zitat hervorgeht, betont die Politikerin ausdrücklich ihre Unterstützung der sogenannten natürlichen Familie, um die traditionellen Werte zu bewahren. Mit der Verteidigung dieser Werte und dem klassischen Vater-Mutter-Kind-Bild erfolgt eine Ablehnung der LGBTQ+-Gemeinschaft, die von Meloni als "LGBT-Lobby" bezeichnet wird (De Giorgi et. al, 2022). Die Ministerpräsidentin zeigt kein Interesse an einer feministischen Agenda, sondern strebt weiterhin ein traditionelles Familienmodell an (POP, 2023). Frauenrechte und Geschlechtergleichheit wurden von Meloni und ihrer Partei mehr für femonationalistische Argumente instrumentalisiert (De Giorgi et. al, 2022).In wirtschaftspolitischer Hinsicht herrscht in Italien eine Unzufriedenheit, da verschiedene Wahlversprechen nicht umgesetzt wurden. Dies ist auf das Schrumpfen der italienischen Wirtschaft im zweiten Quartal sowie der hohen Inflation zurückzuführen. Zudem wurde noch kein Mindestlohn eingeführt. Die Regierung unter Giorgia Meloni wurde auch dafür kritisiert, dass knapp 170.000 Menschen per SMS darüber informiert wurden, dass sie ab sofort keinen Anspruch mehr auf die Sozialleistung reddito di cittadinanza, auch Bürgergeld genannt, haben. Dies wurde von Gewerkschaften als "soziale Bombe" bezeichnet (ZEIT ONLINE, 2023). Es sei jedoch absehbar gewesen, dass die Umstrukturierung des Staatshaushalts wesentlich auf Kosten der ärmeren Bevölkerung erfolgen würde. Dennoch glaubten die meisten Menschen, dass die postfaschistische Regierung in den Augen der Weltöffentlichkeit nicht so weit gehen würde, wie ihre Rhetorik des "Runter vom Sofa" suggerierte, mit der sie ihren Geldgebern in Industrie, Landwirtschaft und Tourismus billige Arbeitskräfte zur Verfügung stellen wollten (Seeßlen, 2023).EU und Außenpolitik Der Zuwachs an Migration wurde von Meloni vor allem dazu genutzt, um das Thema der irregulären Migration auf die europäische Tagesordnung zu setzen. Sie war auch maßgeblich am Zustandekommen des Europäischen Migrationspaktes beteiligt, gegen den Widerstand ihrer einstigen Verbündeten aus Polen und Ungarn. Durch diese diplomatischen Bemühungen wird Meloni nun nicht mehr als internationale Außenseiterin in Bezug auf die europäische Migrationspolitik betrachtet. Im Gegensatz zu einigen früheren Verbündeten, wie Viktor Orbán, steht sie nicht mehr auf der Seite der Visegrád-Staaten (Angeli, 2023, S. 8f). Melonis Wandlung zu einer gemäßigten Politikerin findet nicht nur national, sondern auch im internationalen Kontext innerhalb und außerhalb der EU statt. Trotz ihrer Position als Präsidentin der EU-Parlamentsgruppe der Europäischen Konservativen und Reformer (ECR) hat Meloni ihre frühere euroskeptische Haltung zurückgefahren. Die Entscheidung, von der Leyen in Rom zu empfangen, wird als Versuch der Anbahnung einer Zusammenarbeit zwischen der ECR (unter Melonis Führung) und der Europäischen Volkspartei (EVP) bewertet. Die FdI hat einen moderaten Kurswechsel von radikalen Positionen gegenüber der EU hin zur Mitte vor den Wahlen 2022 vollzogen. Ziel dieses Kurswechsels sei der Aufbau eines guten Rufs im Ausland und die Sicherung vorteilhafter internationaler Abkommen (Griffini, 2023). Giorgia Meloni hat ihre gemäßigte politische Ausrichtung durch das Einhalten ihres Wahlversprechens im Hinblick auf Atlantizismus und Unterstützung für die Ukraine gegenüber dem russischen Eindringling weiter gestärkt. Ihre diplomatischen Beziehungen zur Ukraine und das Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew untermauern dies. Im Gegensatz zu Salvini, der im Bezug auf die russische Invasion in der Ukraine uneindeutige Standpunkte vertrat, zeigte sich Meloni klar positioniert. Der Unterschied in ihrer Haltung zum Krieg in der Ukraine führte zu Spannungen innerhalb der Regierungskoalition und betonte Melonis gemäßigte Position in dieser Angelegenheit (ebd.). Manche sagten für Italien einen heißen Herbst voraus, aber nicht in Hinblick auf die außenpolitische Lage. Meloni verfolgte in diesem Bereich einen äußerst pragmatischen Ansatz. Der schrille Ton des Wahlkampfes, in dem sie die EU für fast alle Probleme verantwortlich gemacht hat, ist vorbei. Das hat auch mit der prekären Finanzlage des Staates zu tun, denn Italien braucht dringend die fast 200 Milliarden Euro, die ihr von der EU zur Bewältigung der Folgen des Coronavirus versprochen wurden (ZEIT ONLINE, 2023).Meloni in den Medien"Melonis Politik, anders als die einiger ihrer Vasallen, besteht auch darin, die innere Faschisierung nicht allzu sehr als ein internationales lesbares Bild zu präsentieren. Die Giorgia Meloni, die erscheint, wo man unter sich ist, und die Giorgia Meloni, die vor internationalen Kameras spricht, unterscheiden sich gewaltig" (Seeßlen, 2023).Durch die Stärkung des Kerns der Partei ist es Meloni gelungen, mit einem breiteren Publikum zu interagieren, wobei ihr geschickter Einsatz von Social-Media-Plattformen eine Schlüsselrolle spielte. Dies führte dazu, dass sie als das neue Gesicht der italienischen Politik wahrgenommen wird. Ihre einzigartige Position als erste weibliche Ministerpräsidentin in Italien hat zweifellos dazu beigetragen. Außerdem hat sie bewiesen, dass sie in der Lage ist, die Herausforderungen zu meistern, mit denen populistische Politiker:innen konfrontiert sind (POP, 2023).Der Erfolg der FdI wäre ohne die entschlossene und konsequente Führungsperson, die dem Volk sehr nahe steht, unvorstellbar. Durch ihre Ansprachen an das Volk im römischen Dialekt kommt sie den Italiener:innen sehr nahe. Schon kurz nach der Gründung und dem Vorsitz der FdI war die charismatische Führerin ein gern gesehener Gast in den wichtigsten Talkshows. Sie zeichnete sich durch Jugend, Attraktivität, Selbstbewusstsein, außergewöhnliche Eloquenz und eine kompromisslose Haltung aus und scheute keine Konfrontation. Man kann behaupten, Meloni brachte frischen Wind ins Fernsehen und erfreut sich auch heute noch großer Beliebtheit in diesem Medium (Ventura, 2022, S.6).Im Laufe der Zeit hat ihre Medienpräsenz stetig zugenommen, insbesondere in den letzten Jahren, als sie eine immer bedeutendere Funktion im Mitte-Rechts-Lager einnahm. Meloni macht ausgiebigen Gebrauch von sozialen Medien wie Facebook, Twitter und Instagram, in denen sie ihre politischen Inhalte darstellt und gleichzeitig ihr öffentliches Image zu pflegen versucht. Unter den italienischen Politiker:innen war sie Vorreiterin bei der Einrichtung eines Instagram-Profils. Darauf veröffentlichte sie in erster Linie Bilder, die Botschaften von Stärke und Entschlossenheit vermitteln und in der Popkultur verwurzelt sind. Parallel dazu zieht sie informative, institutionelle und ereignisbezogene Nachrichten vor (Moroni, 2019).Bis vor wenigen Jahren versuchte Meloni, ihr Privatleben aus der Öffentlichkeit weitestgehend herauszuhalten. Doch in letzter Zeit begann sie damit, ihr Privatleben zu inszenieren und sehr persönliche Einblicke zu gewähren, was auch als "intimate politics" beschrieben werden kann. Vor allem in ihrer 2021 erschienenen Autobiografie präsentiert sie sich als Tochter, Mutter und Partnerin. Diese Inszenierung wird von den Medien in zahlreichen Interviews und im Fernsehen aufgegriffen, wobei vor allem Infotainment- und Unterhaltungssendungen erneut die Aufmerksamkeit auf Melonis Pop- und Privatseite lenken. Dabei geraten viele der eigentlichen politischen Botschaften des Buches in den Hintergrund (Ventura, 2022, S. 6).Auf ihrem Popkanal präsentiert Giorgia Meloni ein attraktives Bild von sich selbst, das ihre kulturellen und politischen Ansichten in den Hintergrund drängt. Diese Ansichten spiegeln u.a. ein ambivalentes Verhältnis zum italienischen Faschismus und Postfaschismus wider. Laut Ventura (2022, S. 6) propagiert sie die Idee einer illiberalen und organisierten Gesellschaft, die auf einer reaktionären Auslegung der individuellen Rechte beruht, wobei das Individuum stets der Familie und der Gemeinschaft verpflichtet ist. Sie vertritt auch einen essentialistischen und ethnozentrischen Nationalismus und relativiert die Werte, die nach dem Sieg über den nationalsozialistischen Totalitarismus entstanden sind. Trotz ihres reaktionären Weltbildes, welches einen stark vereinfachenden Gegensatz zwischen Volk und Elite sowie eine verschwörungstheoretische Interpretation der Realität beinhaltet, kann ihre Kommunikation als erfolgreich bewertet werden (ebd.).Die laufende Legislaturperiode erstreckt sich über weitere vier Jahre, was normalerweise keine typische Amtszeit für italienische Regierungschefs ist. Diese Ausdauer wird der Rechtsnationalistin jedoch zugute gehalten. Berichte über die verschiedenen Angriffe der Regierung auf die Pressefreiheit zeigen auf, dass es Verleumdungsklagen und Versuche gibt, die öffentliche Rundfunkanstalt RAI auf Linie zu bringen, indem sie ihre eigenen Leute in der Leitung beruft und kritische Programme streicht (Braun, 2023). Sie habe den staatlichen Fernsehsender RAI weitgehend unter ihre Kontrolle gebracht. Einige Leute würden bereits über "Tele-Meloni" spotten, allerdings stellen Privatsender keine große Bedrohung dar, da viele von ihnen der Familie von Silvio Berlusconi gehören (ZEIT ONLINE, 2023). Ein weiteres Beispiel dafür ist die Streichung des Programms des prominenten Anti-Mafia-Journalisten und Aktivisten Roberto Saviano (Braun, 2023).Melonis Umgestaltung hat für die Frage nach der Kontinuität, Mäßigung oder Radikalisierung der Partei in der Regierung eine doppelte Bedeutung. Einerseits zeigt Meloni ihre "Nähe zum Volk", was ein typisches Merkmal populistischer Parteien ist. Auf diese Weise betont sie ihre anti-elitäre und volkszentrierte Haltung, die seit der Gründung der FdI besteht. Auf der anderen Seite zeichnet sich ihre Rhetorik durch eine bürgerliche Aura aus, die durch Werte wie den Respekt vor der EU, der Rechtsstaatlichkeit, der nationalen Sicherheit und den Rechten der Frauen unterstrichen wird. Diese Betonung von Gewöhnlichkeit und Bürgersinn verbirgt jedoch radikalere ideologische Aspekte der neuen Regierung unter Meloni. Es handelt sich um eine Strategie, die darauf abzielt, eine bürgerliche Fassade zu schaffen. Diese Strategie ist von radikalen populistischen Rechtsparteien in Europa als Versuch bekannt, Ideologie und Politik zu mäßigen und sich selbst in führende Machtpositionen zu bringen (Griffini, 2023).Deutlicher Rechtsruck?"Es hätte schlimmer kommen können" – so lautete nicht nur der Titel eines Beitrags im Deutschlandfunk Kultur über das erste Jahr von Giorgia Meloni als Regierungschefin in Italien. Dieser Tenor stand im Mittelpunkt vieler Analysen zu ihrem Jahrestag als Ministerpräsidentin. In zahlreichen Medien wurde bezeugt, dass sie sich in ihrem ersten Amtsjahr weitaus gemäßigter verhalten hat als erwartet. "Die gefährlichste Frau Europas" sei sie keinesfalls (Seisselberg & Kolar, 2023, zit. nach Galetti, 20230). Die Grundaussage war, dass die Faschisten nicht so besorgniserregend seien wie befürchtet. Es scheint, als hätte Giorgia Meloni den inneren Frieden in Italien bisher nicht gefährdet und als bleibe das Land eine "stabile" parlamentarische Demokratie mit intakten Institutionen. Insbesondere in grundlegenden Bereichen wie der Außenpolitik und der Wirtschaft wird betont, dass Melonis Regierung nicht als Bedrohung für die Europäische Union gesehen wird. Die bisherige Amtszeit Melonis wird als eher konventionelles Regieren bezeichnet (Reisin, 2023). Sie sei "gekommen, um zu bleiben" und innerhalb weniger Monate zu einer "festen Größe" geworden (ZEIT ONLINE, 2023).Andere Journalist:innen sind jedoch der Meinung, dass die Gefahr in den Details liege. Sie argumentieren, dass Meloni sehr geschickt agiere und es fraglich sei, ob sich ihre politische Haltung überhaupt geändert habe (Reisin, 2023). Seeßlen (2023) warnt davor, Italien als eine Demokratie mit einer rechten Regierung zu betrachten. Stattdessen beschreibt er das Land als einen Ort, an dem die Verbindung von neoliberaler Postdemokratie und funktionalem Postfaschismus exemplarisch erprobt werde. Die Gesamtheit dieser Transformation könnte übersehen werden, da es der Regierung unter Meloni noch gelingt, nicht alle Aspekte ihrer Machtübernahme deutlich erkennbar zu machen. Die Rhetorik von Populisten ist bekanntermaßen darauf ausgerichtet, extreme Positionen vor der allgemeinen Öffentlichkeit zu verbergen. Auch das kommunistische Online-Portal Contropiano (zit. nach Feldbauer, 2023, S. 81) hat vor der Gefahr gewarnt, Meloni zu unterschätzen, da sie ihr reaktionäres Weltbild mit rechtsextremen, nationalistischen, fremdenfeindlichen und homophoben Positionen gegenüber der EU mit der Inszenierung als vernünftige und verantwortungsbewusste Politikerin kaschiere. Die Frage nach einem möglichen Rechtsruck in Italien wird kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite wird der Wahlsieg Melonis als Teil einer allgemeinen europäischen Tendenz hin zum rechten Spektrum gedeutet. Auf der anderen Seite wird betont, dass die Regierung unter Meloni eine gewisse Kontinuität mit den politischen Entwicklungen der letzten 30 Jahre in Italien aufweist und somit nicht als radikaler Neuanfang zu interpretieren ist. Melonis Erfolg wurde vor allem auch durch die Enttäuschung über etablierte politische Figuren begünstigt (Livi & Jansen, 2023).FazitAls Giorgia Meloni mit ihrer postfaschistischen Partei Fratelli d'Italia die Wahlen gewann, stellte sich in ganz Europa die Frage, wie mit ihr umgegangen werden sollte. Ob diese Frage nun vollständig geklärt ist, erscheint ungewiss. Für viele macht Meloni bisher jedoch einen relativ gemäßigten Eindruck. Die Zusammenarbeit mit der EU wirkt jedoch eher zweckorientiert als von tiefer Überzeugung getragen. Obwohl Meloni eine pro-europäische Haltung einnimmt, kann man sie nicht uneingeschränkt als überzeugte Verfechterin der EU bezeichnen. Während sie eine gemäßigte Außenpolitik verfolgt, engt sie im Inneren die Freiheit der Medien ein, limitiert die Rechte von Minderheiten und stellt die Elternschaft gleichgeschlechtlicher Eltern in Frage. Trotz der Befürchtungen über eine mögliche Radikalisierung der FdI deuten die gegenwärtigen Anhaltspunkte in eine andere Richtung. Angesichts dieser Erkenntnisse lässt sich ableiten, dass die FdI zweifellos als populistisch-radikale Rechtspartei agiert, die zur Mäßigung tendiert. Weite Teile zeigen die Kontinuität der Partei mit den Wahlaussagen von 2022, obwohl einige Schwankungen in Richtung Radikalisierung erkennbar sind. Es bleibt abzuwarten, ob sie diesen gemäßigten Ansatz in der Migrationsdebatte langfristig beibehalten wird, oder ob sie angesichts der steigenden Zahlen von Geflüchteten zu einer aggressiveren Rhetorik und Politik zurückkehrt. Obwohl eine Legislatur auf dem Papier fünf Jahre dauert, liegt die durchschnittliche Dauer italienischer Regierungen bei 18 Monaten (Siefert, 2023). Die Prognosen bezüglich Melonis politischer Zukunft sind vorsichtig optimistisch, wobei einige spekulieren, dass sie eine längere Amtszeit haben und sogar zur Galionsfigur der "neuen Rechten" in Europa werden könnte. Die Vergangenheit hat jedoch gezeigt, dass sich solche Vorhersagen als irreführend erweisen können (ZEIT ONLINE, 2023).Insgesamt scheint es, als fehle es in Italien an Diskursen und Ideen sowie Kraft für Widerstand. Die italienische Gesellschaft, die aus widersprüchlichen Lagern der Linken und der katholischen Gemeinschaft sowie aus den nördlichen, mittleren und südlichen Teilen besteht, ist zersplittert. Von der Opposition kommt wenig Kritik an der aktuellen Regierung und es scheint, als ob ihr die Herausforderungen, vor denen Italien steht, noch weniger zugetraut werden. Bei vielen sozialen Fortschritten der letzten Jahre, einschließlich der Errungenschaften im Kampf gegen die Mafia, der Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder auch Maßnahmen gegen Verfall von Bildung und Infrastruktur deutet sich ein Rückschritt an. Der Weg in Richtung einer offenen und toleranten Gesellschaft wird unter Melonis Führung stark gehemmt. Mit der Postfaschistin an der Macht wird in Italien eine rückwärtsgerichtete Umkehr angestrebt, ganz im Sinne eines reaktionären Katholizismus. Literatur Angeli, O. 2023: Giorgia Meloni und die Migrationsfrage. Rückblick auf ein Jahr Regierung, MIDEM-Policy Paper 2023-4, Dresden. Baker, K. & Palmieri, S. (2023). Können weibliche Politiker die gesellschaftlichen Normen der politischen Führung stören? Eine vorgeschlagene Typologie des normativen Wandels. International Political Science Review, 44(1), 122–136. https://doi.org/10.1177/01925121211048298 Brandl, L. & Ritter, A. (2022). Wenn Italien wackelt, schwankt die EU: Darum ist Giorgia Meloni die gefährlichste Frau Europas. https://www.stern.de/politik/ausland/wahlen-in-italien--ist-giorgia-meloni-die-gefaehrlichste-frau-europas--32742572.html De Giorgi, E., Cavalieri, A. & Feo, F. (2023). Vom Oppositionsführer zum Premierminister: Giorgia Meloni und Frauenfragen in der italienischen radikalen Rechten. Politik und Governance, 11(1). https://doi.org/10.17645/pag.v11i1.6042 Feo, F. & Lavizzari, A. (2021): Fallstudie Italien; in: Triumph der Frauen? Das weibliche Antlitz des Rechtspopulismus und -extremismus in ausgewählten Ländern, Heft 06, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) - Forum Politik und Gesellschaft, online unter: https://www.fes.de/themenportal-gender-jugend-senioren/ gender-matters/artikelseite/fallstudie-italien. Finchelstein, F. (2017). Populismus als Postfaschismus – Essay. BPB.de. https://www.bpb.de /shop/zeitschriften/apuz/257672/populismus-als-postfaschismus-essay/ Griffini, M. (2023). Auf dem Grat zwischen Mäßigung und Radikalisierung: Die ersten 100 Tage der Meloni-Regierung. Quaderni dell Osservatorio elettorale QOE - IJES. https://doi.org/10.36253/qoe-14413 Latza Nadeau, B. (2018): Femme Fascista: Wie Giorgia Meloni zum Star der extremen Rechten Italiens wurde, in: World Policy Journal, 35, 2, 2018. Livi, M. & Jansen, C. (2023). Giorgia Meloni und der Rechtsruck in Italien: Eine Analyse fünf Monate nach der Wahl. Leviathan, 51(2), 169–185. https://doi.org/10.5771 /0340-0425-2023-2-169 Lutz, Philip (2021): Neubewertung der Gap-Hypothese: Hartes Reden und schwaches Handeln in der Migrationspolitik? In: Party Politics, 27(1), S. 174–186. Verfügbar unter: https://doi. org/10.1177/1354068819840776Moroni, C. (2019): La politica si fa immagine: la narrazione visual del Leader politico, in: H-ermes. Zeitschrift für Kommunikation, 15. 2019.Oliviero, A. (2023). Giorgia Meloni und die Migrationsfrage. Rückblick auf ein Jahr Regierung (MIDEM-Policy Paper 2023-4). https://www.stiftung-mercator.de/content/uploads/2023/10 /TUD_MIDEM_PolicyPaper_2023-4_Giorgia-Meloni-und-Migrationsfrage.pdf (POP) Politisches Observatorium für Populismus. (2023). Brüder und Schwestern Italiens: Von den faschistischen Wurzeln zur Normalisierung – ein Doppelinterview. https://populismobserver.com/2023/07/11/brothers-and-sisters-of-italy-a-double-interview/ Reisin, A. (2023). Italien.Medien schreiben sich das erste Amtsjahr von Giorgia Meloni schön. https://uebermedien.de/89003/wie-sich-medien-das-erste-amtsjahr-von-giorgia-meloni-schoenschreiben/ Roio, C. (2020). Prefazione. La grande trasformazione dell'ultradestra, in: C. Mudde: Ultradestra. Rom: Luiss University Press. Schütz, D. (2022). Begriff "Postfaschismus". Italienischer Sonderweg. TAZ.de. https://taz.de/Begriff-Postfaschismus/!5880112/ Seeßlen, G. (2023, 17. August). Giorgia Melonis Kürzung der Sozialhilfe als faschistischer Krieg gegen die Armen Italiens. Gesellschaft als Beute Italien: Ein Lehrstück der Faschisierung in Europa. Jungle.World, Hintergrund (2023/33). Seisselberg, J. (2023). Ein Jahr Meloni in Italien – Neue Schale, rechter Kern (04.10.2023; NDR Info Hintergrund). https://www.ndr.de/nachrichten/info/epg/Ein-Jahr-Meloni-neue-Schale-rechter-Kern,sendung1384714.html Siefert, A. (2023). Italien. Meloni und ihre "Mutter aller Reformen". https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-11/italien-giorgia-meloni-verfassungsreform Tagesschau. (2022). Porträt. Giorgia Meloni. "Zuallererst Italienerin". Tagesschau.de https://www.tagesschau.de/ausland/italien-meloni-107.html ZEIT ONLINE. (2023, 25. September). Gekommen um zu bleiben: Ein Jahr Giorgia Meloni. https://www.zeit.de/news/2023-09/25/gekommen-um-zu-bleiben-ein-jahr-giorgia-meloni
Den Kern der hier vorliegenden Arbeit bildet die Gliederung der Keramikfunde von drei Siedlungshügeln aus den Tonebenen (auch firki genannt) des südwestlichen Tschadbeckens Nordost- Nigerias. Obwohl das Gebiet in den 60er Jahren bereits archäologisch erschlossen wurde, waren die keramikchronologischen Aspekte nur oberflächlich abgehandelt worden. Ziel der Arbeit war somit die Erstellung einer grundlegenden Keramikchronologie anhand der sehr umfangreichen Fundmengen aus den Siedlungshügeln Kursakata, Mege und Ndufu. Ihre Stratigraphien erlaubten es, eine Keramikchronologie für die letzten 3000 Jahre zu erstellen. Das Gebiet der dem Tschadsee vorgelagerten firki-Tonebenen konnte erst ab 3000 BP besiedelt werden, wie die C14-Datierungen der Fundplätze bezeugen. Vorher war der auch als Chad Lagoonal Complex bezeichnete Raum von den Wassern des Mega-Tschadsees bedeckt. Diese sogenannte 3000- Jahresgrenze gilt aber nur für die firki-Region, denn in den westlich angrenzenden Sandebenen (Bama Deltaic Complex) war eine Besiedlung um 1000 Jahre früher möglich. Das Siedlungsmaterial der drei Hügel wurde mittels Veränderungen in der Keramik in Bezug auf Verzierung und Form sowie mehrerer C14-Daten in verschiedene Perioden gegliedert: Later Stone Age (1000-500 cal BC), Early Iron Age (500 cal BC-500 cal AD), Late Iron Age (500- 1600 cal AD), Historisch (16.-19 Jh. AD), Subrezent (19.-20. Jh. AD). Later Stone Age und Early Iron Age zeigen in der Keramikentwicklung eine Früh- und Spätphase. Den wichtigsten chronologischen Faktor bilden die Verzierungstechniken, denn vom Later Stone Age bis zur subrezenten Periode ist eine Abnahme von unverzierten Scherben im Verhältnis zu verzierten Scherben zu beobachten, d. h. größere Flächen wurden auf der Keramik verziert. Der Keramikhorizont von Ritz-, Stich- und Wiegebandtechnik im Later Stone Age wandelt sich über das Early Iron Age zu einem Matten- und Roulettehorizont schließlich zu einem Roulettehorizont im Late Iron Age. Den Entwicklungen in der Verzierung lassen sich Veränderungen bei den Gefäßformen gegenüberstellen, die sich von geschlossenen zu offenen Formen wandeln. Das Later Stone Age ist durch Kümpfe, dagegen das Early Iron Age durch Töpfe geprägt. Offene Schalen-Schüsseln bestimmen das Gefäßinventar ab dem Late Iron Age, aber auch verschiedene neue Gefäßtypen wie So-pots, Dreifußgefäße, Gefäße mit flachem Boden sowie solche mit langen konischem Rand treten jetzt in Erscheinung. Die zunehmende Bedeutung der Verzierungstechniken Matte und Roulette in den Fundplätzen spiegelt sich in ihrer Variationsbreite wider. Einzelne Matten- und Roulettetypen nehmen die Stellung von Leitformen ein. Im Later Stone Age sind nur Randparallele/Diagonale Geflechte und kombinierte Roulettes (cord wrapped stick roulette) vorhanden. Ab dem Early Iron Age wird das Formenspektrum erweitert. Zwirnbindige Geflechte und gezwirnte Schnurroulettes (twisted string roulette) bilden die charakteristischen Arten in der Frühphase des Early Iron Age, aber ab der Spätphase des Early Iron Age gewinnen die kombinierten Roulettes (cord-wrapped stick with spacing roulette) wieder an Bedeutung. Danach treten nur noch Roulettearten neu hinzu. Im Late Iron Age ist es das Schnitzroulette (carved roulette) und gegen Ende des Late Iron Age, aber vor allem ab der historischen Periode das gezwirnte Bandroulette (twisted strip roulette). Anders als bei den Roulettetechniken ist das Vorkommen von Matten an bestimmte Herstellungstechniken von Gefäßen gebunden, vorausgesetzt die Matten wurden nicht nach der Herstellung in die Oberfläche des Gefäßes eingeklopft. Ihr flächendeckender oder auf das Gefäßunterteil beschränkter Auftrag auf der Keramik der untersuchten Fundplätzen deutet auf die Anwendung von Treibtechnik zur Herstellung der Gefäße hin. Die begrenzte Handhabung der Matten und ihre primär technische Bedeutung (Oberflächenbehandlung) spielten vermutlich eine Rolle bei ihrer Verdrängung durch die Roulettetechnik. Insgesamt zeigt die chronologische Entwicklung der Keramik, daß die Tonebenen ohne längere Unterbrechung kontinuierlich besiedelt waren. Der Übergang von einer Periode zur nächsten ist zwar durch Veränderungen im Keramikmaterial gekennzeichnet, es werden aber immer auch verschiedene Merkmale aus der vorangegangenen Periode übernommen. Am markantesten stellt sich der Übergang vom Later Stone Age zum Early Iron Age dar. Hier finden Entwicklungen in der Keramik statt, die heute noch ihren Niederschlag (Roulettetechnik) finden. Die politischen Veränderungen im Gebiet der firki zu Beginn der sogenannten historischen Periode (Integration in das Kanem-Bornu-Reich) fallen keramiktypologisch betrachtet weniger ins Gewicht, d. h. die bestehende Keramiktradition wurde nicht vollständig durch eine andere ersetzt. Das Keramikmaterial aus den firki-Tonebenen Nordost-Nigerias zeigt, wie zu erwarten, die größten Übereinstimmungen zu dem anderer Fundplätze aus den Tonebenen der heute angrenzenden Staaten Kamerun und Tschad. Mit den Fundinventaren aus der südlich angrenzenden Mandara-Region in Kamerun und Nigeria haben unsere Keramikinventare die Entwicklung zu vorwiegend Rouletteverzierter Keramik (genauer gesagt Schnurroulette) in der Eisenzeit gemeinsam. In der nördlichen Mandara-Region scheint die Keramikentwicklung allerdings statischer verlaufen zu sein, da hier die markanten Veränderungen aus der firki während der Eisenzeit fehlen. Dennoch läßt das Keramikmaterial auf Beziehungen zwischen beiden Regionen schließen, die nach der Fundlage im Handel von Steinen und vermutlich auch Eisenerzen und Metallobjekten bestanden. Ebenso ist die politische Entwicklung in den Tonebenen (Integration in das Kanem-Bornu Reich) eng mit der in der nördlichen Mandara-Region (Bildung des Wandala-Reiches) verknüpft, was sich auch im Keramikmaterial widerspiegelt. Dagegen offenbaren die Fundstellen des östlichen Tschadbeckens in der Republik Tschad gänzlich andere Keramiktraditionen. Typische Keramikelemente aus der firki treten dort erst später oder gar nicht auf. Die Integration der firki Nordost-Nigerias in das Kanem-Bornu-Reich stellt sich als eine Verbreitung bestimmter Keramikelemente (twisted strip roulette, Sgraffito) westlich des Tschadsees (Yobe Valley) weiter nach Süden dar, wobei diese Keramikmerkmale von der autochthonen Bevölkerung westlich des Tschadsees schon vor der Ankunft der Kanuri verwendet wurden. Dies bedeutet, daß die Kanuri die Keramikmerkmale entweder von der einheimischen Bevölkerung übernommen haben oder schon vorher ein kultureller Austausch zwischen dem Yobe Valley und Kanem bestand. Die firki-Region war im Laufe ihrer Besiedlung verschiedenen Einflüssen anderer Regionen ausgesetzt. So müssen die ersten Siedler von außerhalb in das Gebiet eingewandert sein, da es längere Zeit für eine Besiedlung unzugänglich war. Weder die westlich angrenzenden Sandflächen noch die südlich angrenzenden Ebenen der Mandara-Region oder der östliche Teil des Tschadbeckens kommen derzeit dafür in Frage. Die Wirtschaftsweise der ersten Siedler deutet in nördliche Richtung, denn sie brachten domestizierte Rinder, Schafe, Ziegen und die Kenntnis vom Anbau domestizierter Perlhirse (Pennisetum glaucum) mit. Ihre Keramik steht in der Tradition des saharischen und sudanesischen Endneolithikums, was sich aus zonal begrenzten Verzierungen und der häufigen Verwendung von Ritztechnik und Spatelstich ableiten läßt. Die für das Later Stone Age in der firki typische Rouletteund Mattentechnik wurde in der Sahara/Sahel entwickelt. Ob die ersten Siedler nun aus östlicher oder westlicher Richtung kamen, läßt sich nicht definitiv sagen. Allerdings ist eine westliche Richtung durch die dort nachgewiesene Verwendung von Matten in Köperbindung und der eines kombinierten Roulette (cord-wrapped stick with spacing roulette) zu favorisieren. Der Übergang zum Early Iron Age in der firki ist mit neuen Einflüssen aus der südwestlichen Sahara und dem angrenzenden Sahel verbunden. Dies geht aus der Verwendung von twisted string roulette und zwirnbindiger Geflechte hervor. Auch wirtschaftlich hat mit Beginn des Early Iron Age ein Wandel stattgefunden, denn zu diesem Zeitpunkt setzt ein großflächiger Anbau von Perlhirse (Pennisetum glaucum) ein. Erst jetzt kann man von einer vollentwickelten seßhaften Lebensweise in der firki sprechen. Archäobotanische und archäozoologische Untersuchungen bezeugen einen Umschwung zu arideren klimatischen Bedingungen am Übergang vom Later Stone Age zum Early Iron Age, der die wirtschaftlichen Veränderungen nach sich gezogen haben könnte. Die grundlegenden Veränderungen in der Keramik unterstützen diese Hypothese, denn sie spiegeln vielleicht dieselbe Entwicklung nur auf anderer Ebene wider. Der Einfluß von Keramiktechniken aus dem Nordwesten läßt Bevölkerungsverschiebungen aus dem trockenen Norden in die von Wasservorkommen begünstigten firki-Tonebenen vermuten. Ein Einfluß aus anderer Richtung zeigt sich für das Late Iron Age. So hat sich wahrscheinlich die Technik des carved roulette im Savannenraum von Nigeria, Kamerun und der Zentralafrikanischen Republik entwickelt und weiter ausgebreitet. Für die historische Periode und den mit ihr in Zusammenhang stehenden politischen Veränderungen wurde schon auf Einflüsse aus dem westlichen Tschadbecken (Yobe Valley) Nordost-Nigerias hingewiesen. Dennoch muß die Bevölkerung in den Tonebenen nicht erst mit der Ausbreitung der Kanuri am Ende des 16. Jh. AD mit der Verwendung von twisted strip roulette in Berührung gekommen sein, wie Funde aus dem Late Iron Age zeigen. Diese Technik ist typisch für die Eisenzeit in Mali, sie wurde aber auch im 1. Jt. AD in der nördlichen Mandara-Region vereinzelt verwendet. Die Verbreitung der Roulette- und Mattentechniken ist für die Rekonstruktion von Beziehungen zu anderen Regionen ausschlaggebend. Am Keramikmaterial von Kursakata, Mege und Ndufu läßt sich sehr gut beobachten, daß verschiedene Roulette- und Mattentechniken hier zeitlich versetzt voneinander im Later Stone Age und Early Iron Age in Gebrauch kommen, die weiter nördlich schon im Later Stone Age bekannt waren und gemeinsam verwendet wurden. Die Bedeutung von twisted string roulette als Indikator für das Early Iron Age teilen sich die Fundplätze aus der firki mit anderen Fundplätzen aus dem Savannenraum. In der firki stehen Schnurroulettes und zwirnbindige Geflechte als Synonym für Eisen und seßhafte Lebensweise. Mit der hier vorliegenden Arbeit ist zum ersten Mal eine grundlegende Keramikchronologie für die firki-Tonebenen Nordost-Nigerias erstellt worden. Die verschiedenen Verzierungstechniken und auch die bislang wenig berücksichtigten Gefäßformen wurden näher bestimmt. Weiterhin ermöglichten es die Analysen, das Fundmaterial anderer Plätze besser zu beurteilen bzw. eine fundiertere Grundlage für Vergleiche zu bilden, d. h. es wurde ein detaillierter und kritischer Vergleich mit allen wichtigen Fundplätzen aus dem südlichen Tschadbecken vorgenommen. Darüber hinaus wurden die für die Keramikchronologie wichtigen Roulette- und Mattentechniken dokumentiert und anhand ihrer technischen Merkmale definiert. Eine zusammenfassende Darstellung zur Verbreitung der Rouletteund Mattentechniken in Afrika erlaubte es, ihre Vorkommen in Nordost-Nigeria in einen größeren vorgeschichtlichen Zusammenhang zu sehen. Somit bietet die hier vorliegende Arbeit genügend Grundlagen, auf die nachfolgende Forschungen aufbauen können. Für das östliche Tschadbecken und die nördliche Mandara Region steht bislang eine solche Keramikchronologie noch aus. ; The central part of this dissertation describes the classification of pottery from excavated sites in the clay plains, called firki, of the southwestern Chad Basin in Northeast Nigeria. Although archaeological research in this area already took place in the 1960's, the different chronological aspects of pottery have been treated only superficially. Therefore the objective of this work has been the development of a fundamental chronology on the basis of the large amount of pottery material from the settlement mounds Kursakata, Mege and Ndufu. Their stratigraphies comprise the last 3000 years. C14 dates of the archaeological sites confirm that the firki clay plains south of Lake Chad were settled around 3000 BP. Before that time this area - also known as the Chad Lagoonal Complex - was flooded by the Mega Lake Chad, which had its maximum extension during the middle Holocene. After its regression, due to increasing dryness between 1500-800 BC, the area could be settled again on relict islands of sand dunes, which interrupt the clay soils and protect the people from flooding in the rainy season. Continuous occupation led to the accumulation of stratified deposits and finally to the development of settlement mounds. However the 3000 year limit for reoccupation is only valid for the firki since the adjacent sand plains of the Bama Deltaic Complex were settled 1000 years earlier. The settlement remains of the mounds Kursakata, Mege and Ndufu, all located near to the village of Ngala, can be subdivided into different phases by changes in the ceramic material and dated by several C14 dates: Later Stone Age (1000-500 cal BC), Early Iron Age (500 cal BC-500 cal AD), Late Iron Age (500- 1600 cal AD), Historic phase (16th-19th century AD), sub-recent phase (19th-20th century AD). Furthermore the pottery of the Later Stone Age and Early Iron Age show an early and late sub-phase. Changes in the decoration techniques are the most important chronological factor during the single phases. A tendency towards more complete surface decoration becomes obvious as the percentages of undecorated potsherds are highest in the Late Iron Age but gradually decrease from the Iron Age onwards. The typical decoration techniques of the Late Stone Age are incision, impression and rocker stamping, changing to a mainly mat and roulette decorated pottery horizon in the Early Iron Age, and finally to an almost nearly roulette decorated one in the Late Iron Age. Both techniques (mat and roulette) cover a greater part of the vessel than the incised, impressed and rocker stamped motifs arranged in single or multiple, horizontal bands. Changes of pottery decoration go along with changes in vessel forms. They show a development from more restricted to more open forms. The Later Stone Age is characterised by deep bowls with simple and vertical rims whereas the Early Iron Age by nearly globular vessels with everted rims. Open bowls with simple and everted rims dominate the vessel types from the Late Iron Age onwards but different new forms like So pots, tripods, flat bottomed types and pots with long conical rims enrich the spectrum of vessel forms. The increasing importance of mat and roulette decoration techniques in the sites is reflected in their variety of types. Some of the types take up the position of key forms for the single phases. During the Later Stone Age only plaited basketry and the composite roulette type cord-wrapped stick were used. In the Early Iron Age different new roulette and mat techniques became common. Twined basketry and flexible string roulettes, especially twisted string roulette, form the dominant types in the early sub-phase, but in the late sub-phase of the Early Iron Age the composite roulette cord-wrapped stick with spacing gain in importance. After this period only new roulette types appear: for the Late Iron Age it is the rigid roulette type carved roulette and mostly for the historic and sub-recent period (but in small quantities already for the Late Iron Age) it is the flexible strip roulette type twisted strip roulette. In contrast to the roulette techniques the use of mat decoration depends on special pottery manufacturing techniques, provided the mat has not been applied to the vessel after its manufacture. The placement of mat impression to the lower part or all over the vessel in the sites indicates the use of the tamping manufacturing technique. In all probability the limited handling of mats and their prior technical function (surface treatment) led to their replacement by roulette techniques in the Iron Age. As a whole, the chronological development of pottery demonstrate, the firki clay plains have been continuously settled without long interruptions of occupation. Although the transition from one phase to the other is marked by changes in the ceramic material, different pottery features are always taken over from the foregoing one. However the transition from the Later Stone Age to the Early Iron Age is most striking and the occurring changes in the pottery material can still be recognised today in the use of roulette techniques. This is opposite to the integration of the firki plains into the Kanem-Borno Empire at the historic phase, where the existing pottery tradition was not replaced by another one, as seen in the pottery typology. The pottery material of the firki clay plains in Northeast Nigeria show the greatest correspondence to other settlement mounds in the firki which extends to Northern Cameroon and westcentral Chad. With the inventory of finds from the southerly adjacent Mandara plains in Cameroon and Nigeria the archaeological sites of the firki clay plains share the development to almost only roulette decorated pottery (strictly speaking string roulette) in the Iron Age. But in the northern Mandara region the changes in the pottery seem to proceed more statically because the obvious changes in the firki during the Iron Age are missing here. Nevertheless the typological correspondence in the pottery material points to a cultural relationship between the two regions, which, according to the archaeological finds, have existed in the exchange of stone raw material and presumably also of iron ore and iron artefacts. The political changes in the firki clay plains (integration into the Kanem-Borno Empire) are closely connected to the political changes in the northern Mandara region (formation of the Wandala Empire). These changes are reflected in the pottery material. On the other hand the archaeological sites in the eastern Chad basin of the Republic of Chad reveal a complete different pottery tradition. Typical pottery elements from the firki sites occur much later or have not been found. The integration of the firki plains into the Kanem-Borno empire at the end of the 16th century AD is represented in the pottery material by the distribution of certain pottery elements (twisted strip roulette, sgraffito) from the Yobe valley west of Lake Chad to the south. As these pottery elements had been used there prior to the arrival of the Kanuri in the Yobe valley it means either the Kanuri had taken over the elements from the indigenous population or cultural exchange between the Yobe valley and Kanem must have formerly existed. During its long settlement history the firki plains have been exposed to different influences from other regions. People who first settled south of Lake Chad must have come from outside this region because it was flooded until 3000 BP. Currently neither the sand plains of the Bama Deltaic Complex to the west nor the plains of the Mandara region to the south or the eastern Chad Basin can be considered as their homeland. The economy of the first settlers points to a migration from the north as they brought domesticated cattle, sheep and goat as well as the knowledge of pearl millet cultivation (Pennisetum glaucum) with them. Their pottery stands in the tradition of the Saharan and Sudanese Late Neolithic shown by zonal arrangements of motifs and the frequent use of incision and spatula impression. Furthermore the typical roulette and mat techniques of the Later Stone Age in the firki had been developed in the Sahara/Sahel. It cannot be said for sure if the first settlers migrated into this area from the west or the east. But the west seems to be more likely for two different reason: the proved use of plaited basketry decorated pottery and the use of a cord-wrapped stick (with spacing) as a roulette. With the beginning of the Early Iron Age new influences from the southwestern part of the Sahara and the adjacent Sahel has to be taken into account. Twisted string roulette and twined basketry had already been invented there in neolithic times but remained unknown in the eastern part until the first millennium AD. The transition to the Early Iron Age is also marked by notable changes in the economy of the inhabitants. Large amounts of pearl millet in the deposits of the sites demonstrate a sudden beginning of large scale farming. From this time a fully developed permanent settlement way of life had been established in the clay plains. Archaeobotanical and archaeozoological investigation suggest also a shift to a more arid climatic condition during the transition of the Later Stone Age to the Early Iron Age in the firki, which may have led to the intensification of pearl millet farming in the economy of their inhabitants. The fundamental changes in the pottery material support this hypothesis as they probably reflect the same development only on a different level. Together with the appearance of new pottery techniques from the northwest in the firki it can be suggested aridity forced people from further north to go south and to settle in the well watered firki plains. In the Late Iron Age the sphere of influence had changed because the use of carved roulete seems to have been developed in the savannah region of Nigeria, Cameroon and the Central African Republic. A shift of pottery elements from the Yobe valley west of Lake Chad to the firki in the south has been suggested for the historic phase due to the political changes which took place. Because finds of twisted strip roulette already occur in the Late Iron Age the inhabitants of the clay plains may have known the technique before the spread of the power of the Kanuri at the end of the 16th century AD. The use of twisted strip roulette is not restricted to Nigeria or a special ethnic group. This technique is typical for the Iron Age in Mali and is also used in small quantities in the northern Mandara region at the first millennium AD. As we have seen, it is the spread of the roulette and mat techniques which is important for the reconstruction of the relation of the firki plains to its surrounding area. From the ceramic material of Kursakata, Mege and Ndufu it can be clearly observed that individual, separate roulette and mat techniques appear shifted in time in the Later Stone Age and Early Iron Age. These techniques are known to have been used together at several sites further to the north in the Later Stone Age. With other sites of the West African savannah the archaeological sites of the firki plains share the importance of twisted string roulette as an indicator for the Early Iron Age. In the firki the twisted string roulette and twined basketry decorations can be seen as synonyms for iron and a permanent settlement way of life. In this dissertation for the first time a fundamental pottery chronology has been developed for the firki clay plains south of Lake Chad in Northeast Nigeria. Different decoration techniques and the so far less considered vessel forms have been defined. A detailed and critical comparison with all the important archaeological sites of the southwestern Chad Basin has been carried out and, in addition, all the existing roulette and mat types have been documented and classified under technical aspects. Besides the pottery analyses made it possible to interpret the pottery material of earlier excavated sites in the firki in a better way. With a summarised outline of the spread of roulette and mat techniques over Africa, their appearance in Northeast Nigeria could be placed in a greater prehistoric context. Thus the dissertation offers a good fundament for further investigations. A comparable pottery chronology for the eastern Chad Basin and the northern Mandara region is still lacking.
1. Kapitel: Einleitung Das Kapitel der Einleitung erläutert die Zielsetzung und Fragestellung dieser Arbeit unter Angabe der verwendeten Primärquellen, zu denen die Zeitungsartikel, Archivdokumente, die Transkriptionen der qualitativen Interviews gehören sowie den aktuellen Forschungsstand. Ziel dieser Arbeit ist es zum einen, auf inhaltlicher Ebene die Auto- und Heterobilder sowie Stereotype in der westdeutschen und britischen überregionalen Presse herauszuarbeiten und diese vor dem Hintergrund des außenpolitischen bilateralen Verhältnisses zu interpretieren. Zum anderen sollen jene Eigen- und Fremdbilder strukturell in die Argumentationen der jeweils nationalen Pressetexte eingeordnet werden und auf ihre Funktion hin überprüft werden. In der vorliegenden Dissertation wird angenommen, dass Stereotype und Bilder "des Anderen" gezielt in die Argumentationen der nationalen Pressetexte eingebettet sind und dort argumentative Funktionen erfüllen, wie etwa die Verstärkung eines Arguments oder die Herstellung von Plausibilität, Interpretation und Einordnung eines Ereignisses oder dessen gesellschaftliche Legitimation. Daher verbindet diese Arbeit die Methodik der "Kritischen Diskursanalyse" (KDA) mit der "Imagologie". Das Forschungsparadigma der KDA lautet nach Siegfried Jäger, den Diskurs auf seine ikonographischen Mittel hin zu untersuchen. Manfred Beller und Joep Leerssen definieren den Forschungsanspruch der Imagologie wie folgt: "Imagology aims to understand a discourse rather than a society". Weder die KDA gelangt zu einer näheren Klassifizierung der zu untersuchenden "ikonographischen Mittel", noch unternimmt die "Imagologie" den Versuch, den Begriff "discourse" näher zu bestimmen. Daher wird in dieser Arbeit diese Lücke geschlossen und beide Methodiken an ihrer Schnittstelle miteinander verbunden. Es ist das Hauptanliegen dieser Arbeit, die diskursive Konstruktion des deutsch-britischen Verhältnis im jeweiligen Pressediskurs beider Länder im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit tiefgreifend zu analysieren und die dem jeweiligen Diskurs zugrundeliegenden "Aussagen" im Sinne Foucaults herauszuarbeiten. Zudem sollen allgemein-gültige Ergebnisse zur Tradierung von Stereotypen und dem positiven und negativen Tenor der überregionalen Berichterstattung unter Berücksichtigung des außenpolitischen Kontextes in Betracht gezogen werden. Die Auswirkungen des Pressediskurses auf das öffentliche Denken soll anhand von Archivdokumenten bzw. von qualitativen Interviews punktuell gezeigt werden. 2. Kapitel: Diskurs und Kritische Diskursanalyse Im zweiten Kapitel wird zunächst der Diskursbegriff nach Michel Foucault mit den Wirkmechanismen und Strukturen von Diskursen begründet. Wichtig dabei ist der "Wissen/Macht-Komplex", der die diskursive Aushandlung von "allgemein gültigem Wissen" innerhalb einer Gesellschaft beschreibt. Dieses "Wissen" enthält die Tradierung gültiger Argumentationsformen inklusive Eigen- und Fremdbilder in der Presse. Der Begriff "Aushandlung" impliziert dabei, dass es sich um einen diffizilen diskursiven Prozess handelt. "Wissen und Macht" sind laut Foucault intrinsisch miteinander verbunden. Macht generiert Wissen, Wissen impliziert Macht. Demnach haben die als gültig ausgehandelten Argumentationsformen und Bilder in den Pressetexten eine Wirkungsmacht, Bewusstsein innerhalb einer Gesellschaft formen. In Foucaults diskursanalytische Theorien, die selbst keine konkreten Analyseschemata zur Untersuchung von (Medien-) Diskursen beinhalten, fließen die Weiterführungen von Sara Mills, Ruth Wodak und Norman Fairclough mit ein. Konkrete Vorgaben zur praktischen Analyse von Mediendiskursen legte der Linguist Sigfried Jäger des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung vor. Jäger definiert verschiedene Diskursebenen innerhalb einer Gesellschaft, bei denen der Mediendiskurs zwischen der Politiker- und Alltagsebene angesiedelt ist. Jäger beschreibt, dass der Mediendiskurs in sich relativ homogen ist, da die großen Leitmedien ihre Informationen von wenigen offiziellen Presseagenturen beziehen. Dies bedeutet, dass die Nachrichten zur Aktualität im Fernsehen relativ gleich denen im Radio oder den Zeitungen sind. Im Fall dieser Arbeit ist bestätigt, dass die Presse den dominanten Mediendiskurs sowohl in der BRD als auch in GB zur politischen Information darstellt. Die Pressetexte mit ihren Argumenten, ihrem Tenor und den Selbst- und Fremdbildern zu den Ereignissen der zweiten Berlin-Krise hatten demnach eine große Wirkung auf ihre Leser, zu denen nachweislich auch die Regierungsoberhäupter Adenauer und Macmillan zählen. Trotz der angenommen Homogenität des Mediendiskurses besitzt jede Presse- und Medieninstitution eine eigene "diskursive Position" gemäß ihrer Ausrichtung, die nachhaltig den Tenor ihrer Nachrichten bestimmen. Grundsätzlich teilt man in einer Gesellschaft Wissen darüber, welche Ausrichtung die "großen Zeitungen" haben. So ist etwa der Guardian und die SZ sozialliberal, die Times, FAZ, Die Welt und der Daily Telegraph konservativ eingestellt. Darüber hinaus teilt Jäger die Presseberichterstattung in ihre Bestandteile. Diese sind etwa die Berichterstattung über ein bestimmtes Thema, den "Diskursstrang". Pressetexte, die ein bestimmtes Thema behandeln, nennt er "Diskursfragmente". Demnach bilden alle Diskursfragmente zu einem Thema den Diskursstrang, der sich diachron gemäß der (außen-)politischen Situation entwickelt. Jäger bezeichnet ihn metaphorisch als "Fluss von Wissen durch die Zeit". Analysiert man ein Ereignis, über das in den Medien viel berichtet wird, stellt dies ein "diskursives Ereignis" dar. Für Jäger stellen diese Orientierungspunkte dar, da sie eine "Momentaufnahme" des Diskursstranges abbilden und zeigen, welche Bilder, Argumente und diskursiven Mechanismen zu einem bestimmten Zeitpunkt tradiert wurden bzw. "gültig" waren. Die diachrone Aneinanderreihung von Ergebnissen aus mehreren diskursiven Ereignissen zeigt dann Entwicklungen und Veränderungen in einem Diskursstrang auf, dessen Einwirkungen vor dem Hintergrund der politischen Ebene interpretiert werden können. 3. Kapitel: Imagologie und Stereotypenforschung Das Kapitel behandelt die Bildung, Funktionen und Tradierung von Eigen- und Fremdbildkonstruktionen als kulturelle Konstrukte im öffentlichen Diskurs, dem die Berichterstattung angehört. Ursprünglich in der vergleichenden Literaturwissenschaft situiert, weiten Beller & Leerssen das Untersuchungsfeld der Imagologie von literarischen Texten auf Texte "as forms of cultural representation" aus. Dem sind Zeitungsartikel überregionaler Qualitätszeitungen ebenso zuzuordnen. In diesem Kapitel werden die "Images" als Oberbegriff erläutert, aus denen sich das Bild, Stereotyp, Vorurteil und Feindbild ableiten. Zudem wird das Nationenbild behandelt. Der Schwerpunkt der Darstellungen in dieser Arbeit liegt dabei auf dem Stereotypenbegriff. Eingehend erläutert dieses Kapitel die identitätsstiftende Funktion von Eigen- und Fremdbildern, wobei ebenso die Aspekte des Wandels und der Beständigkeit von Stereotypen beleuchtet werden. Die Eigen- und Fremdbildkonstruktionen werden in den Kontext der Presseberichterstattung, insbesondere der Auslandsberichterstattung, eingebettet und deren Merkmale skizziert. Demnach wird die Struktur der Presseberichterstattung erläutert, in dem die Stereotype und Bilder eingebettet werden. Ebenso wird die Relation zwischen verbalem Ausdruck eines Stereotyps und dessen kognitive Assoziierung behandelt, wobei der konturierte Charakter eines Stereotyps gezeigt werden soll. 4. Kapitel: Methodische Vorgehensweise Dieses Kapitel fasst, basierend auf der erläuterten Methodik der Kritischen Diskursanalyse aus Kapitel 2 und den Grundlagen der Stereotypenforschung in Kapitel 3 die konkrete Vorgehensweise und methodische Anwendung dieser Arbeit zusammen. Behandelt wird die konkrete Auswahl relevanter Pressetexte für die quantitative und qualitative Analyse von westdeutschen und britischen Zeitungsartikeln der jeweils drei großen überregionalen Tageszeitungen, die das Korpus dieser Dissertation bilden (Times, Daily Telegraph, Manchester Guardian, FAZ, SZ und Die Welt). Die diskursiven Ereignisse des Untersuchungszeitraumes werden erläutert, ebenso wie die Klassifizierung der drei untersuchten Diskursstränge, die das deutsch-britische Verhältnis zur Zeit der zweiten Berlin-Krise von 1958 bis 1962 diskursiv aushandeln. Die konkrete Vorgehensweise aus Struktur- und Feinanalyse, die auf die drei Diskursstränge angewandt wird, wird geschildert. Dabei wird bereits der "Tenor der Berichterstattung" geschildert, der die drei untersuchten Diskursstränge dominiert. Neben der Tradierung von negativen, neutralen oder positiven Stereotypen im überregionalen Pressediskurs eines Landes entscheidet auch die subtilere "Stimmung" im Pressetext über die Formulierung eines positiven oder negativen Fremdbildes. Die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen in Abgleich mit den Archivdokumenten zum politischen Hintergrund, dass der Tenor der Berichterstattung eines Landes über die fremde Nation an das außenpolitische Verhältnis gebunden ist – zur Zeit von Macmillans Moskau-Reise im Februar 1959 stellt die britische Außenpolitik eine Bedrohung für den Kurs Adenauers dar mit der Konsequenz, dass in beiden Pressediskursen ein negativer Tenor mit einer großen Anzahl negativer Fremdbilder zirkulierte. Als Macmillan 1960 von seiner Entspannungspolitik in Zentraleuropa Abstand nimmt und sich der kontinentaleuropäischen Wirtschaftsbeziehungen zuwendet, verbessert sich sowohl der Tenor als auch die wechselseitigen Heterobilder über den Anderen in beiden Pressediskursen. Demnach hängt die negative Tradierung von Fremdbildern von der diskursiven Konstellation ab, die in den überregionalen Leitmedien dem außenpolitischen Kurs der jeweiligen Regierung folgt. 5. Kapitel: Das britische und westdeutsche Pressewesen Im 5. Kapitel wird das westdeutsche Pressewesen dem britischen gegenübergestellt. Zunächst soll gezeigt werden, dass die Zeitungen im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit das dominante Leitmedium zur politischen Information darstellen, da die "ephemeren" Medien wie Radio und Fernsehen zwar in beiden Ländern zahlenmäßig (bereits) weit verbreitet waren, sich zur intensiven politischen Information jedoch (noch) nicht durchgesetzt hatten. Dies hat zur Folge, dass der Presseberichterstattung über die britische und westdeutsche Außenpolitik zur zweiten Berlin-Krise eine noch größere Wirkungsmacht zukommt, deren inhaltliche Analyse sich eignet, dominante Grundaussagen des britischen und westdeutschen Pressediskurses in Form von Argumentationsmustern und der Tradierung von Fremdbildern zu Legitimierungszwecken herauszuarbeiten. Von diesen kann angenommen werden, dass sie eine sehr starke Wirkmacht zur Bewusstseinsbildung über die jeweils fremde Nation bei den Lesern hatten, zu denen nachweislich auch die führenden Politiker beider Länder zählten. Danach werden die sechs überregionalen Zeitungen in ihrer Pressegeschichte sowie ihrer zahlenmäßigen Verbreitung vorgestellt und ihre "Diskursposition", d.h. in ihrer (politischen) Ausrichtung im gesellschaftlichen Diskurs, genannt. Da diese Arbeit eine relative Homogenität der überregionalen Leitmedien annimmt, wird die Diskursposition der einzelnen Tageszeitungen in dieser Untersuchung vernachlässigt. Es werden zudem wesentliche Unterschiede des westdeutschen und britischen Pressewesens erläutert und die Kriterien einer "überregionalen Tageszeitungen" definiert. Abschließend werden beide Pressewesen miteinander verglichen und in den historischen Kontext der zweiten Berlin-Krise eingeordnet. 6. Kapitel: Die zweite Berlin-Krise als diskursiver Kontext Dieses Kapitel erläutert die außen- und weltpolitischen Hintergründe des längsten Konfliktes des Kalten Krieges, die im August 1961 zur sichtbaren Teilung Deutschlands in Ost- und West führte. Der historische Hintergrund wird mit Archivdokumenten aus dem Bundesarchiv Koblenz sowie dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes gestützt. Gezeigt werden die Rollen und Verantwortlichkeiten der alliierten Siegermächte Großbritannien, den USA und Frankreich gegenüber den sowjetischen Forderungen Chruschtschows, das Viermächteabkommen aufzukündigen und die alliierten Truppen aus Westberlin abzuziehen. Mit der Schilderung des historischen Hintergrundes wird zudem der Untersuchungszeitraum dieser Arbeit festgelegt, der mit dem Chruschtschow-Ultimatum vom 27.11.1958 beginnt und mit dem Beginn der Kuba-Krise im Oktober 1962 endet. Neben der Schilderung des Verlaufes der zweiten Berlin-Krise wird das deutsch-britische Verhältnis in diesem Zeitraum eingehend geschildert. Betont werden die Rolle Großbritanniens in der Außenpolitik Adenauers sowie umgekehrt, Deutschland bzw. Berlin in der britischen Außenpolitik. Darüber hinaus behandelt dieses Kapitel dominante Deutschlandbilder der britischen Öffentlichkeit sowie die Englandbilder der westdeutschen Bevölkerung. Inhalte politischer Dokumente stützen vorherrschende Haltungen beider Regierungen zueinander, die dem Zweck dienen, Einflüsse auf den jeweiligen Pressediskurs eines Landes zu erkennen, bzw. aus diskursanalytischer Sicht, die Politikerebene von der Medienebene zu trennen. 7. Kapitel: Kategorisierung der Diskursstränge Hier werden die drei in dieser Arbeit analysierten Diskursstränge inhaltlich umrissen. Diskursstränge, die Bilder des Anderen enthalten, jedoch nicht wechselseitig in beiden auftreten, werden in Punkt 7.4 genannt. Dabei handelt es sich um Diskursstränge, die spezifisch für ein Land stehen, die fremde Nation jedoch thematisieren. So behandelt Großbritannien verstärkt das Thema "NS-Prozesse" im eigenen spezifischen Diskurs anders als dies in der westdeutschen Presse geschieht. 8. Kapitel: Diskursstrang 1: Der Staatsbesuch von Theodor Heuss: Oktober 1958 Mehrere Faktoren begründen den Staatsbesuch von Theodor Heuss als ersten offiziellen Empfang eines deutschen Regierungsoberhauptes durch die britische Monarchin seit 1907 als diskursives Event zu behandeln und in die Analyse miteinzubeziehen, obwohl er Ende Oktober 1958, knapp einen Monat vor dem Beginn der zweiten Berlin-Krise, durch das Chruschtschow-Ultimatum stattfand. Erstens repräsentieren sowohl der Bundespräsident als auch die britische Monarchin die Bevölkerung ihres Landes und nicht die außenpolitische Linie. Demnach steht das Verhältnis beider Bevölkerungen zueinander im Mittelpunkt der Berichterstattung. Zweitens bestätigen mehrere Quellen, dass der Heuss-Besuch das Ende der Nachkriegsära im deutsch-britischen Verhältnis einläutete. Demnach stand dem Besuch eine große diskursive Aushandlung über die Presse beider Länder bevor, das deutsch-britische Verhältnis, das sich insbesondere durch den Zweiten Weltkrieg zu einer Feindschaft wandelte, neu auszuhandeln. Von britischer Seite bestand eine große Reserviertheit und Kühle gegenüber dem westdeutschen Gast, die die britische Presse dominierte. Die westdeutschen Zeitungen berichteten ausführlich über die Ehrung und Würde des königlichen Empfangs und bezogen sich anschließend auf das negative Echo der britischen Zeitungen. Die britische Presse zeichnete dabei das Bild des "deutschen Charakters" als obrigkeitshörigen, gefügigen, materialistischen und unmoralischen Deutschen, der seine Vergangenheit mit dem Konsum des Wirtschaftswunders verdrängt. Heuss dagegen sei "not this kind of German". Von deutscher Seite seien "Engländer auch keine Italiener". Nationale Bilder des Anderen dienen der Legitimierung und Einordnung in den eigenen diskursiven Kontext, die Haltung und Reaktion des Anderen logisch zu interpretieren. Sowohl die qualitative als auch quantitative Analyse der Presseartikel in den westdeutschen und britischen Zeitungen ergeben, dass das Bild vom Anderen in seiner Anzahl negativ ist, was auf ein vorherrschend negatives Bild und Grundaussauge insbesondere im britischen Diskurs gegenüber den Deutschen schließen lässt. Es zeigt sich zudem, dass die dominanten Unterthemen der britischen und westdeutschen Presse analog zu der Hierarchie der am meisten verwendeten negativen Fremdbildern sind. Demnach überwiegt zahlenmäßig in der britischen Presse das Bild des unmoralischen und militanten Deutschen, das in Analogie zum am meisten vorhandenen Unterthema der NS-Vergangenheit steht. Von deutscher Seite ist das Bild der kühlen, reservierten und unhöflichen Briten dominant, das am gewichtigsten das Unterthema der "Reaktion der britischen Bevölkerung und der britischen Presse" interpretierend unterstützt. Heterobilder und -stereotype sind demnach in die Struktur der Presseberichterstattung eingebettet und erfüllen bestimmte Funktionen, meist die der Verstärkung der Argumentationen zur Herstellung von Plausibilität und Logik. Indem die westdeutsche Presse die Briten als "arrogant allem Fremden gegenüber" charakterisiert, dient dies der Einordnung und Erklärung für die berichtete kühle Reaktion der britischen Bevölkerung auf den deutschen Gast. Indem die britische Presse ein Kontinuitätsbild der Deutschen als "militant und unmoralisch" tradiert, ist die reservierte Haltung der eigenen Bevölkerung gegenüber den unmoralischen Deutschen gerechtfertigt. Zugleich stilisieren sich die Briten selbst als "moralisch" im Hinblick auf ihre politische Tradition und Konstitution. Die diskursive Aushandlung des deutsch-britischen Verhältnis zum Heuss-Staatsbesuch dient der "Aktualisierung" des jeweiligen Fremdbildes, wodurch aus diskursanalytischer Sichtweise "viel Wissen produziert wird". Die mediale Neuaushandlung der deutsch-britischen Beziehungen wird durch Berichte etwa des deutschen Botschafters in London sowie von Heuss selbst ergänzt, die erläutern, dass es sich um eine berichtete kühle Reserviertheit der britischen Bevölkerung gegenüber dem deutschen Staatsgast handelt und nicht um eine tatsächlich erlebte Ablehnung aus Sicht beider Politiker. Theodor Heuss berichtigte diese Tatsache sogar in seiner Neuansprache an das deutsche Volk vom 31.01.1958, bei der er sagte, dass er viel Wärme erfahren habe und dass verantwortliche Journalisten einberufen wurden. Trotz der überwiegend negativen Tradierung der Bilder des Anderen während des Heuss-Besuchs ist eine Verbesserung des Tenors in beiden nationalen Pressediskursen zu erkennen, die etwa im Januar bei den wohlwollenden Berichten über die Assoziierung Großbritanniens an den europäischen Markt deutlich erkennbar ist, jedoch durch die Herausforderungen der zweiten Berlin-Krise ab Januar 1959 deutlich in den Hintergrund rückt. 9. Kapitel: Bilaterale Krise zwischen Adenauer und Macmillan: 1959 Der Diskursstrang der bilateralen Krise zwischen Adenauer und Macmillan im Jahr 1959 bildet den "Kern" der in dieser Arbeit durchgeführten Diskursanalyse. Dies ist damit zu begründen, dass der Diskursstrang von Oktober 1958 bis Januar 1959 eine positive Entwicklung aufzeigt, die durch das zunächst relativ harmonische persönliche Verhältnis zwischen Adenauer und Macmillan aufgrund außenpolitischer Übereinstimmung gekennzeichnet ist. Adenauers Position als Befürworter des britischen Anliegens, sich wirtschaftlich in Europa nicht zu isolieren durch die Schaffung einer Freihandelszone als Gegengewicht zur 1957 gegründeten EWG der Kontinentaleuropäer stößt zunächst auf Wohlwollen der außenpolitischen Interessen Macmillans und Adenauers, der stets eine engere Einbindung Großbritannien an Europa anstrebte. Durch das Chruschtschow-Ultimatum Ende November 1958 und der sich Mitte Januar 1959 herauskristallisierenden entgegengesetzten Positionen im Ost-West-Konflikt verschlechterte sich das bilaterale Verhältnis um ein Vielfaches, das nach der unilateralen Moskau-Reise Macmillans Ende Februar 1959 im April 1959 seinen Höhepunkt nimmt. Der bilaterale Konflikt wird auf den polarisierenden Charakterisierungen des weichen Macmillans gegenüber eines starren Adenauers auf die Personen des britischen und westdeutschen Regierungsoberhauptes übertragen. Von westdeutscher Seite wird dem Misstrauen gegenüber der britischen Außenpolitik mit Beschwichtigungen reagiert. Zugleich tritt Amerika als "Beschützer" vor den Russen ins Zentrum der westdeutschen Argumentation. Macmillans ergebnislose Moskau-Reise wird in der westdeutschen und britischen Presse unterschiedlich interpretiert: die Briten sehen sie weitestgehend als Erfolg, da Chruschtschow gegen Ende doch noch einer Außenministerkonferenz zustimmte, die ab Mai in Genf stattfand. Die Zeitungen der BRD werten sie einschlägig als "Fehlschlag". Macmillans einseitige Initiative wirft zugleich die Frage einer "Paris-Bonn-Achse" auf, da die Moskau-Reise noch stärker zu einer Polarisierung innerhalb der westlichen Allianz führt: de Gaulle steht entschieden zur starren Haltung Adenauers gegenüber der UdSSR, Amerika befürwortet eher Verhandlungen wobei die britische Regierung vollkommen auf Verhandlungen mit Chruschtschow setzt, um die Berlin-Frage zu lösen. Die Begriffe "schwach" in der westdeutschen Presse und "suspicious" in der britischen sind die im Verlauf des Jahres 1959 am häufigsten tradierten Bilder des Anderen. Die deutschen Zeitungen stilisieren Macmillans Außenpolitik und Großbritannien als schwächste Alliierte wohingegen die britische Presse Adenauer als "misstrauisch" gegenüber britischen Motiven charakterisiert. Im April äußerte sich Adenauer im Rundfunk über "Drahtzieher", die bewusst das deutsch-britische Verhältnis in Großbritannien verschlechtern. Ohne direkt die "Wire-Pullers" zu nennen, bezieht die britische Presse Adenauers Anschuldigungen Mitte April 1959 auf sich. Es kommt zum Times-Artikel: "Anglo-German relations at low ebb" sowie zur Bemerkung im Daily Telegraph: "No conspiracy is needed since anti-German feelings exist without being artificially inspired". Adenauers kritische Äußerungen halten von Juni bis September 1959 an. Während der ersten Phase der Genfer Außenministerkonferenz bleibt ein negativer Tenor in der westdeutschen Presse gegenüber britischen Motiven bestehen, wobei Adenauers Kritik an der britischen Außenpolitik in Zusammenhang mit der (ergebnislosen) Genfer Konferenz zu sehen ist. Ab September ist eine eindeutige Distanzierung sowohl der britischen als auch deutschen Presse zu Adenauers Äußerungen zu bemerken. Dies liegt in der quantitativen Anzahl von Artikeln begründet als auch in der qualitativen Analyse der Presseartikel. Über die dritte Adenauer-Kritik an Großbritannien wird verhältnismäßig wenig und sehr "nüchtern" berichtet. Daher ist eine Einflussnahme der Regierungen auf eine Verbesserung des bilateralen Verhältnisses in der Presseberichterstattung zu verzeichnen. Als Adenauer im Oktober 1959 bekannt gibt, Ende November 1959 zu bilateralen Gesprächen mit Macmillan nach London zu reisen, richtet sich der Tenor beider Pressediskurse auf die Hoffnung und Zuversicht, dass beide Staatsmänner ihre Differenzen beseitigten. Insbesondere in der britischen Presse ist eine stark betonte Verbesserung des Tenors gegenüber Deutschland zu vermerken, die etwa in Berichten wie "the prospects for next week's talks are excellent" zum Ausdruck kommt. Die deutsche Presse bezeichnet die Verschlechterung des deutsch-britischen Verhältnis als "unnötigen Hader". Auch die Nachbereitung der bilateralen Gespräche hinterlässt einen positiven Einschlag. Die öffentliche Haltung des westdeutschen Außenministers sowie Adenauers selbst, eine Assoziierung der neu gegründeten EFTA mit der EWG zu befürworten, sowie Macmillans Distanzierung von einem Disengagement in Zentraleuropa führt zu jener bilateralen Verbesserung. Die Analyse ergab, dass die britische Presse Adenauer negativ als "old, suspicious, rigid und authoritarian" im April, Juni und September im Rahmen seiner Kritik an Macmillan charakterisiert. Britische Außenpolitik wird in der zweiten Hälfte von 1959 als "nüchtern" und "pragmatisch" stereotypisiert, in der ersten als "weich, schwach und flexibel". Auffallend ist, dass, je mehr über die verschlechterten deutsch-britischen Beziehungen berichtet wird, desto stärker das deutsch-französische hervortritt. Die Dominanz der Unterthemen in beiden Pressediskursen im Jahr 1959 zeigt, dass das Gewicht vom außenpolitischen Prinzip bestimmt ist. Für die deutsche Presse sind dies die deutsch-französischen Beziehungen und die außenpolitische Haltung Großbritanniens im Ost-West-Konflikt, für die britische Presse sind dies die Thematik um die Freihandelszone bzw. EFTA sowie die erstarkende Position der BRD als ("gleichberechtigter", "dominanter") NATO-Partner. Die überregionalen Leitmedien folgen demnach den außenpolitischen Kurs der jeweiligen Regierung. 10. Kapitel: Hinwendung zu Europa? Großbritannien und die EWG ab 1960 Der dritte Diskursstrang behandelt schwerpunktmäßig die diskursive Aushandlung des britischen Selbstbildes in seiner Hinwendung zu Europa gemäß der britischen Außenpolitik. Mit der zunehmenden und schnell wachsenden Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die zur politischen Union werden soll, verliert die von Großbritannien gegründete EFTA an Kraft. Neben Kennedys Wunsch nach einer Europäischen Integration, die Großbritannien als Mitglied der EWG sehen will, wird die Einheit der westlichen Allianz gegenüber der Sowjetunion auf die Wirtschaft übertragen. Bei Macmillans Besuch in Washington im April 1961 wird dieser Prozess beschleunigt, als der britische Premier am 31.07.1961 im Unterhaus verkündet, ein Beitrittsgesuch zur EWG in Brüssel zustellen. Der Diskursstrang ist zunächst in drei Phasen zu teilen: 1) Deutsch-britische Annäherung zwischen EWG und EFTA von Januar 1960 bis Februar 1961, 2) Erwägung und Beschluss des britischen EWG-Beitrittes: März bis Dezember 1961, 3) Wachsende Skepsis und Distanz Adenauers zum britischen EWG-Beitritt: Januar bis Oktober 1962. Das der Diskursstrang eine starke Fokussierung auf dem britischen Selbstbild besitzt und das Verhältnis Großbritannien vermehrt gegenüber den EWG-Staaten und weniger bilateral behandelt wird, wurde hier auf eine Feinanalyse verzichtet. Ziel der Strukturanalyse ist es, vor dem Hintergrund der zeitweiligen Abwesenheit außenpolitischer Differenzen zwischen beiden Ländern eine starke Verbesserung des Tenors in der britischen und westdeutschen Presseberichterstattung festzustellen, wobei es im Februar 1961 zu einem berichteten "Höhepunkt" im deutsch-britischen Verhältnis beim bilateralen Treffen zwischen Adenauer und Macmillan in London kommt, der neben dem positiven Tenor auch gerade in der positiven Darstellung Adenauers in der britischen Presse zeigt. Die positive Darstellung Adenauers ist mit seiner Befürwortung eines britischen EWG-Beitrittes verbunden. Auch hier kommt das deutsch-französische Verhältnis zum Tragen: die britische Presse erhofft sich mit Adenauer einen Fürsprecher gegenüber de Gaulle zu haben bzw. die deutsch-französische Achse aufzuweichen. Adenauer dagegen ist über die positive Haltung der Briten gegenüber einer Europäischen Integration positiv gestimmt. Während sich in der zweiten Phase des Diskursstrangs die bilaterale Aushandlung der deutsch-britischen Beziehungen entfernt, da die britischen Zeitungen etwa das Selbstbild um den Verlust der eigenen Souveränität aushandeln und die Berlin-Krise mit dem zweiten Chruschtschow-Ultimatum vom Juni 1961 und der darauf folgenden Abriegelung des Ost-Sektors von Berlin im August 1961 die Aufmerksamkeit der westdeutschen Zeitungen auf den Ost-West-Konflikt richten. Die dritte Phase ab Januar 1962 wird eingeleitet durch Macmillans Besuch in Bonn Anfang Januar 1962. Dabei werden erste Verschlechterungen in der beiderseitigen Berichterstattung deutlich, die sich um die Stationierungskosten der britischen Rhein-Armee ranken, die aufgrund der Teilung Deutschlands im Rahmen der NATO aufgestockt werden muss. Im März äußert sich Adenauer erstmals öffentlich gegenüber einem französischen Journalisten kritisch dem britischen EWG-Beitritt gegenüber. Politische Dokumente vom Dezember 1961 belegen, wie sehr Adenauer de Gaulles distanzierter Haltung zu einem britischen EWG-Beitritt zustimmt, da sonst das politische Konzept der EWG nicht umgesetzt werden könne. Im Juni 1962 äußerte sich der Bundeskanzler erneut konkret kritisch, indem er behauptet, dass eine wirtschaftliche Assoziierung Großbritanniens zur EWG nicht gleich eine Vollmitgliedschaft des Vereinigten Königreiches bedeuten muss. Die westdeutsche Presse distanziert sich zunehmest von Adenauers kritischen Äußerungen wohingegen die britischen Zeitungen Ludwig Erhards und von Brentanos Zustimmung zitieren. Mit Adenauers Staatsbesuch in Paris Anfang Juli und der zelebrierten deutsch-französischen Aussöhnung in der Kathedrale von Reims kommen Feindbilder gegenüber den militanten Deutschen in der britischen Presse erneut hervor. Adenauer wird für die britische Europapolitik zur Bedrohung, da eine demonstrierte Aussöhnung mit de Gaulle gleichbedeutend sei mit einer Distanzierung Bonns vom britischen Anliegen und von einer Fürsprache Adenauers bei de Gaulle für die britische Sonderstellung. Weitere kritische Äußerungen Adenauers im August 1962 verstärken diese Haltung. Die westdeutsche Presse distanziert sich dabei nachweislich von den Äußerungen des "alten Herrn" und folgen dem Konsens der Bonner Außenpolitik. Mit dem Beginn der Commonwealth-Konferenz in London im September und dem aufkommenden Konflikt der Kuba-Krise endet der Untersuchungszeitraum dieser Arbeit. 11. Kapitel: Ergebnisse und diskursanalytische Schlussfolgerungen Zu den zentralen Schlussfolgerungen zählt die Aussage, dass die britische und westdeutsche überregionale Presse den allgemeinen Konsens der Außenpolitik verfolgt. Abweichende Haltungen einzelner Personen, auch gerade die der Regierungsoberhäupter, werden gegebenenfalls ausgegrenzt. Somit hält der überregionale Pressediskurs die Funktion einer Korrektur inne. Einflussnahmen der Politikerebene auf den Tenor der überregionalen Berichterstattung wurden kenntlich gemacht, etwa ab September 1959 vor dem Adenauer-Besuch in London. Die Formulierung negativer Fremdbilder und Stereotype ist in den Zeiten des außenpolitischen Konfliktes quantitativ erhöht. Ein interessantes Ergebnis ist die Dichotomie der tradierten Bilder von Adenauer und Macmillan: im April 1959 stilisiert die westdeutsche Presse Macmillan als "weich" und "flexibel" wohingegen die britischen Zeitungen Adenauer als "rigid" und "authoritarian" charakterisieren. Die Herausbildung negativer Stereotype ist damit zu begründen, dass die fremde Nation zur Bedrohung für die eigenen Interessen wird, wie im Fall von Macmillans Moskau-Reise oder Adenauers zunehmender Distanzierung zum britischen EWG-Beitritt. In Zeiten der akuten Bedrohung ist zusätzlich eine quantitative wie qualitative Abhängigkeit der britischen und westdeutschen Presseartikel festzustellen. So verlaufen beide Diskursstränge parallel zueinander. Aus qualitativer Sicht finden zahlreiche direkte und indirekte Bezüge der westdeutschen Presse zu britischen Artikeln sowie umgekehrt statt. Im dritten Diskursstrang, der vor dem Hintergrund der vorläufigen Abwesenheit von bilateralen Spannungen artikuliert wurde, treten die direkten Bezugnahmen zwischen der britischen und westdeutschen Presse zurück. Darüber hinaus verbessert sich der Tenor nachhaltig. In dem Moment, als erneut Spannungen auftraten, wie ab Juni 1962, tritt sogar das Bild des militanten Deutschen erneut in der britischen Presse auf. Somit hängen negative Fremdbilder vom außenpolitischen Kurs der Regierung und der Position der anderen Nation im bilateralen Verhältnis in den überregionalen Zeitungen ab. Zudem werden Forschungsausblicke vorgelegt, die sich auf einen Vergleich etwa des dritten Diskursstrangs mit dem gegenwärtigen EU-Austritt Großbritanniens beziehen oder sich mit den Dynamiken des deutsch-französischen Verhältnisses beschäftigen. 12. Kapitel: Ausblick: Wandel der Stereotype in der deutsch-britischen Presseberichterstattung(?) Das Kapitel möchte einen Ausblick zum Wandel bzw. zur Beständigkeit von den hier untersuchten Bildern des Anderen im gegenwärtigen deutsch-britischen Verhältnis liefern. Dazu werden einerseits Parallelen zum gegenwärtigen EU-Austritt Großbritanniens gezogen. Andererseits werden mittels der Aussagen von Interviewpartnern aus dem deutsch-britischen Verhältnis Ergebnisse und Ausblicke vorgelegt, die zur weiteren Erforschung der deutsch-britischen Pressebeziehungen einladen sollen. ; This doctoral dissertation examines the use of national stereotypes used in British and West German quality newspapers during the second Berlin Wall Crisis (1958 to 1962). As the Berlin Wall Crisis represents the tensest controversy within Cold War history, the national press coverage of West Germany and Great Britain is highly defined by reports on the political events. These are temporarily characterised by the direct confrontation between the West German chancellor Konrad Adenauer and the British Premier Harold Macmillan. The density and acuteness of this Cold War crisis, however, reduces the respective press releases on German and British affairs to a mere political coverage; thus, the analysis of the prevailing British and German newspapers can be regarded as a political discourse analysis. The methodological approach employed in this work follows the Critical Discourse Analysis according to Ruth Wodak [1], Norman Fairclough [2] and Sara Mills [3] with the aim of displaying the mutual use of auto- and hetero-images of "the Germans" and "the British" in the respective national media and consequently, the discursive construction of national identity. The discourse analysts' view is supplemented here by the imagologist approach of Manfred Beller [4], which concerns the construction of national images of the Self and the Other in public national discourse. Referring to the above-mentioned dominance of politically related reports in past national press coverage, Critical Discourse Analysis represents a highly suitable methodological approach as it aims at examining the discursive mechanisms of power and ideology in which a text is set. Considering this, Sara Mills defines Critical Discourse Analysis as a "political analysis of text" [5]. The time period examined in this work does not only mark the peak of the East-West conflict but also implements the substantial formation and structure of the European Union as it is still prevalent today. Major negotiations in the national press of that time, such as the entrance of Great Britain into the European Economic Community (EEC) beginning in the late 1950s, reveal arguments, attitudes and images in national press coverage about European affiliation of which many are still valid today. This can be currently noticed in British demands for a European reform as well as in a possible exit from the European Union in 2017. Accordingly, the diachronic view from the news coverage between Germany and Britain during the Berlin Wall Crisis is accomplished by this present outlook on German-British relations. This double-tracked approach allows both a complex portrayal of the historical development of German-British relationship and a definition of the mechanisms of auto- and hetero-images as they occur and change in trans-national media discourse. References: [1] Ruth Wodak and Michael Meyer (Eds.). Methods of Critical Discourse Studies. London: Sage, 32016. [2] Norman Fairclough. Critical Discourse Analysis. The Critical Study of Language. Edinburgh: Longman, 22010. [3] Sara Mills. Discourse. London: Routledge, 1997. [4] Manfred Beller and Joep Leerssen (Eds.). Imagology. The Cultural Construction and Literary Representation of National Characters. A Critical Survey. New York: Rodopi, 2007. [5] Mills: Discourse, p. 131. ; Arrogante und nüchterne Briten, ein Bundespräsident, der nicht deutsch sein kann, da er den Briten sympathisch ist oder militante Deutsche, die gemocht werden wollen - so schreiben die überregionalen britischen und westdeutschen Tageszeitungen während einer der brisantesten Krisen des Kalten Krieges übereinander. Die zweite Berlin-Krise (1958 bis 62) repräsentiert dabei eine schicksalhafte Zeit sowohl für die Bundesrepublik als auch für das Vereinigte Königreich. Themen wie die Suche nach einer gemeinsamen westlichen Strategie als Antwort auf sowjetische Ultimaten und die Teilung Deutschlands, die ambivalente britische Außenpolitik gegenüber Berlin, die deutsch-französischen Annäherungen und die Einbindung des Vereinigten Königreiches in die kontinentaleuropäische Wirtschaft dominieren die Pressediskurse beider Nationen. Diese Studie untersucht die diskursiven Mittel, mit denen die überregionale Presse außenpolitische Ereignisse in den eigenen nationalen Referenzrahmen integriert, und welche Rolle dabei textuelle Stereotype und Charakterisierungen spielen. Mithilfe der Methode der Kritischen Diskursanalyse will diese Arbeit anhand qualitativer und quantitativer Darstellungen jeweils diskursive Mechanismen der westdeutschen und britischen Tagespresse aufzeigen und damit ein kleines Stückchen Licht in die mediale Tradierung eines komplexen deutsch-britischen Verhältnisses bringen.