Die Untersuchung "Die Freimaurer im Alten Preußen 1738 - 1806" ging aus einem von Prof. Dr. Helmut Reinalter geleiteten und vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) in Wien geförderten und finanzierten Forschungsprojekt der Forschungsstelle Demokratische Bewegungen an der Geistesgeschichtlichen Fakultät der Universität Innsbruck in Zusammenarbeit mit der Wissenschaftlichen Kommission zur Erforschung der Freimaurerei hervor. Ausgewertet wurden hauptsächlich die im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem aufbewahrten Freimaurerbestände der Altpreußischen Logen, ferner die Freimaurerbestände des Österreichischen Staatsarchivs, Haus-,Hof- und Staatsarchiv Wien, sowie weiterer Archive und Bibliotheken, außerdem die masonische und die relevante regionalgeschichtliche, sozialgeschichtliche und biographische Literatur. Das Handbuch erfasst den Zeitraum 1741 - 1806 im östlichen Brandenburg-Preußen in den Grenzen vor der Zweiten Polnischen Teilung 1793, somit Vor- und Hinterpommern (ohne Schwedisch-Pommern), das Königreich Preußen (Ostpreußen), das 1740/41 eroberte Schlesien sowie das 1772 durch die Erste Polnische Teilung einverleibte Preußen königlich-polnischen Anteils (Westpreußen); Pommern und Schlesien lagen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, Ost- und Westpreußen, außerhalb. Die Freimaurerlogen werden nach gleichen Kiterien behandelt: ihre Geschichte im historischen und regionalen Zusammenhang, die Mitglieder un die Sozialstruktur, die gesellschaftliche, soziale und kulturelle Tätigkeit sowie die Wirkung in die bürgerliche Gesellschaft. Die maurerisch und biographisch kommentierten Mitgliederlisten verzeichnen erstmals die Gesamtheit der Freimaurer im Untersuchungsgebiet. Damit wird auch ein Beitrag zur Prosopographie und zur Familiengeschichte geleistet. Die Freimaurerlogen waren eine eigene Form der Sozietäten des 17. und 18. Jahrhunderts mit ähnlicher Organisation, jedoch auf breiter sozialer Basis, mit in Stufen (Graden) aufwärts steigenden, ethisch-moralischem Programm der Menschenbildung und der Einweihung in ein sogenanntes freimaurerisches Geheimnis. Die unpolitischen, überkonfessionellen Logen waren ab 1740 in Preußen staatlich legitimierte Vereine, die sich ohne polizeiliche Eingriffe ungestört entwickeln konnten. Das Allgemeine Landrecht der Preußischen Staaten definierte sie als geschlossene Gesellschaften. Im Untersuchungszeitraum wurden in 31 Städten und auf fünf Adelssitzen 56 Logen (einschließlich vier Feldlogen) konstituiert. Sie organisierten einschließlich der 61 Mitglieder der Feldlogen und der etwa 350 Dienenden Brüder rund 5.375 Freimaurer, mehr als ein Drittel aller in Brandenburg-Preußen ermittelten Freimaurer. Freimaurer waren in wachsender Zahl Angehörige der mit dem Aufstieg Preußens verbundenen sozialen Schichten und Gruppen - Adelige und Bürger, an den aufgeklärten Universitäten ausgebildete Verwaltungsbeamte, Theologen und Pädagogen, geistig und sozial engagierte Offiziere, zunftfreie Finanz-, Handels- und Manufakturunternehmer, Buchdrucker und -händler, Ärzte Chirurgen und Apotheker sowie Künstler. Angehörige der Unterschichten wurden nur als Dienende Brüder aufgenommen. Frauen waren nicht sozietätsfähig. Zwischen Pommern, Preußen und Schlesien zeigten sich bei grundsätzlicher Gemeinsamkeit erhebliche Unterschiede. In Pommern entstanden bis 1806 in acht Städten 15 Logen. Die soziale Basis war außer in der Handels-, Gewerbe- und Garnisonstadt Stettin sowie in Stargard dünn, die Logen waren daher labil. Es sind etwa 960 Freimaurer (außerdem 81 Dienende Brüder) hauptsächlich in Vor- und im westlichen Hinterpommern ermittelt, überwiegend adlige Offiziere und bürgerliche Verwaltungsbeamte; nur Stettin wies eine größere soziale Breite auf. In Ostpreußen entstanden in sechs Städten und auf einem Adelssitz zwölf Logen. Es sind etwa 1.465 Freimaurer, außerdem 86 Dienende Brüder ermittelt, von ihnen zwei Drittel in Königsberg, der Stadt Immanuel Kants. In Westpreußen wurden alle Logen nach 1772 gegründet bis auf eine, in sechs Städten insgesamt acht Logen. Es sind rund 750 Freimaurer ermittelt, außerdem 37 Dienende Brüder. Die Freimaurerei war außer in Elbing und Marienburg nur wenig in der alteingesessenen Bevölkerung verwurzelt. Die Angehörigen des neuen preußischen Staatsapparates stellten nahezu drei Viertel aller Mitglieder. Wie viele Polen Freimaurer waren, ist schwer zu sagen. Schlesien unterschied sich u.a. konfessionell von Pommern und Ost- und Westpreußen. Rom lehnte die Freimaurerei strikt ab, mußte jedoch die preußische religiöse Toleranzpolitik beachten. In Schlesien entstanden einschließlich der Feldlogen in elf Städten und auf vier Adelssitzen 17 Logen. Wie eng die Verbindungen in das Habsburgerreich anfangs noch waren, zeigt die Gründung der Wiene Loge Aux trois canons 1742 durch Breslauer Freimaurer. Bis auf Neisse lagen alle Logensitze im überwiegend protestantischen Nieder- und Mittelschlesien. Es sind etwa 1.835 Freimaurer sowie 144 Dienende Brüder ermittelt, mehr als in Preußen oder Pommern. Die Analyse der Mitgliedschaft zeigt eine starke soziale Verwurzelung der Freimaurerei im schlesischen Adel, in den Behörden, wegen der starken preußischen Militärpräsenz im Militär sowie im Unternehmertum (Hirschberg, Schmiedeberg). Generell stieg der Mitgliederanteil gebürtiger Schlesier mit wachsender Akzeptanz der Freimaurerei in der Provinz. Diese Darstellung versteht sich als Beitrag zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte Pommerns, Preußens und Schlesiens. Die Freimaurerei gewann zunehmend gesellschaftliches Gewicht. Viele Freimaurer waren in Verwaltung, Heer, Wirtschaft, Bildung und Kultur verantwortlich tätig. Die Freimaurer leisteten einen wesentlichen Beitrag zur Emanzipation des Bürgertums sowie zum bürgerlichen Vereins- und Parteiensystem. ; The research "The Freemasons in Ancient Prussia 1738 – 1806" is the result of a research project of the Research Centre for Democratic Movements at the Faculty of Humanities of the University of Innsbruck in cooperation with the Scientific Commission for the Research of Freemansory, headed by Prof. Dr. Helmut and financed by the Fund for the promotion of scientific research (FWF) in Vienna. The main sources for this research were in the Masonic papers and documents of the ancient Prussian lodges, preserved at the Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem, the sources of the Austrian State Archive, Department Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Vienna, a series of other archives and libraries, the Masonic literature as well as the relevant literature on regional, social and biographical history. The reference book includes the period 1741 – 1806 in eastern Brandenburg-Prussia within the boundaries before the Second division of Poland in 1793, i.e. Pomeriana (excluding Swedish Pomerania), the Kingdom of Prussia (East Prussia), Silesia conquered by Prussia in 1740/41, and West Prussia, which was annected to Prussia after the First division of Poland in 1772. Pomerania and Silesia were parts of of the Holy Roman Empire, whereas East and West Prussia were situated beyond its boundaries. The Masonic lodges have been analyzed according to analoque criteria: their development in historical and regional context, their membership and social structure, societal, social and cultural activities as well as their influential role in civic society. For the first time, Masonic and biographically commented lists cover the entire membership of the analyzed region. Thus the book is also a contribution to a prosopographical and family history. The Masonic lodges were a specific form of a associations of the 17th and 18th centuries with a similar organizational structure, but on a broader social basis. They followed a system of successive steps (grades) with an ethical and moral programme of forming the human character with the aim of the introduction into a so-called Masonic secret. Since 1740 the apolitical lodges, bringing together different confessions, were associations legitimated by the Prussian state, which could freely develop without intervention by the police. The "Common Law of the Prussian States" defined them as closed societies. Within the analyzed period 56 lodges (four field lodges included) constituated themeselves in 31 towns and on five landed properties of noble Masonic members. They organized 5,375 members, the 61 members of the field lodges and the 350 Serving Brothers included, i.e. more than one third of all registered freemansons in Brandenburg-Prussia. Increasingly the freemasons were members of the social strata and groups, connected with the advancement of the Prussian state: they were members of the nobility and citizens, servants of the administration, theologians and teachers, who had been educated at enlightened universities, officers who engaged spiritually and socially, manufacturers and bankers, printers and booksellers, doctors and chemists, and artists. Members of the substrata were accepted only as Serving Brothers, and women were not acknowledged as members of the lodges at all. Although the provinces Pomerania, Prussia and Silesia had common features in general, they showed significant differences, nevertheless. In Pommerania until 1806 15 lodges were founded in eight cities. With the exeption of Stettin, a centre of trade and craft with a garrrison, as well as Stargard, the social basis was thin, that is why the lodges were unstable. About 960 freemasons have been registered in West and Middle Pomerania, mainly noble officers and civil servants, and 81 Serving Brothers. Only Stettin had a broader social basis. In East Prussia twelve lodges were founded in six towns and at one landed property of a noble member. About 1,465 freemasons have been registered as well as 86 Serving Brothers, two thirds of them in the town of Königsberg, where Immanuel Kant lived. In West Prussia all lodges but one had been founded after 1772 – eight lodges in six towns. There have been registered 750 freemasons and 37 Serving Brothers. With the exception of the towns of Elbing and Marienburg, the freemasonry had very few members from the resident population. Almost three quarters of the membership came from the new Prussian administration. It is difficult to say, how many Poles were freemasons. Among other features, Silesia differed confessionally from Pomerania and East and West Prussia. The Papal Church strictly rejected the freemasonry, but had to adhere to the Prussian policy of tolerance of the different religions. In Silesia 17 lodges were founded in eleven towns and at four landed properties, the field lodges included. In 1742 freemasons from Breslau founded the lodge Aux trois canons in Vienna, which shows the continued close ties with the Habsburg Empire. With the exception of the town Neisse all lodges were situated in Lower and Middle Silesia, which were predominantly protestant. For this region about 1.835 freemasons as well as 144 Serving Brothers have been registered, which is more than in Prussia or in Pomerania. An analysis for the membership shows that the freemasonry had its main social roots in the Silesian nobility, the administration, in the military as well as in the entrepreneurship, especially in the towns of Hirschberg and Schmiedeberg. All in all, the percentag of members born in Silesia rose with the growing acceptance of the freemasonry in the province. This exposition is meant as a contribution to the social and cultural history of the provinces of Pomerania, Prussia and Silesia. There the freemasonry won in social significance. Many freemasons were in prominent positions in the administration, the economy, in the educational and cultural fields. Thus they were able to significantly influence the emancipation of the civic society and to further the development of the system of civic associations and parties.
Wann, wo, wie, für wen und warum macht man Theater? Fünf leitende W-Fragen stecken in der aktuellen Buchpublikation von Eugenio Barba und Nicola Savarese die titelgebenden fünf Kontinente des Theaters ab. Das vorliegende Resultat – ein umfassender, großformatiger und an Bildmaterial reicher Band – der jahrzehntelangen Zusammenarbeit und intellektuellen Komplizenschaft zwischen dem Gründer des Odin Teatret und dem Theaterwissenschaftler erschien 2017 auf Italienisch und liegt inzwischen in englischer, französischer, rumänischer und spanischer Übersetzung vor. Ein Zitat von Eugenio Barba auf dem Umschlag der 2020 erschienenen französischsprachigen Ausgabe, das mit einem impliziten Verweis auf Paul Gauguins gleichnamiges Gemälde beginnt, lässt Ziele und Struktur der Publikation erahnen: "Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir die unzähligen Formen, Erfahrungen, Überreste und Rätsel, die uns die Geschichte unseres Berufs vermacht hat, aus einer anderen Perspektive betrachten. Nur auf diese Weise können wir einen persönlichen Kompass bauen, um die fünf Kontinente unseres Berufs zu durchqueren […]". (Übers. LB) Die Beitragenden des Buchs stammen allesamt aus der italienischen Theaterwissenschaft und dem Umfeld des Odin Teatret, der ISTA bzw. der Fachzeitschrift Teatro e Storia. Neben den Herausgebern exemplarisch zu erwähnen sind Fabrizio Cruciani († 1992), Ferruccio Marotti, Ariane Mnouchkine, Franco Ruffini, Mirella Schino (die 2008 das Odin Teatret Archive gegründet hat), Ferdinando Taviani († 2020) und Julia Varley (seit 1976 Truppenmitglied des Odin Teatret). Savarese zeichnet in seinem Vorwort den über 20 Jahre umspannenden Entstehungsprozess des vorliegenden Buchs nach. 1996 wurde in Gesprächen mit italienischen Theaterforschenden der Wunsch ausgedrückt, das strukturelle und gestalterische Prinzip der seit 1983 mehrfach wiederaufgelegten, überarbeiteten und in zahlreiche Sprachen übersetzten Anatomia del teatro von 1983 (dessen erneuerte Version den Titel L'arte segreta dell'attore. Un dizionario di antropologia teatrale trägt) aufzugreifen, um wiederum die Techniken von Akteur*innen zu studieren, allerdings unter einem veränderten Blickwinkel: Standen im Theateranthropologie-Lexikon körperlich-mentale Techniken und prä-expressive Qualitäten im Zentrum, widmet sich Les cinq continents du théâtre der Geschichte und Gegenwart von Theater aus der Perspektive der "techniques auxiliaires" (S. 7) der materiellen Kultur von Akteur*innen. Welche sind aber diese Hilfs- bzw. Nebentechniken? Es handelt sich um die strukturellen, organisatorischen, sozialen, räumlichen, ökonomischen, politischen Faktoren von Theaterarbeit, die im Buch auf transhistorische und transkulturelle Weise präsentiert werden. Les cinq continents du théâtre ist ein eigenwilliges Buch. Mit seinen ca. 1400 Abbildungen, seiner Gleichwertigkeit von aufeinander Bezug nehmenden Bild- und Textelementen, seiner Bibliografie, seinem Namens- und Stichwortverzeichnis ist das Ergebnis weder ein Lexikon noch ein Bildband oder ein theatergeschichtliches Handbuch. Raimondo Guarino wählt in seiner auf dem Buchdeckel zitierten Rezension den stimmigen Begriff Almanach, um die Zusammenstellung aus verschiedensten Textsorten, wissenschaftlichen Analysen, Dialogen, Chronologien, Anekdoten, Bildern und vielsagenden Bildlegenden zu kategorisieren. Sechs Kapitel ("Quand", "Ou", "Comment", "Pour qui", "Pourquoi", "Théâtre et histoire") und ihre insgesamt über 130 durchnummerierten Unterkapitel präsentieren auf mäandernde Weise Aspekte des Theaterschaffens weltweit. Das konsequent heterogene Bildmaterial im Buch umfasst u. a. Satellitenaufnahmen von Sonneneruptionen, Buster-Keaton-Filmstandbilder, Hoffest-Kupferstiche, Saalpläne, japanische Holzschnitte, historische und zeitgenössische Fotografien von (Toten-)Masken, prähistorischen Skulpturen, Lipizzaner-Dressur, balinesischen Neujahrsfesten, Eintrittskarten, Butoh-Tänzer*innen, Theaterbränden, Fronttheater, sowie Gemälde und Grafiken zu Publikums-Krawall, Schausteller*innen, Hinrichtungen, römischen Zirkuselefanten, sowie acht Seiten mit Sonderbriefmarken zu Ehren von Schauspieler*innen und Dramatiker*innen. Die Lektüre eines konventionellen theatergeschichtlichen Buchs suggeriere, so die Herausgeber, dass alles klar, quantifizierbar und in Form von Ursachen und Wirkungen beschreibbar sei, "[m]ais sous cette évidence rassurante coule une histoire souterraine que ne se laisse pas enfermer dans les interprétations linéaires élaborées a posteriori." (S. 10) Das erste Kapitel des Buchs widmet sich textuell und bildlich dieser unterirdischen Geschichte aus der Perspektive der Zeitlichkeit: Wann wurde und wird Theater gemacht? Markante Momente von zeitlicher Gebundenheit in der europäischen und internationalen Theatergeschichte werden skizziert, religiös-politisch motivierte Festkalender mit ihren kleinen oder größeren Zeitfenstern für Theaterpraxis beschrieben. Gemeinschaftliche Feste als Unterbrechung des gewöhnlichen Zeitverlaufs – Dionysien, Karneval, Narrenfeste – mit ihrem Simulakrum sozialer Unordnung finden im ersten Kapitel ihren Platz, sowie ein Panorama diverser Ursprungsmythen (Europa, Indien, China etc.) von Theater. Wann haben Menschen begonnen zu tanzen, zu repräsentieren, sich zu kostümieren und zu maskieren? Inwiefern sind Theater und Schamanismus, Halluzinationen, Trancezustände historisch miteinander verbunden? Der vermutliche "Bocksgesang" der antiken griechischen Tragödie wird im Sinne einer theateranthropologisch interessierten, alternativen Etymologie nach Vittore Pisani auf die illyrischen Wurzeln trg (Markt) und oide (Gesang) zurückgeführt. Diese Herleitung verknüpft die Ursprünge des westlichen Theaters mit einem konkreten Beruf – der Straßendichter, Rhapsoden, fahrenden Sänger – und bietet eine Verbindung zu den buddhistischen Erzählkünstlern zur Entstehungszeit dramatischer Kunst im asiatischen Raum. Es folgen historische Abrisse zur Entwicklung des Mäzenatentums, hin zum Bezahltheater (mit Verweis auf Raufereien um Gratis-Theaterkarten) und der Funktion von Impresarios (u. a. Domenico Barbaja, Lewis Morrison, Sergei P. Djagilew, Loïe Fuller, Max Reinhardt). Vier farbig unterlegte Seiten bieten eine "petite anthologie de la censure" (S. 44) mit Schlaglichtern auf ausgewählte Fälle, darunter Auftrittsverbote für Frauen, der Theatrical Licensing Act (1737), die Theaterzensur in Frankreich von der Revolution bis zu Napoleon, die kirchliche Zensur in Lateinamerika ab der frühen Neuzeit, das Kabuki-Verbot in Japan unter US-amerikanischer Besatzung nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Sinne der antimilitaristischen Umerziehungsideologie und die Anekdote der Rettung des Kabuki durch den US-Amerikaner Faubion Bowers. Das zweite Kapitel streift erneut die bereits erwähnten Genese-Mythen, die Entwicklungen von Berufsschauspiel und von Theater in Innenräumen, allerdings aus der Perspektive der Orte und Räume für Theaterpraxis. Wo finden Akteur*innen ihren Platz? In Baracken, Kellern, sogenannten Laboratorien und Ateliers, unter freiem Himmel, in Theaterarchitekturen, auf Straßen etc. Die erste Doppelseite des Kapitels zeigt eine suggestive Bilder-Montage, bestehend aus einer Saalansicht des Teatro San Carlo in Neapel, dem (bescheiden-funktionalen) Saal des Teatro Experimental de Alta Floresta sowie dem (repräsentativen) Teatro Amazonas in Brasilien, das laut Bildlegende 1896 eröffnet wurde, mit importierten Dachschindeln aus dem Elsass, französischen Textilien, Stahl aus England, Marmorsäulen und -statuen aus Italien. Die Autor*innen der folgenden Unterkapitel nehmen die Kreisform zum Anlass für Überlegungen und Bebilderungen zu Genese-Mythen, Stadtentwicklung, frühen Publikums-Konstellationen, Rundtänzen, antiken Theaterbauten. Mittels Freilufttheater, Bänkelsängern und Scharlatanerie wird die Entwicklung vom Verkauf von Produkten zum Verkauf von Aufführungen illustriert, gefolgt von Rückgriffen auf die Spielorte der frühen Neuzeit durch Vertreter*innen der historischen Avantgarden (u. a. Wsewolod Meyerhold, Jacques Copeau). In einer theaterhistorisch internationalen Rundumschau werden in Kürze die Spielorte mittelalterlicher Aufführungspraktiken sowie erste Theaterbauten in England, Frankreich, Spanien, Indien, Japan, China, den USA, Lateinamerika, Italien thematisiert, bis hin zur Entwicklung der Konvention der Guckkastenbühne bzw. des Rang-Logen-Theaters, basierend auf Renaissance-Interpretationen antiker Theaterbauten, und nicht auf den Spielpraktiken von Akteur*innen. Mirella Schino argumentiert, dass "das Theater im italienischen Stil [das Rang-Logen-Theater mit Guckkastenbühne, Anm. LB] als autonomes Denkmal seine Entstehung dem abstrakten Wunsch verdankt, bedeutungsvolle Orte für die ideale Stadt zu schaffen. Es entstand als eine Reflexion in Verbindung mit der Architektur – mit der Nostalgie eines Ursprungs im griechischen und römischen Theater – und nicht in Verbindung mit der Aufführung und der materiellen Kultur der Schauspieler" (S. 132, Übers. LB). "[l]e théâtre à l'italienne, en tant que monument autonome, doit sa naissance à un désir abstrait de créer des lieux signifiants pour la ville idéale. Il naît comme une réflexion liée à l'architecture et non au spectacle et à la culture matérielle des acteurs, avec la nostalgie d'une origine dans le théâtre grec et romain." (S. 132) Das dritte Kapitel fragt nach dem Wie. Wie wird man Akteur*in? Wie wird theatral agiert? Bücher für Akteur*innen, über Trainings- und Arbeitsmethoden seien "compagnons de voyage" (S. 158) und böten manchmal, wie z. B. Antonin Artauds Das Theater und sein Double, "des mots-talismans" (S. 158) die auf intuitive Weise bei der Orientierung helfen. Acht farbig unterlegte Seiten bieten eine Gegenüberstellung von "acculturation" und "inculturation" (S. 160) als mögliche Wege zum Theaterberuf, sowie einen Überblick zu Ausbildungsarten (Meister, Gurus, gegenwärtige Schauspielschulen und Theaterlaboratorien), Techniken und theateranthropologischen Ansätzen. Der Wandel der Techniken der Akteur*innen seit dem 19. Jahrhundert wird unter dem – in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft wenig geläufigen – Begriff der "Grande Réforme" (erste Phase 1876–1939, zweite Phase 1945–1975) bearbeitet und illustriert. Eine umfassende Chronologie historischer Ereignisse und theatergeschichtlicher Wegmarken zeichnet Entwicklungen ab Richard Wagners Gesamtkunstwerk-Konzept nach, über die "fondateurs de traditions" (S. 169) zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zu experimentellen Truppengründungen und Praktiken der 1970er-Jahre, im Zeichen eines Neuauslotens von retheatralisiertem, von der Literatur emanzipiertem, gattungsübergreifendem Theater. Das Kapitel befasst sich aber ebenso mit dem Naheverhältnis von technischem und ästhetischem Wandel, etwa im Fall des Bühnenlichts, sowie mit diversen Spielmodi (Clowns, Puppentheater, Maskentheater) und dem Spiel mit Requisiten (wobei das Taschentuch und der Stuhl jeweils eine eigene Bilder-Doppelseite in Anspruch nehmen), denn "[l]es objets possèdent l'acteur", sie sind "seine Prothesen, seine Auswüchse, seine Fesseln, die den Akteur dazu zwingen zu reagieren, das Gleichgewicht zu verlieren, zu übertreiben, zu vereinfachen" (S. 216, Übers. LB). Das Publikum steht im Zentrum des vierten Kapitels. Zuschauer*innen in allen Aggregatszuständen werden bildlich dekliniert: wartend vor der Aufführung, Schlange stehend, raufend, gähnend, weinend, enthusiastisch, als Attentäter. Verschiedene soziale Schichten als Zuschauer*innen und ihre jeweilige Sitzordnung (z. B. im Kolosseum, in einem Teehaus in Peking) werden beschrieben, sowie Verhaltensweisen von teilnehmendem Publikum im Karneval und als "spect-acteurs" (S. 288) bei Augusto Boal, aber auch die Sonderform des unfreiwilligen Publikums, etwa von Performances im öffentlichen Raum. Ein Exkurs zu Epidemien und Theaterpublikum – mit Verweis auf Pestepidemien zur Zeit der Entstehung von Berufsschauspiel in Europa – präsentiert das Foto eines Mundschutz-tragenden Publikums einer Aufführung in Taipei im Kontext der SARS-Epidemie 2003. Auch die Frage nach dem Theaterpublikum in politischen und sozialen Ausnahmezuständen wird beleuchtet, vom Fronttheater, Aufführungen in Gefangenenlagern, Gefängnissen, NS-Konzentrationslagern, bis zu aktuellen Fällen, u. a. 2015 im türkischen Flüchtlingslager Midyat und anlässlich einer Hamlet-Aufführung im Flüchtlingslager "La Jungle" in Calais 2016. Warum überhaupt Theater machen? Was ist der Motor dieses anstrengenden Tuns? Das fünfte Kapitel, eines der lesenswertesten des vorliegenden Buchs, beginnt mit dem Gemälde Die Gärtner von Gustave Caillebotte nebst Fotografien der mutwilligen Zerstörung von Theaterbauten und der Rekonstruktion von historischen Theatergebäuden, begleitet von einer Überlegung zur Gärtner-Metapher in Shakespeares Othello (der Körper als Garten, der Wille als Gärtner) und bei Rudyard Kipling (Gärtnerarbeit müsse oft kniend gemacht werden). Die ökonomische Begründung wird nahegelegt – denn europäisches Theater sei nicht aus dem griechischen Ritual entstanden, sondern auf italienischen Märkten des 16. Jahrhunderts. Hinweise auf ästhetische und vor allem ethische Beweggründe für Theaterschaffen im Zuge der "Grande Réforme" und die Utopie des "éternel premier pas" (S. 299) bilden die Basis für das umfangreichere Unterkapitel "Petite encyclopédie sur l'honneur de l'acteur" (S. 300), in welchem Individuen präsentiert werden, die inmitten von und trotz Diskriminierung, Sklaverei, politischer Unterdrückung und Verfolgung, sozialer Missstände als Theaterakteur*innen aktiv waren bzw. sind, u. a. Ira Aldridge, Patricia Ariza, Josephine Baker, Wsewolod Meyerhold, Norodom Bopha Devi, Hedy Crilla, die Moustache Brothers. Die Autor*innen gehen ebenfalls in Kürze auf Verbindungen von Sexarbeit und Tanz bzw. Schauspiel in verschiedenen Ländern ein, sowie auf Theater "in der Hölle" (Gulag, NS-Konzentrationslager), auf kolonialistische "Menschenzoos". Zwölf farbig unterlegte Seiten, betitelt als "Florilège sur la valeur du théâtre" (S. 324), überlassen schließlich Theaterleuten das Wort und geben Textauszüge von Adolphe Appia, Antonin Artaud, Julian Beck, Walter Benjamin, Augusto Boal, Bertolt Brecht, Peter Brook, Enrique Buenaventura, Jacques Copeau, Isadora Duncan, Hideo Kanze, Sarah Kane, Jewgeni B. Wachtangow, Ariane Mnouchkine und anderen wieder. Das Reise-Motiv bestimmt die anschließenden Unterkapitel, von den Fahrzeugen und Gepäckstücken reisender Truppen über die geografischen und kulturellen Reisen von Theatermasken, bis hin zu Reisen von Körpertechniken mittels Tourneen, Exkursionen, internationaler Streuung durch ehemalige Schüler*innen bzw. Flucht und Exil (illustriert durch eine Karte der zahlreichen Exil-Stationen Brechts 1933–1947). Beerdigungsprozessionen als letzte Reise sowie die Weitergabe und Übersetzung von Theatertechniken in Form von Büchern, Zeitschriften, Spiel- und Dokumentarfilmen beenden das Warum-Kapitel. Das sechste Kapitel, "Théâtre et histoire. Pages tombées du carnet de Bouvard et Pécuchet" (S. 370), dient primär der Wiedergabe von Bildmaterial, das durch seine Anordnung und Kontrastierung zum Sprechen gebracht wird: Internationale Briefmarken und (Presse-)Fotografien bilden die Basis für Doppelseiten zu Theater und Aufständen, Protestbewegungen, Kriegen, Theatermasken und Schutzmasken (Gasmasken, Sturmmasken, Maskierung als Anonymisierung bei Demonstrationen), Theatergebäuden und massiver Zerstörung durch Tsunamis oder Bomben. Theaterbrände, ikonografische und mediale Inszenierungen von Hinrichtungen, die Thematisierung des Holocaust auf der Bühne folgen. Anstelle von Theatergeschichte werden im Abschlusskapitel Theater und Geschichte (im Sinne von Teatro e storia) als Montage präsentiert. Die letzte Doppelseite ist schwarz unterlegt: Links ist ein Foto von Frauen mit Schminkmasken in El Salvador zu sehen, die gegen das herrschende Abtreibungsverbot protestieren, rechts ein Porträtfoto von Pjotr A. Pawlenski mit zugenähtem Mund, begleitet von einem Abschlusszitat von Barba. Es werde immer einige Personen geben, die Theater als Mittel praktizieren, um ihre eigene Revolte auf nicht zerstörerische Weise zu kanalisieren; Personen "die den scheinbaren Widerspruch einer Rebellion erleben werden, die sich in ein Gefühl der Brüderlichkeit verwandelt, und eines einsamen Berufes, der Verbindungen schafft" (S. 395, Übers. LB). Jedes Kapitel des Buchs wird eingeleitet von einem Dialog zwischen zwei Stellvertreter-Figuren von Barba und Savarese: Bouvard und Pécuchet. Es handelt sich um die Protagonisten eines posthum veröffentlichten satirischen Romanfragments von Gustave Flaubert – zwei Pariser Kopisten, die sich zufällig auf einer Parkbank kennenlernen und voller Enthusiasmus und Naivität ein gemeinsames Projekt in Angriff nehmen: aufs Land ziehen und Landwirtschaft betreiben. Als frenetische Leser wollen sie immer mehr erkunden und kultivieren ihr zerebrales und oberflächliches Wissen in den Bereichen Gärtnerei, Schnapsbrennerei, Chemie, Zoologie, Medizin, Archäologie, Politik, Gymnastik, Religion, Theater etc. Die Wahl dieser Stellvertreter durch die Herausgeber bringt eine durchaus sympathische Ironisierung ihrer Positionen und künstlerisch-wissenschaftlichen Biografien mit sich, aber auch eine verbesserte Zugänglichkeit für Leser*innen mittels der lockeren und teils amüsanten Dialoge. Die niederschwellige und im Konkreten fußende Methode der fünf W-Fragen als roter Faden für die Arbeitsweise am Inhalt und an der Struktur des Buchs, sowie die Wertschätzung von heterogenem Bildmaterial für die Erkundung von Theaterpraktiken machen Les cinq continents du théâtre für Forschende (insbesondere für jene, die mit Ansätzen von Barba/Savarese noch nicht eng vertraut sind), für Theaterpraktiker*innen und für Studierende zu einem ausgezeichneten Entdeckungs- und Orientierungsband.
Um kulturelle Werte von Landschaft in Landschaftsplanungen stärker zu berücksichtigen wurden sie in dieser Arbeit als kulturelle Landschaftsfunktionen bestimmt, die sich in ein System aus Landschaftsfunktionen einordnen, wie es Landschaftsplanungen insgesamt zugrunde liegen kann. Neben bereits ausdifferenzierten naturhaushalterischen Landschaftsfunktionen umfasst es damit folgende kulturelle Landschaftsfunktionen: - bedeutungstragende und sinnstiftende Funktion - Handlungsfunktion - ästhetische und stimmungsstiftende Funktion - Kommunikationsfunktion - Wissensfunktion - Kontinuitätsfunktion - Gestaltungs- und Ausdrucksfunktion - Ordnungs- und Orientierungsfunktion Ihnen sind jeweils Teilfunktionen zugeordnet. Die kulturellen Funktionen stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander. Übergeordnete kulturelle Funktionen sind die bedeutungstragende und sinnstiftende sowie die Handlungsfunktion. Die Funktionen können sich wechselseitig bedingen oder in Konkurrenz zueinander stehen. Nachdem Werte nicht aus der Landschaft, sondern nur aus der Gesellschaft bestimmt werden können, bildete die Untersuchung der gesellschaftlichen Konzepte hinter den zentralen Begriffen "Werte", "Raum und Landschaft" sowie "Kultur" eine Grundlage zu ihrer Bestimmung. Ein Schwerpunkt lag auf der Auswertung sozialwissenschaftlicher Theorien. Dabei wurde auch ein auf Planungstauglichkeit angelegtes Verständnis der zentralen Begriffe dieser Arbeit geschaffen. Gewählt wurde ein utilitaristischer und zweckrationaler Zugang zu Werten, ein anthropologischer Zugang zu Kultur und ein konstitutions- und handlungstheoretischer Zugang zu Raum und Landschaft; Landschaft wird als Spezifikation von Raum verstanden. Die andere Grundlage zur Bestimmung kultureller Werte bildete die Untersuchung von Entwicklungstrends, von sozialempirischen Untersuchungen sowie eine Untersuchung prosaischer Darstellungen. An die Ausprägung der kulturellen Funktionen sowie von Raum und Landschaft insgesamt wurden im Ergebnis der Untersuchungen Anforderungen in Form von Hypothesen formuliert, die den Zugang zu Raum und Landschaft weiter erklären. Sie haben den Charakter von Prinzipien, insofern Präferenzen in hohem Maße gebietsspezifisch sind. In der Planung gängige Wertmaßstäbe und Urteile werden damit zum Teil in Frage stellt, so die Hypothese eines ästhetisierenden Zugangs zu Landschaft. Andere werden spezifischer gefasst, so die Rolle von Elementen für die Konstitution oder die Rolle von Wissen und von Natürlichkeit für das Schönheitserleben einer Landschaft. Einige zentrale Hypothesen, die Anlass für diese Arbeit waren bzw. die aus dem theoretischen Teil der Untersuchung entwickelt wurden, konnten im sozialempirischen Teil nicht bestätigt werden. Dies gilt maßgeblich für die Zukunftsperspektive, die Landschaft enthält, die jedoch im Regelfall nicht gefragt ist. Wertgebend ist landschaftliche Kontinuität, die Geschichten erzählt, indem sie die Vergangenheit aufzeigt und Erinnerungen manifest macht. Nicht vollständig aufrecht erhalten werden konnte die im theoretischen Teil der Arbeit aufgebaute Hypothese, dass Landschaftsplanungen stärker gruppenspezifisch anzulegen sind. Verbleibt hier eine Überprüfung des Milieukonzepts auf landschaftsspezifische Fragestellungen, so zeigt sich andererseits relativ klar, dass Landschaft eher für das gruppenübergreifend Geteilte steht. Sie ist nicht Gegenstand eines Luxusgeschmacks, sondern Gemeingut. Klarer zu unterscheiden sind jedoch die Erwartungshaltungen aufgrund der Perspektive als Einheimischer oder Tourist. Für die Planung bedeutet das eine deutlichere Unterscheidung zwischen der Definition der landschaftlichen Eigenart und eines landschaftlichen Images. Beide können für die Konstruktion eines Leitbildes Maßstäbe setzten, wobei ein eigenartbasiertes Leitbild eher den Ansprüchen einer gemeinwohlorientierten Planung genügt, ein Image eher auch einem Bedürfnis nach Inszenierung nachkommt. Landschaftsplanungen sind darin zu stärken, produktiven Landnutzungen ein Landschaftsnutzungsinteresse gegenüberzustellen, das zumeist nichtproduktiver und immaterieller Art ist. Dieses Landschafts-nutzungsinteresse ist über die kulturellen Landschaftsfunktionen abgebildet. In Landschaftsplanungen sollten sie entsprechend differenziert betrachtet werden, um die unmittelbaren gesellschaftlichen Anforderungen an Landschaft umfänglich aufzubereiten und zur Verhandlung zu stellen. Sie materiellen klar benennbaren Interessen allein als Komplexparameter und übergreifende emotionale Bedeutungszuschreibungen gegenüber zu stellen, stärkt ihre Verhandlungsposition nicht. Gerade auch im Zuge eines zunehmenden Landnutzungsdrucks ist dies notwendig. Zu sondieren, welche Rolle einer jeden der kulturellen Funktionen für die künftige Entwicklung einer Landschaft zukommt, sollte darüber hinaus Bestandteil eines Planungsprozesses werden, insofern gerade auch dienende Funktionen für die Ausjustierung der Richtung der weiteren Entwicklung notwendig sind, die sich ansonsten schnell auf Fortschreibungen der Vergangenheit anhand einer expertenbasierten Vorstellung von der Eigenart einer Landschaft nach romantischem Ideal beschränken kann. Im Gegenzug wären auch die Landnutzungsinteressen einer gesellschaftlichen Aushandlung der Inanspruchnahme des Gemeinguts Landschaft besser zugänglich zu machen, indem sie beispielsweise fachplanerisch ebenso raumspezifisch und umfassend aufbereitet und der abwägenden Gesamtplanung zugänglich gemacht werden. Als Forderung betrifft das vor allen die Landwirtschaft. Einen konzeptionellen Anschluss finden die Ergebnisse dieser Arbeit im Konzept der Ökosystemdienstleistungen. Es eröffnet den Zugang zu einer stärkeren Integration ökonomischer und insbesondere sozialempirischer Methoden in Landschaftsplanungen. Zur methodischen Stärkung von Landschafsplanungen, insbesondere für die raumspezifische Integration der gesellschaftlichen Aspekte, die es im Zusammenhang mit kulturellen Werten von Landschaft in Landschaftsplanungen stärker zu berücksichtigen gilt, wird darin in Ergänzung zu nutzerunabhängigen Methoden und explizit über partizipative Methoden hinaus ein großes Potenzial gesehen. Gefragt ist also ein Methodenmix, der sich auch vor dem Hintergrund einer inkonsistenten theoretischen Basis weniger an theoretischer Stringenz orientieren kann. Der interdisziplinäre Anspruch an Landschaftsplanungen steigt damit. Er kann sich im Ergebnis z. B. in einer Verräumlichung sozialer Dimensionen und der beschreibenden Erfassung der expliziten und impliziten Dimension landschaftlicher Werte beispielsweise in Storylines äußern. Einer stringenten Erfassung landschaftlicher Funktionen auch in ihrer kulturellen Dimension und einer methodischen Weiterentwicklung unbenommen bleibt es originäre planerische Herausforderung in jedem Einzelfall, mit dem Nichtfaktischen umzugehen. Eine Leitbildentwicklung unter diesen Vorzeichen kann erheblich von der Anwendung von Szenarien profitieren. Szenarien können auch den gesellschaftlichen Diskurs über die angestrebte Entwicklung unter Anerkennung der Variabilität, die Eigenart als zentraler planerischer Wertmaßstab innewohnt, stärken. In der Konsequenz können diese Ansätze zu einer Demokratisierung einer Landschaftsplanung beitragen, die stärker auf die Handlungs- und Lebensrealität der Menschen ausgerichtet und stärker als Aushandlungsinstanz über Verfügungsrechte verstanden werden sollte.:1 KONTEXT, AUFGABE UND VORGEHENSWEISE 6 1.1 ANLASS 6 1.2 AUSGANGSSITUATION 6 1.2.1 GESELLSCHAFTLICHE EINORDNUNG UND PLANUNGSVERSTÄNDNIS 6 1.2.2 ENTWICKLUNG DES THEMAS KULTURLANDSCHAFT IN DER FORSCHUNG UND IM PLANERISCHEN DISKURS 7 1.2.3 ÜBEREINKÜNFTE 10 1.2.4 DEFIZITE IN DER PLANUNGSPRAXIS 10 1.2.4.1 Inhalte 10 1.2.4.2 Begründungen 11 1.2.5 KONSEQUENZEN 12 1.3 AUFGABE 12 1.4 RAUMBEZUG UND INSTRUMENTELLER BEZUG 13 1.5 VORGEHENSWEISE 14 2 BEGRIFFE UND DEREN KONZEPTE 16 2.1 ZWECK UND VORGEHEN DER BEGRIFFSANALYSE 16 2.2 WERTE 16 2.2.1 PLANUNG UND WERTE 16 2.2.2 WERTEDISKURS IN PHILOSOPHIE UND SOZIOLOGIE 18 2.2.2.1 der philosophische Diskurs zur Relativität von Werten 19 2.2.2.2 der philosophisch-soziologische Diskurs um die Werturteilsfreiheit der empirischen Wissenschaften 19 2.2.3 EINORDNUNG DIESER ARBEIT 23 2.2.3.1 Relativität und sachlicher Gehalt 25 2.2.3.2 Veränderbarkeit 26 2.2.3.3 Seinsollen 27 2.2.3.4 Fazit und Herausforderungen 28 2.3 LANDSCHAFT UND WERTE 29 2.3.1 VOM GUT ZUR FUNKTION 29 2.3.2 VON DER FUNKTION ZUM POTENZIAL 32 2.4 RAUM 32 2.4.1 AKTUELLE ENTWICKLUNGEN ZUM RAUMVERSTÄNDNIS 32 2.4.2 PHYSISCH-MATERIELLE RAUMKONZEPTE 33 2.4.2.1 Arten und Merkmale 33 2.4.2.2 Reflexion und Kritik 34 2.4.3 KONSTITUTIONS- UND HANDLUNGSTHEORETISCHE ANSÄTZE 35 2.4.3.1 Arten und Merkmale 35 2.4.3.2 Dualismus und Dualitäten 36 2.4.3.3 Kritik und Reflexion 39 2.4.4 VERGLEICH UND POSITIONIERUNG 41 2.4.4.1 Verbreitung von Raumkonzepten und gesellschaftliche Übereinkunft über ein Raumverständnis 41 2.4.4.2 Planerische Handhabe: Raum in dieser Arbeit 42 2.4.4.3 Zusammenfassung 45 2.5 LANDSCHAFT UND RAUM 45 2.5.1 ENTWICKLUNG DES BEGRIFFSVERSTÄNDNISSES VON LANDSCHAFT 46 2.5.1.1 Historische Bedeutungen 46 2.5.1.2 Physis versus Konstrukt 46 2.5.1.3 Gestalt versus Bild 47 2.5.1.4 Natur versus Kultur 47 2.5.2 VERSTÄNDNIS ZUM VERHÄLTNIS VON LANDSCHAFT UND RAUM 48 2.5.2.1 Gestalt- und Schaffensaspekt 49 2.5.2.2 Zweckaspekt 49 2.6 KULTUR 50 2.6.1 ETYMOLOGIE 50 2.6.2 GEGENWÄRTIGES KULTURVERSTÄNDNIS 52 2.6.3 ANTONYME 53 2.6.4 DICHOTOMIEN UND BRÜCKEN AUSGEWÄHLTER KONZEPTE 54 2.6.4.1 Kultur im weiten oder im engen Sinne: Alltagskultur oder Kunst? 54 2.6.4.2 Eine mögliche Brücke zwischen einem weitem und einem engen Kulturverständnis: "KULTUR" als Voraussetzung und Aufgabe von "Kultur" 55 2.6.4.3 Vergangenheitsbezug und Zukunftsperspektive 56 2.6.4.4 Eine mögliche Brücke zwischen Vergangenheitsbezug und Zukunftsperspektive: Kultur als Vervollkommnung 58 2.6.4.5 Andere Dichotomien 61 2.6.4.6 Kultur und Religion 62 2.6.5 ZUSAMMENFASSUNG: KULTUR IN DIESER ARBEIT 63 2.6.5.1 Einordnung und Grundverständnis 63 2.6.5.2 Merkmale 64 2.7 LANDSCHAFT UND KULTUR: ANSÄTZE ZU EINER SYSTEMATIK 65 2.7.1 VORGEHENSWEISE 66 2.7.2 SYSTEMATIK 66 2.7.3 METHODISCHE KONSEQUENZEN 70 2.8 ZUSAMMENFASSUNG UND KRITIK 72 3 ERWARTUNGSHALTUNGEN UND PRÄFERENZEN 74 3.1 VORGEHENSWEISE 74 3.1.1 AUSWAHL UND AUSWERTUNG SOZIALEMPIRISCHER UNTERSUCHUNGEN 74 3.1.2 GRENZEN DER UNTERSUCHUNG 75 3.1.3 UNTERSUCHUNG VON ENTWICKLUNGSTRENDS 76 3.1.4 UNTERSUCHUNG VON BELLETRISTIK 77 3.1.5 AUFBAU 77 3.2 ZUKUNFTSSTUDIEN. TRIEBKRÄFTE GESELLSCHAFTLICHER ENTWICKLUNGEN UND GESELLSCHAFTLICHE ENTWICKLUNGSTRENDS 78 3.2.1 GLOBALISIERUNG UND GLOKALISIERUNG 78 3.2.2 MOBILITÄT 79 3.2.3 DEMOGRAFISCHER WANDEL 81 3.2.4 WERTE UND WANDEL 82 3.2.4.1 Individualität, Pluralität und Gemeinschaftlichkeit 83 3.2.4.2 traditionelle Werte und postmaterialistische Einstellungen 84 3.2.5 LEBENSSTANDARD UND BILDUNG 86 3.2.6 ENTINSTITUTIONALISIERUNG UND ENGAGEMENT 87 3.2.7 ZEIT UND FREIZEIT 88 3.2.8 LANDSCHAFT, RAUM UND ORT 90 3.2.9 ZUSAMMENFASSUNG, SCHLUSSFOLGERUNGEN UND AUSBLICK 93 3.2.9.1 Trends 93 3.2.9.2 Bedarfe 94 3.3 SOZIALEMPIRISCHE UNTERSUCHUNGEN: PRÄFERENZEN 96 3.3.1 LANDSCHAFTSWAHRNEHMUNG UND ALLGEMEINE ANFORDERUNGEN AN LANDSCHAFT 96 3.3.1.1 Landschaftswahrnehmung 96 3.3.1.2 allgemeine Anforderungen an Landschaft als Bestandteil der Lebensqualität 98 3.3.2 DIE BEDEUTUNGSTRAGENDE UND SINNSTIFTENDE FUNKTION 99 3.3.2.1 Vorüberlegungen und Forschungsfragen 99 3.3.2.2 Bedarf nach Heimat und ihre Dimensionen 100 3.3.2.3 räumliche Dimensionen 102 3.3.2.4 zeitliche Orientierung 108 3.3.2.5 Verräumlichung zeitlicher Dimensionen 111 3.3.2.6 soziale Dimensionen 113 3.3.2.7 Kritik am Konzept und Ablehnung von Heimat 114 3.3.2.8 Merkmale von Raum und Landschaft als Heimat 116 3.3.2.9 landschaftliche Prägung 123 3.3.2.10 Zusammenfassung 126 3.3.3 DIE KONTINUITÄTSFUNKTION 130 3.3.3.1 Vorüberlegungen und Forschungsfragen 130 3.3.3.2 Ergebnisse aus sozialempirischen Untersuchungen und Schlussfolgerungen 131 3.3.3.3 Gruppenspezifik 133 3.3.3.4 Zusammenfassung 133 3.3.4 DIE ORDNUNGS- UND ORIENTIERUNGSFUNKTION 134 3.3.5 DIE WISSENSFUNKTION 136 3.3.5.1 Vorüberlegungen und Forschungsfragen 136 3.3.5.2 Kritik des Aussagegehalts der vorliegenden Untersuchungen 137 3.3.5.3 gesuchte Kenntnis 138 3.3.5.4 Wissen der Menschen über ihre Landschaft und die Abhängigkeit von der Nutzung 140 3.3.5.5 andere Faktoren, welche die Landschaftskenntnis beeinflussen 141 3.3.5.6 Wunsch nach mehr Kenntnis 143 3.3.5.7 Wirkung von Wissen auf die Wertschätzung von Landschaft 145 3.3.5.8 Zusammenfassung 146 3.3.6 DIE GESTALTUNGS- UND AUSDRUCKSFUNKTION 150 3.3.6.1 Vorüberlegungen und Forschungsfragen 150 3.3.6.2 Wahrnehmung und Beurteilung von Landschaftsveränderungen 152 3.3.6.3 gewünschte Veränderungen 157 3.3.6.4 Gruppenspezifik 158 3.3.6.5 Zusammenfassung 159 3.3.7 DIE ÄSTHETISCHE UND STIMMUNGSSTIFTENDE FUNKTION 160 3.3.7.1 Vorüberlegungen und Forschungsfragen 160 3.3.7.2 Ästhetik und Identität. Zwischen dem Schönen und dem Eigenen 161 3.3.7.3 Ästhetik und Handlungsbezug. Zwischen dem Schönen und dem Nützlichen 163 3.3.7.4 Natur und Schönheit 172 3.3.7.5 wie eine schöne Landschaft aussieht 176 3.3.7.6 Merkmale, die eine Landschaft unattraktiv machen 189 3.3.7.7 Einflussfaktoren 190 3.3.7.8 Zusammenfassung 192 3.3.8 DIE HANDLUNGSFUNKTION 198 3.3.8.1 Vorüberlegungen und Forschungsfragen 198 3.3.8.2 Bedeutung von Landschaft für die Arbeit 199 3.3.8.3 Bedeutung von Landschaft für die Erholung 199 3.3.8.4 Formen landschaftsbezogener Erholung 203 3.3.8.5 Anforderungen an die Landschaft 207 3.3.8.6 Gruppenspezifik 208 3.3.8.7 Zusammenfassung 212 3.3.9 DIE KOMMUNIKATIONSFUNKTION 213 3.3.9.1 Vorüberlegungen und Forschungsfragen 213 3.3.9.2 Partizipation und Engagement 214 3.3.9.3 Kommunikation und Interaktion 218 3.3.9.4 Zusammenfassung 219 3.4 ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK 221 4 REFLEXION UND KONSEQUENZEN 222 4.1 INHALTE 222 4.1.1 ÜBERGREIFENDE HYPOTHESEN 222 4.1.1.1 Aneignung, Diskurs und Kommunikation 222 4.1.1.2 Vergangenheitsorientierung und Gestaltungswunsch 223 4.1.1.3 vom Diskurs zum Handeln 226 4.1.1.4 Nutzbarkeit, Eigenart und Schönheit 227 4.1.1.5 Ästhetische Merkmale 229 4.1.1.6 Wissen 230 4.1.1.7 Natur und Kultur 230 4.1.1.8 Heimat 231 4.1.2 KULTURELLE FUNKTIONEN 231 4.1.2.1 Charakterisierung der Funktionen 231 4.1.2.2 Hierarchien und Interdependenzen. 235 4.2 METHODISCHE KONSEQUENZEN 236 4.2.1 ZUR AUSGESTALTUNG DES PLANUNGSPROZESSES UND ZUR ROLLE SOZIALEMPIRISCHER UNTERSUCHUNGEN 238 4.2.1.1 Potenziale sozialempirischer Methoden 238 4.2.1.2 Defizite der verschiedenen Methodenkomplexe 239 4.2.1.3 Kombination 241 4.2.1.4 Weiterentwicklung der Bestandteile 243 4.2.1.5 Leitbildentwicklung 247 4.2.1.6 räumlicher Bezug 249 4.2.1.7 Schlussfolgerungen 251 4.2.2 GRUPPENSPEZIFIK 252 4.2.2.1 Einflussfaktoren 252 4.2.2.2 Kritik monofaktorieller Klassifizierungen 257 4.2.2.3 mehrfaktorielle Klassifizierungen 260 4.2.2.4 eigene Differenzierung 263 4.2.2.5 Zielgruppen 266 4.2.2.6 Zusammenfassung 267 4.3 KONZEPTIONELLE UND INSTRUMENTELLE KONSEQUENZEN 267 4.3.1 ÖKOSYSTEMDIENSTLEISTUNGEN 267 4.3.1.1 das Konzept 267 4.3.1.2 Landschaftsfunktionen und Ökosystemdienstleistungen 268 4.3.2 INSTRUMENTELLE UMSETZUNG 270 4.3.2.1 Raum- und Landschaftsplanung 270 4.3.2.2 Landschaftsplanung und Landnutzungsplanung 271 4.4 WEITERFÜHRENDER FORSCHUNGSBEDARF 272 5 ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK 275 6 LITERATUR 277 7 ABBILDUNGEN 299 8 TABELLEN 302 9 ANHANG 303 9.1 ANHANG 1: WERTE UND WERTSYSTEME IM PHILOSOPHISCHEN UND SOZIOLOGISCHEN DISKURS: EINE ÜBERSICHT 304 9.1.1 WERTLEHRE/ WERTEHTIK, WERTPHILOSOPHIE, WERTIRRATIONALISMUS 304 9.1.2 VERANTWORTUNGSETHIKEN: METAPHYSISCHE WERTLEHRE, TELEOLOGISCHE UND RELIGIÖSE KONZEPTE 305 9.1.2.1 metaphysische Wertlehren 305 9.1.2.2 Naturteleologie 305 9.1.3 UNIVERSALISTISCHE PRINZIPIENETHIKEN 306 9.1.3.1 Utilitarismus 306 9.1.4 ABSCHWÄCHUNG DER STRIKTEN DICHOTOMIE ZWISCHEN SEIN UND SOLLEN 307 9.1.5 WERTRELATIVISMUS 307 9.1.6 (NEU-)POSITIVISMUS, WERTSUBJEKTIVISMUS, WERTINDIVIDUALISMUS: 307 9.1.6.1 Positivismus 308 9.1.6.2 Wertsubjektivismus 308 9.2 ANHANG 2: KONNOTATIONEN IM ANTHROPOLOGISCHEN KULTURBEGRIFF NACH KROEBER UND KLUCKHOHN (1952) 309 9.3 ANHANG 3: EAGLETONS "KULTUR" UND "KULTUR" IM VERGLEICH 310 9.4 ANHANG 4: ERKENNTNISSE ZU KULTURELLEN FUNKTIONEN VON RAUM UND LANDSCHAFT AUS DER BEGRIFFSANALYSE 311 9.4.1 BEDEUTUNGSTRAGENDE UND SINNSTIFTENDE FUNKTION 311 9.4.2 GESTALTUNGS- UND AUSDRUCKSFUNKTION 313 9.4.3 ORDNUNGS- UND ORIENTIERUNGSFUNKTION 315 9.4.4 KONTINUITÄTSFUNKTION 315 9.4.5 WISSENSFUNKTION 316 9.4.6 ÄSTHETISCHE UND STIMMUNGSSTIFTENDE FUNKTION 317 9.4.7 KOMMUNIKATIONSFUNKTION 317 9.4.8 HANDLUNGSFUNKTION 318 9.5 ANHANG 5: AUSGEWERTETE EMPIRISCHE SOZIALWISSENSCHAFTLICHE UNTERSUCHUNGEN ZUM LANDSCHAFTSBEWUSSTSEIN UND ZU ERWARTUNGSHALTUNGEN AN LANDSCHAFT. ÜBERSICHT UND KERNAUSSAGEN 319 9.6 ANHANG 6: FACETTEN DES HEIMATEMPFINDENS DER AUTOREN IN GROPP ET AL. (2004) 339 9.7 ANHANG 7: ANSPRÜCHE AUSGEWÄHLTER FREIZEITAKTIVITÄTEN AN LANDSCHAFT 343 9.8 ANHANG 8: LANDSCHAFTSELEMENTE UND LANDSCHAFTSBESTANDTEILE, DIE "GEFALLEN" 347 9.9 ANHANG 9: TRADITIONELLE UND POSTMATERIELLE WERTORIENTIERUNGEN IM VERGLEICH 350
Die immer länger werdende Verweildauer der türkischen Migranten und die bis vor einigen Jahren ständig ansteigende Anzahl nachgeholter älterer Kinder deuteten schon seit Mitte der achtziger Jahre darauf hin, daß die aufgrund des Anwerbevertrages nach Deutschland eingereisten türkischen Arbeitskräfte nicht mehr zurückkehren werden. Die Hessische Schule reagiert darauf, indem sie die Ziele des MU veränderte und als ein wesentliches Ziel neben der Sprachen und Wissensvermittlung über die Kultur des Herkunftslandes auch das Verstehen der eigenen Situation im Einwanderungsland, die Erschließung des eigenen Umfeldes und die Fähigkeit, darin zu handeln, angibt. (s.a. Kap.IV, 2.) Einer so bedeutsamen Aufgabe gerecht zu werden, ist nur dann möglich, wenn sowohl der Muttersprache der Kinder, als auch dem Lernbereich überhaupt, von Seiten der Administration, den Institutionen und der darin Handelnden, also Schülern und Lehrern, Bedeutung und Wert beigemessen werden und sie Teil der Hessischen Schule sind. Kinder ausländischer Eltern wachsen in der Regel zweisprachig auf. Zweisprachig zu sein, ist ein Faktum, das für das Individuum einen hohen Wert darstellt. In Deutschland wird Zweisprachigkeit nicht immer als etwas Positives gesehen. (Selbst dann nicht, wenn es um eine im eigenen Land gesprochene Sprache geht, wie z.B. das Ostfriesische. Obwohl das Ostfriesische in Ostfriesland die dominierende Sprache ist, sprechen die Eltern mit den Kindern, die in die Schule kommen sollen, zunächst Hochdeutsch, um ihnen den Schulanfang zu erleichtern.) Das Ansehen einer Sprache ist weitgehend davon abhängig, welches 'Prestige' die Sprache hat, aber auch welches soziales Prestige ihre Sprecher haben. Türkisch steht in der Sprachenhierarchie nicht besonders hoch, es gilt als Gastarbeitersprache, ebenso wie das Wort 'Türke' noch immer den typischen 'Gastarbeiter' assoziiert. Dabei wird nicht zur Kenntnis genommen, daß die Zahl derjenigen, die dem Mittelstand zuzurechnen und zu Arbeitgebern auch für Deutsche oder andere Nationen geworden sind, ständig im Steigen begriffen ist. (s.a.Kap.VII, 5.3) Alle Muttersprachlehrer in Hessen sind seit 1970 aus dem Zuwandererpotential eingestellt worden, seit 1972 gibt es keine 'Regierungslehrer' mehr. Der Muttersprachliche Unterricht gewinnt an Wert, wenn seine Bedeutung nicht in Frage gestellt und seine Erteilung als 'normal' angesehen wird. Es war daher wichtig zu erfahren, welchen Wert ihm die Interviewten beimessen. Bei allen Interviewten hat der Muttersprachenunterricht Türkisch einen hohen Stellenwert. Die Anzahl der Schüler, die ihn in Hessen besuchen, übersteigt 70% und liegt damit höher, als in jedem anderen deutschen Bundesland und auch EUStaat. Diese hohe Teilnehmerzahl würde nicht erreicht werden, wenn die Türkei den Unterricht in eigener Verantwortung durchführen müßte, wie es zeitweise im HKM überlegt wird. Die Türkei ist an einer stark nationalbewußten Ethnie in Deutschland interessiert, da diese leichter zu kontrollieren und zu reglementieren ist, und auch weiterhin mit einem Geldtransfer zu rechnen ist. Die türkische Ethnie, so wie der Erziehungsattaché (s.a. Kap.VII, 1.1) sie sich vorstellt, würde Sitten und Bräuche bewahren und durch die soziale Kontrolle würde weniger Zündstoff für die Türkei entstehen. Viele Ereignisse, die die Türkei beunruhigen, haben ihren Ursprung in oder erhalten Unterstützung aus Deutschland. (z.B. das Selbstbewußtsein, das die Kurden und andere Minderheiten entwickelt haben, das Sichbekennen der Aleviten und anderer religiöser Gruppen und das Wiedererwachen unterschiedlicher muslimischer Glaubensrichtungen.) In einer Zeit der Globalisierung und des immer lauter werdenden Rufens nach einem frühen Angebot von Fremdsprachenunterricht, möglichst schon in der Grundschule, ist die Zweisprachigkeit der Kinder ausländischer Eltern neben dem Einfluß, den die Herkunftssprache bei der Identitätsfindung hat, auch eine ökonomische Ressource, die nicht ungenutzt bleiben sollte. Zweisprachigkeit darf allerdings nicht zu einer 'doppelten Halbsprachigkeit' führen, daher müssen die zu erreichenden Ziele in den einzelnen Jahrgängen, klar zu erkennen, die Lehrer kompetent sein, und der Unterricht nicht zur 'Kuschelecke' der Schüler werden. Da der Muttersprachliche Unterricht eine so wichtige Aufgabe hat, muß man sich der Ziele bewußt sein, die vorgegeben werden müssen bei Schülern, die vermehrt deutsche Staatsbürger sein werden. Es kann dann nicht mehr so unterrichtet werden, als sei die Türkei die 'Heimat'. Sie kann nur noch Herkunftsland sein, während das Aufnahmeland zur Heimat werden muß, wenn es das noch nicht ist. Dabei sollen die Bindungen zu dem Teil der Familie, der in der Türkei geblieben ist, erhalten bleiben. Schon jetzt haben die meisten Grundschulkinder ihre Großeltern nicht mehr in der Türkei, sondern in Deutschland. Für die zukünftigen Generationen wird die Türkei zwar immer noch das Land ihrer Herkunft, ein Traumland oder Ferienland sein, aber kaum mehr. Türkische Eltern halten den Besuch des MU für erforderlich, da sie befürchten, daß mit dem Verlorengehen der Sprache auch der Familienzusammenhalt leiden würde, daß Sitten und Gebräuche, auf die sie großen Wert legen, verloren gehen könnten. Sie befürchten, daß durch den Besuch der Schule die Kinder einem gewissen Akkulturationsdruck ausgesetzt sind und daher mehr oder weniger Kulturmuster der Mehrheitsgesellschaft übernehmen. Aus diesem Grunde setzten sich vor allem türkische Mütter für die Einrichtung des Türkischunterrichts auch an Schulen ein, an denen es noch keinen Unterricht gab. (Heute würde es die Aufgabe des Türkischen Elternvereins sein, der sich seit ungefähr vier Jahren gebildet hat.) Diese Sorge führt aber auch dazu, daß türkische Eltern, der zweiten Generation ihre Kinder noch so sozialisieren, wie auch sie selbst sozialisiert worden sind. (s.a. Kap. IV) Sie machen aber insoweit Zugeständnisse, als sie es dulden, daß die Kinder untereinander Deutsch sprechen. Die gleichen Argumente, wie sie von den Eltern für ein Festhalten am MU genannt werden, gelten auch für die Lehrer. Zum einen sind sie selber Eltern und haben damit die gleichen Ängste wie diese, zum anderen ist es ihr Beruf, die Sprache zu lehren und ihrer Meinung nach, die nationale türkische Kultur und damit die entsprechenden Sitten und Bräuche zu vermitteln. Ihre Interessensphäre ist die Erhaltung des Istzustands. Obwohl sie sich bewußt sind, daß nur wenige Schüler in die Türkei zurückkehren werden, vermitteln sie Inhalte in der Regel so, wie sie es gelernt haben und es für die Türkei vielleicht heute noch stimmig ist, jedoch hier nicht ungeprüft weiter gegeben werden sollte. Kultur und Bräuche sind nicht statisch, sondern wandeln sich und passen sich den Gegebenheiten an. "Die Kultur von Migranten unterscheidet sich also von der Kultur des Herkunftslandes, Migranten vollziehen eine kulturelle Transformation, die insgesamt auf die Flexibilität und Veränderbarkeit kultureller Ori entierung hinweist." (Sting,1995: 127) Nur ein einziger Lehrer stellt die Überlegung an, ob es nicht wichtiger sei, sich ab der siebenten Klasse, auf die Sprache Deutsch zu konzentrieren. Wenn Türkisch unbedingt weiter gelernt werden soll, dann im Fremdsprachenunterricht. Während der Erhalt von Sprache, Sitten und Bräuchen immer wieder angesprochen wird, wird die Religion, die bei in der Fremde wohnenden Ethnien meist einen hohen Stellenwert erhält, nur am Rande erwähnt. Nur wenige Lehrer setzen sich für einen Religionsunterricht in der Muttersprache ein, die meisten sind der Meinung, daß man diesen Unterricht auf Deutsch erteilen sollte. Das kann darauf hindeuten, daß man den Unannehmlichkeiten aus dem Wege gehen will, die man beim Erteilen Religionsunterricht in den Vorbereitungsklassen hatte. Denn obwohl der Koran die Grundlage des Glaubens aller Muslime ist, haben doch die verschiedenen sunnitischen Moscheenvereine ihre eigene Ausprägung. Für Aleviten käme ein sunnitischer Religionsunterricht sowieso nicht in Frage. Die Ablehnung des Erteilens könnte aber auch in der laizistischkemalistischen Lehrerausbildung begründet sein, deren Auftrag es ist, die Nation als verbindendes Element darzustellen und nicht den Glauben wie im Osmanischen Reich. (S.a. Schiffbauer, 2000, 47ff) Die Studentin Nurgül stellte erstaunt fest, daß im Muttersprachlichen Unterricht Religionsbücher ausgeteilt wurden. Die hohe Wertschätzung und die Unverzichtbarkeit, die auch auf deutscher Seite der Muttersprache Türkisch zugestanden wird, hat nicht dazu geführt, den MU wie ein 'normales' Fach zu behandeln. Den Schulleitern ist es bisher nur selten gelungen, den Unterricht so in die Stundentafel zu integrieren, daß er nicht als Anhängsel oder gar als eigenständige Schule empfunden wird. Schulleiter und Kollegien haben es auch nicht erreicht, dem türkischen Lehrer das Gefühl von Zweitrangigkeit zu nehmen. Am besten ist die Einbindung der Lehrer noch in den Grundschulen gelungen, wenn versucht wird, den Unterricht der ersten beiden Schuljahre in den Vormittag zu legen. Aber schon im dritten und vierten Jahrgang wandert er in der Regel wieder in den Nachmittag. Es gibt auch immer noch Schulen, in denen nicht einmal die Raumfrage so gelöst worden ist, daß türkische Lehrer sich nicht diskriminiert fühlen müssen. (s.a. Kap. VIII, 5.4) Wiederum ist es die Grundschule, deren Schulleiter die meisten Kenntnisse über die Inhalte haben, die im MU vermittelt werden, z. T. weil an einigen Schulen das Projekt KOALA durchgeführt wird, z.T. durch die Beschwerden von Eltern über die vermittel ten Inhalte. Selbst da, wo deutsche Lehrer zu den am Vormittag unterrichtenden türkischen Kollegen ein freundschaftliches Verhalten entwickelt haben, kennen eher die türkischen Lehrer die im Regelunterricht durchgenommen Inhalte, als umgekehrt. Dabei wäre für beide Lehrergruppen die Informationsbeschaffung mit wenig Mühe verbunden, da es für jedes Fach Rahmenpläne gibt und jeder Lehrer, auch der türkische, daraus den Stoffverteilungsplan in deutscher Sprache für das laufende Schuljahr erstellen muß. Beide Lehrergruppen würden die Effizienz des Unterrichts steigern können und mehr von einander erfahren, was zum Abbau von Vorurteilen und zur besseren Einsicht in die Vorhaben des anderen führen würde und vielleicht zu gemeinsamen Projekten. Aufgrund der Rahmen und Stoffverteilungspläne müßten aber eigentlich auch die Schulleiter wissen, was im MU gelehrt wird, denn sie erhalten diese Pläne. Man braucht also nicht erst bei Prüfungen zu erfahren, daß die Inhalte sehr national sind und somit nicht unserem Verständnis von Unterricht entsprechen. Die meisten Schulen werden zwar von einer Vielzahl ausländischer Nationalitäten besucht, in der Grundschule im Ostend sind es über hundert, nicht alle erhalten aber Muttersprachlichen Unterricht. Nach dem Zerfall von Jugoslawien dürften es inzwischen fünfzehn verschiedene Nationen sein, die Muttersprachlichen Unterricht als Fach erhalten. (Den anderen Ethnien werden nur die Räume zur Verfügung gestellt, für den Unterricht hat die eigene 'community' zu sorgen.) Das heißt, die Klassenlehrerin müßte zu so vielen Muttersprachlehrern Kontakt aufnehmen, wie sie Kinder aus den Anwerbeländern in ihrer Klasse hat. Daher kennt zwar jeder Klassenlehrer die Fachlehrer, die Lehrer des Muttersprachenunterrichts sind an Schulen, die keine Stammschulen sind, aber nur wenig bekannt. Ich habe mit Lehrern des Regelunterrichts gesprochen, die nicht wußten, ob es an ihrer Schule überhaupt Muttersprachenunterricht gibt. Man sieht die Lehrer höchstens bei den Notenkonferenzen, die zweimal im Jahr stattfinden. Dabei sind die Noten des MU versetzungsrelevant, d.h. sie tragen zur Versetzung des Schülers bei. Muttersprachlehrer hingegen unterrichten wiederum mehrere Klassen an verschiedenen Schulen und kennen daher auch nicht alle Klassenlehrer. Die Interviews mit den vierundzwanzig Schülern und Studenten zum Muttersprachlichen Unterricht ergibt, daß die meisten Schüler den Unterricht wie ein Fach unter anderen empfinden, ein bißchen unbequemer, weil er am Nachmittag stattfindet und in einer anderen Schule, aber oft mit dem Vorteil, keine Aufgaben machen zu müssen. Nur die Realschulgruppe empfindet die Atmosphäre des MU anders und angenehmer als diejenige im Regelunterricht. Sie rechnet dies nicht nur der Tatsache zu, daß der MU nur von Schülern gleicher Nationalität und Mentalität besucht wird, sondern findet, daß auch die Gruppengröße dabei eine Rolle spielt. Die interviewten Schüler sind sich dessen bewußt, daß sie, allein aufgrund der anders verlaufenden Familiensozialisation, einen beträchtlichen Anteil mehr an Leistungen erbringen müssen als die anderen Schüler, um den Anforderungen der Schule gerecht zu werden. Es ist ihnen aber auch bewußt, daß sie der sozialen Kontrolle, gleich ob sie von der Familie, den Verwandten oder der eigenen Ethnie ausgeübt wird, am besten durch eine gute Bildung begegnen können. Eine gute Bildung und Ausbildung macht sie in ihrem Verhalten freier und sicherer und die Kontrollorgane toleranter. Sie können leichter selbst bestimmen, was sie tun und wie sie handeln wollen. Eine entscheidende Rolle spielt im Leben eines jeden Kindes der Schulanfang, der daher auch ein Schwerpunkt meiner Befragung war. In jeder Gesellschaft besteht das Leben eines Individuums aus verschiedenen zeitlichen Abschnitten, die durchlaufen werden. Die Übergänge von einem Lebensabschnitt zum anderen werden von besonderen Riten begleitet. Sie kennzeichnen das Verlassen der einen Gruppe, eine Zeit der Diffusion und die Aufnahme in die neue Gruppe. So werden aus den Kindergartenkindern nach dem fünften Lebensjahr die Vorschulkinder, denen besondere Rechte eingeräumt werden. In dieser Zeit dürfen sie schon einmal allein und ohne Aufsicht in einem Raum spielen und besuchen besondere Kurse, an denen die jüngeren Kinder nicht teilnehmen dürfen. Aus den Vorschulkindern werden die Schulkinder, die mit einer Schultüte begrüßt, langsam an das Leben in der Schulgruppe gewöhnt werden. (s.a. v. Gennep,1986) Schulanfänger müssen die eigenen Vorstellungen mit den Ansprüchen, Erwartungen und Forderungen des Lehrers und der gleichaltrigen Gruppe in Einklang bringen. (Petillon, 1984: 3) Die Erfahrung der Außenbestimmung durch eine neue Zeiteinteilung, neue Anforderungen an Konzentration und Feinmotorik ist zwar für alle neu, für Kinder aber, die aus Familien mit anderen Sozialisationsvorstellungen und ohne Kindergartenerfahrung in die Schule kommen, besonders bedeutend. Ich nahm daher an, daß in dieser Phase der Muttersprachliche Unterricht bei der Integration besonders hilfreich sein würde, was nur von ganz wenigen Schülern bejaht wurde. Obwohl die Gymnasialschüler berichten, daß die türkische Familie nicht auf die Schule vorbereiten würde, sprechen nur zwei Schüler davon, daß sie den MU in dieser Zeit als hilfreich empfunden hätten. Fatime erinnert sich daran, ihn als beschützend und warm, Mohammed als integrierend und anerkennend empfunden zu haben. Die anderen können sich an nichts Besonderes erinnern. Die meisten haben den MU von Anfang an besucht und halten ihn eher für diejenigen türkischen Kinder wichtig, die erst kurz vor Schulbeginn nach Deutschland kommen. Kinder, die in der Türkei mit der Schule begonnen haben und hier die Klasse wiederholen mußten, weil sie kein Deutsch konnten, empfanden diese Maßnahme als diskriminierend. Diejenigen, die hier aufgewachsen sind, halten den Besuch eines Kindergartens für sich persönlich, aber auch für die anderen türkischen Kinder für wesentlich und bringen ihren Schulerfolg damit in Zusammenhang. Dabei erwähnen sie auch die Vorklasse, die bei fehlendem Besuch des Kindergartens, wegen der späten Einreise, besucht werden sollte. (Leider halten türkische Eltern oft nicht viel vom Kindergarten und noch weniger von der Vorklasse. (s.a. Kap. II, 2.5) und wehren sich dagegen. Eine wichtige Funktion haben die im MU vermittelten Inhalte. Vielen Probanden sind neben Liedern und Spielen die gemeinsamen Feiern in Erinnerung geblieben. Es werden vor allem die nationalen türkischen Feste begangen, obwohl im Rahmenplan für die Grundschule nur die religiösen Feiertage: das Opferfest (Kurban Bayrami) und das Zuckerfest (Seker oder Ramazan Bayrami) und als nationaler Feiertag der 23. April, das Kinderfest, vorgesehen sind. Bei den nationalen Feiern haben sich die Eltern sehr engagiert, sowohl die Eltern als auch Schüler erwähnen dies in ihren Interviews. Man schmückte die Klasse und richtete eine AtatürkEcke ein mit Bildern, Sprüchen und Fähnchen. Eine türkische Lehrerin bedauert, daß jetzt an den Feiertagen für die Kinder schulfrei ist und man nicht mehr zusammen feiern kann. Weil die Eltern arbeiten, verlieren die Tage für die Kinder viel von ihrer Bedeutung. An die folgenden nationalen Feiertage erinnern sich alle: An den 23. April, die Eröffnung der Nationalversammlung, diesen Tag hat Atatürk den Kindern zugedacht, den 19. Mai, den Beginn des Widerstands gegen Engländer, Franzosen, Italiener und Griechen und den 29. Oktober, den Tag, an dem die Republik ausgerufen wurde. Analysiert man den Inhalt der Interviews, so stößt man immer wieder auf folgende Aussagen: Wir haben die Geschichte der Republik Türkei kennengelernt (milli tarih) mit den Befreiungskämpfen, den nationalen Feiertagen, die daraus resultieren, die Reformen Atatürks, seine Aussprüche, die Nationalhymne, den Schülereid (s. Fußnote 26) und zwar von der ersten Klasse an. Selbst die Achtung, die dem Lehrer gezollt wird, wird durch die nationale türkische Erziehung verstärkt, denn die Lehrer stehen anstelle von Atatürk, dem Oberlehrer der Nation. Die interviewten, aber auch andere türkische Lehrer, mit denen ich gesprochen habe, unterrichten diese Inhalte ohne zu überlegen, daß sie Schüler unterrichten, deren Eltern zum Teil schon nicht mehr in der Türkei geboren sind und die wahrscheinlich nicht mehr in der Türkei leben werden. Die Lehrer nehmen es den Schulleitern übel, wenn diese sie darauf hinweisen, daß keine Fahne und kein Atatürkbild aufgehängt werden soll, weil dies nicht gewollt und Ähnliches in der Regelklasse auch nicht praktiziert wird. Der Politologiestudent weiß, daß die Deutschen die Verehrung von Atatürk als Personenkult abtun, er versteht es jedoch als etwas anderes und ist stolz auf die türkische Geschichte, die auch ein Teil seiner Geschichte ist und mit der er sich identifiziert, obwohl er, von den Ferien abgesehen, sein Leben in Deutschland verbracht hat. Ähnlich drücken es auch die Realschüler aus, die ebenso stolz auf ihre nationale Geschichte und das türkische Militär sind. Der Student meint zudem, daß deutsche und türkische Lehrer voneinander lernen können. Vor allem sollen die deutschen Lehrer die Achtung der Schüler einfordern, die auch den türkischen Lehrern entgegengebracht wird. Sie hätten ebenso ein Recht darauf, denn sie geben ihr Wissen den Schülern und dafür schulden ihnen die Schüler 'Achtung'. Die Achtung, die die Schüler ihren türkischen Lehrern entgegenbringen, indem sie sich diszipliniert verhalten, fällt der Lehrerin der Integrierten Gesamtschule wie auch dem Realschulrektor auf, der von einem sehr ordentlichen Unterricht spricht und damit auch einen störungsfreien meint. Wie unterschiedlich auch der Unterricht von den einzelnen Schülern empfunden wurde, alle sagen, daß sie ohne ihn nicht ein so gutes Türkisch sprechen und schreiben würden. Das Türkisch, das zu Hause gesprochen wird, beschränkt sich im wesentlichen auf die Alltagssprache und ist dazu oft ein Dialekt. Der Politologiestudent bedauert, daß es ihm trotz MU nicht möglich ist, die Zeitung ohne Wörterbuch zu lesen, und daß er nicht in die neuere Literatur eingeführt worden ist. In der Sekundarstufe I wird kaum zeitgenössische Literatur vermittelt, weil sie nicht mehr unkritisch ist und daher in die türkischen Schulbücher der Oberstufe nur selten Eingang gefunden hat. Bis in den achtziger Jahren sagt Sprache auch etwas über die politische Richtung aus, der man angehört. Wer von den Lehrern als links und progressiv gelten will benutzt vorwiegend den vom 'Türk Dil Kurumu' erarbeiteten Wortschatz, während die Konservativen sich auch der osmanischen Wörter bedienen. So gibt es oft lang anhaltende Streitigkeiten, welches Wort in die Unterrichtsmaterialien Eingang finden soll. Die politischen Richtungskämpfe, die sich in der Türkei abspielten, reichten also bis in den Muttersprachlichen Unterricht in Hessen. Heute gebrauchen die meisten Türken und damit auch die türkischen Lehrer die Sprache viel unbekümmerter und lassen sowohl das eine als auch das andere Wort gelten. Da vor allem die Zeitungen wieder osmanische Wörter verwenden, werden die Angehörigen der jüngeren Schülergeneration sie auch wieder lernen. Den älteren Schülergenerationen aber sind sie nicht so geläufig. Auffallend ist, daß die Schüler nur ganz selten den Ausdruck Muttersprachlicher Unterricht benutzen und eher vom Fach Türkisch spreche, die Gymnasialschüler sogar von der 'Fremdsprache' Türkisch, für die sie genauso hart arbeiten müssen, wie für jede andere Fremdsprache. In den Augen der Schüler hat der Muttersprachliche Unterricht Türkisch den gleichen Stellenwert wie jede andere Fremdsprache. Die IGS Lehrerin spricht davon, daß der MU an Wert gewonnen habe, seitdem der Modellversuch 'Türkisch anstelle der zweiten Fremdsprache' an ihrer Schule eingerichtet wurde. Die Frage, ob im MU auch die Situation der türkischen Eltern und ihrer Kinder in Deutschland angesprochen worden ist, wird nur von einer einzigen Schülerin bejaht. Sie sagt, daß ihr MULehrer auch Vergleiche zwischen der Türkei und Deutschland gezogen habe. Türkische Lehrer meinen, daß es schwierig sei, die hiesigen türkischen Kinder zu unterrichten, weil sie aus den unterschiedlichsten Gegenden der Türkei stammen und damit auch unterschiedliche Sitten und Gebräuche mitbrächten. Sie sprechen aber nicht davon, daß sie im Unterricht auch die hiesigen Sitten und Gebräuche thematisiert haben. Eine Ausnahme bildet dabei der Nikolauskult. Der Hlg. Nikolaus, der im vierten Jahrhundert Bischof von Myra, dem heutigen Demre (Türkei) war, schlägt eine Brücke zwischen der Türkei und dem Christentum und nimmt so heute eine Art Alibifunktion im MU für die deutschen Feste wahr. Dabei gäbe es keine Schwierigkeiten, türkischen Schülern auch andere deutsche Feste vom Koran her zu erklären. Den Berichten der interviewten Lehrer und Schüler zufolge kann darauf geschlossen werden, daß die eingangs zitierte Aufgabenstellung des MU, die Erschließung des Umfeldes, in dem die Schüler leben, das Verstehen der eigenen Situation und die Fähigkeit darin zu handeln, nur ansatzweise oder wenig beachtet wird. Ein weiterer Punkt, der über die Integration Auskunft geben kann, ist die Frage nach Freunden und Freundinnen der Probanden. Nur eine einzige Probandin hat noch und alleinigen Kontakt zu den Mitschülerinnen des MU. Eine andere steht in lockerem Kontakt zu einer ebenfalls studierenden Mitschülerin aus dem MU, wobei die Tatsache, daß beide das Abitur gemacht haben und sie zusammen zum Gymnasium fuhren, eine wesentliche Rolle spielen dürfte. Alle anderen haben keine Verbindung mehr zu ihren früheren Schulkameraden des Muttersprachlichen Unterrichts. Selbst die beiden Brüder, die den MU noch besuchen, haben außerhalb des Unterrichts keinen Kontakt diesen Mitschülern. Aus dem Rahmen fallen nur die Realschüler, sie haben wesentlich mehr Kontakt untereinander, zu ihren türkischen Mitschülern und anderen türkischen Jugendlichen als die anderen Interviewten. Zwei Mädchen haben fast nur türkische Freundinnen, eines bewußt, da sie sich von ihnen am besten verstanden glaubt, während das andere meint, daß es sich 'so' ergibt. Zwei andere dagegen sprechen von 'besten' Freundinnen, die keine Türkinnen sind und die sie schon vom Kindergarten und von der Schule her kennen. Die Interviews haben gezeigt, daß eine Integration der Probanden in die Hessische Schule, zwar unterschiedlich, aber im allgemeinen erfolgt ist. Dies ist allerdings nicht ein besonderes Verdienst des Muttersprachlichen Unterrichts. Am sichtbarsten wird die Integration bei den Gymnasialschülern und Studenten. Der Grad von Integration läßt sich auch aus den Kurzfragebögen erkennen. Von den sechzehn Schülern beider Gruppen bezeichnen sich vierzehn als Türken aus Deutschland, nur zwei bezeichnen sich nur als Türken. Beide Gruppen fühlen sich in ihrer Klasse und Schule wohl. Dabei ist die Aussage der Gymnasialschüler höher zu bewerten als die de Realschüler, da sie aus drei verschiedenen Schulen kommen. Acht von neun Schülern wollen ihre Ausbildung in Deutschland machen, nur einer in der Türkei. Wobei noch zu bedenken ist, daß eine Ausbildung, z.B. ein Studium in der Türkei kürzer und billiger ist. Durch die Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechtes zum 1.1.2000 erhalten alle in Deutschland geborenen ausländischen Kinder zu der Staatsangehörigkeit ihrer Eltern auch die deutsche bis zu ihrer eigenen Entscheidung für eine der beiden, spätestens im 23. Lebensjahr. Bis dahin sind sie Deutschtürken oder türkische Deutsche. Das heißt, in sechs Jahren kommen die Kinder türkischer Eltern, als Deutsche in unsere Schulen. Kann dann der MU oder das Fach Türkisch, von allen als notwendig angesehen und auch gewünscht, in der gleichen Art und unter den gleichen Bedingungen unterrichtet werden wie bisher? Wenn dem nicht so ist, muß damit begonnen werden, Lehrer mit einer anderen Ausbildung einzustellen, bzw. diejenigen, bei denen es möglich ist, weiterzubilden. Die Veränderung der Einstellungspraxis ist bereits überfällig. Zu Beginn der neunziger Jahre, aber spätestens bei Einrichtung des Modellversuchs 'Türkisch anstelle der zweiten Fremdsprache' hätten nur noch türkische Lehrer mit einer Universitätsausbildung eingestellt werden dürfen. Die Lehrer, die das alte Grundschullehrerdiplom der Türkei haben, können in Deutschland nicht an der Universität weitergebildet werden, da ihre Gesamtausbildungszeit kürzer ist, als hier die Zeit bis zum Abitur. Türkische Lehrer mit Universitätsausbildung dagegen könnten ein Zusatzstudium absolvieren. Für die deutschen Schulanfänger türkischer Herkunft braucht man Lehrer, mit einer Ausbildung, die derjenigen der Lehrer im Regelunterricht entspricht, d.h. daß sie mindestens für zwei Fächer ausgebildet sein müssen. Ein Lehrer, der zwei Fächer studiert hat, braucht nicht mehr an verschiedene Schulen zu gehen, da er außer Türkisch das zweite Fach in den Regelklassen unterrichten kann. Die Situation für eine entsprechende Lehrereinstellung ist in der nächsten Zeit recht gut, da im Laufe von zehn Jahren der größte Teil der bis 1980 eingestellten Lehrer in Rente geht. Die Fachberaterin für den MU Türkisch verlangt, daß für das Fach Türkisch gut Deutsch sprechende Lehrer, nach Möglichkeit mit einem Studienabschluß einer deutschen Universität, einzustellen sind. Es gibt bereits jetzt Lehrer und Diplompädagogen türkischer Herkunft, die zweisprachig sind. Beide Gruppen brauchten nur ein relativ kurzes Zusatzstudium, um den oben genannten Bedingungen zu entsprechen. Daneben gibt es seit 1998 die Absolventen der Gesamthochschule Essen, die ein entsprechendes Lehrerstudium mit dem Fach Türkisch durchlaufen haben. Schon jetzt gibt es eine Anzahl von Schulen, die, bedingt durch die Globalisierung, der Forderung nach früher Zweisprachigkeit durch Einführung nach Frühenglisch oder Frühfranzösisch nachgekommen sind. Im Laufe der Zeit wird die Einführung sicherlich flächendeckend erfolgen. In der Grundschule könnte dann die Sprache Türkisch entsprechend dem erteilten Frühenglisch oder Frühfranzösisch im Stundenplan stehen. Lehrerin B. sagt: "Warum sollen diese Kinder Frühenglisch lernen, wenn sie doch schon eine andere Sprache mitbringen". Der Ministerialrat spricht davon, daß die fremde Herkunftssprache auch einen ökonomischen Wert habe, man muß also nur den vorhandenen Wert nutzen. In den Ballungsgebieten ist Frühtürkisch, das die mitgebrachten Sprachkenntnisse berücksichtigt, anstelle des bisherigen MU durchaus denkbar. Unter Umständen muß man dabei auch eine Art Mittelpunktschulen einplanen. An diesen Schulen könnte mit der Alphabetisierung z. B. nach dem KOALAModell (s.a. Kap.VII, 2.) gearbeitet werden. In der Sekundarstufe sollte man schon jetzt überlegen, in welcher Weise auch der Computer für den Muttersprachlichen Unterricht zu nutzen ist. Gerade in Gegenden, in denen nur wenige türkische Kinder wohnen, bietet sich sein Einsatz an. Die in Hessen vorgeschriebene Sprachenfolge, daß Englisch, wenn nicht erste, so doch mindestens zweite Fremdsprache sein muß, wird durch das Frühtürkisch nicht tangiert, denn als nächste Fremdsprache müßte dann Englisch gelernt werden. Es wäre gut, wenn die Institution Schule auf dem Gebiet der Einbeziehung der Minderheitensprache Türkisch feste Vorstellungen hätte, ehe alle Schüler türkischer Abstammung bei Schuleintritt die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Die dargelegten Überlegungen haben den Vorteil, daß Türkisch als ein den anderen Fächern gleichwertiges Fach der Hessischen Schule angesehen würde, in den Stundenplan integriert und nicht mehr Anhängsel oder Schule des Herkunftslandes. Die Lehrer wären hessische Lehrer, was sie formal schon seit fast 30 Jahren sind, in Deutschland ausgebildet, im Kollegium integriert und als gleichwertig akzeptiert. Mit einem Unterricht in der genannten Form würde der Sprache Türkisch, deren Sprecher zu der größten Minderheit in Deutschland zählen, der Raum und die Bedeutung zuerkannt, die ihr aufgrund ihrer Größe zustehen. Es gibt auch keinen Zweifel daran, daß die Zahl der Einwohner türkischer Abstammung in den nächsten Jahren, vielleicht Jahrzehnten, allein aufgrund der heutigen demographischen Daten noch steigen wird. Wie schon erwähnt, reisen jedes Jahr 30.000 türkische Ehepartner in Deutschland ein, ist die Geburtenrate höher und die Anzahl der jüngeren Frauen im reproduktiven Alter prozentual größer als bei der deutschen Bevölkerung. Mit einem Unterricht, der sich an die Rahmenrichtlinien hält und mit Hilfe der in diesem Sinne ausgebildeten Lehrer werden die Deutschtürken nicht nur von den Verdiensten ihrer Vorfahren in der Türkei erfahren, sondern auch von denen ihrer Elterngeneration, die, sei es als Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Künstler, Schriftsteller oder Politiker hierher gekommen sind. Es sollen junge Menschen heranwachsen, die sich "nicht vom türkischen Ministerpräsidenten erklären lassen, wen wir in Deutschland wählen sollen oder nicht". (Özdemir, 1999: 13). Sie werden "Bürgerpflichten und Grundstrukturen und Prinzipien wahrnehmen (Wahlrecht, Zivildienst, Wehrdienst). Erst wenn sich der Einzelne als Teil der Gesellschaft empfindet, können sie angemessen ihren Beitrag leisten."
"1918" bezeichnet mehr als das Ende des Ersten Weltkriegs. Der Jahresbezug begründet häufig auch bildungsgeschichtliche Narrative. Hingegen fragt der Band nach Gleichzeitigkeiten von Zäsuren und Tradierungen, Brüchen und Kontinuitäten in regionalen, nationalen, europäischen und globalen Perspektiven. Er untersucht vielfältige Paradoxien vermeintlich alter und neuer pädagogischer Kulturen und Praktiken ebenso wie Ambivalenzen der Jugend zwischen Aufbegehren und Anknüpfung an Bildungsideale. Auch die Infragestellung von Schule und Pädagogik, ihre Relegitimierung sowie die Verflechtung von Sozialdemokratie und Sozialismus mit Bildungsreformen und -traditionen werden fokussiert. Damit zielt der Band auf den vielfach beschriebenen «Kampf der Ideologien» in der Zwischenkriegszeit und auf die Zirkulation konkurrierender Wissen, sodass er bildungshistorisch die komplexe Offenheit von 1918 diskutiert. (DIPF/Orig.)