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Während materielle Schadensersatzansprüche für Datenschutzverletzungen in der Praxis eine untergeordnete Rolle zu spielen scheinen und verhältnismäßig einfach festzustellen und zu beziffern sind, bereitet die in Art. 82 DSGVO vorgesehene Ersatzfähigkeit immaterieller Schäden den Gerichten Kopfzerbrechen. Eine richtungsweise Entscheidung zu immateriellen Schadensersatzansprüchen für DSGVO-Verletzungen fällte der EuGH Anfang Mai 2023 in der Rechtssache C‑300/21. Es ist das erste Urteil aus einer langen Reihe an Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung des Art. 82 DSGVO. Nach wie vor interpretationsbedürftig bleibt jedoch, wie ein immaterieller Schaden nun konkret festzustellen und zu bemessen ist. Nach einer kurzen Zusammenfassung der Kernaussagen des EuGH befasst sich dieser Beitrag daher mit diesem praxisrelevanten Problem und möchte – insbesondere unter Berücksichtigung etablierter Instrumentarien der deutschen und österreichischen Rechtspraxis – Lösungswege für die mitgliedstaatlichen Gerichte aufzeigen.
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Am 25.08.2023 veröffentlichte Deutschland Funk Nova im Podcast-Format "Hörsaal" einen Podcast zu der Thematik "Was Frieden mit Klimaschutz zu tun hat". Die wichtigsten Erkenntnisse hieraus möchte ich in diesem Blogbeitrag kurz zusammenfassen. Jürgen Scheffran ist Physiker und Professor für Klimawandel und Sicherheit und schätzt die Zusammenhänge von Frieden und Klimaschutz wie folgt ein:Schon lange bestünde die These, dass der Klimawandel ein Multiplikator für Probleme sei wie beispielsweise Konflikte, Migrations- und Fluchtbewegungen sowie auch für Krankheiten. Wenn diese Probleme ein zu großes Ausmaß annehmen, so Scheffran, nehme auch das Konfliktpotential zu, aus welchen wiederum multiple Krisen resultieren können.Gleichzeitig bestehe die Möglichkeit, dass die positiven Effekte einander verstärken können, so Scheffran. Dieser Punkt sei bisher von Politik und Forschung weitgehend verkannt. Gerade hierauf sollte jedoch der Fokus gesetzt werden.Auch die zivile Konfliktbearbeitung spiele bislang im Umweltbereich nur eine untergeordnete Rolle. Dies würde dazu führen, dass eine stetige Zunahme der Konfliktfelder im Umweltbereich zu verzeichnen sei.Der nachhaltige Frieden fokussiere sich auf die sich wechselseitig positiv verstärkenden Effekte von Nachhaltigkeit und Frieden. Auch das Peacebuilding, der Friedensaufbau durch ökologische Aktivitäten, sei ein weiterer positiver Synergieeffekt.Es wäre ein positiver Effekt davon zu erhoffen, wenn Friedens- und Klimabewegungen verstärkt miteinander kooperieren würden.Kriege ziehen die Aufmerksamkeit der Politik sowie Ausgaben und Ressourcen auf sich, die dann an anderen wichtigen Stellen, beispielsweise bei der Lösung von Klimaproblemen, fehlen.Gewaltkonflikte seien mit Umweltbelastungen verbunden wie z.B. durch verstärkte Emissionen.Nachhaltigkeit ohne Frieden sei kaum umsetzbar.Einige der planetaren Grenzen seien bereits überschritten, wodurch u.a. die Konflikte um Ressourcen sowie die klimabedingte Fluchtmigration weiter zunehmen.Es gibt eine Reihe von Klimakonflikten. Zum einen, v.a. von den Rechtspopulisten, ob es den Klimawandel überhaupt gebe. Zum anderen, wie dieser zu bewältigen sei. Aus jenen resultieren wiederum neue Konflikte usw.Krieg löse Umweltzerstörung aus: Um den Gegner zu schwächen, werden dessen Ressourcen wie z.B. Wasser zerstört. Auch werden ganze Landstriche zerstört. Teile davon, wie bspw. der nukleare Winter, hätten längerfristige Auswirkungen auf das Klima.Klimafolgen des Militärs: Zwar können durch das Militär Ressourcen verteidigt werden, jedoch setze es gleichzeitig hohe Emissionen frei. Betont wird hier die Konkurrenz zwischen dem 1,5 bis 2 Grad Ziel der Klimapolitik und dem 2 % Ziel, welches die NATO habe. Klimaziele und Rüstungsziele seien nicht miteinander vereinbar.Der Begriff Befriedigung (unserer Bedürfnisse) enthalte das Wort Frieden, wodurch der Zusammenhang erneut verdeutlicht werde.Er schließt seinen Vortrag mit einem Zitat von Carl Friedrich von Weizsäcker: ,,Es gibt keinen Frieden zwischen den Menschen ohne Frieden mit der Natur und es gibt keinen Frieden mit der Natur ohne Frieden zwischen den Menschen".Hier können Sie den Podcast in voller Länge anhören: https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/juergen-scheffran-frieden-heisst-auch-klimaschutz.
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https://www.digitale-helden.de/ - Computer und Internet werden heute zu den wichtigsten Bestandteilen unseres Lebens. Wir sind nun an einem Punkt angelangt, an dem die digitale Kommunikation nicht wegzudenken ist. Auch Kinder sind von diesem Fortschritt der Technologie betroffen. Sie mailen, surfen, laden Dateien aus dem Internet herunter und nutzen ganz selbstverständlich Instant-Messenger-Programme wie zum Beispiel WhatsApp. Jedoch bleiben die beim Nutzen eintretenden Risiken den vielversprechenden und "coolen" Chancen untergeordnet.
Um hauptsächlich Schülerinnen und Schülern den richtigen Umgang mit dem Internet und den Sozialen Netzwerken sowie die Prävention von Cybermobbing zu verdeutlichen, versucht ein junges Team aus Frankfurt, Schülerinnen und Schüler der Klassen acht bis neun zu sogenannten Mentoren auszubilden. Diese sollen nach ihrer Ausbildung zu Digitalen Helden jüngeren Schülern bei Fragen und Problemen in der digitalen Welt behilflich sein.
"Digitale Helden" profitiert in Form eines Peer-Education Projekts von einem Austausch von Schüler zu Schüler auf Augenhöhe. Das heißt Schülermentoren, die sehr nah zu ihren Altersgenossen stehen, nehmen eine sehr authentische und verantwortungsvolle Rolle ein, denn ihren Mitschülern gelingt es besser, ihre persönlichen Probleme mit ihnen zu teilen als mit einer Lehrkraft, die "nur" den Leistungsstand bewertet.
Das Projekt bietet den ausgebildeten "Digitalen Helden" einen Online-Kurs auf der Homepage an, der als gemeinsamer Lernort gilt. Die Schülermentoren können für ihre Workshops mit jüngeren Schülerinnen und Schülern, die in Form einer Schul-AG, bzw. eines Wahlpflichtkurses ablaufen, das Material des Kurses nutzen (Videos, Arbeitsblätter, etc.).
Für eine nachhaltige Medienkompetenz ist jedoch wichtig, dass auch Lehrerinnen und Lehrer der beteiligten Schulen und Eltern zur Medienbildung beitragen. Aus diesem Grund finden regelmäßig Elternabende, Klassenbesuche und Fortbildungen in Form von "Web-Seminaren" statt. So haben auch diese die Chance, sich aktiv zu beteiligen und Tipps durch Online-Infoveranstaltungen zu vertiefen.
Gerade für Lehrkräfte hat das Projekt beispielweise Unterrichtseinheiten zu "WhatsApp, meine Freunde und ich" entworfen. Sie empfehlen sehr, das Thema WhatsApp in der Schule zu thematisieren, da es bereits in der Grundschule als selbstverständlich gilt, einen Klassenchat zu führen. Es lässt sich nämlich feststellen, dass es durch das Nutzen solcher Applikationen schnell zu Problemen wie Lästereien, Ausgrenzungen, etc. kommt. Um den jüngeren Schülerinnen und Schülern, einen sicheren, kompetenten, aber auch kritischen Umgang mit solchen Instant-Messenger-Programmen wie WhatsApp zu ermöglichen, hat das Projekt "Digitale Helden" einen Online-Kurs für Lehrkräfte erstellt. Diesen Kurs können Lehrkräfte in einem Doppelstundenmodell bzw. in Form von Projekttagen umsetzen, um möglicherweise Regeln für das Nutzen dieser Applikation aufzustellen, sodass es zu keinen Problemen innerhalb der Klasse, aber auch im privaten und sozialen Bereich kommt.
"Digitale Helden" wurde im Jahr 2013 zunächst an Frankfurter Schulen durch "Sicher-dein-Web" (GbR) und den Verein "Eltern für Schule e.V." ins Leben gerufen. Aktuell nehmen 15 Schulen aus dem Kreis Limburg-Weilburg an dem Projekt teil. Ihnen ist es gelungen 150 Schülerinnen und Schüler, bzw. 45 Lehrkräfte zu sensibilisieren und zu Mentorinnen und Mentoren auszubilden. Des Weiteren wurden insgesamt 4500 Schülerinnen und Schüler durch Klassenbesuche und 1500 Eltern durch Elternabende erreicht.
Dank Großförderern entsteht für die Mitgliedschaft der Schulen an dem Mentoren-Programm nur ein Restbetrag von 690€ pro Schuljahr, der aber durch verschiedene Querfinanzierungen teilweise oder vollständig gedeckt werden konnte. https://www.youtube.com/watch?time_continue=8&v=jvlLEh8rGso
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Am 14.11.2023 veröffentlichte der YouTube-Kanal "klima:neutral" ein Video mit dem Titel "Nachhaltigkeit an Unis: So "grün" sind Hochschulen". In diesem Blogbeitrag möchte ich die wichtigsten Erkenntnisse zusammenfassen.Die Themen Nachhaltigkeit und Klimaschutz spielten lange Zeit an vielen Hochschulen nur eine untergeordnete Rolle und waren lediglich Gegenstand in expliziten Vorlesungen. Neben der häufig anzutreffenden fehlenden inhaltlichen Thematisierung fehlte und fehlt es mancherorts ebenfalls an Energie- und Ressourcensparmaßnahmen.Die Hochschulrektorenkonferenz hat dazu 2018 eine Empfehlung abgegeben, nach der alle Bildungsstätten Nachhaltigkeit sowohl als Bildungsinhalt als auch im Betrieb der Einrichtung mitdenken sollen. Für die Umsetzung haben bereits manche Hochschulen spezielle Stellen geschaffen.Hochschulen haben das Potenzial, bei der Umsetzung von Nachhaltigkeit noch mehr zu erreichen als Unternehmen. In diesem Zusammenhang sind Brainprint und Handprint als zentrale Begriffe zu nennen. Demnach haben Hochschulen die Möglichkeit, nicht nur ihren ökologischen Fußabdruck zu reduzieren, sondern auch durch Forschung, Lehre und den aktiven Dialog und Austausch mit der Gesellschaft zur nachhaltigen Entwicklung beizutragen.Dies kann man insofern realisieren, als Hochschulen in der Forschung verstärkt an Themen im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit forschen sowie Nachhaltigkeit in der Lehre in allen Studiengängen fest verankern. Denn um der Klimakrise entgegenzutreten, benötigt es ausgebildete Fachkräfte, die das hierfür benötigte Wissen besitzen. Hierfür gibt es bereits mehrere hundert Studiengänge wie z.B. Umweltschutztechnik, Umweltwissenschaft, erneuerbare Energie u.a. Doch auch in den klassischen Studiengängen, welche sich nicht primär mit Nachhaltigkeit befassen, kann und sollte Nachhaltigkeit Teil des Studiums werden. So könnten Absolventen in ihrer jeweiligen Branche mit ihrem Wissen zur Veränderung bestehender Strukturen hin zu nachhaltigen Konzepten beitragen. Dies wird in Teilen zwar schon umgesetzt, jedoch längst nicht in ausreichender Form.Im GreenMetricRanking werden die grünsten Hochschulen der Welt aufgelistet. Hierfür können sich Hochschulen bewerben und werden anschließend nach den folgenden Kriterien bewertet und anschließend im Ranking eingeordnet:Örtliche Gegebenheiten & InfrastrukturEnergie & KlimawandelMüllWasserMobilitätBildung & ForschungDas aktuelle Ranking aus dem Jahr 2022 könnt ihr hier einsehen: https://greenmetric.ui.ac.id/rankings/overall-rankings-2022 Kritik an dem Ranking gibt es insofern, als sich primär Hochschulen auf den oberen Ranking-Plätzen befinden, welche speziell auf Nachhaltigkeit ausgerichtete neu erbaute Gebäude besitzen und insgesamt wenig Studierende haben. Daher sei es schwer, diese mit großen Hochschulen zu vergleichen, welche sich teilweise in Gebäuden aus dem 19. Jahrhundert befinden und darüber hinaus deutlich mehr Studierende haben.An einigen Hochschulen, auch in Deutschland, gibt es bereits erste positive Entwicklungen hinsichtlich der Etablierung von nachhaltigen Strukturen. Neben der bereits erwähnten Einrichtung von Stellen, welche sich speziell mit der Etablierung nachhaltiger Entwicklung an der Hochschule beschäftigen, sind auch in anderen Bereichen positive Entwicklungen zu verzeichnen. Hier zu nennen sind beispielsweise Hochschulmensen, welche ein veganes Essensangebot sowie Mehrwegverpackungen offerieren. Auch haben manche Hochschulmensen neue Spültechniken etabliert, welche sowohl Strom als auch Wasser und Reinigungsmittel sparen und dadurch in Summe große Mengen an CO2 einsparen. Des Weiteren sind auch außerhalb der Mensen Studierendenwerke um Nachhaltigkeit bemüht. So werden mancherorts die Wohnanlagen im Auftrag von Studienwerken saniert oder auf den Bezug von erneuerbaren Energien umgestellt.Es gilt zu erwähnen, dass sowohl die Gestaltung der Speisepläne als auch die Verwaltung von Gebäuden häufig nicht in der Hand der Hochschulen, sondern der Studierendenwerke liegt. Nicht alle Themen können also von den Hochschulen alleine entschieden und umgesetzt werden. Stattdessen benötigt es oftmals die Absprache mit Behörden und Stadtverwaltungen. Jedoch gibt es daneben einige Themen, bei welchen Hochschulen sehr schnell entscheiden und eine Umsetzung in Gang bringen können.Es gibt keine deutschlandweiten Nachhaltigkeitsstandards an Hochschulen, da dies den Bundesländern obliegt. Jedoch liegen Empfehlungen hierzu seitens der Hochschulrektorenkonferenz sowie der Kultusministerkonferenz vor, welche jedoch nicht bindend sind. Auch gibt es einen deutschen Nachhaltigkeitskodex für Hochschulen, dessen Umsetzung jedoch ebenfalls auf freiwilliger Basis basiert. Dieser umfasst 20 Kriterien. Bei Interesse kann man hier nähere Informationen erhalten:Empfehlung der Kultusministerkonferenz: https://www.kmk.org/themen/allgemeinbildende-schulen/weitere-unterrichtsinhalte-und-themen/bildung-fuer-nachhaltige-entwicklung.html Empfehlung der Hochschulrektorenkonferenz: https://www.hrk.de/fileadmin/redaktion/hrk/02-Dokumente/02-01-Beschluesse/HRK_MV_Empfehlung_Nachhaltigkeit_06112018.pdf Deutschen Nachhaltigkeitskodex für Hochschulen: https://www.deutscher-nachhaltigkeitskodex.de/media/nampl4zr/2018-05-15-hs-dnk.pdf Wenn Hochschulen sich mit der Etablierung eines nachhaltigen Konzeptes befassen, wird empfohlen, zunächst eine Emissionsbilanzierung zu veranlassen, um daraufhin nach geeigneten Strategien zu suchen. Auch empfiehlt es sich, dabei Kooperationen mit Hochschulen einzugehen, welche bereits nachhaltige Konzepte etabliert haben. Es liegt in der Verantwortung der Politik, den Hochschulen Gelder zur Umsetzung von Nachhaltigkeitskonzepten zu gewähren. Fazit: Die Themen Nachhaltigkeit und Umweltschutz werden an einigen Hochschulen präsenter - sowohl als Bildungsinhalt als auch im Betrieb der Einrichtung. Auch wenn diese vielerorts noch stark ausbaufähig sind, befinden sich die Hochschulen auf einem guten Weg. Um diesen weiter gehen zu können, sind sie auch auf die Unterstützung der Politik angewiesen.Das Video in voller Länge kann man hier einsehen: https://www.youtube.com/watch?v=PAPaax6edtk Quellen https://www.kmk.org/themen/allgemeinbildende-schulen/weitere-unterrichtsinhalte-und-themen/bildung-fuer-nachhaltige-entwicklung.html https://www.hrk.de/fileadmin/redaktion/hrk/02-Dokumente/02-01-Beschluesse/HRK_MV_Empfehlung_Nachhaltigkeit_06112018.pdf https://www.deutscher-nachhaltigkeitskodex.de/media/nampl4zr/2018-05-15-hs-dnk.pdf https://greenmetric.ui.ac.id/rankings/overall-rankings-2022
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Vor allem heute in Zeiten von Sozialen Medien und Internet sind Verschwörungstheorien omnipräsent (vgl. Stiftung Kloster Dallheim, 2020, S. 10). Besonders in der aktuellen Corona-Pandemie trifft man auf einige Verschwörungstheorien. "Fake News und Verschwörungserzählungen, darin waren sich Experten weltweit einig, haben sich direkt zu Beginn der COVID-19-Pandemie ähnlich rasant verbreitet wie das Virus selbst" (Nocun und Lamberty 2020, S. 253). Bislang existiert noch keine allgemein anerkannte Definition von Verschwörungstheorien. Man kann jedoch sagen, dass Vermutungen, an einer Sache könnte mehr dran sein als auf den ersten Blick zu erkennen, oder der Verdacht, dass nicht alles mit rechten Dingen zugeht, nicht zwangsläufig in einer Verschwörungstheorie enden (vgl. Hepfer 2015, S. 23).Im Allgemeinen sind Theorien vereinfachte Modelle der Wirklichkeit. Theorien bestehen aus einem System von Sätzen, die sich gegenseitig stützen und begründen. Das Ziel einer Theorie ist durch die Konzentration und die Verallgemeinerung auf Merkmale des zu erklärenden Phänomens, klare und logisch folgerichtige Antworten auf Fragen zu finden. Dies können zum einen sehr allgemeine Fragen, wie zum Beispiel nach den Eigenschaften und dem Verhalten unserer Natur sein, zum anderen aber auch ganz spezielle Fragen, wie etwa nach dem Zustandekommen eines bestimmten Ereignisses (vgl. Hepfer 2015, S. 23).Weil wir neugierig sind und zugleich Angst vor dem Unbekannten und dem Unverstandenen haben, werden Theorien aufgestellt. Theorien, die uns eine Antwort geben, erfüllen einen doppelten Zweck. Sie geben Erklärungen für das Fremde und Unbekannte, dadurch mindern sie einerseits unsere Angst und befriedigen andererseits unsere Neugier (vgl. Hefper 2015, S. 23). In dieser Hinsicht unterscheiden sich Verschwörungstheorien nicht beträchtlich von normalen Theorien, ob in der Wissenschaft oder im Alltag, denn auch sie haben das Ziel, uns die Angst vor dem Unbekannten zu nehmen. Allgemein treten Theorien mit dem Versprechen an, uns ein besseres Verständnis der Welt zu geben, und hierbei sind Verschwörungstheorien keine Ausnahme (vgl. Hepfer 2015, S. 24).Ein deutlicher Unterschied von Verschwörungstheorien und wissenschaftlichen Theorien ist durch die Asymmetrie bei der Berücksichtigung der Beweise für und wider zu erkennen. Hier weichen Verschwörungstheorien deutlich von normalen Theorien ab. Außerdem nehmen Verschwörungstheorien klare Wertungen vor, während wissenschaftliche Theorien die Anhaltspunkte, die sie bestätigen, und solche, die gegen sie sprechen, gleichberechtigt würdigen.Normale Theorien forschen weiter, wenn keine Belege für oder gegen ihre Behauptung zu finden sind, oder die Theorie wird aufgegeben und durch eine andere ersetzt. Bei Verschwörungstheorien sind jedoch fehlende Belege keineswegs ein Kriterium, um die gegenteilige Vermutung zu durchdenken (vgl. Hepfer, 2015 S. 31). Des Weiteren führen Verschwörungstheorien wichtige Ereignisse auf nur eine einzige entscheidende Ursache zurück. Hingegen zeigen normale Theorien eine Vielzahl von Faktoren für das Zustandekommen eines Ereignisses auf (vgl. Hepfer 2015, S. 37).Die inhaltliche Grundüberzeugung aller Verschwörungstheorien ist immer ausdrücklich die Behauptung einer Verschwörung. Es gibt zwei Merkmale von Verschwörungen. Das erste Merkmal ist, es sind immer mehrere Personen beteiligt. Das zweite Merkmal besagt, dass eine Verschwörung dadurch gekennzeichnet ist, dass Vorgänge im Geheimen ablaufen. Ferner geht man davon aus, dass eine Verschwörung auf eine böse Absicht zurückgeht. Selten spricht man von einer Verschwörung zum Guten, also zum Vorteil anderer (vgl. Hepfer 2015, S. 24).Zusammenfassend lässt sich eine Verschwörung als das geheime Zusammenwirken einer Gruppe definieren, deren Handeln und Absprachen darauf abzielen, Ereignisse zu ihrem eigenen Vorteil zu beeinflussen. Somit ist eine Verschwörungstheorie ein Versuch, ein bedeutendes Ereignis als Folge geheimer Absprachen und Aktionen aufzuzeigen und aufeinander zu verweisen (vgl. Hepfer 2015, S. 24).Im Folgenden wird aufgezeigt, warum Verschwörungstheorien nicht als wissenschaftliche Theorie bezeichnet werden können. "Wissenschaftliche Theorien sind Systeme begründeter Aussagen, die die Erklärung komplexer Phänomene zum Ziel haben und auf der Grundlage methodischer, d.h. zielgerichteter und planmäßiger Verfahren zustande kommen" (Götz-Votteler/Hespers 2019, S. 35).Folgende Aspekte zeichnet die wissenschaftliche Theoriefindung aus. Eine wissenschaftliche Arbeit fokussiert sich immer auf eine Fragestellung. Die Antwort der Fragestellung ist zu Beginn des Forschungsvorhabens jedoch ungewiss. Das Ergebnis einer unvoreingenommenen Forschung ist also eine Theorie, die sich aus der Beantwortung einer wissenschaftlichen Fragestellung ergibt.Um die formulierte Fragestellung beantworten zu können, wird eine Methode festgelegt, die der Fragestellung am ehesten entspricht. Hierbei stehen wissenschaftlichen Theorien folgende Verfahren zur Verfügung. Zum Beispiel Experimente, Beobachtungen oder Befragungen zur Sammlung von Daten, welche anschließend ausgewertet werden (vgl. Götz-Votteler/Hespers 2019, S. 35). Dabei wird das Vorgehen immer ganz genau dokumentiert, sodass es durch Andere nachvollziehbar und wiederholbar ist. Damit dies möglich ist, werden Beweise und Belege zugänglich gemacht.Auch Verfahren, die versuchen, die Fragestellung argumentativ zu beantworten, müssen ebenfalls transparent und für Andere nachvollziehbar sein. Außerdem werden sämtliche Prozesse kritisch reflektiert. Dies gilt zum einen für die Formulierung der Fragestellung, zum anderen für die Auswahl der Methode und für die daraus resultierende Theorie, die in sich widerspruchsfrei sein muss (vgl. Götz-Votteler/Hespers 2019, S. 35).Hingegen sind Verschwörungstheorien nicht das Ergebnis eines wissenschaftlichen Prozesses, denn meistens scheitern sie bereits an sehr elementaren Prinzipien der Theoriebildung. Sie bauen nicht auf einer unvoreingenommenen Fragestellung und einer daraus resultierenden Methodik auf, sondern sind das Ergebnis einer subjektiven Interpretation selektiver Wahrnehmungen (vgl. Götz-Votteler/Hespers 2019, S. 36).Gewöhnlich werden für die Aussagen, die eine Verschwörungstheorie liefert, keine belastbaren Beweise geliefert. Kommen dagegen Belege der Gegenseite, werden diese konsequent verworfen, oft mit dem Vorwurf, diese seien gefälscht worden (vgl. Götz-Votteler/Hespers 2019, S. 36)."Wenn sich andere die Mühe machen, nach Beweisen für die von Verschwörungstheoretikerinnen aufgestellten Behauptungen zu suchen und keine finden, führt das nicht etwa zu einer Revision der eigenen Theorie; die Ergebnisse der Untersuchungen werden gerne ignoriert oder als 'Fake News' diffamiert" (Götz-Votteler/Hespers 2019, S. 36).Daraus lässt sich schlussfolgern, dass letztendlich alles behauptet werden kann. Beweise spielen bei Verschwörungstheorien eine untergeordnete Rolle. Somit ist der Begriff der Verschwörungstheorie irreführend, da derartige gedankliche Konstrukte sich in ihrem Wesen fundamental von wissenschaftlichen Theorien unterscheiden (vgl. Götz-Votteler/Hespers 2019, S. 37).QuellenGötz-Votteler, Katrin / Hespers, Simone (2019): Alternative Wirklichkeiten? Wie Fake News und Verschwörungstheorien funktionieren und warum sie Aktualität haben, Bielefeld, transcript Verlag Hepfer, Karl (2015): Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft, Bielefeld, transcript VerlagNocun, Katharina/ Lamberty, Pia (2020): Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen, Köln, QUADRIGA VerlagStiftung Kloster Dalheim (Hrsg.): Verschwörungstheorien – früher und heute. Bonn, Ardey- Verlag GmbH, Münster, S. 10-13
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Dieser Beitrag stellt einige Erkenntnisse meiner Seminararbeit über den Wandel des französischen Parteiensystems vor. Über Jahrzehnte hinweg war das Parteiensystem der V. französischen Republik von einer starken bipolaren Rechts-Links-Logik geprägt. Das politische Spektrum ließ sich dabei in vier grobe Gruppierungen unterteilen: Linkssozialisten und Kommunisten (Linksfront), Sozialisten und Linksliberale (Parti socialiste), dann die gemäßigte Rechte um die rechtsliberalen und konservativen UDI und Les Républicains und schließlich der rechtspopulistische Rassemblement National (früher: Front National).Infolge des Mehrheitswahlrechts dominierten die zwei gemäßigten Großparteien des linken und rechten Lagers (PS und LR) die Institutionen. Kleinere Parteien konnten sich durch Bündnisse mit ihnen an der Macht beteiligen. Das Zentrum um die Partei MoDem spielte eine eher untergeordnete Rolle (vgl. Höhne 2015: 41; Kimmel 2017: 328; Ruß-Sattar & Jakob 2018: 5).Diese Grundstruktur in einem "semipräsidentiellen System", in dem das Staatsoberhaupt die Richtlinien der Politik bestimmt, sorgte nach relativer Instabilität in der IV. Republik für stabile Mehrheiten und regelmäßige Machtwechsel zwischen den beiden politischen Lagern. Ferner konnten durch das Wahlsystem extreme Kräfte erfolgreich in Schach gehalten werden. So sorgte auch das Erreichen der Stichwahl von Jean-Marie Le Pen (FN) im Jahr 2002 nicht dafür, dass die bipolare Struktur aufgebrochen wurde, da bei der nachfolgenden Parlamentswahl kein Kandidat der Rechtsextremen in die Nationalversammlung einzog. Man spricht hier auch von einer "republikanischen Front", die den Einfluss rechtsextremer Kräfte einhegt (vgl. Kimmel 2017: 329-33).Das Erdbeben 2017Wahlergebnisse nach https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4sidentschaftswahl_in_Frankreich_2017Diese Bipolarität wurde mit der Wahl Macrons im Jahre 2017 aufgebrochen, was einem politischen Erdbeben gleichkam (vgl. Martin 2017). Obwohl schon vorher andere Parteien versucht hatten, das politische Zentrum zu besetzen und mit der Rechts-Links-Logik zu brechen, war die Situation im Jahr 2017 nach Evans & Ivaldi (2018: 20) aus drei Gründen besonders günstig:Eine starke, radikale Wählerschaft (sowohl die linksextreme Partei LFi als auch der rechtspopulistische FN schnitten rekordverdächtig gut ab,eine glaubwürdige zentristische Alternative unter Macron, der auch davon profitierte, dass das politische Zentrum überhaupt erst frei wurde ("Da mit Fillon ein Vertreter der ausgesprochen konservativen Orientierung der Republikaner und mit Hamon ein Exponent des linken Flügels der sozialistischen Partei kandidierten, wurde die politische Mitte für Macrons Kandidatur frei", Kimmel 2017: 340),eine erhöhte Fragmentierung des Parteiensystems.Dem sind weitere Gründe hinzuzufügen:Ein mehr und mehr salonfähig gewordener Front National, der unter Marine Le Pen seit 2011 erfolgreich "entdämonisiert" wird,eine bemerkenswerte Unzufriedenheit mit den Kandidaten der "Regierungsparteien" (innerhalb der PS war man mit dem Kandidaten Hamon gar so unzufrieden, dass einige Wahlwerbung für Macron machten (vgl. Martin 2017: 251),ein immer stärker werdender Konflikt rund um das Thema Globalisierung, auf den ich nun etwas näher eingehen möchte.Dieser Konflikt wurde nämlich von den erfolgreichsten Parteien (LREM, RN, LFi) am deutlichsten integriert, während die "Regierungsparteien" sich hierzu gespalten zeigten. Während Macron die "Gewinner" der Globalisierung für sich gewinnen konnte, ein klares Ja zur europäischen Integration hat, kulturliberale Werte vertritt und sich durch eine liberale Wirtschaftspolitik auszeichnet (vgl. Algan et al. 2018: 2ff; Holzer 2018: 121; Kallinich 2020: 23f), attackieren Mélenchon (LFi) und Le Pen (RN) den gegenwärtigen Kurs von linker bzw. rechter Seite.Dies lässt sich an Le Pens hartem Kurs beim Thema Migration, ihrer Ablehnung des Multikulturalismus, einem starken EU-Skeptizismus bis hin zum lange Jahre angestrebten 'Frexit', einem großen Misstrauen ihrer Wähler gegenüber dem politischen System (vgl. Algan et al. 2018: 19.32; Durovic 2019: 1491f) und dem geforderten Wirtschaftsprotektionismus zeigen.Mélenchons Partei zeichnet sich durch ihren Euroskeptizismus, ihre globalisierungskritische Einstellung und das ebenfalls relativ starke Misstrauen ihrer Wähler gegenüber dem politischen System (vgl. Algan et al. 2018: 32) aus, gründet aber nicht in einer generellen Ablehnung der Globalisierung, sondern in ihrer neoliberalen Ausprägung (vgl. Martin 2017: 261-63).Weiter lässt sich festhalten, dass sich diese Konfliktlinie mitten durch die Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Parteien zieht (vgl. Grillmayer 2017: 211). Auf linker und rechter Seite lassen sich jeweils Befürworter und Ablehner der Globalisierung in ihrer gegenwärtigen Ausprägung ausmachen. Die klassischen Volksparteien weisen bei diesem Konflikt also Elemente beider Pole auf.Dies lässt folgende Schlussfolgerung zu: Die neue Konfliktlinie rund um die Globalisierung (Offenheit vs. Geschlossenheit) verläuft entgegen der Rechts-Links-Logik und trennt nicht das linke vom rechten Lager, sondern die Mitte von den Extremen (vgl. Pütz 2017: 206-08). Auf Seite der Rechtspopulisten liegt die Vermutung nahe, dass die Probleme der Globalisierung durch den Rückzug ins Nationale gelöst werden sollen, auf Seite der Linksextremen hingegen durch eine Demokratisierung und Neuordnung der Institutionen jenseits einer neoliberalen Grundordnung (vgl. Martin 2017: 257-63). Die folgende Grafik (eigene Darstellung) macht diese Entwicklung deutlich:Die Präsidentschaftwahl 2022 konnte diese Entwicklung eindrucksvoll bestätigen: Wahlergebnisse nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4sidentschaftswahl_in_Frankreich_2022 RN und LFi konnten ihre Ergebnisse sogar weiter verbessern, während die traditionellen Regierungsparteien in der Bedeutungslosigkeit versunken sind. Die große Frage, die sich damit für die Präsidentschaftswahl 2027 stellt, lautet: Was wird passieren, wenn mit Macron die einzige Alternative des politischen Zentrums wegfällt, da er dann bereits zwei Legislaturperioden im Amt war? Eine rechtspopulistische Regierung unter Marine Le Pen scheint realistischer denn je - die republikanische Front in Frankreich wackelt erheblich. Die Folgen für Deutschland und die EU wären gravierend...LiteraturAlgan et al. (2018): The rise of populism and the collapse of the left-right paradigm: Lessons from the 2017 French presidential election. In: Cepremap Working Papers (Docweb) 1805.Durovic, Anja (2019): The French elections of 2017: shaking the disease? In: West European Politics. Volume 42,7. S. 1487-1503.Evans, Jocelyn & Ivaldi, Gilles (2018): The 2017 French Presidential Elections.: A Political Reformation?. Palgrave; Springer International Publishing, 2018, 978-3-319-68326-3.10.1007/978-3-319-68327-0.halshs-01697559.Grillmayer, Dominik (2017): Das Wahljahr 2017. In: Bürger & Staat. Frankreich. Heft 4-2017, 67. Jahrgang. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Ulm:Süddeutsche Verlagsgesellschaft. S. 210-15.Holzer, Birgit (2018): Understanding the Macron Phenomenon - The Causes and Consequences of an Unprecedented Political Rise. In: Echle, Christian et al. (Hg.): Panorama. Insights into Asian and European Affairs. Singapore: Konrad-Adenauer- Stiftung. S. 113-22.Höhne, Roland (2015): Parteiensystem im Umbruch. In: Rill, Richard (Hg.): Frankreich im Umbruch. Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen, 100. München: Hanns Seidel Stiftung; Akademie für Politik und Zeitgeschehen. S. 41-48.Kallinich, Daniela (2020): Zwischen Polarisierung und Moderation. Frankreichs Präsident Macon und sein Dritter Weg auf dem Prüfstand. Brüssel: Friedrich-Naumann-Stiftung.Kimmel, Adolf (2017): Die französischen Wahlen 2017 und die Entwicklung desParteiensystems. In: Zeitschrift für Politik. Vol. 64, No. 3. Baden-Baden: NomosVerlag. S. 328-49.Martin, Pierre (2017): Un séisme politique. L'élection présidentielle de 2017. Commentaire 158: 249–264.Pütz, Christine (2017): Frankreichs Parteiensystem im Wandel. In: Bürger & Staat. Frankreich. Heft 4-2017, 67. Jahrgang. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Ulm: Süddeutsche Verlagsgesellschaft. S. 204-09.Ruß-Sattar, S., & Jakob, S. (2018): Unruhe im System: seit Macrons Wahl wandelt sich die französische Parteienlandschaft. (DGAP-Analyse, 2). Berlin: Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V.. Online verfügbar unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-58156-7. Abgerufen am: 24.02.22.
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Bild: Artem PodrezZwischen dem 4. und 9. August wählten die Belarus*innen im Rahmen der Präsidentschaftswahlen ihr Staatsoberhaupt. Laut amtlichem Endergebnis konnte Amtsinhaber Aljaksandr Lukaschenka über 80 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Seine stärkste Kontrahentin, die Oppositionskandidatin Swjatlana Zichanouskaja, kam hingegen lediglich auf rund 10 Prozent. Bereits in der Wahlnacht nach der Verkündung des vorläufigen Wahlergebnisses kam es in zahlreichen belarusischen Städten zu Massenprotesten, die bis heute anhalten und auf die die belarusische Regierung vornehmlich mit Festnahmen und Gewalt in Form von Prügeln, Folter bis hin zur Verwendung scharfer Munition reagierte. Die Demonstrant*innen sind davon überzeugt, dass die Wahlen gefälscht worden sind. Die hierauf hinweisenden Indizien haben auch die Mitgliedstaaten der EU überzeugt, die am 19. August erklärten, das Wahlergebnis nicht anzuerkennen.Der Beitrag konzentriert sich auf den polnischen Blick auf Belarus und befasst sich dabei vor allem mit zwei Aspekten. Erstens mit der Bedeutung von Belarus für Polen und Unterstützungsinitiativen für die belarusische Opposition. Zweitens mit den Bestrebungen der polnischen Regierung, sich als Anwältin belarusischer Interessen innerhalb der EU zu profilieren.Polens Solidarität mit BelarusSeit dem ersten Tag nach der Wahl, dem 10. August, beherrschen die Geschehnisse in Belarus die Berichterstattung der polnischen Medien. Die Ereignisse im Nachbarland sind zweifelsohne das außenpolitische Topthema. Ein demokratischer unabhängiger belarusischer Staat liegt im polnischen Interesse. Daher sendete die polnische Regierung auch früh Signale, dass sie die Wahl Lukaschenkas nicht anerkenne und die Oppositionskräfte um Zichanouskaja unterstütze. In seinen Verlautbarungen hat Lukaschenka Polen auch bald als einen der zentralen Widersacher ausgemacht, der angeblich aus dem Ausland die Proteste in Belarus initiiert und finanziert habe. Und wenngleich dieses rhetorische Propagandamanöver leicht durchschaubar ist und offensichtlich jeglicher Grundlage entbehrt, so dürfte es für die Zukunft der polnisch-belarussischen Beziehungen nicht folgenlos bleiben. Bliebe Lukaschenko langfristig weiterhin im Amt, ist eine Fortführung der bisherigen diplomatischen Beziehungen zwischen Polen und Belarus kaum vorstellbar.Gleichzeitig stößt die Unterstützung der prodemokratischen Kräfte im Nachbarland durchaus auf Zustimmung innerhalb der polnischen Bevölkerung. Laut einer Umfrage im Auftrag der Tageszeitung Rzeczpospolita sind 45,6 Prozent der Befragten für eine solche Unterstützung. 18,9 Prozent sprechen sich dagegen aus, während 35,5 Prozent keine Meinung zu dem Thema haben. Und so dauerte es nur wenige Tage, bis die polnische Regierung einen konkreten Plan zur Unterstützung der belarusischen Zivilgesellschaft vorlegte. In seiner Rede vor dem Sejm am 14. August präsentierte der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki den Plan "Solidarisch mit Belarus" (Soldarni z Białorusią). Polen sei "die Wiege der Solidarność", so Morawiecki, "und heute erlaubt es uns die Solidarität nicht tatenlos dazustehen gegenüber den brutalen Pazifikationen der friedlichen Demonstrationen in Belarus." Im laufenden Jahr sollen laut dem Plan, der ein finanzielles Volumen von umgerechnet über 11 Mio. Euro aufweist, insgesamt fünf Ziele verwirklicht werden:Unterstützung für unterdrückte Personen in Form eines Ausbaus des polnischen bzw. polnisch-amerikanischen Hilfsprogramms Auflegung des Wincenty-Konstanty-Kalinowski-Stipendienprogramms, das sich an belarusische Studierende und Lehrkräfte wendet, die im Rahmen der Repressionen der Hochschule verwiesen worden sind. Das Stipendienprogramm gibt diesen Personen die Möglichkeit zum Studium bzw. der Arbeitsaufnahme in Polen. Erleichterungen bei der Einreise nach Polen und dem Zugang zum polnischen Arbeitsmarkt für Belarus*innen; Befreiung von Visumsgebühren sowie, in Ausnahmefällen, Befreiung von der Pflicht des Besitzes entsprechender Dokumente, Erleichterungen im Zugang zum Arbeitsmarkt Hilfe für unabhängige Medien; die Unterstützung richtet sich an unabhängige Medien und Verleger*innen in und für Belarus (Belsat TV, die Webseite von Charta 97, Radio Racja) Programm für Nichtregierungsorganisationen; im Rahmen der Stiftung für Internationale Solidarität wird ein neues Programm für NGOs aufgelegt, mit dessen Hilfe die belarusische Zivilgesellschaft und unabhängige belarusische Medien unterstützt werden sollen Daneben gibt es Unterstützungsinitiativen von weiteren Akteuren in Polen. So hat beispielsweise das staatliche Pilecki-Institut (dessen Arbeit sich gewöhnlich dem Gedenken an Personen widmet, die besondere Verdienste gegenüber der polnischen Nation erworben haben) gemeinsam mit Belsat TV und der Stiftung Solidarity Zone ein kleines Stipendienprogramm für Journalist*innen, Blogger*innen und Publizist*innen aus Belarus aufgelegt. Insgesamt 8 Stipendiat*innen werden über 5 Monate mit 600 US-Dollar pro Monat gefördert. Ein weiteres Beispiel ist die Adam-Mickiewicz-Universität in Posen. Diese bietet belarusischen Studierenden, die im Rahmen der Repressionen in Belarus von der Hochschule verwiesen worden sind, die Möglichkeit eines gebührenfreien Studiums.Ein Konsens über Parteigrenzen hinwegAm gestrigen Mittwoch (26.8.2020) lud Premierminister Mateusz Morawiecki die Vertreter der Parlamentsfraktionen zu einem Gespräch über die Situation in Belarus ein. Nach den feindseligen Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition in den vergangenen Jahren ist dieser Schritt durchaus bemerkenswert. Von der Linken über die Bürgerkoalition und die PSL-Kukiz 15-Fraktion bis hin zur rechten Konfederacja besteht demnach weitgehendes Einvernehmen, was die Unterstützung der geplanten Hilfsmaßnahmen der polnischen Regierung für die belarusische Opposition angeht. Die Lage im Nachbarland dürfte eines der wenigen Themen sein, bei denen zwischen den politischen Parteien größtenteils Einigkeit herrscht. Dementsprechend lesen sich die ersten Verlautbarungen der Sitzungsteilnehmer. Die überparteiliche Einigkeit der polnischen Politik in Bezug auf Belarus unterstrich auch Premier Morawiecki: "Ohne Ausnahme sagten alle, dass der höchste Wert die Souveränität, Unabhängigkeit, Eigenständigkeit und Freiheit von Belarus ist." Der Premier lobte den Konsens über alle Parteigrenzen hinweg und kündigte weitere Treffen unter der Teilnahme von Politikern aus der Opposition im Rhythmus von zwei bis drei Wochen an. Zudem werde innerhalb der nächsten Tage ein konkreter Zeitplan zu den Unterstützungsmaßnahmen der polnischen Regierung für Belarus erstellt, so Morawiecki.Folgt man den Aussagen der Teilnehmer des Treffens, dann sehen Regierung wie auch Opposition die gegenwärtige Lage in Belarus nicht zuletzt als Chance für Polen, seine Führungs- und Expertenrolle in Sachen europäischer Ostpolitik zurückzuerlangen und sich innerhalb der EU als Anwalt eines freien demokratischen Belarus zu profilieren. Demnach obliege es Polen, die EU und ihre Mitgliedstaaten dahin zu bewegen, in Bezug auf Belarus mit einer Stimme zu sprechen, andernfalls werde der belarusischen Sache in Europa kein Erfolg beschieden sein. Gleichzeitig fehlte es trotz aller Unterstützung für die Maßnahmen der polnischen Regierung auch nicht an kritischen Stimmen. So gab der Europaabgeordnete und Vertreter der polnischen Linken, Robert Biedroń, zu bedenken, dass sich Polen international in den vergangenen Jahren "unglaubwürdig" gemacht habe. Dieser seit 2015 erlittene Reputationsverlust als außen- und europapolitischer Akteur könnte der polnischen Regierung bei der Umsetzung ihrer Belarus-Politik im Wege stehen.Polen hat großes Interesse an der Situation in Belarus, und dies gleich aus mehreren Gründen. Erstens ist das Land ein direkter Nachbar. Zweitens gibt es in Polen über 40.000 Angehörige der autochthonen belarusischen Minderheit sowie eine ähnlich hohe Zahl von Arbeitsmigrant*innen. Drittens leben in Belarus mehrere hunderttausend Angehörige der polnischen Minderheit. Aber es ist für Polen derzeit nicht einfach, sich außenpolitisch Gehör zu verschaffen. Sicher, der EU-Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs zur Situation in Belarus am 19. August geht nicht zuletzt auf Polens Initiative zurück. Gleichzeitig macht es derzeit nicht den Anschein, als ob Polen eine führende Rolle in der EU-Politik gegenüber Belarus spielen würde. Dies war 2014 im Anfangsstadium der Krise in der Ukraine noch anders. Hier konnte der damalige Außenminister Radosław Sikorski mit seinem Standing bei den Amtskollegen in Frankreich und Deutschland punkten, Polens Expertise war gefragt. 2020 stellt sich die Situation anders dar. Polen hat sich innerhalb der EU weitestgehend isoliert. Politischen Forderungen aus Warschau nach Einhaltung der Menschen- und Bürgerrechte sowie der Pressefreiheit in Belarus wird in anderen EU-Staaten mit Skepsis begegnet. War es schließlich nicht die Regierung in Warschau, die das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Polen zu einem Sprachrohr der eigenen Politik umfunktionierte, und Präsident Duda mit einer unkritischen Jubelberichterstattung willfährig Wahlkampfhilfe leistete? War es nicht die polnische Polizei, die zuletzt mit übertriebener Härte gegen Protestierende vorging, die gegen die Verhaftung der LGBT-Aktivistin Margot demonstrierten, und sie ohne Zugang zu rechtlichem Beistand in Gewahrsam hielt? Die Rolle, die Polen einst im Rahmen der europäischen Ostpolitik innehatte, hat zahlreichen polnischen Experten zufolge mittlerweile Litauen eingenommen. Linas Linkevičius, der Außenminister des baltischen Staates, schickt sich derweil an, zum "Architekten der EU-Politik gegenüber Belarus" (Bartosz T. Wieliński) zu werden.Das außenpolitische Resort spielt in der aktuellen polnischen Regierung eine untergeordnete Rolle. Setzte man zunächst in Person von Witold Waszczykowski zunächst auf einen Konfrontationskurs mit den Institutionen der EU sowie Mitgliedstaaten wie Deutschland und Frankreich, so unterlag die Außenpolitik in der Folge einer zunehmenden Marginalisierung. Waszczykowskis Nachfolger Jacek Czaputowicz zeigte sich zwar als gemäßigt Konservativer wesentlich umgänglicher als sein Amtsvorgänger, als politischer Quereinsteiger verfügte der Hochschulprofessor gleich wohl nicht über die notwendige politische Hausmacht, um eine eigene außenpolitische Agenda innerhalb der Regierung durchzusetzen. Und auch von Zbigniew Rau, der am gestrigen Mittwoch als neuer Außenminister vereidigt wurde, ist dies nicht zu erwarten. Eine zusammenhänge außenpolitische Strategie gegenüber Belarus, noch dazu koordiniert mit der Außenpolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten, ist unter den gegenwärtigen Bedingungen kaum wahrscheinlich.
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Die rechtspopulistische Partei Perussuomalaiset (PS) (dt.: Finnen-Partei), auch bekannt als die Finnen (die kursive Schreibweise weist auf die Partei hin, in Abgrenzung zu finnischen Bürger:innen), weist einige Besonderheiten im Gegensatz zu anderen europäischen rechtspopulistischen Parteien auf, die sich teils aus Besonderheiten von Finnland ergeben.Zum Beispiel spielt das Thema Migration – obwohl die Finnen dieses Thema durchaus bedienen – in Finnland eine eher untergeordnete Rolle (vgl. Wilde-Krell & Adorf 2022, S. 288 f.). Auch zeigt sich in der Regierungsbeteiligung die Besonderheit, dass die Finnen nicht erst die nötige Reputation dafür aufbauen mussten, im Gegensatz zu einigen anderen rechtspopulistischen Parteien.Dieser Umstand ist in der Tatsache begründet, dass die Finnen eine Nachfolgerpartei der Suomen maaseudun puolue (SMP) darstellt, welche als populistische Partei bereits Regierungserfahrung sammeln konnte (vgl. Wilde-Krell & Adorf 2022, S. 279). Die Finnen besitzen also eine lange Parteiengeschichte, welche auch dazu führt, dass die Partei nach Cas Muddes Kategorisierung in "extreme right" und "radical right" von Lahti und Palonen als "radical right" Partei gesehen wird, wobei "extreme right" Parteien als demokratiefeindlich gelten, während die "radical right" Parteien im Rahmen der Demokratie operieren (vgl. Lahti & Palonen 2023, S. 128).Eine weitere Besonderheit der Finnen wird nachfolgend in den Fokus genommen: ihre Russland-kritische Haltung. Viele rechtspopulistische Parteien in Europa fallen immer wieder durch ihre Nähe zu Russland bzw. Putin auf. Eine Nähe, die selbst nach dem russischen Überfall auf die Ukraine und dem daraus resultierenden Krieg häufig bestehen bleibt.So beispielsweise die deutsche AfD, die diese Nähe aufrechterhält (vgl. Ntv 2023). Zwar ist die AfD auch in dieser Hinsicht gespalten und parteiintern gibt es genauso Stimmen gegen diese Russlandnähe, es ist jedoch auffällig, dass wichtige Parteimitglieder wie der Vorsitzende Tino Chrupalla immer wieder mit einer Pro-Russland Haltung auffallen.Zudem zeichnet sich ein ähnliches Bild ab wie bei anderen Streitfragen der AfD: die Gemäßigteren, die die radikalen Meinungen anderer Parteimitglieder ablehnen, sind diejenigen, die die Partei verlassen (vgl. Schmidt 2022). Die AfD stellt hierbei nur ein Beispiel dar für eine europäische rechtspopulistische Partei, die – vereinfacht auf die beiden Konfliktparteien aus dem Kalten Krieg bezogen – einen USA-kritischen und Russland-freundlichen Ton anschlägt.Die USA, sinnbildlich für den liberalen Westen mit seinen vermeintlich linken Ideologien, welche durch die Rechtspopulisten abgelehnt werden (LGBTQI+ Bewegung, Klimaproteste, etc.), Russland bzw. Putin sinnbildlich für Autorität, Stärke, Nationalismus. Entgegen diesem Bild stehen die finnischen Rechtspopulisten der PS.Hierbei ist erwähnenswert, dass Finnland nicht frei von Populisten mit Nähe zu Russland ist. Die finnische Partei Liike Nyt ist stark geprägt von wirtschaftlichen Eliten mit Nähe zu russischen Oligarchen, welche jedoch seit Beginn des Krieges abgestritten wird (vgl. Lahti & Palonen 2023, S. 129).Die Finnen hingegen waren nie pro-russisch eingestellt, wofür es vielseitige Erklärungsansätze gibt. Einerseits kann hierbei das historische Erbe erwähnt werden. Lahti und Palonen sehen die Möglichkeit einer starken Solidarisierung mit der Ukraine auf Basis der finnischen Geschichte. Finnland wehrte im Winterkrieg 1939-1940 mit vergleichsweise geringer militärischer Stärke das militärisch starke Russland ab.Russland ist somit in der finnischen Geschichte ein Kriegsgegner gewesen, zudem stellt sich möglicherweise für manche finnische Bürger:innen die Situation in der Ukraine ähnlich dar: die militärisch unterlegene Ukraine, welche von Russland angegriffen wird und bisher erfolgreich Widerstand leistet.Ein weiterer wichtiger Faktor stellt der bis 2021 Vorsitzende der Partei, Jussi Halla-aho, dar. Halla-aho kann keineswegs als gemäßigter Konservativer bezeichnet werden, viel Kritik begleitet seine politische Biografie sowie seine ideologischen Positionen, immerhin wurde Halla-aho bereits wegen Volksverhetzung verurteilt und fällt immer wieder mit extremistischen Aussagen gegen Bevölkerungsgruppen, beispielsweise muslimische Bürger:innen, auf. Auch gilt er nicht als EU-freundlich, immerhin forderte er den "Fixit", also den Austritt Finnlands aus der EU (vgl. Wolff 2017).Ein Punkt in Halla-ahos Biografie beleuchtet allerdings, weshalb er dennoch pro-ukrainisch eingestellt ist: Halla-aho studierte Slawistik und setzte sich im Rahmen des Studiums schon früh mit der Geschichte slawischer Länder auseinander, so auch mit der Geschichte der Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Es scheint logisch, dass Halla-aho eine große Gefahr in der Ausbreitung der russischen Grenzen für das eigene, an Russland grenzende Land sieht. Als überzeugter Nationalist ist es daher kaum verwunderlich, dass er für finnische Interessen einen Eingriff zugunsten der Ukraine als nötig betrachtet, wofür er sich auch mehrfach stark gemacht hat (vgl. Lahti & Palonen 2023, S. 131 f.). Dass die pro-ukrainische Haltung der Finnen nicht nur ein politisches Manöver darstellt, um Stimmen zu generieren, sondern auf Überzeugung basiert, zeigt auch der Wechsel der Fraktion im EU-Parlament. Während die Finnen – Vertreten durch zwei Abgeordnete – vor dem Krieg in der Ukraine der rechtspopulistisch bis -extremistischen Fraktion Identität und Demokratie (ID) angehörten, welche viele weitere rechtspopulistische bis -extremistische Parteien unter sich vereint wie z.B. Rassemblement National, Lega, Alternative für Deutschland, Vlaams Belang uvm., schloss sie sich als Reaktion auf den Krieg der Fraktion Europäische Konservative und Reformer (EKR) an (vgl. Camut 2023).Die EKR vereint ebenfalls einige rechtspopulistische Akteure unter sich, wie z.B. Vox oder die Alternative für Deutschland, bevor sie in die ID-Fraktion eintrat. Die Finnen kommentierten, sie hätten sich einer Gruppe angeschlossen, "whose member parties are united by the uncompromising defense of Western civilization and the European security policy architecture" (Camut 2023). Ihre anti-russische Haltung zum Schutze Europas bzw. Finnlands sahen sie folglich in der vorigen Fraktion nicht mehr für möglich.Eine weitere schwerwiegende Entscheidung und Veränderung in der Haltung der Finnen war der Eintritt Finnlands in die NATO. Während die finnische Bevölkerung, die ein Selbstverständnis von Neutralität in Bezug auf den Kalten Krieg hatte und bis heute hat, nach der Annexion der Krim durch Russland nach wie vor gegen einen NATO-Beitritt war, änderte der russische Angriff auf die Ukraine 2022 diese Haltung. 2014 nach der Annexion der Krim stimmten nur 26% für einen Beitritt Finnlands zur NATO. Im März 2022 waren es 48%, die dafür stimmten, im Juni 2022 waren es 79% (vgl. Lathi & Palonen 2023, S. 129). Infolge dieser Veränderung kam es 2023 zum Beitritt in das NATO-Bündnis (vgl. ZDFheute 2023), wobei auch die Finnen hinter diesem Beitritt stehen. Die Haltung der Finnen unterscheidet sich also in Bezug auf Russland von anderen europäischen rechtspopulistischen Parteien. In Umfragen ist kein maßgeblicher Unterschied merkbar, seit die Finnen sich auf die Seite der Ukraine gestellt haben, was vermuten lässt, dass dieser Faktor keinen allzu großen Stellenwert in der Wählerschaft hat oder die bisherige Wählerschaft diesen Standpunkt teilt.Dennoch ist diese Besonderheit einer europäischen rechtspopulistischen Partei nicht unbedeutend, insbesondere mit Blick auf mögliche Entwicklungen. Die Entscheidung zum NATO-Beitritt könnte Spannungen einerseits zwischen den Finnen und anderen rechten Randparteien, andererseits aber auch zwischen verschiedenen Lagern innerhalb der Partei auslösen. Mit der Frage beispielsweise nach der Neutralität Finnlands, die mit dem NATO-Beitritt nicht mehr vorhanden ist, könnte vor allem von NATO-kritischen Parteien der Versuch unternommen werden, Wähler:innen zu mobilisieren oder von den Finnen abzuwerben.Auch die Tatsache, dass die Finnen nicht mehr aktiv die "Fixit"-Kampagne verfolgen – wobei unklar ist, ob die Kampagne wieder aktiviert wird – könnte einerseits das Feld für andere rechtspopulistische Parteien öffnen, andererseits aber auch die Finnen für eine breitere Wählerschaft öffnen (vgl. Lathi & Palonen 2023, S. 134 f.). Ob und - wenn ja - wie sich die Partei und die Zustimmung im Volk verändern wird aufgrund dieser Entwicklungen, bleibt abzuwarten. Mit der Unterstützung der Ukraine, der Ablehnung von Russland und der Zustimmung zum NATO-Beitritt haben die Finnen in den letzten zwei Jahren jedoch auf jeden Fall besondere Positionen eingenommen, verglichen mit anderen europäischen rechtspopulistischen Parteien. Quellen:Camut, Nicolas (2023): Far-right Finns Party moves to ECR group in EU Parliament. In: POLITICO, 05. 04.2023. Online verfügbar unter https://www.politico.eu/article/far-right-finns-party-ecr-european-conservatives-and-reformists-group-parliament/ ,zuletzt geprüft am 14.01.2024.Lahti, Yannick/Palonen, Emilia (2023): The impact of the Russia–Ukraine war on right-wing populism in Finland; in: Ivaldi, Gilles/Zankina, Emilia (Hrsg.) (2023): The Impacts of the Russian Invasion of Ukraine on Right-wing Populism in Europe. European Center for Populism Studies (ECPS). Brussels.Ntv (2023): Bensmann zur AfD und Russland: "Die machen das aus Überzeugung". In: n-tv NACHRICHTEN, 10.01.2023. Online verfügbar unter https://www.n-tv.de/politik/Die-machen-das-aus-Uberzeugung-article24434349.html , zuletzt geprüft am 14.01.2024.Schmidt, Martin (2022): Ukraine-Krieg: Wie hält es die AfD mit Russland? In: tagesschau.de, 30.03.2022. Online verfügbar unter https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/afd-russland-115.html , zuletzt geprüft am 14.01.2024.Wilde-Krell, Anna-Lena/Adorf, Philipp (2022): Die Finnen - Auf dem Weg zum konventionellen Rechtspopulismus?; in: Decker, Frank (Hrsg.) (2022): Aufstand der Außenseiter. Die Herausforderung der europäischen Politik durch den neuen Populismus, Nomos.Wolff, Reinhard (2017): Ein neuer Chef bei den Wahren Finnen: "Der größte Rassist des Landes". Online verfügbar unter https://taz.de/Ein-neuer-Chef-bei-den-Wahren-Finnen/!5416271/ ,zuletzt geprüft am 14.01.2024.ZDFheute (2023): Finnland ist Nato-Mitglied - was das bedeutet. In: ZDFheute, 04.04.2023. Online verfügbar unter https://www.zdf.de/nachrichten/politik/nato-beitritt-finnland-bedeutung-ukraine-krieg-russland-100.html , zuletzt geprüft am 14.01.2024.
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100-Milliardenfonds und Bildungsgipfel: Die Initiatoren von "Bildungswende JETZT" planen für den geforderten Neuanfang des Bildungssystems die Bundesregierung in einer tragenden Rolle ein. Warum das eine Fehleinschätzung sein dürfte.
Ausschnitt aus dem Appell "Bildungswende JETZT".
VIELES VON DEM, was die schon am Donnerstag über 90 Bildungsorganisationen, Gewerkschaften, Vertretungen und Initiativen in ihrem Appell "Bildungswende JETZT" geschrieben haben, kann man nur unterstützen. Geschickt am Weltkindertag platziert, hat er die mediale Aufmerksamkeit erhalten, die ihm zusteht. Dabei kann man durchaus geteilter Meinung sein, ob Formulierungen wie "eine der schwersten Bildungskrisen seit Gründung der Bundesrepublik" erstens historisch zutreffen und zweitens die zuständigen Politiker eher zum Handeln als in eine Abwehrhaltung hinein treiben.
Die Aufzählung der Problemlagen in dem dreiseitigen Aufruf aber beschreibt in jedem Fall die Realität: von den hunderttausenden fehlenden Kitaplätzen, Erziehern und Lehrkräften über den wachsenden Teil von Schülern, die nur schlecht lesen, schreiben und rechnen können, bis hin zu 50.000, die jedes Jahr die Schulen ohne Abschluss verlassen. Auch die Kennzeichnung unseres Bildungssystems als veraltet, segregiert und sozial ungerecht trifft – leider – vielerorts den Kern. Wie, fragen die Unterzeichner zu Recht, soll ein solches System die jungen Generationen auf die Umwälzungen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereiten?
Wo sich bei mir ernsthafte Zweifel meldeten, waren indes diejenigen Passagen des Bildungsappells, in denen die Unterzeichner dem Bund eine wichtige Rolle bei der Krisenrettung zugestehen.
Ja, es ist populär derzeit, auf den Bund zu setzen. Etwa durch das in Forderung 1 enthaltene Plädoyer für ein Sondervermögen für Bildung in Höhe von 100 Milliarden Euro für Kitas und Schulen, das schließlich auch die Bundeswehr erhalten hat. Da die Länder sich gar nicht so verschulden könnten, müsste das ja vom Bund kommen. Träumen von vielen Extra-Bundesbildungsmilliarden sollte man sogar, auch ich habe es zu Ostern getan.
Aber dann muss man sich wieder den Realitäten stellen, zu denen gehört, dass sich die Ampel schon für eine einzige zusätzliche Bildungsmilliarde jährlich rühmt, deren Auszahlung noch nicht einmal geplant wurde bislang. Wem in Hinblick auf die nötige Bildungswende insofern als erstes ein bundespolitischer Finanz-Großakt einfällt, leistet zwar einen ansehnlichen Beitrag zur Debattengalerie – könnte aber beim Warten auf den Bund die Chance zum Aufbruch verpassen.
Das Gleiche gilt für die Forderung 4 nach einem "echten Bildungsgipfel", einberufen vom Bundeskanzler "in Absprache mit den Regierungschef*innen der Länder" und unter Einbeziehung von "Zivilgesellschaft und Bildungspraxis" (interessanterweise wird die im Papier für ihre "dysfunktionalen Vorschläge" gescholtene Bildungsforschung hier ausgespart). Abgesehen davon, dass an anderer Stelle zu Recht darauf hingewiesen wird, dass ein wesentliches Ziel des letzten echten (Dresdner) Bildungsgipfels von 2008 noch immer nicht erreicht wurde, kann man eine auch nur teilweise konzeptionelle Neusortierung des Bildungssystems von einem solchen Format nicht erwarten. So, wie der Bund die 100 Milliarden nicht springen lassen wird, werden die Länder sich nicht per Gipfel und unter Zutun des Bundes ihre Macht in der Kultuspolitik einhegen lassen. Weil sie hieraus ganz wesentlich ihre Daseinsberechtigung herleiten.
Den Bildungsföderalismus als unkaputtbar anerkennen und trotzdem an den Wandel glauben
Wer will, kann dem Autor dieser Zeilen angesichts solcher Einwände Ambitions- oder Fantasielosigkeit vorwerfen. Ich behaupte, es ist genau umgekehrt: Anzuerkennen, dass der Bildungsföderalismus in all seiner täglich erlebten Unzulänglichkeit realpolitisch gesehen unkaputtbar ist. Und trotzdem an den Wandel zu glauben, wie er in den Appell-Forderungen 2 ("Ausbildungsoffensive für Lehrer*innen und Erzieher*innen") und 3 ("Schule zukunftsfähig und inklusiv machen") ausbuchstabiert wird, das ist gedanklich anspruchsvoll. Das erfordert Mut, weil eine solche Argumentation das Heil in den Ländern und damit zwangsläufig ausgerechnet in jener Kultusministerkonferenz (KMK) sehen muss, die vielen oft als so heillos erscheint.
Mir selbst ja auch – wie oft habe ich meine gelegentlich an einen Föderalismus-Abgesang grenzenden Zweifel auch hier im Blog formuliert. So scheint denn auch in dem unter anderem von Lehrergewerkschaften unterstützten Aufruf vor allem eine tiefe Enttäuschung mit den Kultusministern durch – etwa an deren Entscheidung, mancherorts mit Mehrarbeit (wie von der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission empfohlen) begegnen zu wollen. In dessen rigoroser Ablehnung durch die Unterzeichner könnte man übrigens, das nur nebenbei gesagt, einen logischen Bruch zu ihrer Warnung vor einer der schwersten Bildungskrisen in der Geschichte vermuten – die dann ja wohl angesichts der dramatischen Lehrkräfte-Not auch für alle Beteiligten unbequeme Maßnahmen rechtfertigen sollte.
Egal, ich bin jedenfalls davon überzeugt: Nur die Länder müssen und nur die Länder können es richten, angefangen mit den Finanzen. Sie sind für zwei Drittel der staatlichen Bildungs- und Wissenschaftsausgaben verantwortlich. Womit der Hebel für mehr – etwa dauerhaft zehn Prozent der Wirtschaftsleistung für Bildung und Forschung, siehe Forderung 1 – ebenfalls vor allem bei ihnen liegt. Umso stärker, da sich die Verteilung des Steueraufkommens in den vergangenen Jahren derart zu ihren Gunsten gewandelt hat, dass sie als Gemeinschaft (nicht zwangsläufig jedes Land einzeln) haushaltspolitisch besser dastehen als der Bund.
Woraus folgt: Die Bundesregierung kann und soll Akzente und Impulse für neue Entwicklungen in der Bildung setzen (Beispiel: Startchancen-Programm, um vom Gießkannen-Prinzip in der Schulfinanzierung wegzukommen), aber das Bildungssystem als Ganzes entwickeln können nur die Länder. Weil sie die Zuständigkeit und auch das Geld haben. Am Ende lautet sogar die Frage, ob der – durch den Ampel-Koalitionsvertrag genährte und auch von uns Journalisten oft ausgeübte – Erwartungsdruck dem Bund gegenüber nicht sogar kontraproduktiv wirkt, weil er die Länder aus dem Scheinwerferlicht entfernt.
Die Unfähigkeit der Kultusministerkonferenz ist kein Naturgesetz
Die Länder können und müssen es richten, und das geht nur über die Reform ihrer Zusammenarbeit in der Kultusministerkonferenz. Anstatt deren Unfähigkeit implizit zum Naturgesetz zu erklären, indem man nach dem Bund ruft, sollte die ganze Bildungsrepublik Anteil an den laufenden KMK-Reformdebatten nehmen. Ja, die gibt es, sie sind fragil und doch im günstigen Fall so umfassend wie lange nicht (um nicht zu sagen: wie selten seit Gründung der Bundesrepublik).
Kann ihre gemeinsame Verwaltung, das KMK-Sekretariat, neu und schlagkräftig aufgestellt werden? Können die Länder ihre übergreifenden Entscheidungsprozesse zu Bildungsreformen beschleunigen und dabei den Konsens durch im Einzelfall unbequeme Mehrheitsentscheidungen ersetzen? Schafft es die KMK, in der Öffentlichkeit die Rolle als föderale Bildungsagentur einzunehmen? Derzeit ist es doch so, dass auch die meisten Journalisten im Zweifel im Bundesbildungsministerium anrufen, weil die Macht in unserem Bildungssystem zwar bei den Ländern liegen mag, sie aber gleichzeitig so irritierend undurchsichtig funktioniert.
Das Dramatische ist, dass es diese vor vielen verborgenen Reformbemühungen sind, die über die "Bildungswende" entscheiden werden. Weshalb ein wirklich wirksamer Appell den direkten Erwartungsdruck in Hinblick auf die Selbst-Reform der KMK maximal erhöhen sollte – und es Aufgabe des Journalismus wäre, neben plakativen Essays über 10- oder 100-Milliarden-Bildungsfonds Transparenz in dieses verschachtelt-verborgene Gezerre um die Zukunft des Bildungsföderalismus zu bringen.
Tatsächlich jedoch erwähnt "Bildungswende JETZT" die Kultusminister als allerletzte ihrer vier Adressatengruppen – und den Bund vor den Ländern. Als erwarte der Appell von ihnen am allerwenigsten.
Mit einer Verve, die allen Klischees zu widersprechen schien
Dass dies womöglich eine Fehlwahrnehmung des Faktischen ist, zeigt nicht zuletzt der Blick auf die Corona-Zeit. Solange der Bund über Einschränkungen des Präsenzunterrichts mitentschied, wurden die Bildungsinteressen der Kinder meist dem gesellschaftlichen Gesamtwohl untergeordnet, was die soziale Schieflage beim Lernerfolg nur noch verschärft hat. Es waren die Länder und die Kultusminister übrigens noch deutlich stärker als die Ministerpräsidenten, die sich überwiegend für offene Schulen eingesetzt haben. Und das mit einer Verve, einer Geschlossenheit und gelegentlich auch mit einer Trotzigkeit, die allen landläufigen Klischees zu widersprechen schien.
Böse Zungen behaupten, sie hätten das nur getan, weil sie wussten, wie schlecht sie ihre Schulen auf die Ausnahmesituation vorbereitet hatten. Doch bei allem vermuteten oder tatsächlichen Mangel an Kompetenz und Weitsichtigkeit: Vielleicht identifizierten sich viele Kultusminister einfach mit der von ihnen übernommenen Aufgabe, für Bildung zu sorgen? Vielleicht ist das Einzige, worauf es wirklich ankommt, das Ende ihrer immer wiederkehrenden Selbstblockaden in der KMK?
Wie wäre es dann, wenn wir für einen Moment, wirklich nur für einen Moment annähmen, dass die Lösung der Krise des Bildungsföderalismus bei denjenigen liegt, die im Föderalismus für die Bildung zuständig sind? Und dass wir die Energie, die wir bislang für die so formschönen wie realitätsfremden Träume von einer Rettung durch den Bund aufgewendet haben, in Debatten über deren strukturelle Ertüchtigung steckten? Womöglich wären wir der "Bildungswende jetzt" dann ein Stück näher.
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"Kto grze rozumie, może śmiele sadzić,A kto nie świadom, lepiej się poradzić.Tablica naprzód malowana będzie,Tę pól sześćdziesiąt i cztery zasiędzie.Pola się czarne z białymi mieszają,Te się owymi wzajem przesadzają.W tym placu wojska położą się obie,A po dwu rzędu wezmą przeciw sobie." "Der Kenner möge kühn am Spieltisch sitzen,Der Laie aber soll die Ohren spitzen.Zuerst das Spielbrett: Scheckig aufgebracht,Sind vierundsechzig Felder, acht mal acht.Die schwarzen Felder mühn sich mit den weißen,Gleichfarbne fremde Paare zu zerreißen. Und diesen Platz beziehen Armeen,Die sich in Doppelreihen entgegenstehn."[1]Als der große polnische Dichter Jan Kochanowski im 16. Jahrhundert diese Zeilen für sein Werk "Das Schachspiel" (Szachy) dichtete, ahnte er sicherlich nicht, dass gut 450 Jahre später einer seiner Landsmänner seine Armeen auf den 64 Feldern so gut führen würde, dass er um die Krone des Schachs mitspielen kann. Jan-Krzysztof Duda, 23 Jahre jung, Schachgroßmeister aus Wieliczka im Süden Polens, gelang es jedoch nicht nur, im vergangenen Jahr den FIDE World Cup zu gewinnen, ein vom Weltschachverband FIDE organisiertes und äußerst hochkarätig besetztes Turnier. Er sicherte sich durch diesen Erfolg auch als erster Pole überhaupt einen Platz im Kandidatenturnier 2022, dem Wettkampf, bei dem der Herausforderer des aktuellen Weltmeisters, Magnus Carlsen, ermittelt wird. Ebenjenen Carlsen konnte Duda im Halbfinale des World Cups besiegen und erntete dafür viel Bewunderung in der Schachwelt. Seitdem genießt er auch in Polen große Popularität, bekam einen Orden von Staatspräsident Andrzej Duda verliehen und wurde zum Sportler des Jahres 2021 gewählt. Jan-Krzysztof Duda, 2018Der Erfolg Dudas markiert den bisher größten Erfolg des polnischen Schachs seit dem Zweiten Weltkrieg, das nach vielen Jahren wieder in der Weltspitze angekommen ist. Dabei liegt die Betonung bewusst auf 'wieder', denn Polen gehörte in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg zu den stärksten Schachnationen der Welt. Im Jahre 1930 gewann die polnische "Bombenmannschaft", wie sie von der deutschen Presse bezeichnet wurde, die Schacholympiade in Hamburg und ließ große Schachnationen wie Ungarn, Deutschland oder Österreich hinter sich. Nur 15 Jahre später, am Ende des Zweiten Weltkriegs, lag das polnische Schach am Boden, seine Strukturen durch die deutsche Besatzung zerstört, seine besten Köpfe entweder ermordet oder aus Polen vertrieben. Das Schachspiel, das aus Indien stammt, fand im frühen Mittelalter seinen Weg über die Iberische Halbinsel sowie Russland nach Europa. In Deutschland ist es bereits im 11. Jahrhundert bekannt und wird z.B. schon im Versepos Ruodlieb erwähnt.[2] Für Polen nimmt man an, dass Schach in der Regierungszeit von Bolesław III. Krzywousty seinen Weg ins Land fand.[3]Im 19. Jahrhundert fand Schach seinen Weg vom Adel in die bürgerliche Gesellschaft. Es etablierte sich in den Kaffeehäusern Wiens, Londons oder Berlins, in denen Schach, nicht selten um Geld, gespielt und weiterentwickelt wurde. Aus diesem "Kaffeehausschach" geht das organisierte Schach hervor. In Deutschland wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ersten Vereine gegründet, in Polen geschah dies einige Jahrzehnte später. Manche der damals gegründeten Vereine bestehen bis heute, etwa die Berliner Schachgesellschaft 1827 Eckbauer, der Hamburger Schachklub von 1830 oder der Münchener Schachklub 1836. 1876 wurde im damals zu Preußen gehörenden Posen der erste Schachklub auf heute polnischem Boden gegründet. Bis zum Ende des Jahrhunderts folgten noch Krakau, Lemberg und Warschau. Wie groß und wichtig ein Verein war, hing oft von einem Meister ab, der sich dort niedergelassen hatte. In Posen war dieser Meister Johann Hermann Zukertort, der hier in den 1860er Jahren ein reges Schachleben organisierte. Zukertort, in Lublin geboren, war am Ende des 19. Jahrhunderts einer der stärksten Schachspieler. Er lebte in Polen, Deutschland und Großbritannien und spielte 1886 sogar ein WM-Match, das er jedoch verlor.[4] In Deutschland war Breslau neben Berlin das zweite große schachliche Zentrum, was an der Person Adolf Anderssen lag. Anderssen, ein Lehrer aus Breslau, war der wohl beste Schachspieler des 19. Jahrhunderts. Er gilt als der erste inoffizielle Weltmeister, da es damals noch keine organisierten WM-Kämpfe gab, er aber das erste internationale Schachturnier der Geschichte 1851 in London gewinnen konnte. Anderssen spielte während dieses Turniers eine der großartigsten Partien der Schachgeschichte, die heute als "Unsterbliche Partie" bekannt ist. Neben seiner aktiven Karriere war ihm die Gründung eines gesamtdeutschen Schachbundes ein großes Anliegen, was 1877 schließlich gelang. Der Deutsche Schachbund besteht bis heute. Während sich polnische und deutsche Schachmeister im 19. Jahrhundert in ihrer Spielstärke nicht sonderlich unterschieden, war Schach in Deutschland weitaus stärker organisiert als in Polen. Der Grund dafür lag in der territorialen Integrität Deutschlands, während es zur gleichen Zeit aufgrund der Teilungen Polens gar keinen eigenen Staat gab. So blieb Schach in Polen lange Zeit auf Kaffeehäuser und einzelne Vereine beschränkt, während sich in Deutschland ein lebendiges Vereinsleben mit zahlreichen Mitgliedern entwickelte.[5]Zu Beginn des 20. Jahrhunderts florierte Schach in Deutschland. Die Vereine und Mitgliederzahlen wuchsen und Meister wie Fritz Sämisch, Kurt Richter oder Siegbert Tarrasch errangen Erfolge auf internationaler Ebene.[6] Über allen thronte in diesen Jahrzehnten Emanuel Lasker, Deutschlands bislang einziger Schachweltmeister. Diesen Titel hielt er jedoch länger als jeder andere in der Geschichte, nämlich stolze 27 Jahre (1894-1921). Lasker wurde 1868 in Berlinchen in der Mark Brandenburg geboren, das heute die Kleinstadt Barlinek in Polen ist. Auch für ihn begann seine Schachlaufbahn in einem Berliner Kaffeehaus, von wo aus er seinen Siegeszug in die Schachwelt startete. Doch im Zuge der Machtergreifung der Nationalsozialisten verließ er Deutschland und verbrachte die Jahre bis zu seinem Tod 1941 im Ausland.[7] Während der nationalsozialistischen Herrschaft durchlebte das Schach in Deutschland eine sehr schwierige Zeit. Es wurde zum Instrument nationalsozialistischer Ideologie umfunktioniert, wurde für Kriegspropaganda benutzt und sollte zur Erziehung einer sogenannten "Volksgemeinschaft" dienen. Dazu wurde der Großdeutsche Schachbund gegründet und der bis dato agierende Deutsche Schachbund diesem untergeordnet. Sogleich begann die Unterdrückung jüdischer Schachspieler. Auch während des Zweiten Weltkrieges wurde Schach zu Propagandazwecken genutzt, besonders von Hans Frank, der im von ihm geleiteten Generalgouvernement zwischen 1940 und 1944 internationale Schachturniere veranstaltete.[8]In Polen, das nach dem Ersten Weltkrieg seine Unabhängigkeit wiedererlangt hatte, blühte das Schachspiel auf und erlebte bis 1939 die erfolgreichste Phase in seiner Geschichte. Dabei kam ihm zugute, dass es mit Kazimierz Sosnkowski, einem ranghohen General, und Józef Piłsudski, Marschall und Ikone der polnischen Unabhängigkeit, zwei Unterstützer auf oberster Staatsebene für sich gewinnen konnte. Besonders Piłsudski galt als großer Schachenthusiast und setzte sich sehr für die Entwicklung des Schachs in Polen ein.[9] Darüber hinaus betrat im 20. Jahrhundert eine Reihe großer polnischer Schachspieler die Bühne, allen voran Akiba Rubinstein. Dieser gilt als der größte Schachspieler Polens. Rubinstein wurde 1882 in der kleinen Stadt Stawiski im heutigen nordöstlichen Polen in eine arme jüdische Familie geboren. Sein Siegeszug in die höchsten Höhen des Schachs begann im Schachklub von Lodz, wo er mit 19 Jahren hingezogen war. Seine Erfolge stellten 1914 ein WM-Match Lasker-Rubinstein in Aussicht, das jedoch aufgrund des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges nicht stattfinden konnte.[10] Akiba Rubinstein (rechts) während einer Partie mit Efim Bogoljubov, 1925Polen war in den Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg ein Powerhouse des Schachs und konnte 1930 seine bis dato größte Erfolge in seiner Schachgeschichte einfahren. Die goldene Generation um Akiba Rubinstein, Ksawery Tartakower, Dawid Przepiórka, Kazimierz Makarczyk und Paulin Frydman gewann die 3. Schacholympiade, die in Hamburg ausgetragen wurde. Deutschland belegte in diesem Turnier den dritten Rang. Die Schacholympiade ist der bedeutendste Mannschaftswettbewerb im Schach, an der alle namhaften Meister teilnehmen. Polens von Rubinstein angeführtes Team wurde aufgrund seiner starken Leistung von der deutschen Presse als "Bombenmannschaft" bezeichnet. Nur fünf Jahre später durfte Polen seine erste und bisher einzige Schacholympiade ausrichten, die in Warschau mit Teilnehmerrekord ausgetragen wurde.[11] Urkunde für den Krakauer Schachspieler Bogdan Śliwazum Sieg eines Turniers, das während der deutschenBesatzung ausgetragen wurdeMit dem deutschen Einmarsch in Polen 1939 fand die goldene Zeit des polnischen Schachs ihr jähes Ende. Der Kriegsbeginn unterbrach die laufende Schacholympiade in Buenos Aires, was einigen polnischen Schachspielern das Leben rettete, da sie nach der Olympiade nicht nach Polen zurückkehrten. Dies bedeutete jedoch einen herben Verlust für das polnische Schach, das dadurch Spieler wie etwa Mieczysław Najdorf verlor, der als Mosze Mendel Najdorf in Polen geboren worden war und nach dem Krieg als Miguel Najdorf viele Partien für Argentinien ausfocht.[12] In Polen kam das Schach fast komplett zum Erliegen, obwohl es vereinzelte geheime Turniere während der Besatzung gab. Das Schlimmste jedoch war der Verlust etlicher Meister und Funktionäre, die während der Nazi-Herrschaft über Polen oder im Holocaust ums Leben kamen. Exemplarisch dafür steht das tragische Schicksal von Dawid Przepiórka, dem Goldmedaillengewinner von 1930, der 1940 während der Massenerschießungen von Palmiry getötet wurde.[13] Mieczysław (Miguel) NajdorfWie schlimm das polnische Schach während der deutschen Besatzung gelitten hatte, zeigt sich auch in der Zeit, die Polen nach dem Krieg gebraucht hat, um im Schach wieder an die Weltspitze zu kommen. Erst in den letzten Jahren ist nach langen Jahren der Jugend- und Aufbauarbeit eine neue große polnische Schachgeneration im Anmarsch, welche von Jan-Krzysztof Duda angeführt wird. In der Bundesrepublik sowie in der DDR war Schach auch nach dem Krieg populär und verbreitet. Großmeister wie Wolfgang Unzicker, Robert Hübner oder Wolfgang Uhlmann spielten auf oberstem Niveau. Aktuell fehlt es in Deutschland an einem absoluten Spitzenspieler. Doch mit dem erst 17-jährigen Vincent Keymer gibt es auch hier ein junges Talent mit Chancen, nach ganz oben zu kommen. Im Frauenschach sind Polen und Deutschland gleich stark einzuschätzen und zählen zur erweiterten Weltspitze.Im Allgemeinen erlebt Schach gerade einen Boom und erlebt besonders seit Beginn der Pandemie großen Zulauf. Es bleibt für die Zukunft nur zu hoffen, dass sich das königliche Spiel in Polen und Deutschland weiter ausbreiten und viele weitere Menschen in seinen Bann ziehen wird. Dann könnte gelten, was Jan Kochanowski schon im 16. Jahrhundert vorgeschwebt hatte: "Wszakoż ją przedsię radzi przeczytali, A dla ćwiczenia zawżdy szachy grali." "Sogleich sitzt jeder unter seinem Dach An einen Tisch und spielt zur Übung Schach[.]"[14] [1] Jan Kochanowski: Das Schachspiel. Szachy. Aus dem Polnischen von Thomas Daiber. Berlin 2011, S. 12f.
[2] Ruodlieb wurde in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts auf Latein vom Mönch Fruomund vom Tegernsee verfasst. Vgl.: Jerzy Giżycki: Z Szachami przez Wieki i Kraje. Warszawa 1984, S. 19.
[3] Ebenda. S. 29.
[4] Vgl. Władysław Litmanowicz; Jerzy Giżycki: Schachy od A do Z. N-Z. Warszawa 1987, S. 1363ff.
[5] Zu den Schachklubs Posen und Warschau siehe: Andrzej Kwilecki: Szachy w Poznaniu. Poznań 1990; Tadeusz Wolsza: Od "Honoratki" do Wierzbowej. Życie szachowe w Warszawie w latach 1829-1939. Warszawa 2020; Zu Adolf Anderssen und dem Deutschen Schachbund, siehe: Alfred Die: Schach in Deutschland. Festbuch aus Anlaß des hundertjährigen Bestehens des Deutschen Schachbundes e.V. 1877-1977. Düsseldorf 1977.
[6] Zu Tarrasch, der auch aus Breslau stammt vgl.: Diel 1977, S. 54-57.
[7] Zu Emanuel Lasker vgl. Diel 1977, S. 58-62.
[8] Zum Schach im Dritten Reich vgl.: Bernadette Edtmaier: Schach im "Dritten Reich", in: Rainer Buland (u.a., Hrsg.): Das Gästebuch der Schachweltmeisterschaft 1934 in Deutschland. Wien 2014.
[9] Vgl. Wolsza 2020, S. 176f.
[10] Zu Akiba Rubinstein vgl.: Litmanowicz, Giżycki 1987, S. 1045-1048; Stefan Gawlikowski: Arcymistrzowie. Złota era polskich szachów. Warszawa 2016, S. 27-49.
[11] Zur Schacholympiade 1930 vgl.: Gawlikowski 2016, S. 17-26; Zur Olympiade 1930 und weiteren Olympiaden dieser Zeit vgl: Stanisław Gawlikowski: Olimpady Szachowe 1924-1974. Warszawa 1978.
[12] Zu Najdorf vgl. Gawlikowski 2016, S. 135-150.
[13] Zu Przepiórka vgl. Gawlikowski 2016, S. 75-105; zu Schachspielern, die Opfer des Holocaust wurden vgl. ebd. S. 179-184.
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"Wenn über das Grundsätzliche keine Einigkeit besteht, ist es sinnlos, miteinander Pläne zu schmieden." – Konfuzius (551-479 v.Chr.).Der grundsätzliche universelle Geltungsanspruch der Menschenrechte besagt, dass die Menschenrechte jedem Menschen auf der Welt zustehen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 drückt das folgendermaßen aus: "Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand […]" (UN-Vollversammlung 1948, Artikel 2). Jedoch ist dieser universelle Geltungsanspruch der Menschenrechte in der Realität häufig noch ein Ideal. Mit der Deklaration von Bangkok, die einige südostasiatische Staaten Anfang der 1990er Jahre unterzeichneten, wurde er sogar explizit in Frage gestellt. Was ist die Sichtweise dieser südostasiatischen Staaten auf die Universalität der Menschenrechte und wie begründen sie diese? Wie könnten Perspektiven für einen interkulturellen Menschenrechtsdialog aussehen? In diesem Beitrag werden die Menschenrechte durch eine Definition und einen Abschnitt zur Geschichte kurz vorgestellt. Anschließend wird die Debatte um Universalität und (Kultur-)Relativismus erläutert, welche überleitet zur "asiatischen Perspektive" auf die Menschenrechte und zu den "asiatischen Werten". Abschließend werden die Kritik und Perspektiven für einen interkulturellen Dialog aufgegriffen.Menschenrechte – eine Definition
Zerstörung, Elend, menschliches Leid und der Völkermord an den europäischen Juden führten in "dramatischer Weise die Notwendigkeit eines wirksamen Schutzes grundlegender Menschenrechte durch verbindliche internationale Normen und kollektive Mechanismen" vor Augen (Gareis/Varwick 2014, S. 179).
Die Idee, dass jedem Menschen, "unabhängig seines Geschlechts, Alters, seiner Religion oder seiner ethnischen, nationalen, regionalen oder sozialen Herkunft, angeborene und unveräußerliche Rechte zu eigen sind, die sich aus seinem Menschsein ableiten", verfestigte sich und führte am 10. Dezember 1948 zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Gareis/Varwick 2014, S. 179).
Erstmals wurde in einem internationalen Dokument festgehalten, dass jedem Menschen wegen "grundlegender Aspekte der menschlichen Person" grundlegende Rechte zugesprochen werden. Diese Rechte sind unveräußerlich und vorstaatlich, was bedeutet, dass der Staat sie nicht vergeben kann, denn jeder Mensch hat sie aufgrund der "biologischen Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung" inne (Human Rights 2018). Dem Staat obliegt es, diese Rechte zu schützen.
Menschenrechte besitzen demnach vier Merkmale: Sie sind universell (alle Menschen sind Träger dieser Rechte), egalitär (eine ungleiche Verteilung dieser Rechte ist ausgeschlossen), individuell (der Träger der Menschenrechte ist ein individueller Mensch, keine Gruppe) und kategorial (wer der menschlichen Gattung angehört, besitzt sie automatisch) (vgl. Lohmann 2010, S. 36).
Die Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 ist keine rechtlich bindende Resolution. Doch auch wenn sie rechtlich nicht bindend ist, hat sie "moralische Wichtigkeit bekommen" (Human Rights 2012). Sie wird dem Gewohnheitsrecht zugeordnet, was bedeutet, dass sie sowohl allgemein anerkannt als auch angewendet und deswegen als verbindlich angesehen wird (vgl.: Human Rights 2012). Sie ist das "weltweit am meisten verbreitete und am meisten übersetzte internationale Dokument" (Gareis/Varwick 2014, S. 179) und dient als Grundlage für zahlreiche Abkommen (vgl. Maier 1997, S. 39).
Juristisch können die Menschenrechte wie folgt definiert werden: "Internationale Menschenrechte sind die durch das internationale Recht garantierten Rechtsansprüche von Personen gegen den Staat oder staatsähnliche Gebilde, die dem Schutz grundlegender Aspekte der menschlichen Person und ihrer Würde in Friedenszeiten und im Krieg dienen" (Human Rights 2012).
Seit 1948 haben sich die Menschenrechte weiterentwickelt, und es hat sich etabliert, von den Menschenrechten in drei Generationen zu sprechen. Zur ersten Generation gehören "die klassischen bürgerlichen und politischen Freiheits- und Beteiligungsrechte" wie das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit oder das Verbot von Folter (Krennerich 2009). Die zweite Generation der Menschenrechte umfasst wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte, so beispielsweise das Recht auf Bildung, Teilhabe, aber auch auf Freizeit und Erholung. Die dritte Generation der Menschenrechte "bezeichnen allgemeine, noch kaum in Vertragswerken konkretisierte Rechte wie etwa das Recht auf Entwicklung, Frieden oder saubere Umwelt" (Krennerich 2009). Alle drei Generationen "sollten gleichberechtigt nebeneinander bestehen" (Barthel, zitiert nach Hamm 1999, S. 23).
Der Gedanke der angeborenen Rechte, die ein Mensch qua Menschsein besitzt, ist jedoch älter als die Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 und die Vereinten Nationen selbst.
Eine kurze Geschichte der Menschenrechte
Der Ursprung der Menschenrechte geht auf das antike Griechenland zurück. Der "revolutionäre Gedanke der Stoiker, der beschreibt, dass alle Menschen gleich sind", wurde durch die im 18. Jahrhundert entstandene Naturrechtslehre weiter gefestigt (vgl.: Müller 2017, 03:06-03:20). Die "überlieferten konkreten Freiheiten der Ständegesellschaft wurden dort in eine allgemeine Freiheit des Menschen umgedacht" (Maier 1997, S. 11). Wegweisend war, dass diese Rechte nun allen Menschen zugesprochen wurden und diese Rechte Ansprüche an den Staat stellten (vgl. Maier, 1997 S. 11f). Denn "[er sollte] nicht tun dürfen, was ihm beliebt, [und] in substantielle Bezirke individueller Freiheit nicht […] eingreifen dürfen" (Maier 1997, S. 12). Als vorstaatliche Rechte kann der Staat diese nur akzeptieren, nicht aber verleihen.
Die Idee der unveräußerlichen Menschenrechte kulminierte schließlich in der Unabhängigkeitserklärung der 13 britischen Kolonien 1776 in Nordamerika (zentrales Dokument: Virginia Bill of Rights) und fand schließlich 1789 in der Französischen Revolution (zentrales Dokument: Déclaration des Droits de l'Homme et du Citoyen) in Europa ihren Durchbruch. Diese Dokumente legten den Grundstein für die modernen Menschenrechte, die nun als Grundrechte in zahlreichen Verfassungen verankert sind. Schließlich, im Jahr 1966, wurden die ersten völkerrechtlich bindenden Menschenrechtsabkommen durch die Vereinten Nationen verabschiedet (vgl.: Wagner 2016).
Besonders eindrücklich zeigt die Geschichte der Menschenrechte, dass ihre Idee auf "konkrete Unrechtserfahrungen der Menschen des Okzidents zurückgehen" (Tetzlaff 1998, S. 60). Darauf, nämlich dass die Menschenrechte 'im Westen' ihren Ursprung haben und individualistisch geprägt seien, bezieht sich im Wesentlichen die Kritik an ihnen. Diese Kritik zieht auch in Zweifel, ob die Menschenrechte universell sind. (Kultur-)Relativismus vs. Universalismus
Verfechter des Universalismus verstehen die Menschenrechte als unveräußerliche, angeborene Rechte eines jeden Menschen. "Niemand kann, mit Bezug auf welche Eigenschaft auch immer, von der Trägerschaft ausgeschlossen werden" (Lohmann 2010, S. 37). Ausgeschlossen ist hierbei auch die "ungleiche Verteilung" der Rechte (vgl. Lohmann 2010, S. 37). So muss der Staat seinen Pflichten nachkommen und für die Einhaltung, Wahrung und Durchsetzung der Menschenrechte sorgen.
Jedoch werden die Menschenrechte, wie sie 1948 verabschiedet wurden, in ihrem universellen Gültigkeitsanspruch von vielen Ländern und Kulturen auf der Welt nicht akzeptiert. Der (Kultur-) Relativismus in seiner extremen Form sieht die Menschenrechte als nicht vollständig übertragbar und "nur relativ zu einem bestimmten Kultursystem 'begründbar'" (Lohmann 2009). Manche Staaten gehen sogar so weit und verstehen die Menschenrechte als ein westliches Produkt, das "dem Osten" aufoktroyiert wurde. Auch seien die Menschenrechte nicht, wie der universalistische Anspruch behauptet, unabhängig von Zeit, Raum und kulturellem Hintergrund gültig. Sie seien aus der europäisch-nordamerikanischen Aufklärung entstanden, abendländisch geprägt und somit nicht in dieser Form in anderen Kulturkreisen anwendbar. Zudem sei ihre "weltweite Propagierung Ausdruck einer Mentalität der Einmischung, welche die Tradition des Kolonialismus mit anderen Mitteln fortsetze" (Hilpert 2019, S. 230). Tatsächlich sei "das Menschenrechtsverständnis in erster Linie abhängig von dem Menschenbild in einer spezifischen Kultur […], wonach es keinen Standard gibt, der unabhängig von bestimmten sozialen Lebensformen wäre" (Pohl 2002, S. 7).
Von (Kultur-)Relativisten konkret kritisiert werden häufig die "individuelle Selbstbestimmung, die körperliche Unversehrtheit, das Vorrangverhältnis zwischen Individuum zur Gemeinschaft, die Gleichheit von Männern und Frauen, die religiöse Toleranz und die Einschätzung demokratischer Mitbestimmung" (Lohmann 2010, S. 41).
Zum anderen wird bemängelt, dass bei der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Jahr 1948 die westlichen Länder dominierten, während die meisten Länder des Globalen Südens noch unter kolonialer Herrschaft standen. Viele Staaten werfen dem Westen sogar "moralischen Chauvinismus" (Pollis/Schwab 2006, S. 68), "Ideologismus" und eine "quasi-religiöse" Auslegung der Menschenrechte vor (Pohl 2002, S. 7).
Genau an diese Dichotomie, Universalismus und (Kultur-)Relativismus, knüpfte die 1993 vorgelegte Deklaration von Bangkok an, welche von vielen (süd-)ostasiatischen Ländern unterzeichnet wurde. Bevor die Wiener Menschenrechtskonferenz im Jahr 1993 begann, zweifelten diese Länder die Universalität der Menschenrechte an und legten eine "asiatische Perspektive" auf die Menschenrechte und sogenannte "asiatische Werte" vor.
Die asiatische Perspektive auf die (Universalität der) Menschenrechte und 'asiatische Werte'
Die ,asiatische Sicht' auf die Menschenrechte und die 'asiatischen Werte' werden im Grunde kulturrelativistisch begründet. Im folgenden Abschnitt werden die 'asiatischen Werte' zeitgeschichtlich eingeordnet und näher erläutert.
Die zeitgeschichtliche Einordnung der 'asiatischen Werte'
Die Kontroverse, dass sich die Menschenrechte in (Südost-)Asien anders entwickelt hätten, spitzte sich Anfang der 1990er Jahre zu und erlangte mit der Verabschiedung der Deklaration von Bangkok weltumspannende Beachtung. Die Gründe für den Ausbruch dieser Debatte sind vielfältig. Zum einen genoss 'der Westen', vor allem die Europäische Union und die Vereinigten Staaten, zu dieser Zeit beispielloses politisches und ökonomisches Selbstbewusstsein. Der Ost-West-Konflikt war beendet, die Demokratie und der Kapitalismus schienen 'die' Erfolgsmodelle zu sein, die "das Ende der Geschichte" einläuteten (Fukuyama 1992). Die Globalisierung schritt unaufhaltsam voran, während der Kommunismus in vielen osteuropäischen Ländern in sich zusammenbrach. Zudem gewann die Idee des politischen und wirtschaftlichen Liberalismus mehr und mehr an Bedeutung.
In dieser Zeit gingen die Vereinigten Staaten und viele Mitgliedsstaaten der EU auf die Forderung vieler Menschenrechtsorganisationen ein, die Menschenrechte und die Demokratie in anderen Ländern zu verbreiten. Die Regierung unter Präsident Bill Clinton ging sogar so weit und erklärte sowohl die Verbreitung der Menschenrechte als auch der Demokratie zu einer der drei Säulen der US-amerikanischen Außenpolitik (vgl.: Barr 2000, S. 313). Allerdings missbilligte insbesondere China den menschenrechtlichen Druck vieler westlicher Staaten, der durch das Massaker von Tiananmen im Jahr 1989 und Chinas Tibet-Politik stetig zunahm.
Hinzu kam, dass viele ostasiatische Staaten, allen voran China, Malaysia, Japan, Hongkong, Taiwan, Singapur und Südkorea, als 'ostasiatische Wirtschaftswunder' bezeichnet wurden (vgl.: Ernst 2009). Diese wirtschaftliche Prosperität ließ ein "neues Selbstbewusstsein und eine neue politische Elite entstehen, die vom 'Westen' das Recht auf einen eigenen entwicklungspolitischen Weg einforderte und die Vormachtstellung der alten Industriestaaten Europas und Nordamerikas herausforderte" (Ernst 2009). Darüber hinaus sahen sie in der Rolle des starken Staates eine wichtige "Erklärungsvariable" für den wirtschaftlichen Erfolg (Heinz 1995, S. 11).
Die Bestimmtheit, mit der die Europäische Union und die Vereinigten Staaten um die Durchsetzung der Menschenrechte in Asien rangen, wurde von (ost-)asiatischen Ländern als Versuch verstanden, ,Asien' ,dem Westen' unterwürfig zu halten. Zudem wurde die Kritik als "Einmischung, irrelevant und kulturfremd abgewehrt" (Heinz 1995, S. 12).Schließlich, im Vorfeld der Wiener Menschenrechtskonferenz im Jahr 1993, "bestritten [unter anderem] die Regierungen Indonesiens, Singapurs und Chinas die Universalität der Menschenrechte" (Heinz 1995, S. 16). Stattdessen müssten die jeweiligen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bedingungen betrachtet werden, weil sie nur anhand derer verwirklicht werden könnten (vgl.: Heinz 1995, S. 15f). Deshalb wurden sogenannte 'asiatische Werte' vorgestellt. Was sind 'asiatische Werte'?
'Asiatische Werte' beschreiben eine (kultur-)relative Sicht auf die Menschenrechte, die in den frühen 1990er Jahren von asiatischen Politiker*innen und Wissenschaftler*innen vorgestellt und von 34 Staaten verabschiedet wurden. Sie umfassen im Groben die Bereiche Politik, Wirtschaft und Kultur (vgl.: Tai 2005, S. 34). Federführend bei der Debatte waren Lee Kuan Yew, der damalige Premierminister von Singapur, und Mahathir bin Mohamad, der damalige Premierminister von Malaysia. Sie, die 'asiatischen Werte', sollen eine Anpassung zum aus asiatischer Sicht "westlichen Modell der Menschenrechte" darstellen (Henders 2017). Die regionale Bezeichnung 'Asien/asiatisch' bezieht sich in diesem Zusammenhang eher auf (Süd-) Ostasien beziehungsweise pazifisch-Asien als auf den Nahen oder Mittleren Osten. Das bedeutet auch, dass sich die 'asiatischen Werte' hauptsächlich auf die "konfuzianische Kultur" stützen und weniger vom Islam oder dem Hinduismus geprägt sind (Ernst 2009).
Allerdings lehnen die ostasiatischen Länder die Menschenrechte nicht grundsätzlich ab. Schließlich haben einige dieser Länder, darunter China, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 verabschiedet und bekräftigten 1993 in Wien nochmals ihren Einsatz für Prinzipien, die in der Erklärung enthalten sind (vgl.: Tay 1996, S. 751). Sie plädierten mit der Deklaration von Bangkok stattdessen für nationale und regionale Unterschiede in der Schwerpunktsetzung und auch in der praktischen Umsetzung der Menschenrechte (vgl.: Tay 1996 S. 751f).
Befürworter der 'asiatischen Werte' bestanden zudem darauf, dass sie nicht nur durch den wirtschaftlichen Erfolg, den die ostasiatischen Staaten in den Jahrzehnten vor der Wiener Menschenrechtskonvention 1993 erlebt hatten, legitimiert würden, sondern auch maßgeblich für diesen Erfolg verantwortlich seien. Darüber hinaus müsse die wirtschaftliche Entwicklung bei ökonomisch aufstrebenden Ländern über allem stehen; bürgerliche und politische Rechte sollten den ökonomischen und sozialen Rechten deswegen untergeordnet sein (vgl.: Henders 2017).
Bisher wurde keine offizielle "umfassende, verbindliche Liste" vorgestellt (Heinz 1995, S. 25), aber häufig genannte 'asiatische Werte', die bei der Wiener Menschenrechtskonvention 1993 vorgelegt wurden, waren: "Disziplin, harte Arbeit, eine starke Führungskraft" (Tai 2005, S. 34ff), "Sparsamkeit, akademischer Erfolg, die Balance zwischen individuellen und gemeinschaftlichen Bedürfnissen, Respekt vor Autorität" (Henders 2017) und ein starker, stabiler Staat (Barr 2000, S. 310). Darüber hinaus wird "nationales Teamwork", die Erhaltung einer "moralisch sauberen Umwelt" (das Magazin 'Playboy' wird in Singapur beispielsweise nicht verkauft) und keine absolute Pressefreiheit für zentral erachtet (Heinz 1995, S. 26).
Die asiatische Perspektive auf die Universalität der Menschenrechte
Im Diskurs um die ,asiatische Perspektive' haben sich mehrere häufig genannte Argumente herausgebildet. Einige davon sollen näher beschrieben werden, nämlich die Behauptungen, dass Rechte kulturspezifisch seien, die Gemeinschaft in Asien über dem Individuum stehe, dass Rechte ausschließlich den jeweiligen Staaten oblägen und dass soziale und ökonomische Rechte über zivilen und politischen Rechten ständen.
Rechte sind kulturspezifisch
Die Idee der Menschenrechte entstand bereits in der Antike auf dem europäischen Kontinent und entwickelte sich schließlich unter bestimmten sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Bedingungen ebendort und in Nordamerika (vgl.: Li 1996, S. 19). Die Umstände, die die Umsetzung der Menschenrechte voranbrachten, könnten aber nicht auf diese Art auf Südostasien übertragen werden. So beschreibt China in seinem 1991 veröffentlichten Weißbuch, dass sich aufgrund des eigenen historischen Hintergrunds, des Sozialsystems und der jeweiligen ökonomischen Entwicklung die Länder in ihrem Verständnis und ihrer Auslegung der Menschenrechte unterscheiden würden (vgl.: Weißbuch 1991, Vorwort). Das ist eine Haltung, welche auch 1993 auf der Menschenrechtskonferenz in Wien nochmals bekräftigt wurde (vgl.: Li 1996, S.19).
Die Gemeinschaft steht über dem Individuum
Die südostasiatischen Länder insistierten, dass die Bedeutung der Gemeinschaft in asiatischen Ländern nicht mit dem Primat des Individuums vereinbar sei, worauf die Vorstellung der Menschenrechte beruht (Li 1996, S. 19). Zudem stünden Pflichten über Rechten (vgl.: Nghia 2009, S. 21). Dies seien auch die entscheidenden Faktoren, die 'Asien' fundamental vom 'Westen' unterschieden. Die Menschenrechte seien von Natur aus individualistisch geprägt, was nach (süd-)ostasiatischer Auffassung eine Bedrohung für den (süd-)ostasiatischen sozial-gemeinschaftlichen Gesellschaftsmechanismus darstellen könnte. Als Begründung für diese Behauptung führten die (süd-)ostasiatischen Staaten den Zusammenbruch vieler Familien, die Drogenabhängigkeit und die hohe Zahl an Obdachlosen im 'Westen' an (vgl.: Li 1996, S. 20).
Soziale und ökonomische Rechte stehen über zivilen und politischen Rechten
Zentral bei der ,asiatischen Auslegung' der Menschenrechte waren die Priorisierung der Gemeinschaft gegenüber der Individuen und die Suche nach dem Konsens im Gegensatz zum Konflikt. Dominanz und Autorität würden nicht limitiert oder gar als suspekt betrachtet, sondern gälten im Gegenteil als vertrauens- und förderungswürdig (vgl.: Tay 1996, S. 753ff). Die asiatische Auslegung, so wurde argumentiert, lege den Fokus auf ökonomische und soziale Rechte, die durch ein starkes wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand legitimiert würden, worauf Asiat*innen Wert legten und was ihnen wichtig sei. So proklamiert das Weißbuch der chinesischen Regierung aus dem Jahr 1991, dass "sich sattessen und warm kleiden die fundamentalen Bedürfnisse der chinesischen Bevölkerung seien, die lange unter Hunger und Kälte leiden mussten" (Weißbuch 1991, Kapitel I). Wohlstand könne nur effizient erreicht werden, wenn die Regierenden autorisiert seien, die politischen Rechte ihrer Bürger*innen zu limitieren, um wirtschaftlichen Wohlstand zu garantieren (Li 1996, S. 20). Die wirtschaftliche Entwicklung müsse deswegen bei ökonomisch aufstrebenden Ländern über allem stehen; zivile und politische Rechte sollten den ökonomischen und sozialen Rechten untergeordnet sein (vgl.: Henders, 2017). Implizit schwingt bei dieser Behauptung mit, dass erst alle basalen Bedürfnisse und eine stabile politische Ordnung sichergestellt werden müssten, um politische und bürgerliche Rechte zu implementieren (vgl.: Li 1996, S. 20f). Befürworter der Idee der asiatischen Perspektive erachten es somit für wichtig, den Staat als Oberhoheit zu sehen (vgl.: Henders 2017).
Rechte sind die Angelegenheit der jeweiligen Staaten
Das Recht eines Staates zur Selbstbestimmung schließe den Zuständigkeitsbereich der Menschenrechte mit ein. So seien Menschenrechte innenpolitische Angelegenheiten, in die sich andere Staaten oder Organisationen nicht einzumischen hätten (vgl.: Li 1996, S. 20). "Die Bestrebung des Westens, auch bei Entwicklungsländern einen universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte durchzusetzen, sei versteckter kultureller Imperialismus und ein Versuch, die Entwicklung [wirtschaftlich aufstrebender Länder] zu behindern" (Li 1996, S. 20).
Kritik an der asiatischen Perspektive Generell wurde bemängelt, dass nicht einfach über 'asiatische' Werte geredet werden könne, weil es die einzelnen asiatischen Länder simplifiziere, stereotypisiere und sie um ihre Vielfalt bringe (vgl.: Henders 2017). Des Weiteren seien die genannten Werte nicht alleinig in Asien zu finden, sondern hätten auch in anderen Teilen der Welt Gültigkeit (vgl.: Tai 2005, S. 35). Tatsächlich, so wurde argumentiert, gebe es keine ,asiatischen Werte', denn der Begriff sei mit "seiner Allgemeinheit und Undifferenziertheit ein Konstrukt, das ganz bestimmten Zielen dienen soll" (Schreiner 1996, S. 57). Außerdem seien nur mächtige Politiker*innen leitender Teil der Debatte gewesen; die Argumente seien weder in die Gesellschaft getragen noch philosophisch (fort-)geführt worden. Die einzelnen 'asiatischen' Argumente gegen die Universalität der Menschenrechte wurden jedoch auch einzeln kritisiert. Einige Kritiker*innen stellten die Ansicht der Kulturspezifizität in Frage. Das Argument impliziere, dass soziale Normen, die in anderen Ländern und Kulturkreisen ihren Ursprung hatten, in der asiatischen Kultur keine Anwendung finden sollten oder könnten. Kapitalistische Märkte und die Konsumkultur, welche ebenfalls außerhalb der asiatischen Länder entstanden sind, konnten jedoch sehr wohl von asiatischen Kulturen aufgenommen werden (vgl.: Li 1996, S. 20). Die schwerfällige Akzeptanz und Umsetzung der Universalität der Menschenrechte könne somit nicht ausschließlich auf ihre kulturelle Herkunft zurückgeführt werden.
Die zweite Behauptung, dass Asiat*innen die Gemeinschaft über das Individuum stellten, würde als kulturelles Argument missbraucht werden, um aufzuzeigen, dass unveräußerliche Rechte eines Einzelnen sich nicht mit der Idee von asiatischen Gesellschaften verstünden. Kritiker*innen der ,asiatischen Perspektive' sahen hier die Gefahr der generellen Verdammung der Rechte des Einzelnen. Dabei würden individuelle Freiheiten den asiatischen Gemeinschaftswerten nicht generell oppositionell gegenüberstehen. Vielmehr seien grundlegende Rechte, wie eine Versammlungs- und Meinungsfreiheit sowie Toleranz, wichtig für eine Gemeinschaft (vgl.: Li 1996, S. 21).
Beim dritten Argument, welches die südostasiatischen Länder vorlegten, kritisierten viele Verfechter*innen der Universalität der Menschenrechte, dass die nationale ökonomische Entwicklung nicht gleichzusetzen sei mit der ökonomischen Absicherung (sozio-)ökonomisch benachteiligter Gruppen einer Gesellschaft. Nationales ökonomisches Wachstum garantiere schließlich nicht automatisch Rechte für ökonomisch benachteiligte Mitglieder einer Gesellschaft. Stattdessen würden sich politisch-zivile und sozial-ökonomische Rechte bedingen und nur effektiv wirken, wenn alle vier Ebenen garantiert werden könnten (vgl.: Li 1996, S. 22).
Abschließend wurde kritisiert, dass die vorgebrachten Argumente, insbesondere die Forderung der Nichteinmischung in innerstaatliche Angelegenheiten, als Vorwand für einen illiberalen und autoritären Regierungsstil verwendet werden würden. Zudem sollten diese Argumente die Schwäche des wirtschaftlichen Entwicklungsmodells der asiatischen Länder verschleiern (vgl.: Henders 2017). Das sind beides Kritikpunkte, die während der asiatischen Wirtschaftskrise 1997/1998 weitgehend bestätigt wurden und zur Verabschiedung der asiatischen Erklärung der Menschenrechte im Jahr 1998 führten.
Was ist mit 'asiatischen Werten' passiert?
Der Dialog über die in der Deklaration von Bangkok vorgestellten 'asiatischen Werte' begleitete staatliche und nicht-staatliche Akteure sowie Wissenschaftler*innen bis in die 1990er Jahre hinein. Als im Jahr 1997 eine Wirtschafts- und Finanzkrise Asien ereilte, wurde es jedoch nicht nur still um die 'asiatischen Werte', sie wurden nun sogar "als Ursache der Krise gedeutet" (Ernst 2009). Insbesondere die staatliche Intervention und die starken Familienwerte wurden als Verursacher genannt (vgl.: Ernst 2009). Um den wirtschaftlichen Anschluss an den industriellen 'Westen' nicht zu verlieren, waren Menschenrechtsorganisationen in Südostasien bemüht, den Menschenrechtsschutz bottom-up durchzusetzen. Die Asiatische Menschenrechtscharta, die die 'asiatischen Werte' ablehnt, wurde 1998 von Menschenrechtsorganisationen in Kwangju, Südkorea, verabschiedet. Sie ist auch ein Versuch, asiatische Regierungen bei Menschenrechtsverstößen zukünftig in die Verantwortung nehmen zu können.
Seit dem Ausbruch der asiatischen Wirtschaftskrise ist die Debatte um 'asiatische Werte' nahezu versiegt. Gleichwohl werden interkulturelle Dialoge über die Menschenrechte weiter geführt. Zwischen Kulturrelativismus und Universalismus – Perspektiven für einen Dialog
Eine globale Durchsetzung der Menschenrechte bleibt nach wie vor ein Ideal, ebenso wie deren uneingeschränkte Einhaltung. Die ostasiatischen Länder sind nur ein Beispiel von vielen, denn Kritik an der Universalität der Menschenrechte kommt auch aus anderen Ländern und von anderen Religionen. Dabei hat die Forderung nach weltweiter Umsetzung der Menschenrechte nicht an Dringlichkeit verloren. Wie kann aber ein Dialog über die Menschenrechte oder gar ein Konsens vorangebracht werden?
Bei dieser Problematik ist es wichtig zu bedenken, dass die Menschenrechte kein starres System sind, sondern auch nach ihrer Verabschiedung im Jahr 1948 weiterentwickelt wurden. Zudem hat die Idee der Menschenrechte zwar primär in der Zeit der europäisch-amerikanischen Aufklärung ihre Wurzeln, konnte ihre volle Durchsetzungskraft jedoch erst in der Moderne entfalten (vgl.: Bielefeldt 1999, S. 59f). Insbesondere im Hinblick auf das Argument der Nichtumsetzbarkeit der Menschenrechte in kulturell anders geprägten Regionen "wäre es verfehlt, den Begriff der 'Aufklärung' auf eine bestimmte Epoche der europäischen Geschichte zu verkürzen" (Bielefeldt 1999, S. 60). Schließlich muss es auch für andere Kulturen möglich sein, "humane Anliegen der eigenen Tradition in moderner Gestalt in den Menschenrechten wiederzuerkennen" (Bielefeldt 1999, S. 61).
Aufgrund dessen sprechen sich viele Wissenschaftler*innen für eine Adaption der Menschenrechte aus. Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Alison Dundes Renteln, beispielsweise, "möchte am Begriff universaler Menschenrechte durchaus festhalten, ihn zugleich aber auf interkultureller Basis inhaltlich neu bestimmen […], indem sie nach einem weltweit gemeinsamen Nenner in den Wertorientierungen unterschiedlicher Kulturen sucht" (Bielefeldt 1999, S. 45f). Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht sich für einen "ungezwungenen Konsens" aus, der anderen kulturellen Normen Verständnis entgegenbringt (Taylor 1999, S. 124). Der Dialog über die Menschenrechte zwischen Asien und 'dem Westen' solle sich global ausweiten und eine Auseinandersetzung über eine Übereinstimmung an Normen, die menschliches Verhalten und politisches Handeln leiten sollten, starten. Dieser Grundkonsens auf der Basis der Menschenrechte soll bindend sein, darf sich aber in seiner Begründung unterscheiden (vgl.: Carnegie Council 1996). Der deutsche Philosoph Georg Lohmann vertritt wiederum die Position, dass der "Universalismus" nicht zwingend eine "Einheitskultur darstellt oder in einer solchen resultiert" (Lohmann 2009). Für ihn sind Universalismus und Relativismus auch keine Gegensätze; er sieht im Partikularismus das Gegenteil zum Universalismus. Deshalb ist er der Ansicht, dass ein "verwirklichter und rechtlich wie politisch konkretisierter universeller Menschenrechtsschutz die Möglichkeiten einer kulturellen Vielfalt der Menschen erweitern wird" (Lohmann 2009). Kulturelle Vielfalt ist hier aber nicht mit Willkür gleichzusetzen. Unterscheiden muss man zwischen "Besonderheiten, die mit dem Universalismus der Menschenrechte kompatibel sind und solchen, die ihm widersprechen" (Lohmann 2009). "Strikter" soll der Universalismus bei negativen Pflichten agieren, so zum Beispiel beim Verbot von Folter (Lohmann 2009). Bei positiven Pflichten, wie beispielsweise bei Leistungsrechten, kann der Universalismus lockerer angewendet werden und mehrere, kulturell unterschiedliche Auslegungen zulassen (vgl.: Lohmann 2009). Ein interkultureller Dialog und die Suche nach einem Konsens bedeuten jedoch nicht, dass "die Menschenrechte [völlig neu überdacht und] bereits bestehende international vereinbarte Standards und Konventionen […] abgetan werden sollen. Das wäre gefährlich" (Utrecht 1995, S. 11). Für eine strikte Durchsetzung ideal, so konkludiert Lohmann, "wäre ein gut etabliertes Rechtssystem, in dem die Menschenrechte individuell eingeklagt und mit Hilfe staatlicher Gewalten auch durchgesetzt werden können" (Lohmann 2013, S. 19). Fazit
Viele (süd-)ostasiatische Länder brachten im Jahr 1993 mit der Deklaration von Bangkok kulturrelativistische Argumente hervor, mit denen sie ihre Sichtweise auf die Universalität der Menschenrechte aufzeigten und rechtfertigten. Eine zentrale Begründung war hier, dass das "individualistische Rechtsverständnis" der Menschenrechte nicht mit dem asiatischen Gemeinschaftsverständnis vereinbar sei (Tetzlaff 2002, S. 5). Ebenso waren die Kulturspezifität von Rechten und das Primat des wirtschaftlichen Wohlstands Teil der Begründung. Auseinandersetzungen darüber fanden bis weit in die 1990er Jahre hinein viel Gehör und Gegenrede. Erst mit der asiatischen Wirtschafts- und Finanzkrise 1997/1998 wurde es still um die 'asiatischen Werte'. Was von der Debatte allerdings bleibt, ist die Diskussion über den Universalismus und den (Kultur-) Relativismus, für die der Menschenrechtsrat (MRR) der Vereinten Nationen in Genf eine Plattform bietet.
Bei allen Vorschlägen und Denkanstößen, die eine kulturelle Sensibilität und Variabilität ermöglichen sollen, ist der interkulturelle Dialog zentral. Fraglich bleibt jedoch, wie gut sich eine Diskussion über Normen auf der Basis der Menschenrechte und deren anschließende Durchsetzung in autoritär geführten Staaten durchsetzen lässt (vgl.: Carnegie Council 1996). Denn schließlich sagte schon Konfuzius (551 v. Chr. bis 479 v. Chr.), dass es sinnlos sei, miteinander Pläne zu schmieden, wenn über das Grundsätzliche keine Einigkeit bestehe.
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NRW-Wissenschaftsministerin Ina Brandes über ihre Pläne gegen den Fachkräftemangel und Sanierungsstau, ihre Erwartungen an die Hochschulen – und die Verstimmungen mit dem BMBF.
Ina Brandes, 45, war über viele Jahre Geschäftsführerin eines Bauplanungskonzerns. 2021 wurde die CDU-Politikerin Verkehrsministerin, nach der Landtagswahl 2022 übernahm sie das
Ministerium für Kultur und Wissenschaft. Foto: MKW.
Frau Brandes, Ihre Vorgängerin hat einst die Bezeichnung Ihres Ministeriums geändert. Seitdem steht die Kultur vor die Wissenschaft. Sie haben die Reihenfolge so gelassen. Verbirgt sich bei Ihnen auch eine politische Aussage dahinter?
Ich gehe die Dinge gern pragmatisch an und frage mich bei Problemlösungen grundsätzlich, wem sie nützen. Mir sind beide Arbeitsbereiche meines Ministeriums gleichermaßen wichtig, in beide investiere ich ungefähr gleich viel Zeit. Deshalb sehe ich keine Notwendigkeit und keinen praktischen Nutzen für eine Namensänderung.
Sie waren zehn Jahre lang Sprecherin der Geschäftsführung in einem Bauplanungsunternehmen, dann ein Dreivierteljahr Verkehrsministerin in Nordrhein-Westfalen. Was davon hat Sie auf Ihren jetzigen Job vorbereitet?
Als Verkehrsministerin habe ich das Politikerhandwerk gelernt. Politik ist ein Beruf, für den es Handwerkszeug braucht, und zwar unabhängig von den inhaltlichen Themen. Fachlich hat mir die Zeit als Geschäftsführerin eines Planungsunternehmens sicher weitergeholfen, wenn ich an die Bauten unserer Hochschulen, Uniklinika und Kultureinrichtungen denke – und all die Herausforderungen, die damit zusammenhängen.
Wenn ich die Reihe Ihrer Vorgängerinnen und Vorgänger durchgehe, hatten die alle ein Leitthema. Bei Andreas Pinkwart von der FDP waren es das Hochschulfreiheitsgesetz und Innovation, bei Svenja Schulze von der SPD die Partizipation an den Hochschulen, bei der parteilosen Isabel Pfeiffer-Poensgen die Förderung der Kultur. Und bei der CDU-Politikerin Ina Brandes?
Ich möchte im Bereich Wissenschaft vor allem drei Schwerpunkte setzen. Erstens: den Fachkräftemangel und was das Wissenschaftsministerium zu seiner Linderung beitragen kann. Zweitens: der Hochschulbau, wie wir ihn beschleunigen und kosteneffizienter machen können. Und drittens: die Unterstützung der Forschung in ihrer gesamten Bandbreite. Als sechstgrößte Volkswirtschaft Europas muss Nordrhein-Westfalen den Anspruch haben, wissenschaftlich an der Spitze dabei zu sein.
Mindestens die ersten beiden Themen haben Bezugspunkte zu Ihrem Werdegang. Als Sie Referentin im Niedersächsischen Landtag waren, haben Sie eine Enquete-Kommission zum Demografischen Wandel betreut. Das war 2006, als sich kaum einer vorstellen konnte, dass wir statt Rekordarbeitslosigkeit bald einen Mangel an Arbeitskräften haben würden.
Schon damals war absehbar, in welche Situation wir hineinlaufen. Der Mangel betrifft gerade auch die akademischen Berufe. Das gilt besonders für die MINT-Disziplinen, den Gesundheitsbereich, die Pflege und das Lehramt. Inzwischen steht fest, dass der Fachkräftemangel zu den größten Risiken für unseren volkswirtschaftlichen Wohlstand gehört.
"Ich weihe gerade Bauprojekte ein, die schon unter meinem Vorvorvorgänger beschlossen wurden."
War Ihnen auch bei dem Bauthema vor Ihrem Amtsantritt klar, wie dramatisch die Lage an vielen Hochschulen ist?
Klar war mir, dass wir in Sachen Infrastruktur viel werden tun müssen. Denn wir haben großen Bedarf bei Sanierungen und Neubauten. Wahrscheinlich gibt es nirgendwo sonst eine solche Dichte von Campus-Universitäten aus den 70er Jahren. Da gibt es viel zu tun. Sehr viel. Ich weihe gerade Projekte ein, die schon unter meinem Vorvorvorgänger beschlossen wurden.
Die Amtszeit von Andreas Pinkwart endete 2010.
Natürlich sind viele dieser Bauprojekte sehr komplex. Und das Tempo spielt bei allen Bauten der öffentlichen Hand leider eine eher untergeordnete Rolle. Deshalb erleben wir gerade regelmäßig, dass es bis zu 15 Jahre dauert, bis ein Wissenschaftsbau fertig ist. Ich bin sicher: Das können wir besser und vor allem schneller.
Das ist doch in der nordrhein-westfälischen Verkehrspolitik nicht anders, oder?
Auch da sind die Herausforderungen groß – wenn auch aus anderen Gründen. Vorankommen werden wir nur, wenn wir auch hier das Thema Fachkräftemangel entschlossen angehen.
Der neue Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Walter Rosenthal, nannte den Hochschul-Sanierungsstau bei Research.Table neulich eine "Ewigkeitsaufgabe" und will den Bund zurück in der Mitverantwortung. Weil die Länder es nicht allein hinbekommen?
Wir können – und müssen – es als Land allein hinbekommen. Der Bund ist als Folge der Föderalismusreform von 2006 zwar völlig raus bei der Frage der Hochschul-Infrastruktur. Mit der Föderalismusreform 2014 ist aber eine Bund-Länder-Zusammenarbeit bei Einrichtungen im Hochschulbereich, also auch im allgemeinen Hochschulbau, wieder ermöglicht worden. Für eine lange verfassungsrechtliche Diskussion fehlt uns aber die Zeit. Deswegen warten wir nicht auf den Bund, sondern helfen uns selbst.
"Im Moment macht es in Nordrhein-Westfalen keinen Unterschied, ob Sie eine Polizeidienststelle, ein Finanzamt oder eine Hochschule bauen."
Sie haben Ministerkolleginnen und -kollegen in den Ländern, die sehen das komplett anders, bezeichnen die Reform von 2006 als einen historischen Fehler und würden sie am liebsten wieder rückgängig machen. Auch der Wissenschaftsrat riet vergangenes Jahr dazu, zumindest in Bezug auf die Nachhaltigkeitsziele neue Kooperationsmöglichkeiten von Bund und Ländern zu prüfen.
Als Verfechterin des Subsidiaritätsprinzips stelle ich fest, dass noch nie ein Bauprojekt dadurch schneller fertig geworden ist, dass eine weitere Entscheidungsebene einbezogen wurde. Ich möchte meine Zeit als Ministerin lieber nutzen, konkrete Verbesserungen zu erreichen, statt mich in Struktur-Debatten zu verkämpfen, die am Ende nur sehr mittelbar und in keinem Fall kurzfristig zur Problemlösung beitragen können. Zumal der Bund meint, er sei verfassungsrechtlich daran gehindert, sich beim Hochschulbau finanziell zu engagieren. Was aber nach unserer Rechtauffassung nicht stimmt.
Sie werden aber auch in Nordrhein-Westfalen keine wundersame Geldvermehrung zur Finanzierung des Hochschulbaus erwarten können.
Wir können eine Menge Geld einsparen, wenn wir Bauprojekte künftig statt in zwölf oder 15 in fünf oder sechs Jahren realisieren. Dann bauen wir nicht nur halb so lange, sondern auch deutlich günstiger. Dafür müssen wir Prozesse ändern. Im Moment macht es in Nordrhein-Westfalen keinen Unterschied, ob Sie eine Polizeidienststelle, ein Finanzamt oder eine Hochschule bauen. Auf die Bedürfnisse und Besonderheiten des jeweiligen Umfeldes nehmen die geltenden Regularien kaum Rücksicht. Und die Abläufe verkomplizieren alles unnötig.
Was meinen Sie damit?
Am Bau der meisten öffentlichen Gebäude sind das Finanzministerium, der Bau- und Liegenschaftsbetrieb NRW, das Ministerium für Kultur und Wissenschaft und die Hochschulen beteiligt. Alle vier arbeiten mit unterschiedlichen Anforderungen und unterschiedlichen Prozessen. Ein Beispiel: Die Hochschulen sind mit zusammengenommen fünf Millionen Quadratmetern der größte Mieter des Liegenschaftsbetriebs und wenden im Vergleich zur Privatwirtschaft sehr viel Geld für die Nutzung ihrer Gebäude auf. Gleichzeitig widmen sich die Hochschulen neben ihren wissenschaftlichen Aufgaben auch dem alltäglichen Gebäudebetrieb. Das ist historisch alles so gewachsen, macht das Bauen und den Betrieb aber extrem komplex. Als Seiteneinsteigerin interessiert mich der Blick nach vorn. Deshalb entwickele ich mit allen Beteiligten Ideen, wie wir schneller und in gleicher Qualität bauen können. Mir hilft dabei, dass ich im Baubereich Sinn und Unsinn ganz gut auseinanderhalten kann.
Sie mögen es ja konkret. Geben Sie uns bitte ein Beispiel.
Wir drehen zu viele Freigabeschleifen. Wir tun bei jedem Projekt so, als sei es das erste seiner Art, das jemals gebaut wird, als stünde es auf einer leeren grünen Wiese und wäre nicht Teil eines bestehenden Ökosystems, das jede Hochschule für sich darstellt. Um besser auf die ja sehr unterschiedlichen Bedarfe der Hochschulen eingehen zu können, möchte ich individuelle Bauprogramme mit ihnen vereinbaren. Vor zehn, 15 Jahren hatten wir kein Homeoffice, kaum digitale Lehr- und Lernformate und eher steigende Studierendenzahlen. Weil unsere Projekte so lange dauern, arbeiten wir vielfach mit veralteten Parametern. Mein Ziel: Wir vereinbaren einen Rahmen, in dem sich die Hochschulen freier bewegen können. Wir rühmen uns in Nordrhein-Westfalen für unsere stark ausgeprägte Hochschulautonomie. Auch beim Bau können die Hochschulen von mehr Autonomie profitieren.
"Wenn ich mit den anderen Landesministerinnen und Landesministern rede, sehe ich mich immer als ein Sechzehntel."
Als drittes Leitthema haben Sie vorhin die Forschung genannt. Das ist das Thema, mit dem Sie bislang am wenigsten Berührungspunkte hatten, oder?
Wir haben in Nordrhein-Westfalen einen sehr schlagkräftigen Mittelstand und eine starke Industrie. Für die Transformation, die sie durchlaufen, sind sie auf anwendungsnahe Forschung angewiesen, wie sie zu einem Großteil an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften und auch an den Universitäten passiert. Zugleich müssen wir unsere ausgezeichnete Position in verschiedenen Bereichen der Grundlagenforschung sichern und ausbauen. Ich denke da etwa an die Künstliche Intelligenz, vor allem in Hinblick auf ihre ethisch verantwortbare Weiterentwicklung, an Krebs- und Demenzforschung, an Quantencomputing, an Cybersicherheit und an Wasserstoff-Forschung.
Inwieweit ist Wissenschaftspolitik in Nordrhein-Westfalen eigentlich immer auch Bundespolitik? Oder anders gefragt: Sind Sie sich Ihrer Verantwortung als mit Abstand größtes Bundesland bewusst?
Natürlich nimmt Nordrhein-Westfalen unter den Bundesländern in der Wissenschaftspolitik eine der führenden Rollen ein. Das hat auch schlicht etwas mit der Größe unseres Hauses im Vergleich zu anderen Wissenschaftsministerien zu tun. Wir haben hier exzellente Fachleute, die in den verschiedenen Arbeitsgruppen der Länder inhaltlich zuarbeiten und unterstützen. Gleichwohl sehe ich mich, wenn ich mit den anderen Landesministerinnen und Landesministern rede, immer als ein Sechzehntel. Was die Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung angeht, würde ich mir mehr Offenheit und Transparenz wünschen.
Sie klingen verärgert.
Eher verwundert und ein bisschen besorgt. Die Wissenschaftspolitik von Bund und Ländern zeichnet aus, dass sie normalerweise nicht sonderlich parteipolitisch ist, sondern an der Sache orientiert – und daran, gemeinsam unsere Wissenschaftslandschaft in Deutschland voranzubringen. Nur so haben wir auch eine hörbare Stimme in Europa. Von einer Zusammenarbeit von Bund und Ländern sehe ich allerdings zu wenig ...
"Dass beim Wissenschaftszeitvertragsgesetz jetzt ein Referentenentwurf vorliegt, bringt uns ja noch keinen Schritt näher an ein neues Gesetz, wenn sogleich zwei Koalitionspartner die Zustimmung verweigern."
Was sehen Sie denn?
Ich sehe, dass wir beim Wissenschaftszeitvertragsgesetz gerade – schon wieder – eine Extrarunde drehen, die das ganze System aufhält. Dass jetzt ein Referentenentwurf vorliegt, bringt uns ja noch keinen Schritt näher an ein neues Gesetz, wenn sogleich zwei Koalitionspartner die Zustimmung verweigern. Und wir Länder warten noch immer darauf, was da aus Berlin auf uns zukommt, nachdem der erste Entwurf nach nur wenigen Stunden wieder einkassiert worden war. In Nordrhein-Westfalen haben wir gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der Hochschulen als Arbeitgeber und den Landespersonalräten als Arbeitnehmer einen Vertrag über gute Beschäftigungsbedingungen für das Hochschulpersonal erarbeitet, der über das Wissenschaftszeitvertragsgesetz hinausgeht. Wir würden den Rahmenvertrag für gute Beschäftigung gerne weiterentwickeln. Dazu brauchen wir aber Klarheit, was in Berlin entschieden wird. Zu meiner Begeisterung für Subsidiarität gehört, dass Bund und Länder innerhalb ihrer Zuständigkeiten so agieren sollten, dass ihr Handeln ineinandergreift. Auch in der Forschungsförderung unternehmen wir in Nordrhein-Westfalen daher große Anstrengungen, um möglichst anschlussfähig zu sein an die Bundesprogramme. Wenn dann die andere Seite an allen Stellen Unsicherheiten schafft, wie es weitergeht, ist das für uns Länder nicht erfreulich. Beispiel HAW-Forschungsförderung: Die stellt der Bund gerade grundlegend in Frage.
Der Bund will, dass die Länder künftig einen Eigenanteil leisten. Und bei den Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung will er eine 50-50-Aufteilung der Kosten. Dagegen können doch gerade Sie, die die Eigenverantwortung der Länder so betont, eigentlich nichts haben, oder?
Es gibt in der Politik auch so etwas wie die normative Kraft des Faktischen. Das HAW-Programm zahlt der Bund im Augenblick allein. So ist es vertraglich geregelt. Stellen Sie sich vor, zwei Leute haben einen Vertrag, und bei der Neuverhandlung fällt einem von beiden plötzlich ein: Ich will das alles ganz anders haben, und zwar zu meinen Gunsten. Im echten Leben wäre die Diskussion an der Stelle sehr schnell vorbei. Im BMBF dagegen ist plötzlich von einer angeblichen moralischen Mitverantwortung der Länder die Rede, weil die Hochschulen ja Sache der Länder sind. Ich bin bereit, über eine Kofinanzierung der Länder zu reden und etwas draufzulegen. Ich bin allerdings nicht bereit einzuspringen, damit der Bund seine eigenen Forschungsmittel kürzen kann.
Die Länder wollen auch, dass die vom Bund finanzierte Qualitätsoffensive Lehrerbildung weitergeht, während das BMBF auf das lange vereinbarte Ende des Programms pocht. Verhalten sich die Länder da nicht genauso, wie sie es dem Bund gerade noch vorgehalten haben?
Die Ampel-Koalition hat sich im Koalitionsvertrag verpflichtet, die Qualitätsoffensive Lehrerbildung weiterzuentwickeln. In der aktuellen gesellschaftlichen Lage sollte es völlig klar sein, dass wir mehr Ausgaben für Wissenschaft und Bildung brauchen. Ob Lehrerbildung, Digitalisierung oder Unterrichtsqualität: Wir haben doch gerade erst wieder durch die IGLU-Grundschulstudie gesehen, dass wir alle mehr tun müssen. Darum habe ich die Hoffnung, dass der Bund noch umschwenkt.
"Das hat wenig mit der Verhandlungstaktik der Länder zu tun und viel damit, dass wir alle am Vertrauensverhältnis zwischen Bund und Ländern arbeiten müssen."
Unterdessen sehen wir viel Klein-Klein. In fast schon kafkaesker Weise streiten Bund und Länder darüber, ob es nun bis zu vier oder doch mindestens vier neue Exzellenzuniversitäten geben soll.
Diesen Eindruck kann man gewinnen. Und ich bin noch nicht lange genug Politikerin, um in so etwas eine sinnvolle Gestaltung meiner Zeit zu erkennen.
Das verstehe ich auch als Selbstkritik an der Verhandlungstaktik der Länder?
Das hat wenig mit der Verhandlungstaktik der Länder zu tun und viel damit, dass wir alle am Vertrauensverhältnis zwischen Bund und Ländern arbeiten müssen. Es gibt eigentlich keinerlei Dissens darüber, dass die Exzellenzstrategie ein wissenschaftspolitisch sehr erfolgreiches Instrument ist. Doch statt gemeinsam danach zu suchen, was das für die Auswahl von Exzellenzclustern und Exzellenzuniversitäten bedeutet, hängen wir im Kleingedruckten fest – und verlieren die große Linie.
Auch zwischen den Bundesländern geht es nicht immer nur um ein nettes Miteinander. Sie befinden sich im Wettbewerb. Wenn ein Land wie Berlin jetzt beabsichtigt, die Grundfinanzierung seiner Hochschulen um jährlich fünf Prozent anzuheben als Reaktion auf die Inflation, was folgt daraus für Sie?
Wir haben in Nordrhein-Westfalen die praktische Regelung, dass die Hochschulen einen Großteil der Tarifsteigerungen automatisch erstattet bekommen. Hinzu kommt, dass sich die Finanzausstattung unserer Hochschulen in den vergangenen zehn Jahren extrem verbessert hat und weiter nach oben geht. Wir haben erreicht, dass unsere Hochschulen anständig finanziert sind. Abgesehen vom Sanierungsstau, um den wir uns wie gesagt mit Nachdruck kümmern. Ich meine, wir sollten schnell eine andere Debatte führen: Über Jahre haben wir bei steigenden Studierendenzahlen über Betreuungsrelationen diskutiert. Jetzt spüren wir den demografischen Wandel, und hinzu kommt ein sehr eingeschränkter Abiturjahrgang durch die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium. Wenn die Hochschulen nun wie vereinbart über lange Zeit automatisch mehr Geld erhalten, müssen wir darauf achten, dass sie umso stärker an der Qualität ihres Angebots arbeiten.
Was bedeutet das?
Das bedeutet, dass wir wieder beim Thema Fachkräftemangel angekommen sind und bei der Frage, wie die Hochschulen besonders in den MINT-Fächern, im Lehramt und in den Gesundheitsberufen die Studierendenzahlen hochhalten können. Wie können wir die Studierfähigkeit der Erstsemester verbessern – etwa über nullte Semester und über Orientierungs-Studiengänge? Wie können wir die Abbrecherquoten senken und insgesamt die Absolventenzahlen erhöhen? Aus meiner Sicht ist es unsere gemeinsame Verpflichtung, für das Geld, das der Steuerzahler überweist, neben exzellenter Forschung auch die Fachkräfte für die nächsten 30, 40 Jahre auszubilden.
Weil Sie erneut das Thema Fachkräftemangel ansprechen: Sehen Sie den eigentlich auch beim Personal für Forschung und Lehre? Und was hat das mit den Beschäftigungsbedingungen an den Hochschulen und Forschungseinrichtungen zu tun?
Die Debatte um das Wissenschaftszeitvertragsgesetz wird zurzeit sehr emotional geführt und noch dazu mit zum Teil ambitionierten Forderungen. Ich sehe tatsächlich einen Zwiespalt: Einerseits ist da die Notwendigkeit, veränderten Anforderungen und Erwartungen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gerecht zu werden, um als Hochschule ein attraktiver Arbeitgeber zu sein. Andererseits dürfen wir darüber ein Wissenschaftssystem, das in vielen Bereichen sehr erfolgreich läuft, nicht komplett aus den Angeln heben. Deshalb sind auskömmliche Mindestvertragslaufzeiten wichtig —wir haben sie sogar in unseren Koalitionsvertrag geschrieben —obwohl für ihre Festlegung ja der Bund zuständig ist. Die Vertragslaufzeiten müssen so ausgestaltet sein, dass das Qualifizierungsziel, vor allem das der Promotion, gut und vor allem realistisch erreichbar ist. Minilaufzeiten und Kettenverträge werden uns nicht helfen, junge Menschen für eine Karriere im Wissenschaftsbetrieb zu begeistern. Bei den Postdocs plädiere ich für Arbeitsverträge zwischen minimal drei und maximal sechs Jahren.
Sie plädieren bei der besonders umstrittenen Postdoc-Höchstbefristungsdauer also für den Status Quo.
Der Zeitraum ist angepasst an die Vertragslaufzeiten von Juniorprofessuren. Das halte ich systemisch für richtig. Eine andere Frage, die diskutiert wird, ist, ob man die Anzahl der Verträge reduzieren darf – sowohl prä- als auch postdoc. Da sollten wir sehr vorsichtig sein. Wenn man aus guter Absicht heraus Kettenbefristungen unterbinden will, stellt sich die Frage, was denn passiert, wenn die Anzahl überschritten ist? Was machen wir dann, wenn der- oder diejenige nach drei Verträgen nicht promoviert ist? Das ist aus meiner Sicht nicht zu Ende gedacht. Man muss Stabilität geben, damit die Qualifikationsziele erreicht werden können. Grundsätzlich bin ich der Auffassung, dass das Wissenschaftszeitvertragsgesetz nicht das richtige Instrument ist, um Personalentwicklung an der Hochschule zu betreiben.
"Sagt uns die Dinge, die ihr schon immer geändert
haben wolltet, dann reden wir gemeinsam darüber,
was davon sinnvoll und umsetzbar ist."
Gilt die gleiche Vorsicht bei der von Ihnen geplanten Novelle des Landeshochschulgesetzes? Man könnte aktuell zu dem Ergebnis kommen, die Hochschulen in Nordrhein-Westfalen hätten ein Governance-Problem. Es gibt Berichte von Machtmissbrauch, an der Universität Paderborn hat die Hochschulratsvorsitzende ihren Rücktritt erklärt, aus Protest gegen die Entscheidung, den Vorsitz der Findungskommission für die anstehende Präsidentenwahl nicht extern zu besetzen. In Südwestfalen wiederum soll die gewählte Rektorin noch vor ihrem Amtsantritt abgesetzt werden – gegen den Widerstand des Hochschulratsvorsitzenden. Ihre Schlussfolgerung?
Mir sind die Rolle und die Position der Hochschulräte in unserem System extrem wichtig. Sie sind die Brücke zwischen Gesellschaft, Wirtschaft und Hochschule. Ich lege großen Wert auf den Dialog mit den Gremien und den Vorsitzen. Die Hochschulräte haben einen großen Anteil an der Verankerung der Universitäten in der Gesellschaft. Wir geben den Hochschulräten viel Gestaltungsspielraum. Das ist auch gut so. Wir haben ein im Kern sehr gut funktionierendes System und eine gut funktionierende Rechtsgrundlage dafür. Problematische Fälle, die es immer wieder geben wird, schauen wir uns genau an und werden jeweils die richtigen Schlüsse daraus ziehen, aber wir sollten deshalb nicht das Kind mit dem Bade ausschütten.
Wo wollen Sie denn überhaupt das Hochschulgesetz ändern?
Die große Überschrift über der Hochschulgesetz-Novelle muss lauten: Fachkräftesicherung. Dazu haben wir bereits eine Reihe konkreter Punkte erarbeitet. Ich denke da zum Beispiel an eine gute gesetzliche Regelung, die den dringend notwendigen Ausbau dualer Studiengänge ermöglicht. Was wir darüber hinaus machen, hängt vor allem von den Rückmeldungen aus den Hochschulen ab. Unsere Botschaft lautet: Sagt uns die Dinge, die ihr schon immer geändert haben wolltet, dann reden wir gemeinsam darüber, was davon sinnvoll und umsetzbar ist. Gesetzt durch den Koalitionsvertrag ist, dass wir die Viertelparität im Senat verpflichtend einführen. Eine Reihe von Hochschulen haben sie ohnehin längst. Wichtig ist, dass die Einführung verfassungskonform unter Beachtung der Professorenmehrheit bei den entscheidenden Fragen von Forschung und Lehre geschieht.
Was halten Sie vom Vorstoß der NRW-SPD, die Semesterferien den Sommerferien anzupassen? Wäre das nicht auch bundesweit ein Signal hin zu mehr Familien- und damit Arbeitnehmerfreundlichkeit?
Die Semesterferien sind abgestimmt auf die Prüfungszeiten, die bundesweit teilweise einheitlich sind. In Nordrhein-Westfalen sind alle Hochschulen, die Landesrektorenkonferenzen, die Landes-Asten, die Landeskonferenz der Gleichstellungsbeauftragten der Hochschulen und Universitätsklinika, die Landespersonalrätekonferenz und die Landesarbeitsgemeinschaft der Schwerbehindertenvertretungen in die Ferienplanung eingebunden. In dem Verfahren wurde bislang die Anregung, die Semesterferien den Sommerferien anzupassen, in keiner Stellungnahme geäußert. Als Verfechterin der Hochschulautonomie bin ich gern bereit, das politisch aufzugreifen, wenn die Hochschulen wirklich einen Änderungsbedarf sehen.